Gestern fragte mich mein zehnjähriger Sohn wie es denn sei, alt zu sein.
Ich war total schockiert! Das wollte er doch tatsächlich von MIR wissen!
Ich habe ein wenig ruppig auf die Frage reagiert - er solle gefälligst Oma fragen - ICH sei schließlich nicht alt!
Und doch hat mich das Thema „älter werden“ abends im Bett bis in den Schlaf verfolgt, weshalb wohl keiner verwundert sein wird, dass ich prompt davon geträumt habe.
Ich sah eine alte Frau mit schlohweißem Haar gebeugt an einem Tisch sitzen. Auf dem Tisch stand ein Schuhkarton, übervoll mit Fotos und Ansichtskarten. Sie schrieb einen Brief, und während ich noch dachte, ich sei hier nur Beobachter zog es meine Seele plötzlich in den Körper der Oma, und ich wusste – das war ich. Dann blickte ich auf die Worte, die ich mühselig zu Papier brachte:
Danke für die schöne Karte zum Geburtstag.
Dass ihr noch so kurzfristig in den Urlaub geflogen seid freut mich für euch, ich hoffe ihr erholt euch gut.
Im Fernsehen haben sie gesagt, dass es heute noch heißer wird als in den letzten Tagen – über 33 Grad.
Ich schaue mir zur Abkühlung eure letzte Weihnachtskarte an: Zu fünft sitzt ihr auf einem großen Holzschlitten – inmitten einer idyllischen Winterlandschaft – warm angezogen mit Weihnachtsmann-Mützen auf dem Kopf. Sogar die kleine Sophie, gerade mal sechs Monate alt scheint mit ihrer Kappe glücklich zu sein. Zu gerne würde ich die Kleine einmal auf dem Arm halten, aber zu Weihnachten war sie noch zu klein für so eine weite Fahrt – das verstehe ich.
„Wir besuchen dich an Ostern“, hast du versprochen, nicht ahnend, dass Sophie sich bis da hin eine böse Magen-Darm-Grippe holen würde. Ja, kleine Kinder haben immer irgendwelche Wehchen.
Ich lege die Karte zurück in meine Foto-Kiste und sehe ein hübsches Foto von deiner Frau – hochschwanger. Man sieht allerdings an ihren Augen, wie schwer diese Schwangerschaft, mit der niemand mehr gerechnet hat, war. Mit sechsundvierzig Jahren noch mal ein Kind zu bekommen ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Aber ich denke sie hat Glück, dass eure Große sie so tatkräftig unterstützt. Jetzt hat sie ja auch schon den Führerschein und kann somit auch die Wocheneinkäufe erledigen. Ich hoffe, es gefällt ihr noch bei ihrer Ausbildungsstelle, sie hat ja schon immer gern gekocht. Vielleicht macht sie ja sogar irgendwann einmal ihr eigenes Restaurant auf – das wäre doch schön.
Gestern war die Putzfrau da. Ihre Tochter hat die Ausbildung als Köchin abgebrochen – sie wollte nicht immer ständig am Wochenende arbeiten. Caro macht das wohl nichts aus.
Schade, dass es auch an Pfingsten mit eurem Besuch nicht geklappt hat. Aber ich halte gerade das Foto von Timo beim Pfingstturnier in der Hand. Er strahlt wie ein Honigkuchenpferd mit seiner Silbermedaille. Nächstes Jahr klappt es bestimmt mit dem ersten Platz.
Musste mal kurz Pause machen. Hatte wieder einen schlimmen Gichtanfall. Es ist ärgerlich, wenn einem der eigene Körper einfach nicht mehr gehorcht.
Ich muss unweigerlich an meinen Vater denken, der mich immer gescholten hat, wenn ich meine Fingergelenke hab knacksen lassen. „Du bekommt davon Gicht“, hat er mich immer gewarnt, aber ich wollte ja nicht auf ihn hören. Es ist ja auch nicht sicher, ob die Gicht tatsächlich davon kommt. Weißt du was? Wenn meine Finger zwischen durch schmerzfrei sind, lasse ich sie immer noch knacksen – ein kleiner Rest Rebellion gegen die väterliche Pädagogik.
Neulich hatte ich im Supermarkt an der Kasse einen Anfall. Meine Besorgungen hatte ich schon alle im Rollator verstaut, aber als ich bezahlen wollte haben sich meine Finger alle verkrampft, und ich war völlig unfähig mit diesen Klauen den Geldbeutel zu öffnen. Die Kassiererin musste sich selbst bedienen, und die anderen Kunden sahen zu; mitleidige aber auch zum Teil genervte Blicke richteten sich auf mich – das war mir sehr peinlich.
Habe auch noch schnell den Müll raus gebracht. Musste den Erdbeerkuchen wegwerfen, er war komplett mit Schimmel überzogen. Mag die kleine Sophie auch so gerne Erdbeeren wie ihre Geschwister?
Ich habe die Abräumung von Papas Grab veranlasst, die Nutzungszeit war abgelaufen. Hätte nie gedacht, dass ich ihn mal so lange überleben würde. Du hast schon Recht getan, dass du eine ältere Frau geheiratet hast. Männer sterben einfach viel zu schnell. Hier im Haus leben fast nur Witwen, wusstest du das? Neulich hat Frau Roßberger den Notrufschalter mit dem Lichtschalter verwechselt. Ich muss sagen, dass die wirklich schnell da waren. Jetzt muss sie den Einsatz aber bezahlen. Wenn du mich fragst gehört die Frau in ein Altersheim, die ist total verkalkt. Ich hab sie schon zweimal dabei erwischt, wie sie ihren Müll in meinen Eimer geworfen hat.
Übrigens haben sie auf dem Friedhof hier jetzt eine Urnenwand aufgestellt. Das wäre für mich in Ordnung. Selbstverständlich kannst du meine Urne auch zu euch hoch schicken lassen. Ich hab das alles schon mit dem Bestatter besprochen. Er wir sich dann mit dir in Verbindung setzen.
Ach ja – ich hätte dir noch so viel zu sagen, aber die Finger tun schon wieder weh.
Ich bin so müde.
Ich habe starke Schlaftabletten besorgt – bitte sei mir nicht böse.
Aber gibt es etwas Schöneres als selig einzuschlafen und alles hinter sich zu lassen?
Ich hoffe nur, es gibt keinen Himmel, wie man es den Kindern immer verspricht. Was will ich denn da? Außerdem bliebe mir nach meinem Vorhaben dahin der Weg sowieso verwehrt.
Ich hatte ein langes erfülltes Leben. Ich möchte nur noch schlafen.
Deshalb sag ich jetzt Lebwohl.
Gib der kleinen Sophie einen dicken Kuss von ihrer Oma.
Ich hab euch lieb.
Ich sah in meinem Traum noch, wie zitternde Hände nach einer Tablettenpackung griffen, dann bin ich aufgewacht mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust.
Aber Träume sind Schäume, oder?
Nach der zweiten Tasse Kaffee habe ich jedoch beschlossen, die Finger-Knackserei nach Möglichkeit einzuschränken.
Außerdem hab ich mich spontan zum Essen bei den Eltern eingeladen – man kann Vater und Mutter nicht oft genug besuchen – und ich muss ihnen dringend mal wieder sagen, dass ich sie lieb habe.
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2014
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Widmung:
für Mama - ich hab dich ganz doll lieb!