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Stuttgart

Wart ihr schon einmal in Stuttgart?

Stuttgart ist die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg – Metropole des Schwabenländles. Stuttgart ist, wie wohl jede Hauptstadt, groß und dicht bevölkert. Es gibt einen Flughafen, den Fernsehturm, den japanischen Garten, das SI-Centrum mit Spielcasino und Theater und die Wilhelma, wo man wilde Tiere hinter Gitter bewundern kann. Über dem Hauptbahnhof, der zur Zeit wegen der ein oder anderen „kleineren“ Umbaumaßnahme Schlagzeilen macht, thront ein riesiger Mercedesstern als Zeichen schwäbischen Wohlstandes. Von hier aus gelangt man direkt zur Fußgängerzone, die einem mit dem prachtvollen Namen „Kaiserstraße“ sofort deutlich macht, dass es hier gilt, Geld auszugeben. Wenn ihr mal in der Gegend seit, könnt ihr gerne einen Abstecher machen, wenn nicht, ist das auch nicht weiter tragisch.
 

Ulla

Ulla ist eine echte „Stuagattere“. Sie ist 72 Jahre alt, und wenn es das „liabe Herrgöttle von Stuagatt“ zulässt hat sie auch noch viele Jahre vor sich. Nachdem die drei Kinder alle ausgezogen sind ist sie mit ihrem Mann in eine Zwei-Zimmer-Wohnung mitten in die Stadt gezogen, direkt vor dem Haus eine S-Bahn-Station. Das ist sehr praktisch, da die beiden kein Auto besitzen. Das könnten sie sich auch gar nicht leisten. Horst, ihr Ehemann, ist seit zwölf Jahren in Rente. Wegen seiner Rückenprobleme durfte er schon etwas früher gehen. Dank kräftigem Training in Aufrechtsitzen in diversen Gasthäusern geht es seinem Rücken jetzt wieder viel besser. Aber er muss ihn selbstverständlich trotzdem schonen, weshalb es allein Ulla obliegt, sämtliche Besorgungen und Hausarbeiten zu erledigen, worüber sich diese ja auch nie beklagt.

Leider stellt Ulla in letzter Zeit immer wieder fest, dass das Geld einfach nicht mehr reicht. Obst und Gemüse ist inzwischen zu einem Luxusgut geworden, und frisches Brot gibt es nur noch aus dem Automaten im Discounter. Früher ging sie einmal in der Woche zum Metzger, um „Aufschnitt“ zu kaufen.

(Ich persönlich nenne das „Rentner-Roulette“: „Bitte 50 Gramm von der Lyoner und 50 Gramm von der gerauchten Schinkenwurst, und vom Leberkäse bitte auch noch 50 – auch was soll’s – 100 Gramm...“)

Jetzt gibt es Cervelat und Mortadella in Plastik verschweißt.

Die Kinder will sie nicht um Hilfe bitten, die haben ihre eigenen Sorgen. Der Peter hat eine schwäbische Spezialitätenbäckerei in Berlin eröffnet, und es läuft leider nicht so gut, wie er immer gehofft hat. Heidrun lässt sich momentan zum zweiten Mal scheiden, und Birgit hat nur ihre Tiere im Kopf. Sie arbeitet für eine weltweit bekannte Organisation, rettet Delfine und holt Hunde aus den spanischen Gaskammern. Ulla weiß manchmal gar nicht, in welchem Land sie sich gerade engagiert.

Aber Ulla beklagt sicht nicht. Sie hat auch gegen die permanente Geldknappheit eine Lösung gefunden:

 

Einmal in der Woche fährt sie mit zwei großen Taschen zum Stadtpark, wo sie dann die Papierkörbe nach Pfandflaschen und –dosen durchsucht. Die Menschen im Park beobachten sie dabei, aber gleichzeitig ist sie nicht existent. Keiner spricht sie an, man will sich schließlich nicht einmischen.

Auch heute Morgen hat sie schon ihre Runde gemacht. Nachdem sie ein paar Kleinigkeiten eingekauft hat, hält sie sogar noch Restgeld in Höhe von 1,34 € in Händen. Auf dem Heimweg trägt sie ein zufriedenes Lächeln zur Schau, was jedoch auch niemanden interessiert.

Zuhause angekommen, mobilisiert Ulla ihre letzten Kräfte für das Treppenhaus. Es ist Sommer, und es beginnt schon wieder schwül zu werden. In der Wohnung wird erst in der Küchennische der Einkauf verstaut, dann steuert Ulla das Schlafzimmer an. Vorbei an Horst, der im Wohn-/Esszimmer im Sessel sitzt und eine Sportsendung ansieht. Die Bierflasche in seiner Hand wird Ulla erst bei ihrer Rückkehr aus dem Schlafzimmer bemerken. In ihrem Schrank bewahrt sie eine Schatulle auf, in der sie ihren wenigen Schmuck aufbewahrt (alles nichts besonderes, bis auf die echte Perlenkette ihrer Großmutter) und auch das Restgeld ihrer Pfandflaschenentsorgungen. Bald hat Host Geburtstag, und da will sie mal wieder einen richtig leckeren Schweinebraten kochen.

Schwer atmend lässt sich Ulla mit der Schatulle auf das Bett sinken. Es ist verdammt heiß, zum Glück hat sie heute Morgen vor ihrem Aufbruch die Rollläden runter gelassen, heute soll es weit über 30 Grad geben!

Aber nicht die Schwüle lässt unserer Ulla nun der Atem stocken, sondern das, was sie sieht, beziehungsweise nicht sieht. Irritiert blickt sie in die leere Schatulle. Trotz der Hitze gelingt es ihr die Informationen zu sortieren und in grellen Buchstaben sieht sie im Geiste das Lösungswort: HORST!!! Dieser vermaledeite Lumpaseckel!

Langsam schreitet sie in Richtung Sessel, die leere Schatulle anklagend vor sich her tragend. Ihr Mann kann seinen Blick nur mühsam von der vermeintlich spannenden Sendung los reißen.

Natürlich weiß er sofort, was seine Frau für ein Anliegen hat und wirft ihr seine knappe Erklärung entgegen: „Ja wenn hier nix zum Saufa da isch!“ Und der Wirt im Biergarten will ihn nicht mehr anschreiben lassen, da er in letzter Zeit öfter anschreiben lässt, als zu bezahlen.

Ulla sieht rot. Sie knallt Horst die Schatulle vor die Füße und lässt richtig Dampf ab. Sie beschimpft in mit Worten, die ein Nicht-Schwabe weder kennt noch verstehen würde, weshalb ich sie hier auch nicht wiederholen möchte. Sogar die Nachbarin, die angeblich ohne Hörgerät nichts versteht, verharrt mitten in der Kehrwoche auf dem Treppenhaus, wo sie von dem nächst höheren Treppenabsatz interessiert beobachtet, wie Ulla zuerst einen Koffer vor die Türe schmeißt, um ihn danach mit den Kleidungsstücken von Horst zu begraben. Als dieser wiederum vor die Türe tritt, um seine Sachen zu bergen, macht es einen Knall, und man hört wie Ulla das Sicherheitskettchen einrasten lässt.

Host bleibt keine andere Wahl als seine Sachen zu packen und zu verschwinden, bevor sämtliche Nachbarn zur Mittagspause Heim kommen. Er will ja schließlich nicht unangenehm auffallen.

 

Und nun komme ich ins Spiel.

Ulla sitzt jetzt schon bestimmt eine Stunde bei mir im Amt, und zwei Packungen Papiertaschentücher später kenne ich ihre ganze Geschichte. Das ist schon okay, ich habe Zeit. Die meisten Kollegen haben Urlaub. Ich bin Allein stehend ohne Kinder und somit nicht auf die Ferien angewiesen. Normaler weise macht mir das auch nichts aus, aber seit einer Woche ist die Klimaanlage unseres ultramodernen Bürokomplexes ausgefallen, und die Wartungsfirma hat Betriebsurlaub. Die Fenster lassen sich nicht öffnen – Sicherheitsvorschrift, und der Tischventilator schiebt die warme Luft nur von einer Ecke zur anderen. Ich kann schon gar nicht mehr zählen wie oft ich schon auf der Toilette war, um meine verschwitzten Hände zu waschen. An Arbeit ist nicht zu denken! Es ist ein Hinvegetieren und Warten auf den ersehnten Feierabend.

Aber nun zurück zu Ulla. Ihre Geschichte hat mich sehr berührt, und bin glücklich, dass ich ihr helfen kann. Selbstverständlich hat sie Anspruch auf Wohngeld und auch Grundsicherung. Die entsprechenden Formulare sind auch trotz Hitze schnell ausgefüllt, und weil ich sie ein wenig aufmuntern will, rechne ich ihr auch noch aus, wie viel sie bekommen wird. Das letzte Papiertaschentuch wird nun ihr Opfer, aber nun wischt sie sich tatsächlich Freudentränen von den leicht geröteten Backen. „Das ist ja mehr, als ich bisher zur Verfügung hatte“, freut sie sich. Ich setzte noch einen drauf und drücke ihr noch einen meiner druckfrischen Flyer für seniorengerechtes Wohnen in die Hand. Da die Wohnanlage gerade erst fertig gestellt wurde, hat sie gute Chancen, da rein zu kommen. Ulla steht auf und atmet tief durch. Sie bedankt sich vielmals bei mir und verrät mir noch, als ich sie zur Tür begleite, ihre Pläne, was sie mit dem ersten Unterstützungsgeld machen will. „Erst mal hol ich Omas Kette vom Pfandleiher!“

Frisch motiviert verlässt sie mein Büro. Ich schaue ihr noch nach, wie sie wie ein junges Mädchen auf dem Weg zum ersten Date, den Fahrstuhl ansteuert, und ich denke bei mir:

„Ja, so ein häusliches Gewitter vollbringt doch manchmal Wunder!“

 

Impressum

Bildmaterialien: Foto: Stuttgarter Nachrichten
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2014

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