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Jahreswandel

 

 

 

 

 

 

 

 

Stephanie M. Schwartz. Geboren 1982 in der Nähe von Salzburg in Österreich, aufgewachsen an einem kleinen See, im Oberösterreichischen Seengebiet, kam bereits früh mit dem Medium Buch in Kontakt.

Kaum konnte sie lesen, verschlang sie regelrecht jedes Buch, das ihr zwischen die Finger kam. Als sich bei einer Untersuchung herausstellte, dass sie unter einer leichten Form der Legasthenie leidet, beschloss sie diese zu bekämpfen indem sie begann ihre Gedanken und Erlebnisse zu Papier zu bringen.

Ein begonnenes Studium der Germanistik und Kommunikationswissenschaften scheiterte an der österreichischen Studiengebühr.

Als Angestellte verbringt sie nun ihre Freizeit mit dem Schreiben diverser Bücher und Kurzgeschichten.

 

Neuigkeiten über die letzten Buchprojekte finden sich auf der Facebookseite.

 

Feedbacks, Vorschläge und Sonstiges können an stephanie_m_schwartz@yahoo.com gesendet werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Liebsten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Handlung dieses Romans, sowie die handelnden Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Schwartz, Stephanie M.

Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt dieses Buches ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung nicht vervielfältigt oder weitergegeben werden.

Frühlingserwachen

 

1.

 

Wie beinahe jeden Tag um diese Uhrzeit holte der Wecker Carolina unsanft aus dem Tiefschlaf. Wieder einmal wachte sie aus diesem seltsamen Traum über Baywatch auf, der sie in letzter Zeit immer häufiger beschäftigte. Warum wurde sie diese Träume einfach nicht los? Immerhin war es Jahre her, seit sie das letzte Mal die Serie gesehen hatte. Noch schlimmer war allerdings, dass ihr diese dunkelhaarige Schauspielerin nicht mehr aus dem Kopf ging.

Ein warmes Gefühl durchströmte sie, als das Gesicht der Frau vor ihrem geistigen Auge vorüberzog.

Mit einer Handbewegung wischt sie das Bild von sich und wälzte sich murrend aus ihrem Bett. Es wurde langsam notwendig, dass sie ihr Zimmer wieder einmal aufräumte. Dieses Durcheinander war mittlerweile selbst für ihre Verhältnisse zu viel.

Aus den kleineren und größeren Kleiderhaufen fischte Carolina ein Paar Socken und einen Tanga, die sauber aussahen und nicht stanken. Die Schranktür stand offen und für einige Augenblicke betrachtete sie sich im darin angebrachten Spiegel.

Wirklich hübsch fand sie sich nicht, auch wenn sie sich über mangelnde Aufmerksamkeit seitens der Jungs nicht beschweren konnte. Gut, der Bauch war schön flach und das Piercing darin, von dem ihre Eltern nichts wussten, glitzerte aufregend.

Aber sonst?

Die Oberschenkel waren zu dick, die Hüfte zu breit. Das was dort zu viel war schien dafür an ihrem Busen zu fehlen. Ein mickriges A-Körbchen. Damit war Carolina mehr als unzufrieden.

Warum hatte sie nicht die Brüste ihrer Mutter geerbt? Die waren schön groß und auch nach vier Kindern und mit über 40 noch fest und straff.

Gähnend kratzte sie über ihren Bauch und schloss die Schranktür. Für heute hatte sie sich genug über ihren Körper geärgert. Der anstehende Tag verdarb ihr ohnehin bereits so kurz nach dem Aufstehen die Laune. Ein typischer Schultag eben.

Der einzige Lichtblick war, wie eigentlich immer, dass sie Philip jetzt gleich im Bus treffen würde. Er war wirklich ein Traum von einem Jungen und jede ihrer Freundinnen war von Neid zerfressen, dass ausgerechnet sie ihn sich geangelt hatte.

Seit über drei Monaten waren sie nun bereits zusammen und langsam aber sicher wurde es ernst. Philip war mittlerweile bereits bis in ihr Höschen vorgedrungen und drängte immer mehr darauf mit ihr zu schlafen. Noch war sich Carolina nicht wirklich sicher, ob sie das auch wirklich wollte.

Allerdings fühlte sie langsam aber sicher den Druck, der von allen Seiten auf sie einzudringen schien. Ihre Freundinnen waren alle keine Jungfrauen mehr und so manche trieb es bereits jetzt schon mehr als wild. Carolina war dafür, dass sie ihren Spaß hatten, doch für sich selbst, sah sie die Sache etwas konservativer.

Nicht, dass ihr etwas an dem Häutchen liegen würde oder, dass sie gar Angst vor dem ersten Mal gehabt hätte. Aber sie wusste nicht, ob Philip wirklich der Richtige dafür war.

Etwas fehlte einfach.

Noch konnte Carolina nicht mit dem Finger darauf zeigen, doch sie wusste es. Die Beziehung zwischen ihnen war nicht so, wie sie es sich erträumt hatte. Sie mochte Philip, das stand außer Frage, doch Liebe?

War das wirklich Liebe, was sie fühlte? Wenn ja, dann übertrieben Sänger und Drehbuchschreiber wirklich maßlos.

Abermals öffnete Carolina die Schranktür und blickte sich selbst in die grünen Augen. Das schwarze, lange Haar wirkte fettig und nicht sonderlich gepflegt, doch sie hatte am Vortag keine Lust gehabt, es zu waschen.

Wieder wanderte ihr Blick an ihrem nackten Körper hinab und mit einem Kopfschütteln schlug sie die Tür wieder zu.

›Es wird so oder so bald passieren‹, dachte sie, ›Dann doch lieber mit einem Typen, den ich mag.‹

Ihre Hand strich über ihren Bauch, hinab zu ihrem Schamhaar. Seit zwei Wochen hatte sie sich nicht mehr rasiert. Es störte sie auch nicht, denn so dicht wuchsen sie noch nicht, doch vielleicht würde es Philip stören.

Bevor sie in ihren Tanga schlüpfte, beschloss sie, sich am Abend ein Bad zu gönnen und sich wieder einmal gründlich zu rasieren.

Als sie ihre Socken angezogen hatte fehlte noch ein BH. Genervt ging Carolina auf die Knie und durchwühlte die verschiedenen Wäschehaufen, bis sie endlich einen gefunden hatte. Wie es der Zufall wollte, passte der sogar farblich einigermaßen zu ihrer Unterhose.

Im gleichen Haufen fand sie auch ihren schwarzroten Rock mit Rautenmuster und eine weiße Bluse. Zwar hatte das etwas von einer Schuluniform, doch sie mochte es.

Noch einmal öffnete sie ihre Schranktür und stellte sich vor den Spiegel. Rock und Bluse waren schnell angezogen und es ging ans Styling. Mit schnellen Griffen teilte Carolina ihre schwarzen Haare in zwei Zöpfe, links und rechts über den Ohren und befestigte sie mit zwei großen, roten Schleifen.

Ihr Blick fiel auf ihre alte Hello-Kitty-Wanduhr. Die Farbe war bereits ausgeblasst und die Zeiger etwas verbogen, doch sie hing an dieser Verbindung zu ihrer Kindheit.

Kurz vor sechs Uhr, Carolina war bereits spät dran. Allerdings musste sie vorsichtig und leise sein, denn die Familie schlief bestimmt noch.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und huschte hinüber ins Badezimmer. Auch hier herrschte das Chaos. Das war allerdings nicht weiter verwunderlich. Immerhin benutzten nur sie und ihren drei Geschwistern dieses Bad und waren auch dafür verantwortlich, dass es sauber gehalten wurde. Kein Wunder also, dass das nicht wirklich funktionierte.

Auf dem höchsten der Regale standen Carolinas Sachen. Sie musste sie dort oben in Sicherheit bringen, damit Stefanie, ihre kleine Schwester, sich nicht noch einmal mit ihrem wasserfesten Kajal selbst tätowieren konnte. Allerdings war sie mittlerweile fünf Jahre alt und sollte es eigentlich besser wissen.

Das helle Gesichtspuder ließ ihre sonst eher dunkle Haut beinahe weiß erscheinen. Wie immer am Morgen von einer eher düsteren Stimmung beseelt, geriet der Kajalstrich viel zu dick, was sie mit dunklem Lidschatten und schwarzer Wimperntusche allerdings auch kaum kaschierte.

Die Lippen zeichnete sie mit einem knallroten Lippenstift nach und betonte das rechts neben ihrer Lippe gelegene Muttermal. Am Schluss sprühte Carolina noch etwas Deo unter die Achseln, indem sie die Hand mit der Dose in ihre Bluse schob.

Sie machte ein paar Schritte zurück und betrachtete sich im Spiegel. Anscheinend nannte man den Stil Gothic-Lolita, aber sie glaubte eher es wäre mehr in Richtung Punk angesiedelt. Allerdings war es ihr auch egal, es war ihr Stil, den sie für sich selbst entwickelt hatte.

Gedankenverloren schluckte sie die Pille und erkannte, dass noch etwas fehlte.

Natürlich!

Die blickdichte Strumpfhose.

Schnell huschte Carolina zurück in ihr Zimmer, zog die weiße Strumpfhose an, die schwarzen Strümpfe darüber und suchte ihre letzten Sachen für die Schule zusammen.

Als der Rucksack gepackt war ging es leise hinunter ins Untergeschoss des Hauses. Eigentlich war ihr ja auch egal, wenn ihre Geschwister aufwachten, doch die waren wie kleine Steine, die eine Lawine in Gang setzten. Sie würden ihre Eltern aufwecken. Mama und Papa kamen nach unten und sahen ihre Älteste. Dann könnte sie sich wieder eine Standpauke über ihren Aufzug anhören. Und genau das fehlte ihr noch um diese Uhrzeit.

Frühstücken wollte sie nicht, aber Carolina packte einen Apfel für die Schule ein, damit sie wenigstens etwas zwischen die Zähne bekam. Zu viel wollte sie ohnehin nicht essen, sonst würde sich ihr Arsch noch weiter ausdehnen und das wollte sie unbedingt vermeiden.

Der Blick auf die Uhr verriet, dass es allmählich Zeit wurde, zum Schulbus zu gehen. Der Weg zur Haltestelle war zwar nicht sehr weit, doch wie immer geriet sie gleich unter die anderen Schüler, die auch auf dem Weg waren. Und wie immer dauerte es auch nicht lange bis die ersten blöden Sprüche kamen. Man zog sie wegen ihrer Kleidung auf oder weil sie noch Jungfrau war und Carolina revanchierte sich mit Sprüchen über ihre Pickelgesichter und Minischwänze. Insgeheim trafen die Sticheleien Carolina jedoch tiefer, als sie es sich selbst eingestand. Einerseits waren es nur Kinder und selbst die würden wohl irgendwann erwachsen werden. Andererseits bildeten sie den Kern der Gesellschaft. Die angepasste Masse, sozusagen.

Wie würden sie sich wohl in Zukunft verhalten. Würden sie weiterhin jedem Fremden derart feindlich gegenüberstehen? Oder würden sie bereit sein sich Neuem zu öffnen, Anderes zu akzeptieren oder gar selbst über ihren Schatten zu springen?

Für Carolina war dies eine rein rhetorische Frage. Sie hielt die Masse der Menschen ohnehin für dumm. Je mehr Menschen sich zu einem Haufen zusammenrotteten, umso dümmer und irrationaler wurden sie. Das schien ein Naturgesetz zu sein. Nicht anders war es hier. Wer zu schwach war sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren, der passte sich der Masse an und übernahm ihren Geschmack und ihre Vorlieben.

Nein, sie würden sich nie ändern, schloss Caro still für sich ab und diese Einsicht machte sie doch etwas traurig. Immerhin stellten diese Kinder, genauso wie sie selbst, die Zukunft dar.

Nach außen wirkte Carolina selbstsicher, als könnten ihr der Spott und die Sprüche nichts anhaben. Doch innerlich war sie zerbrechlicher als ihr selbst bewusst war. Ihre Kleidung war für sie wie eine Maske. Hinter ihr konnte sie sich selbstbewusst geben. Außerdem brachte sie ihr Aussehen oft ins Gespräch, wenn sie niemanden kannte. Andererseits schreckte es auch ab, doch damit konnte sie leben.

Carolina war nicht dumm, auch wenn sie sich gerne so stellte. Jungs in ihrem Alter konnten mit klugen Mädchen nicht umgehen. Vermutlich genauso wenig wie die meisten Männer mit intelligenten Frauen. Sie fühlten sich von ihnen bedroht oder in ihrer Männlichkeit angegriffen oder welch lächerliche Gründe dahinter auch stecken mochten. Caro wusste es nicht und es war ihr auch egal. Sie hatte sich damit abgefunden ständig aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt und nicht für voll genommen zu werden. Doch sie würde es allen beweisen!

An der Haltestelle wartete bereits Lily auf sie. Lily war ihre beste Freundin, schon seit sie gemeinsam in den Kindergarten gegangen waren. Sie war ähnlich gekleidet wie Carolina und hätte sie nicht knallrote Haare gehabt, hätte man sie gar für Zwillinge halten können.

Wie jeden Tag begrüßten sie sich mit einem Kuss auf den Mund. Die Jungs lästerten immer über die, wie sie meinten, Lesben, die sich jeden Tag küssten, doch die Mädchen reagierten nicht darauf.

Insgeheim musste sich Carolina sogar eingestehen, dass es immer einer der schönsten Momente des Tages war, wenn sie Lily küsste. Es war so angenehm ihre Lippen zu fühlen, so weich und zärtlich.

Carolina schnitt eine Grimasse und wischte den Gedanken beiseite.

Mit Philip war es schöner, versicherte sie sich mehrfach, als sie in den Bus stiegen.

Da saß er auch schon. Wie immer breit grinsend und mit seiner Baseballkappe. Wortlos zog er sie auf seinen Schoß und steckte Carolina seine Zunge so tief es ging in den Hals.

›Als wäre mein Hals ein Glas und er fischt mit seiner Zunge nach der letzten Olive darin‹, schoss Carolina durch den Kopf.

Wirklich gut küssen konnte er nicht, aber wenn es ans Streicheln ging, dann war er sehr zärtlich. Zumindest fühlte es sich schön an, wenn er sie berührte.

»Hi mein Süßer, wie geht’s dir?«, wollte sie wissen, nachdem er von ihr abgelassen hatte und rutschte von seinem Schoß auf den Platz neben ihn.

»Super. Was tust du heute nach der Schule? Meine Eltern sind nicht daheim.«

Er war selten direkt, das war typisch für ihn.

Warum sagte er nicht einfach, was er wirklich dachte: ›Komm zu mir und lass mich endlich zwischen deine Beine!‹

Irgendwie mochte Carolina doch genau dieses Verhalten an ihm. Auch wenn er es nicht aussprach, so wusste sie doch gleich, woran sie war. Und waren sie alleine, dann lag sowieso alles in seiner Hand. Es gefiel ihr, dass er die Zügel in die Hand nahm und sie führte. Allerdings ob sie wirklich heute mit ihm den Nachmittag alleine verbringen wollte, wusste sie noch nicht.

Ihre Zweifel verdrängend antwortete sie, ohne groß darüber nachzudenken: »Cool, klingt gut.«

Die Fahrt zur Schule nahm ihren gewohnten Lauf. Wie immer fummelte Philip etwas ungestüm und alles andere als zärtlich an ihren Brüsten herum, während er ihr seine Zunge so tief er konnte, in den Hals steckte. Doch es störte Carolina nicht weiter. In gewisser Weise war es doch auch angenehm.

Hand in Hand wanderten sie von der Haltestelle in die Garderobe und dann hinauf zu ihren Klassen. Da blieb er schließlich stehen und sah Carolina tief in die Augen.

»Dann sehen wir uns nach der Schule? Du fährst einfach gleich mit zu mir?«

»Klar können wir machen. Bis dann«, hauchte sie und wandte sich ab.

Abermals stiegen Zweifel in ihr hoch, doch sie unterdrückte sie, wie bereits so oft. Es würde seinen Weg gehen. Das war nun einmal so.

 

Obwohl es ein Freitag war und nur sechs Stunden am Plan standen, wollte die Zeit nicht vergehen. Besonders die letzten zwei Stunden Sport würden wieder anstrengend und vor allem nervend.

Vielleicht sollte sie über Regelschmerzen klagen, dann dürfte sie aussetzen, aber das konnte sie kaum. Nicht schon wieder! So oft hatte niemand die Regel, das würde sicher auch Frau Schuster auffallen.

Nein, sie würde in den sauren Apfel beißen müssen. Und ihrem Arsch würde etwas Bewegung bestimmt auch nicht schaden. Außerdem mochte sie Frau Schuster.

Die Mädchen im Umkleideraum waren laut wie immer. Carolina war die Einzige, die mit wirklich allen der Mädchen befreundet war und auch in der Klasse war sie sehr beliebt. Ihre Maske half ihr dabei sich zu verstellen. Keiner wusste, wie es in ihr aussah. Wenn sie ehrlich zu sich war, wusste sie es selbst nicht genau.

Ihre Klasse verstand sich ohnehin als Einheit. Es gab nur einen Außenseiter, mit dem sich niemand verstand und der allerdings auch nicht versuchte sich in diese Gruppe zu integrieren.

Wie jedes Mal wanderte ihr Blick unbewusst durch die Umkleide, als die Mädchen in Unterwäsche dastanden. Sie war sich dessen zwar bewusst, konnte es aber nicht verhindern. Unwillkürlich musterte sie die andern Mädchen und verglich sich mit ihnen. Viele hatten bereits eine viel weiblichere Figur als sie, aber auch einige, die noch immer sehr knabenhaft wirkten. Doch am besten gefiel ihr Kisha.

Kisha war die Tochter eines Einwanderers aus dem Kongo, der eine Einheimische geheiratet hatte. Die Mulattin hatte eine wunderschöne, dunkle Haut und bereits mit fünfzehn einen äußerst sinnlichen Körper. Ihre großen, mandelförmigen Augen wirkten so offen und in den unzähligen, engen Locken hätte sie am liebsten ihre Hände vergraben.

Mit einer Handbewegung wischte sie auch diese Gedanken von sich. Immer wieder in letzter Zeit wurde sie davon überrascht und immer weniger war sie dazu in der Lage sich dagegen zu wehren.

Nach über einer Stunde Volleyball war sie erschöpft, verschwitzt und freute sich bereits auf eine heiße Dusche. Glücklicherweise mussten sie nicht mit den Jungs der Klasse Sport machen. Vierzehn Mädchen unter sich waren viel angenehmer und sie musste sich nicht mit der sinnlosen Brutalität und Aggressivität der Jungs herumplagen.

Wie immer war Carolina eine der Letzten in der Dusche. Sie timte das immer so, denn so konnte sie einen Blick auf all ihre Mitschülerinnen werfen.

Der Vergleich mit ihnen gab Carolina ein Gefühl der Sicherheit. Sie konnte sich davon überzeugen, dass sie ihr körperlich nicht so weit voraus waren, wie sie manchmal dachte. Aber dieser Vergleich war nicht der wahre Grund.

Der dampferfüllte Raum leerte sich mit der Zeit zusehends und immer wieder ertappte sich Carolina wie sie ihren Freundinnen kurz nachstarrte, als sie zurück in die Umkleide gingen, um sich wieder anzuziehen.

»Ciao Mädels«, tönte die Stimme von Frau Schuster durch die Garderobe, »Ich wünsche euch ein schönes Wochenende!«

Die Lehrer benutzten immer die gleiche Dusche wie die Schüler, wenn auch immer erst nach ihnen. Es dauerte nicht lange, bis der schlanke, durchtrainierte Körper von Carolinas Lehrerin in den dichten Dampfschwaden auftauchte.

»Oh, hallo Carolina. Noch nicht fertig?«

»Nein, Frau Professor. Ich bin immer etwas langsamer, weil ich das warme Wasser genieße.«

Frau Schuster lachte. Es war ein glockenhelles, aufrichtiges Lachen. Wenn sie bloß einmal zu ihr käme und Carolina berührte.

Erschrocken über diesen Gedanken fühlte das Mädchen, wie sie langsam rot wurde. Sofort begann sie ihre Haare intensiver zu waschen um sich davon abzulenken.

»Ich verstehe dich gut, ich genieße es auch, besonders wenn es draußen kalt ist«, sagte Frau Schuster.

Etwas entspannter seifte sich Carolina ein und streifte dabei immer wieder ihre Klitoris, was sofort ein warmes Gefühl in ihrem Bauch auslöste. Sie beobachtete ihre Lehrerin, deren Körper von den unzähligen Wassertropfen glänzte. Wie gern würde sie diese von der glatten, hellen Haut von Frau Schuster ablecken.

Entsetzt schüttelte Carolina den Kopf und stellte das Wasser ab. Sie war bereits stark erregt und fühlte ,wie sie abermals rot wurde. Hoffentlich bemerkte die Professorin das nicht.

»Ein schönes Wochenende«, wünschte Carolina mit gesenktem Kopf und hörte die Erwiderung erst, als sie bereits in der Umkleide war.

Schnell trocknete sie sich ab, die erogenen Zonen so gut wie möglich aussparend um sich nicht noch mehr in Fahrt zu bringen und zog sich an.

Woher kam bloß diese ungewohnt starke Erregung? Und warum immer dann, wenn sie an Frau Schuster dachte?

Ein Blick auf die Uhr bewies, dass sie kaum noch Zeit hatte. Der Bus würde nicht auf sie warten.

Sie hetzte durch die Gänge runter in die Garderobe, zog ihre Straßenschuhe an und rannte den Weg hinter der Schule entlang bis zur Haltestelle. Der Bus stand noch da, aber viel zu viele Schüler drängten sich, wie immer, in die beiden Busse.

Laut dem, was in den Bussen stand, wie viele Passagiere sie befördern durften, wären die Verkehrsbetriebe noch nicht einmal mit dreien ausgekommen. Aber so quetschte man sich einfach hinein und auch Carolina fand noch einen Platz direkt an der Eingangstür.

Irgendwo musste hier auch Philip sein, doch sie konnte ihn nicht entdecken.

Im selben Augenblick läutete ihr Handy.

»Ja?«

»Hey Baby, wo bist du?«

»Ich bin im Bus und du?«, antwortete sie leicht genervt.

»Ich auch. Ich hoffe, du vergisst jetzt dann nicht auf mich?«

»Nein, nein, ich steige bei dir aus.«

»Gut, dann bis gleich.«

Der Bus ruckte an und Carolina wurde gegen Kisha gedrückt. Für einen Augenblick spürte sie ihre weichen Brüste, roch das nach Blumen duftende Shampoo und fühlte ein seltsames, vertrautes Gefühl, ehe sie sich wieder von ihr trennte.

»Sorry.«

»Kein Problem. Gehst du heute fort?«, fragte Kisha.

»Ich weiß nicht. Philip hat heute sturmfrei.«

»Oh«, machte ihre Freundin leise und lächelte wissend, »Endlich der Abschied von der Jungfräulichkeit?«

»Ich weiß nicht Kisha. Ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin«, antwortete Caroline, »Und das ist nun wirklich nicht der richtige Ort für solche Gespräche.«

»Ach was«, lachte Kisha, »Kein Mensch hört uns hier zu. Pass auf: Ficken!«

Carolina fühlte, wie sie errötete, doch niemand kümmerte sich um das, was Kisha gesagt hatte.

»Siehst du«, meinte sie triumphierend, »Das erste Mal ist nicht so schlimm, wie man denkt. Ich fand es ganz schön, auch wenn mich der Kerl danach total verarscht hat.«

»Vielleicht hast du ja recht«, gab Carolina zu, »Aber ich habe meine Zweifel. Auch an Philip.«

»He, wir sind fünfzehn«, antwortete Kisha, »Meine Mutter war mit dem Alter schon mit mir schwanger.«

»Ich weiß.«

»Du siehst allerdings nicht so aus, als ob du es wolltest.«

»Müssen wir wirklich hier darüber reden, Kisha?«

»Hier ist so gut wie woanders auch.«

Sie lächelte und zeigte ihre wunderbaren, weißen Zähne. In Carolina stieg plötzlich das Verlangen auf ihr ein Kompliment zu machen, doch sie unterließ es.

»Also?«, fragte Kisha und legte ihre Hand auf Carolinas Schulter.

Die Stelle an der ihre Schulkameradin sie berührte, schien heiß zu werden.

»Es ist nichts. Ich weiß nur nicht, ob er der Richtige ist«, antwortete Carolina schließlich flüsternd.

»Ach was«, machte Kisha, »Wenn du auf den Richtigen wartest, entgeht dir unendlich viel Spaß, das kannst du mir glauben. Und selbst wenn es dir nicht gefällt, dann gibt es noch so viele Jungs da draußen. He, du siehst doch gut aus, auf deine etwas abgedrehte Art. Und irgendwann kommt der Richtige und du hast schon Erfahrung und es wird besser als du dir jemals vorstellen könntest!«

Kisha lachte abermals und drückte Carolina an sich. Die wünschte, dieser Moment würde ewig dauern, doch viel zu schnell lösten sie sich wieder voneinander.

»Du hast bestimmt recht«, meinte Carolina, »Ob jetzt mit ihm oder mit jemand anderem ist auch schon egal.«

»Meine Rede. Mehr Spaß für uns Mädel!«, lachte Kisha, »Das erste Mal wird sowieso überbewertet. Normalerweise ist es Scheiße, weil oft beide nicht wissen, was sie tun. Wirklich gut wird es erst mit der Zeit. Wenn du weißt, was du willst und er sich etwas besser auskennt.

Außerdem wird die Jungfräulichkeit überbewertet. Dieser ganze Reinheits-Scheiß, das geht mir sowieso auf die Nerven.«

»Um das geht es mir nicht«, antwortete Carolina, »Es ist kompliziert. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt will. Ach, vergiss es.«

»Hast du Angst vor den Schmerzen oder was?«

»Vergiss es, ich glaube, ich tu es einfach. Dann hab ich es endlich hinter mir.«

Der Bus hielt in einer kleinen Ortschaft. Wie immer war an diesen Stellen das Gedränge am größten und auch für Kisha war es an der Zeit auszusteigen.

»Also wir sehen uns vielleicht heute Abend. Vielleicht bist ja dann um ein paar Erfahrungen reicher«, meinte Kisha, zwinkerte und verließ den Bus.

»Vielleicht«, erwiderte Carolina mit schwacher Stimme.

»Ruf mich an!«, rief Kisha dem Bus hinterher, der sich langsam wieder in Bewegung gesetzt hatte.

 

Noch immer war Carolina verwirrt. Woher kamen dieses Gefühl der Geborgenheit und Wärme, dass sie in Kishas Gegenwart gespürt hatte?

Woher kam diese unheimliche Anziehung, die von ihr und Frau Schuster ausging?

Das alles war nicht richtig. Sie sollte sich von Jungs angezogen fühlen, nein, sie fühlte sich von Jungs angezogen. Zumindest glaubte Carolina das. Allerdings mochte sie auch Mädchen, wie ihr ein weiteres Mal klar wurde.

Natürlich gefiel ihr auch Philip. Warum auch nicht? Er war ein hübscher Kerl, nett, zärtlich, treu. Aber trotzdem fehlte etwas.

Wenn sie sich küssten, dann war da zwar eine gewisse Spannung und es war durchaus befriedigend, wenn er sie streichelte, aber dennoch fehlte etwas. Was es war konnte sie einfach nicht sagen.

Vielleicht war es einfach, weil sie ihn nicht wirklich liebte.

Erschrocken über diese Erkenntnis hielt sie ich die Hände vor den Mund, als wollte sie verhindern, dass sie die Worte aussprach.

Nein, wenn sie ehrlich mit sich war, dann liebte sie Philip nicht. Sie mochte ihn, verbrachte gern Zeit mit ihm, aber es war bestimmt keine Liebe.

Der Bus leerte sich zusehends und hielt schließlich endlich in der Nähe des Hauses von Philips Eltern.

In diesem winzigen Kaff gab es nicht viel außer zwei Gasthäusern, einem kleinen Geschäft und ein paar Wohnhäusern. Wenn er am Wochenende fortgehen wollte, musste Philip in den nächsten Ort fahren. Wenigstens hatte er schon ein Auto und seit ein paar Monaten auch den Führerschein, wenn auch mit Einschränkungen, weil er erst siebzehn war.

Kaum war Carolina aus dem Bus gestiegen, kam auch er aus der hinteren Türe. Erst ignorierte er sie vollständig und verabschiedete sich von seinen Freunden, doch dann kam er endlich zu ihr. Ungestüm packte er Carolina um die Hüften und drückte sich fest an sie. Wie immer drängte seine Zunge forsch zwischen ihre Zähne und suchte die ihre, während seine Hände sanft, aber bestimmt über ihre kleinen Brüste streichelten.

»He«, meinte Carolina neckisch, »heb dir was für später auf.«

Ohne weitere Worte marschierten sie Hand in Hand zum Haus von Philips Eltern und direkt hinauf in sein Zimmer. Als er die Tür schloss, wurde Carolina ganz flau im Magen, während sie sich auf dem Bett ausstreckte.

Obwohl sie alleine im Haus waren verschloss Philip die Zimmertür, ehe er sich neben sie ins Bett fallen ließ.

Carolina wurde sich in diesem Moment gleich mehrerer Dinge bewusst. Es würde passieren. Hier und heute. Und morgen wüsste sie, ob sie es noch ertragen, könnte auch weiterhin mit Philip zusammenzubleiben.

Sie schloss ihre Augen und fühlte Philips Atem auf ihrer Haut. Seine Hände, wie sie langsam über ihren Körper streichelten und sie unterdrückte ein Stöhnen.

Es würde passieren.

Es musste endlich passieren.

Carolina hatte keine Angst davor. Dennoch war sie froh, als die aufkommende Erregung ihre Zweifel langsam abtötete und ihre Bewusstsein vernebelte.

2.

 

Lange hatte die Beziehung mit Philip nicht gehalten. Die Zeit war zwar wie im Flug vergangen, aber wahre Liebe kam, vor allem von Carolinas Seite, nie auf. Also beendete sie schließlich die Geschichte, bevor es sich noch mehr vertiefte und die Trennung noch schmerzhafter wurde.

Es folgte ein Jahr, in dem sich ihr Privatleben las, wie das Drehbuch eines schlecht geschriebenen Pornos. Freund kam nach Freund, Affäre folgte auf Affäre. Carolina fühlte sich wie getrieben. Sie war auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit. Doch mittlerweile war sie sich darüber im Klaren, dass sie genau das in ihren oberflächlichen Sexbeziehungen niemals finden würde.

Also nahm sie sich vor, vorerst einfach nur Spaß zu haben und das Leben zu genießen. So folgte weiterhin Mann auf Mann, One-Night-Stands wechselten sich mit Beziehungen ab, die jedoch nie länger als ein paar Monate hielten.

Immer häufiger ertappte sich Carolina allerdings dabei, dass sie selbst während des Sex an Kisha oder Frau Schuster dachte. Was sie in den Momenten zwar irritierte, ihr andererseits zu größter Lust verhalf.

Ansonsten hatte sich in den letzten beiden Jahren kaum etwas geändert. Außer, dass sie mittlerweile um einiges zufriedener mit ihrer Figur war. Zwar waren ihre Hüften noch immer viel zu breit und ihr Arsch zu groß, doch nachdem ihre Brüste einen wahren Wachstumsschub hinter sich und nun drei Körbchengrößen zugelegt hatten, passte wenigstens das Gesamtbild. Zumindest fand das Carolina.

Doch erst als Lily und später auch Kisha feste Freunde fanden, mit denen sich auch ernsthafte Beziehungen entwickelten, beruhigte sich Caro langsam wieder.

Es war Montagmorgen und sie lag mit offenen Augen im Bett. Der Wecker hatte noch nicht geläutet, aber ihr ging zu viel durch den Kopf, um wieder einschlafen zu können. Sie hatte bisher mit fünfundzwanzig verschiedenen Männern geschlafen, rekapitulierte sie.

Der jüngste war siebzehn gewesen, der älteste zweiunddreißig. Jeder war besser als der andere, zumindest hatte sie den Eindruck. Sie hätte auch nicht behaupten können, ihr hätte der Sex nicht gefallen. Sie fühlte sich, mehr oder weniger, jedes Mal befriedigt. Doch das war es auch. Es schien keine Nähe zu den Männern zu geben, kein Gefühl der Geborgenheit.

Das fehlte.

Seit Monaten fühlte sie nun diese unendliche Leere in sich, die immer mehr von ihrem Selbst Besitz zu ergreifen schien. Eine unerfüllbare Leere, wie ein gähnendes schwarzes Loch, das sich aufmachte, ihre Seele zu verschlingen.

In den vielen Stunden, die sie immer wieder wach im Bett gelegen hatte, versuchte sie sich darüber klar zu werden, was sie vermisste. Was sie brauchte, um diese Leere in sich zu füllen. Langsam kristallisierte sich eine Antwort auf all ihre Fragen heraus. Und diese Antwort machte ihr Angst.

Immer wenn sie an Kisha, Lily oder Frau Schuster dachte schien sich diese Leere für einen kurzen Augenblick zu füllen. Es war, als würden ihre Gesichter wie Kerzen einen dunklen Raum erhellen, der sich dort befand, wo eigentlich Carolinas Herz sein sollte. Doch das Licht währte immer nur kurz, ehe sich ihr Geist dagegen auflehnte.

›Nein, das kann nicht sein. Das ist nicht richtig so!‹, dachte sie und glitt aus dem Bett.

Im Dunkeln schlich sie an ihren Laptop und schaltete ihn ein. Das vertraute Summen ertönte und es dauerte einige Zeit, bis er endlich hochgefahren war. Die Systemzeit zeigte 4:18, der Wecker würde erst um 5:45 läuten, so wie jeden Tag. Aber sie würde jetzt ohnehin nicht mehr einschlafen können.

Gelangweilt surfte sie durchs Netz und landete schließlich auf einer der zahlreichen Singleseiten, auf der sie bereits registriert war. Die Männer umwarben sie, wie eigentlich jedes Mädchen mit Foto auf solchen Seiten. Täglich kamen unzählige Mails mit, teilweise grotesken, Fotos und eindeutigen Einladungen. Manchmal war sie auch schwach geworden und bislang hatte sie auch zwei der Typen getroffen, die sie hier angeschrieben hatten. Doch das waren immer nur kurze Geschichten gewesen, nie etwas ernsthaftes.

Nachdem sie alle Mails ihres Postfaches gelöscht hatte, klickte auf den Button »Zufälliges Profil« und wartete, bis es sich aufgebaut hatte. Es war ein Typ. Nicht ihr Alter und auch vom Aussehen her nicht das, was sie gerade haben wollte.

Abermals klickte sie auf »Zufälliges Profil« und wartete. Ein Mann mit kurz geschorenen, zurückweichenden Haaren und Bart. Schöne blaue Augen, aber das war‘s auch schon.

Sie gähnte und klickte wieder auf den Button. Diesmal schien es ewig zu dauern, bis sich der Verweis aufbaute. Die verfluchte Werbung machte alles extrem langsam.

Dieses Mal war es das Profil eines Mädchens, in etwa so alt wie sie selbst. Ein wirklich hübsches Ding, doch ihr Gästebuch war beinahe vollständig leer.

Neugierig las sie sich das Profil durch. Sie war tatsächlich sogar jünger als Carolina, hörte ähnliche Musik, war sportlich, gern draußen unterwegs und hatte sogar »One-Night-Stand« als Suchoption angekreuzt, ganz abgesehen von diesem Modelkörper und den wunderbaren, graublauen Augen.

Warum hielten sich die Männer hier so zurück?

Dann erst bemerkte sie die Suchparameter des Mädchens am oberen Rand der Seite.

>>Frau sucht Frau<<

»Ha, eine Lesbe. Mit dem Alter?«, meinte Carolina herablassend halblaut zu sich und wollte schon wieder weiterklicken, aber etwas ließ sie wie gebannt auf das Bild starren.

Eine gefühlte Ewigkeit verbrachte sie damit das Foto anzustarren und fühlte eine seltsame Erregung, eine Vertrautheit mit dem ihr fremden Mädchen, während sie sich immer mehr in den graublauen Augen verlor.

Sie vermerkte das Profil als Lesezeichen und beschloss sich noch ein bisschen zu vergnügen. Die Erregung des Bildes ließ sie nicht mehr los und Carolina dachte, dass sie vielleicht wenigstens danach noch etwas Schlaf finden könnte.

Beinahe automatisch wanderte ihre Hand unter ihr Nachthemd, während sie eine Seite anwählte, die Gratis-Pornos anbot.

So einem kleinen Scharfmacher konnte sie kaum widerstehen und klickte sich durch die einzelnen Streams, bis sie etwas fand, das ihr gefiel.

Es war eine dieser anspruchsvoll geschriebenen Nummern, in der es darum ging, dass eine Lehrerin ihre Schülerin verführte und dann der Direktor reinkam, um sie beide zu vernaschen. Diese Drehbuchautoren waren doch wohl alle auf den Kopf gefallen, aber für Carolina reichte diese Storyline völlig aus.

Bis zum Direktor kam sie gar nicht erst. Allein die beiden Frauen und die Dinge, die sie miteinander anstellten, erregte sie so sehr, dass sie beinahe augenblicklich mit einem leisen Röcheln kam.

Ihre Hand hatte sich um die Computermaus verkrampft und sie fühlte, wie sie schwitzte. Mit geschlossenen Augen rekapitulierte sie nochmals die Szene und war nicht überrascht als plötzlich sie die Schülerin war und Frau Schuster die Lehrerin.

Allein diese Vorstellung genügte, um sie auf einer Welle reiten zu lassen, ehe sie einen weiteren Orgasmus erlebte. Erschrocken musste sie feststellen, dass sie dabei laut vor sich hin stöhnte. Hoffentlich hatte sie niemand gehört, die Wände im Haus waren doch verdammt dünn.

Nur mit Mühe konnte Carolina sich beruhigen, ehe sie feststellte, dass sie schon seit Langem nicht mehr so befriedigt gewesen war.

Kopfkino war etwas Schönes.

›Vielleicht‹, dachte sie, brach den Gedanken jedoch gleich ab.

Doch etwas in ihr wehrte sich dagegen, den Gedanken fallen zu lassen.

›Aber warum eigentlich nicht? Nur einmal probieren.‹

So viel ging ihr durch den Kopf, als sie auf die Singleseite zurückkehrte und das Profil des Mädchens aufrief.

›Bei meinem Glück wohnt die ein paar Hundert Kilometer weit weg!‹, dachte Carolina und suchte nach der Stadt.

Das war ein wirklicher Zufall, sie kam aus der Stadt, in der ihre Schule lag, keine dreißig Kilometer entfernt. Sofort wurde Carolina heiß und sie begann zu zittern.

»Nur ein Versuch. Wenn es mir nicht gefällt, bitte schön. Wenn es mir gefällt bin ich noch lange nicht lesbisch«, murmelte sie vor sich hin ehe sie begann ein Mail zu verfassen.

Drei Mal musste sie von Neuem beginnen, bis der Text schließlich dem entsprach, was sie sagen wollte.

 

Hi.

Ich hab zufällig grade dein Profil entdeckt und sehe, dass wir so einiges gemeinsam zu haben scheinen. Aber ich komme lieber gleich auf den Punkt: Du schreibst du bist auf der Suche nach einem ONS und ich habe bisher noch keine Erfahrung mit Frauen, bin aber sehr neugierig darauf.

Vielleicht hättest du ja mal Lust dich mit mir zu unterhalten, eventuell zu treffen oder Ähnliches.

Fotos von mir findest du in meinem Profil.

Ich würde mich über eine Antwort freuen.

LG C.

 

Kaum hatte sie auf Senden gedrückt bereute Carolina es bereits wieder. Doch nun war es zu spät. Leise gähnend lehnte sie sich in dem Stuhl zurück und drehte sich ein paar Mal im Kreis. Wirklich müde war sie auch nach ihrer kleinen Selbstbelohnung zwar noch immer nicht, aber was sollte sie sonst noch machen?

Sie dachte über das Mail nach. Wenn sie ehrlich war, war sie jetzt nicht mehr so erpicht wirklich mit einer Frau ins Bett zu gehen. Das musste die Erregung gewesen sein. Jetzt wo dies abgeklungen war, wurde sie wieder von dieser Leere beherrscht, wie schon seit so langer Zeit.

Während sie noch überlegte was sie tun sollte gab es das übliche Geräusch wenn sie auf der Seite eine Schnellmitteilung bekam.

›Mal wieder einer dieser alten, schlaflosen Perverslinge, die sich im Netz an jüngere Frauen ranmachen‹, dachte sie und drehte sich wenig begeistert zum Bildschirm um.

Sie öffnete das Mail, und als sie den Absender sah, begann ihr Herz heftiger zu pochen.

 

Hi,

ich war zufällig on und hab dein Mail gelesen.

Du bist also neugierig darauf, wie es mit einer Frau ist? Nun, ich kann dir davon erzählen, aber ich weiß nicht ob dir das reicht. Ich könnte es dir natürlich auch zeigen, aber davon fang ich jetzt nicht an. ;-D

Aber wir können uns gern mal treffen, wenn du Zeit und Lust hast.

GLG A.

 

Überrascht sog Carolina laut Luft ein. Mit einem Mal wurde ihr heiß und ihre Finger begannen abermals zu zittern. Sollte sie ihr wirklich antworten?

Wirklich sicher, ob sie mit einer Frau schlafen wollte, war sie nun nicht mehr. Und doch fühlte sie wie sich die feinen Härchen auf ihrem Arm vor Erregung aufrichteten.

Nein, sie musste ihr einfach antworten und versuchte ihre Nachricht einzutippen, unfähig das Zittern ob ihrer Aufregung zu unterbinden.

 

Hi,

was treibst du um die Uhrzeit? Auch schlaflos wie ich?

Ich bin äußerst neugierig, wie es mit einer Frau ist und ich muss dir sagen, du gefällst mir wirklich gut auf den Fotos. Außerdem sind wir im gleichen Alter. Deshalb hab ich dich angeschrieben.

Wo willst du dich denn treffen? Ich bin jeden Tag in der Stadt, weil da meine Schule ist. Wir könnten uns danach ja mal treffen ...

LG C.

 

Immer noch zitternd vor Aufregung, drückte sie nervös immer wieder auf Aktualisieren, doch es kam keine Antwort mehr. Die in ihr aufgestiegene Hitze verschwand allmählich, dafür machte sich die Unmenge an Tee, die sie am Abend getrunken hatte, bemerkbar.

So leise es ging schlich sie auf die Toilette und nahm sich vor den Laptop auszuschalten und doch noch zu versuchen, wenigstens ein paar Minuten Schlaf zu finden, als sie auf dem Bildschirm das kleine Symbol entdeckte. Sie hatte also zurückgeschrieben.

Sofort wurde ihr wieder gleichzeitig heiß und kalt.

»Ich bin nur neugierig, das hat gar nichts zu bedeuten«, flüsterte sie wie ein kleines Mantra vor sich hin, bevor sie die Nachricht öffnete.

 

Hi,

ja, schlaflos und gelangweilt, das trifft‘s wohl am besten.

Hab mich mal durch deine Fotos geklickt, du bist sehr hübsch und von den Interessen sind wir uns auch ähnlich. Aber bei dir steht nur Frau sucht Mann drin.

Wo treffen? Es gibt jede Menge Cafés am Stadtplatz, da könnten wir uns ja treffen, da ist man ziemlich ungestört und kann sich nett unterhalten.

Die Frage ist das WANN! Das müsstest du entscheiden. Ich bin Montag und Freitag um 13.00 aus der Schule, Dienstag und Donnerstag um 18.00 und Mittwoch um halb 5.

Ich hoffe, es ist dir ernst mit einem Treffen, weil ich wirklich keine Lust habe dann dort auf dich zu warten und du tauchst nicht auf!

LG A.

 

Carolina war nicht überrascht über den kritischen Unterton. Natürlich wusste sie aus eigener Erfahrung, wie oft man von Kontakten solcher Seiten versetzt wurde. Doch auf sie war Verlass.

Mit zitternden Fingern begann Carolina zu tippen. In ihr stritt sich noch immer ihr Gewissen mit sich selbst, ob sie das nun wirklich probieren sollte oder nicht. Aber ihre Finger tanzten wie von selbst über das Keyboard. Sie war wirklich überrascht was sie da schrieb, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.

 

Hi,

also wenn ich sage, ich komme, dann tauch ich bestimmt auch auf! Ich steh zu meinem Wort! Auch wenn ich jetzt schon extrem nervös bin. Um dir zu zeigen, wie ernst es mir ist, wie wär’s mit einem Treffen heute? Ich bin heute auch um 13.00 aus der Schule, wir könnten uns beim Meißl treffen, wenn du das Café kennst.

Ich häng dir noch meine Handynummer an, damit wir uns zusammenrufen können, wenn was dazwischen käme.

Würd mich freuen, wenn du so kurzfristig Zeit hättest.

LG Carolina

 

Sie hatte es wirklich getan. Carolina konnte es nicht fassen. Gerade hatte sie ein Date mit einer Frau vereinbart.

›Das ist falsch‹, sagte ihr Kopf, während ihr Herz ihr sagte, wie richtig es nicht wäre. Aufregung ergriff Besitz von ihr und ließ sie wieder auf die F5-Taste hämmern bis schließlich ein leises *Ding* eine neue Nachricht ankündigte.

 

Hi,

du bist ganz schön spontan, das gefällt mir. ;-)

Heute klingt gut. Also um halb 2 beim Meißl? Ich denke, wir werden uns schon irgendwie erkennen. Ich freu mich drauf dich zu sehen und keine Angst, ich werd dich bestimmt zu nichts drängen was du nicht willst. Wir werden nur reden, ok? Handynummer ist anbei.

LG Andrea

 

Darüber hatte Carolina noch gar nicht nachgedacht. Nur reden, natürlich. Sie war ohnehin schon nervös genug, da würde sie bestimmt nicht sofort mit einem Mädchen ins Bett hüpfen, das sie kaum kannte. Aber was sollten sie sonst machen?

Da würde sich sicherlich etwas ergeben und Stoff für eine Unterhaltung würden sie bestimmt auch finden können.

 

Hi,

halb 2 klingt gut. Ich werde dort sein und ich bin schon total aufgeregt.

Trotzdem versuche ich noch ein paar Minuten Schlaf zu kriegen, bevor die Schule mich wieder hat.

Also dann bis heute Nachmittag, ich freu mich.

LG Carolina

 

Mit einem Seufzen fuhr sie den Laptop herunter und legte sich zurück in ihr Bett. An Schlaf war eigentlich gar nicht mehr zu denken, doch dann beugte sich plötzlich dieses Mädchen über sie.

Andrea.

Ihre dunkelblonden Haare umschmeichelten ihr Gesicht und genau im Zentrum saßen diese graublauen Augen, bei denen Carolina ein Schauer über den Rücken lief.

Langsam kam das Gesicht näher und versuchte sie zu küssen. Doch das Piepsen des Weckers ließ es schlagartig verschwinden.

3.

 

Zitternd vor Nervosität zerbrach Carolina den mittlerweile achten Zahnstocher in winzige Stücke und warf die Teile in den Aschenbecher.

Immer wieder wanderte ihr Blick auf die Uhr.

13:33.

War sie versetzt worden?

Sie ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte sie nur so auf ein Treffen gedrängt und nicht erst noch abgewartet? Wer wusste schon, was das für eine war? Vielleicht erlaubte sie sich bloß einen bösen Scherz mit ihr und morgen war ein Foto von ihr, wartend im Café, auf einer Internetseite, einem Blog oder auf Facebook.

Gleichzeitig jedoch stieg in ihr die Vorfreude auf, wenn Caro an die Fotos zurückdachte. Es war nur ein unverbindliches Treffen. Nichts würde passieren. Sie würden sich nur unterhalten.

Im Augenwinkel sah sie eine Gestalt.

War sie das?

Nein, das Mädchen hatte dunkle Haare.

Enttäuscht blickte sie abermals auf die Uhr.

13:34.

Sie war versetzt worden.

Gereizt speiste Carolina die Kellnerin zum dritten Mal mit einem »Ich warte noch auf jemanden!« ab, als plötzlich das Handy klingelte. Auf dem Display ein Name der ihre, im Abklingen befindliche, Nervosität mit einem Mal wieder sprunghaft ansteigen ließ: Andrea.

»Hallo?«, meldete sie sich zaghaft und leise.

»Hi«, antwortete eine erstaunlich tiefe, rauchig klingende und vor allem äußerst erotische Stimme, »Ich bin leider etwas spät dran, tut mir leid. Bin in zwei Minuten im Meißl. Ich hoffe, du bist noch da.«

»Ja, klar. Ich warte auf dich. Sitze ganz hinten in der Ecke.«

»Ok, ich bin gleich da. Bis dann. Ciao.«

»Ciao.«

Carolina musste mit ihrer Stimme kämpfen, die ihr zu versagen drohte. Zwei Minuten hatte sie noch Schonfrist. Panik stieg in ihr auf. Den Fluchtinstinkt, der sie vor einer nicht näher erkennbaren Gefahr flüchten lassen wollte, konnte sie nur mit Mühe unterdrücken.

Sie traf sich hier mit einem Mädchen, na und?

Das Mädchen war lesbisch, na und?

›Sie wird schon nicht gleich über dich herfallen, also wovor fürchtest du dich?‹, dachte Carolina nur um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben, ›Davor, dass mir gefällt was sie mit mir macht.‹

Doch statt der bereits insgeheim geplanten Flucht ging es nun dem neunten Zahnstocher an den Kragen. Wie auch seine Vorgänger wurde er fein säuberlich in kleine Stücke zerbrochen und landete im Aschenbecher.

»Hi.«

Die Stimme war plötzlich so nah und real, dass Carolina unwillkürlich zusammenzuckte und ihren Körper tiefer in die dunkle Ledercouch drückte. Langsam hob sie den Kopf und sah in die graublauen Augen, an die sie seit heute Morgen dachte.

»Hallo«, sagte Caro zögerlich.

»Tut mir leid, dass ich so spät komme«, meinte Andrea, legte ihre Tasche auf den Stuhl neben sich und setzte sich genau gegenüber von Carolina, »Aber mein Prof hat mich einfach nicht gehen lassen.«

Sie lachte.

Was für ein wunderbares Lachen.

Die Kellnerin kam und beide bestellten einen Cappuccino.

»So. Da bin ich«, fuhr die Blonde schließlich fort, während Caro ihre Sprache nicht fand, »Ich war nicht ganz sicher, ob du wirklich auftauchst. Mädels die nur neugierig sind, sind selten zuverlässig. Umso mehr freu ich mich, dass du wirklich da bist.«

Carolina brachte noch immer keinen Ton heraus, sondern sah nur in diese Augen.

»He, du brauchst nicht nervös zu sein. Ich bin ein stinknormales Mädchen wie du auch. Also, erzähl mal ein bisschen von dir«, sagte Andrea und stütze ihren Kopf auf ihre Hände.

»Was willst du wissen?«, Caro konnte kaum glauben, dass wirklich Worte ihre Lippen verließen.

»Ich weiß nicht. Welche Filme magst du zum Beispiel?«

»Naja, eigentlich viele. Also "Herr der Ringe" mag ich, allein schon weil ich die Bücher liebe«, antwortete Carolina und blickte nervös auf den dunklen Tisch.

»Du magst die Bücher? Ich habe sie verschlungen!«

»Wirklich? Man trifft komischerweise selten Leute, die überhaupt noch lesen. In meiner Klasse ist das wirklich schlimm. Ich glaube ich bin die Einzige die freiwillig was liest. Naja, außer unserem Klassenspinner. Nur offen sagen darfst du das nie, sonst wirst du zum Gespött.«

»Ich kenn das. Traurig, nicht wahr? In welche Schule gehst du?«, wollte Andrea wissen und warf ihr einen offenen Blick zu.

»Handelsakademie und du?«

»Hauswirtschaftsschule«, meinte die Blonde mit einem Ton in der Stimme als würde sie sich dafür schämen.

»Dann kannst du kochen.«

Andrea lachte abermals und am liebsten hätte Carolina sie sofort geküsst. Doch allein, dass ihr dieser Gedanke kam, lähmte ihren Körper völlig.

»Naja, natürlich, aber das kann doch jeder.«

»Also ich kann nicht kochen«, antwortete Caro ehrlich.

»Wirklich nicht? Wenn ich das gewusst hätte, dann hätt ich dich zu mir nach Hause eingeladen und wir hätten was gekocht.«

Nun lachte Carolina. Ihre Nervosität verschwand langsam, denn etwas seltsam Vertrautes schien zwischen ihnen zu sein. Als würden sie sich schon ewig kennen.

»Besser nicht. Ich meine, ich kenn dich noch nicht, da will ich dich nicht gleich vergiften.«

»So schlimm wird’s schon nicht sein! Darf ich dich mal fragen, warum du neugierig bist? Ich meine, du musst nicht drauf antworten.«

Sofort wurde Carolina knallrot im Gesicht.

Sollte sie die Frage wirklich ehrlich beantworten?

Wobei, eine Lesbe würde wohl nicht deshalb negativ über sie denken, wie es vielleicht Heteros tun würden.

»Tut mir leid, ich bin immer etwas schnell und direkt. Du musst wirklich nicht darauf antworten«, meinte Andrea, Carolinas Zögern falsch deutend.

»Nein, nein. Schon ok. Ich weiß nicht. Ich meine ... Das ist wirklich schwer für mich«, stotterte die Angesprochene und blickte nervös wieder auf den Tisch.

»Du musst echt nicht antworten, ich war nur ...«

»Nein, nein«, wurde Andrea von Carolina unterbrochen, »Es ist bloß so, ich weiß es selbst nicht genau.

Ich meine, ich hatte Sex mit vielen Männern. Ich meine richtig viele für mein Alter, wenn man mal ehrlich ist. Dennoch fühle ich mich leer. Ja, ich denke, das ist das richtige Wort. Mir war, als fehle mir etwas. Es war jedes Mal schön und hat Spaß gemacht. Ich kann auch nicht behaupten, ich wäre nicht auf meine Kosten gekommen, doch trotzdem fühle ich mich einfach unbefriedigt.

Ich weiß nicht ob du verstehst, was ich meine, immerhin verstehe ich es selbst nicht.«

»Nein, ich versteh schon, was du meinst. Ich denke viel mehr Frauen als du denkst tun das.«

»Bist du eigentlich bi oder stehst du nur auf Frauen?«, wollte Caro wissen.

Nun errötete Andrea leicht, sah sich nach der Kellnerin um, die gerade ihre beiden Cappuccinos brachte und wartete, bis sie weg war.

»Nein, ich bin lesbisch. Ich hatte zwar ein paar Mal was mit Männern, aber es hat mir nie viel gegeben. Sie haben mir nichts bedeutet, nicht so wie Frauen. Deshalb kommen sie für mich auch als Partner nicht infrage. Höchstens als Kumpels, Freunde. Aber keine Liebe.

Es war immer so eine Art geistige Leere danach da, die sie nicht füllen konnten. Als ich dann mit fünfzehn meine erste Freundin hatte und mit ihr ein halbes Jahr zusammen war, fühlte ich mich so wohl, verstanden und geborgen wie noch nie zuvor. Ich musste mich einfach nicht mehr verstellen. Ich konnte ich bleiben.«

»Kann ich verstehen. Warum seid ihr auseinander?«, fragte Caro neugierig.

»Sie hat mich betrogen.«

»Das tut mir leid«, meinte Carolina und ergriff instinktiv Andreas Hände, zog sich aber sofort wieder zurück, als ihr klar wurde, was sie da tat.

»Da kann man nichts machen. Wenn sie mir nicht treu sein konnte, dann war ihre Liebe wohl auch geheuchelt. Aber egal, ich bin drüber hinweg und kann auch offen darüber reden.«

Wieder blickten sie sich tief in die Augen und Carolina lief abermals knallrot im Gesicht an. Andrea lächelte.

»Das ist echt interessant«, stellte Andrea fest, »Du flirtest mit mir und, wenn ich es erwidere, spielst du die Schüchterne. Die Typen müssen nur so auf dich fliegen.«

Die Blonde schenkte ihrem Gegenüber ein entwaffnendes Lächeln. Deren Gesicht leuchtete wie eine rote Ampel.

»Ich muss zugeben, über mangelndes Interesse kann ich mich nicht beklagen ...

Oh Mist, da sind ein paar Jungs aus meiner Klasse.«

Andrea drehte sich um und beobachtete die vier Burschen, die gerade zur Tür hereingekommen waren.

»Wenn die uns hier sehen«, zischte Caro.

»Wovor hast du Angst? Du bist mit einer Freundin einen Kaffee trinken. Soweit ich weiß, steht auf meiner Stirn nicht groß das Wort ›LESBE‹ tätowiert«, sagte Andrea scharf.

Carolina zuckte zusammen und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu.

»Tut mir leid, ich bin immer noch extrem aufgeregt«, antwortete sie kleinlaut.

»Schon gut. Das musst du nicht«, sagte Andrea und streichelte kurz über Caros Hände.

Diese kleine Geste brachte Carolina den Tränen nahe, doch sie konnte sich im letzten Moment noch beherrschen. Was war bloß mit ihr los?

Die Jungs hatten mittlerweile Carolina entdeckt und kamen zu den beiden Mädchen herüber.

»He Caro«, meinte Erik und setzte sich betont lässig verkehrt herum auf einen Stuhl, »Wer ist denn deine entzückende Freundin? Ein bisschen Spaß gefällig?«

»Ich weiß nicht Erik«, konterte Carolina, »mit deinem kleinen Schwanz würde das wirklich nur ein winziges bisschen Spaß werden!«

Für einen Moment schien es, als würde im Café absolute Stille herrschen, ehe Eriks Freunde vor Lachen losbrüllten, während der immer kleiner zu werden schien. Carolina zog ihn immer wieder in der Art auf, obwohl sie aus eigener schmerzhafter Erfahrung wusste, dass sein kleiner Freund alles andere als klein war. Doch solche Sticheleien steckte er üblicherweise weg. Nichts konnte sein unermessliches Ego erschüttern.

Erik beschloss daraufhin Carolina zu ignorieren und wandte sich Andrea zu. Zärtlich nahm er ihre Hand und küsste den Handrücken.

»Hi, ich bin Erik und du bist?«

»Nicht interessiert«, antwortete die Blonde kühl mit einem spielerischen Lächeln, während im Hintergrund die drei anderen Burschen wieder vor Lachen losbrüllten.

»Lass dich nicht verarschen. Ich bin fasziniert, wie jemand solche Tiefschläge wegstecken kann. Das muss dir doch ständig passieren, bei diesen blöden Anmachsprüchen.

Ich bin Andrea.«

Der Reihe nach stellten sich auch Rolf, Mike und Kevin vor, bevor sie sich an den Tisch setzten. Alle drei schienen nur Augen für Andrea zu haben und begannen sie auszufragen, doch die zeigte wenig Interesse an ihnen, was die Jungs allerdings nur noch mehr anzuspornen schien.

In der Unterhaltung zeigte Andrea eine Souveränität, die sie so erwachsen und weise wirken ließ, dass sich die Jungs daneben wie Kleinkinder fühlen mussten. Carolina fand sich in diesen Augenblicken selbst unglaublich kindisch und jung. Das verstärkte die außerordentliche Anziehung der Blonden jedoch nur noch.

Schließlich hatten sie ihre Cappuccinos ausgetrunken und Andrea wandte sich zum Gehen.

»Es tut mir leid Jungs, aber wir waren eigentlich im Begriff zu gehen«, meinte sie und winkte der Kellnerin.

»Bleibt doch noch«, bettelten die vier wie aus einem Mund, doch, nachdem Andrea für sie beide gezahlt hatte, verließen sie und Carolina das Café.

»Tut mir leid. Das sind noch solche Kinder. Danke für den Kaffee«, meinte Caro.

»Dafür kannst du doch nichts. Und gern geschehen. Ich hab ja gemerkt, wie unangenehm dir das Ganze war. Wo waren wir vorher eigentlich?«

»Ich weiß es nicht mehr. Aber ich hätte eine andere Frage an dich. Wie hast du eigentlich gemerkt, dass du auf Frauen stehst?« fragte Carolina.

»Nun ja, es begann schon, als ich kleiner war. Ich fand Frauen immer schon anziehend, erotisch, einfach auch körperlich schöner als Männer.

Zuerst war es nur eine Schwärmerei für meine Lehrerin, dann für eine Klassenkameradin und schließlich habe ich es einfach mal ausprobiert.

Hab im Internet eine hübsche Frau gefunden, die allerdings vierzehn Jahre älter war als ich. Ich hab ihr erzählt, ich wäre achtzehn.

Mit ihr hab ich mich ein paar Mal getroffen und hatte schließlich auch den ersten Sex. Danach wusste ich, dass ich angekommen war, wo ich hingehörte. «

Während sie sprach, beobachtete sie Caros Gesicht genau. Immer wieder konnte sie kurz Erkenntnis aufblitzen sehen. Carolina fand sich in der Beschreibung wieder, doch sie tat sich schwer damit, sich dessen bewusst zu werden.

»Du weißt, was ich meine, oder?«, fragte Andrea schließlich in die entstandene Stille, »Schwärmst du denn für jemanden?«

Diese Frage traf Carolina völlig unvorbereitet. Sie schwieg und Andrea bohrte nicht nach.

Wortlos gingen die beiden Mädchen durch den kleinen Stadtpark und fanden schließlich eine Bank die etwas abseits stand.

»Tut mir leid, dass ich vorhin nicht geantwortet habe«, brach Carolina schließlich das Schweigen, als sie saßen, »aber ich muss mir selbst erst einmal darüber klar werden, was ich eigentlich will.

Ja, ich schwärme für eine Lehrerin und auch für eine Klassenkameradin, aber es kommt mir einfach nicht richtig vor.«

»Es spricht immer jeder vom Coming-out, dabei ist das Coming-In viel schwieriger«, meine Andrea verständnisvoll.

»Coming-In?«, wiederholte Carolina.

»Das Eingeständnis vor dir selbst, dass du eben nicht so bist, wie die Gesellschaft dich haben will. Ich brauchte sehr lang um es mir selbst einzugestehen. Immerhin bin ich ja ›nicht normal‹ im herkömmlichen Sinne.«

Sie deutete Anführungszeichen mit ihren Zeige- und Mittelfingern an und fuhr fort: »Allerdings weiß ich jetzt, dass ich ohne das wohl nie hätte glücklich werden können. Und ich weiß, dass ich nur so wirklich ich bin, wie ich jetzt bin. Ich weiß nicht, ob du verstehst, aber ich könnte nie mit einem Mann eine längere Beziehung führen.«

»Also mich treibt die Neugier. Aber wer weiß«, gab Carolina zu und wunderte sich über die Worte, die ihren Mund verließen.

Hatte sie das gerade wirklich gesagt?

Nein, sie war nicht lesbisch, nur weil sie für die Lehrerin und Kisha schwärmte. Sie war bloß neugierig, Punkt aus und es würde ihr vermutlich noch nicht einmal gefallen.

»Ich meine«, stammelte sie weiter, »Ich kenne das alles. Zumindest glaube ich das. Aber das heißt nichts.«

»Wenn du wirklich lesbisch bist, dann fühlst du das tief in dir. Du kannst die Stimme vielleicht unterdrücken, weil du glaubst, das wäre nicht normal oder ignorieren und versuchen dein Leben mit einem Mann zu verbringen. Doch irgendwann holt es dich ein. Dann entscheidest du dich entweder dafür oder es zerstört dich innerlich, bis du nur noch eine leere Hülle bist«, sagte Andrea mit einem Lächeln auf den Lippen, das nicht zu ihren ernsten Worten passte.

»Ist das wirklich so?«, fragte Caro mit zitternder Stimme nach.

»Ich weiß es nicht, ich habe es mir selbst eingestanden und lebe damit. Meine Umwelt hat sich zugegeben ein bisschen verändert. Ich habe Leute verloren, die ich für meine Freunde hielt, doch das waren einfach keine wahren Freunde. Ansonsten habe ich eigentlich viele positive Erfahrungen mit den Menschen gemacht.

Allerdings muss man auch zugeben, dass Lesben eher akzeptiert werden als Schwule.«

Vielleicht war genau das Carolinas Problem. Sie konnte es sich einfach nicht eingestehen. Zu fremd, zu unnatürlich erschien es ihr von Frauen angezogen zu sein. Doch die eine Stunde, die sie bisher mit Andrea verbracht hatte, war angenehm und voller erotischer Spannung. So etwas hatte sie bislang noch nie mit einem Mann erlebt.

Allein dieses Eingeständnis fiel ihr nicht leicht und sie versuchte, sich für ein paar Augenblicke nur auf sich selbst zu konzentrieren. Ihr Herz schlug laut vor Aufregung, das Blut rauschte in ihren Ohren, die Hände waren schweißnass und ihr Bauch von einem wunderbaren, kribbelnden Gefühl erfüllt.

Carolina versuchte den Blick der Dunkelblonden einzufangen und schließlich ruhten ihre graublauen Augen auf ihr. Angenehme Wärme durchströmte ihren ganzen Körper, während unzählige Schmetterlinge sich in ihrem Magen verselbstständigten.

Der Blick schien fordernd und zögernd zugleich. Sie wusste genau, was sie tun wollte, nein sogar musste.

Langsam wanderte Carolinas Hand sanft über Andreas Wange, während sich ihre Gesichter einander annäherten. Sie fühlte wie sie zu zittern begann. Die Nervosität war wieder da.

Sie fühlte warmen Atem auf ihren Lippen und instinktiv öffnete Carolina sie leicht. Doch noch, bevor sie sich überhaupt berühren konnten, zuckte ihr Kopf plötzlich zurück.

»Nein«, stöhnte sie und versuchte ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen.

»Tut mir leid. War ich zu schnell?«, meinte Andrea und schien zerrissen zu sein, ob sie ihr nun die Hand auf die Schulter legen oder doch lieber etwas von ihr wegrutschen sollte.

»Nein, das war es nicht. Es tut mir so leid. Ich wollte es ...

Wirklich.

Doch ich konnte nicht. Es ist ...«, stotterte Carolina, bevor Tränen über ihre Wangen kullerten.

Warum weinte sie jetzt bloß?

War es, weil sie unterbewusst hoffte, dass ihr allein der Kuss mehr geben würde, als alles, was sie bisher mit Männern erlebt hatte?

War es, weil sie sich eingestehen musste, dass vielleicht wirklich mehr an ihrem Interesse an Frauen dran war als bloße Neugier?

»Ganz ruhig«, meinte Andrea und überwand sich nach kurzem Kampf dazu Carolina zu berühren.

Sanft nahm sie ihren Kopf in beide Hände und drückte ihn an ihre Schulter. Die Geste, die sie eigentlich beruhigen sollte, brachte Caro nun völlig aus der Fassung.

Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so hilflos gefühlt. Ihr fiel in diesem Moment wieder ein wie sie, als sie noch klein war, ihre Puppe in der Autotür einklemmte und zerriss. Ihre Mutter hatte sie ganz fest an sich gedrückt, wo sie weinen konnte ohne sich dafür zu schämen.

Genauso fühlte sie sich jetzt auch.

»Sch«, machte Andrea und streichelte sanft über ihren Kopf, »Es ist alles in Ordnung.«

Unendliche Minuten lang hielt sie Carolina im Arm, bis diese sich schließlich beruhigt hatte.

»Es tut mir leid, ich weiß nicht, was das war«, schniefte sie und nahm dankbar das angebotene Taschentuch an.

»Ist schon ok. Ich hoffe nur, es war nicht wegen mir«, meinte Andrea und streichelte ihr sanft über die Wange.

»Doch, es war wegen dir. Aber nicht weil du etwas falsch gemacht hast« schwächte Caro sofort ab.

Sie schnäuzte sich lautstark und blickte durch einen Tränenschleier in Andreas Augen.

»Es war, weil ich es wirklich wollte«, fuhr sie schließlich schluchzend fort, »Doch meine innere Stimme sagte nein. Dann konnte ich einfach nicht mehr.

Ich habe dich enttäuscht.«

Abermals drückte Andrea sie an sich und Carolina wünschte sich ewig in diesem Moment verharren zu können.

»Ganz ruhig. Du hast mich nicht enttäuscht. Ich merke doch, wie unsicher du bist und ich merke, dass es mehr als bloße Neugier ist«, meinte die Blonde schließlich und küsste Carolina sanft auf die Stirn.

Die konnte nur nicken. Selbst wenn sie es sich nicht eingestehen konnte, so hatte Andrea doch recht. Es war wohl wirklich mehr als bloße Neugier, die dahinter steckte. Doch die Angst vertrieb diese Gedanken sehr schnell wieder.

»Ich kann das verstehen«, meinte die Blonde und drückte Caro wieder an sich, »Mir ging es damals nicht anders und es ist teilweise heute noch immer so.

Du willst nicht wahrhaben, was dein dir Herz sagt und bist innerlich völlig zerrissen. Es ist nichts dabei. Es ist ganz natürlich.«

»Meine Eltern würden das nie verstehen ...«, zweifelte Carolina.

»Ich denke, du traust ihnen da zu wenig zu. Du schiebst deine Angst nur vor, weil du sie als Schutzschild gegen deine Gefühle verwendest. Es wird dir nicht gelingen ihnen zu entfliehen und je eher du das verstehst umso früher kannst du glücklich werden.«

»Aber ich bin nicht lesbisch«, antwortete Carolina trotzig, doch ihre Selbstzweifel ließen ihre Stimme schwanken.

»Das kannst nur du beantworten! Doch die Spannung die du zwischen uns aufgebaut hast, die kleinen Flirts und die zufälligen Berührungen sprechen für mich eine sehr deutliche Sprache«, stellte Andrea mit einem eindeutigen Lächeln fest.

Jetzt war es Carolina, die sich an Andrea drückte. Sie roch das dezente Parfüm und den wunderbaren Duft ihrer Haut, durch den dünnen Stoff ihres Shirts.

»Kannst du mich halten?«, fragte sie leise und fühlte, wie die Tränen sie abermals übermannten.

»So lang du willst«, antwortete Andrea und küsste sie abermals sanft auf die Stirn.

Es fühlte sich wie Stunden an, die sie hier saß und von einer Frau in den Armen gehalten wurde, die sie gerade einmal etwas mehr als eine Stunde kannte. Doch es war eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen. Es fühlte sich an, als würde Caro Andrea seit Jahren kennen. Sie vertraute ihr bereits jetzt so sehr, wie sie nur Lily vertraute.

Es dauerte lange, bis Carolina nicht mehr weinen konnte. Als hätte sie all ihre Tränen aufgebraucht. Sie schniefte laut und wischte sich mit dem Ärmel über ihre Augen.

»Gott, ich seh bestimmt furchtbar aus«, stöhnte sie und schnäuzte sich in ihr Taschentuch.

»Nicht so schlimm, wie du denkst. Geht es dir jetzt besser?«, fragte Andrea.

»Nicht wirklich. Ich bin irgendwie verzweifelt, weil ich in mir etwas fühle, das ich eigentlich nicht wahrhaben will oder kann.

Außerdem bin ich todunglücklich, weil ich deinen Nachmittag ruiniert habe.«

»Erst einmal, du hast meinen Nachmittag nicht ruiniert. Ich muss sagen, es war sehr schön mit dir und, dass du dich derart geöffnet hast, gibt mir insgeheim etwas Selbstvertrauen, dass ich doch etwas richtig gemacht habe.

Deine Zweifel werden verschwinden, wenn du wirklich das fühlst, was ich glaube, dass in dir ist. Ich kann dich beruhigen, es geht wirklich vorbei. Auch wenn es anfangs schwer ist. Aber du kannst mich gerne anrufen, wenn dir danach ist, einfach nur mit jemandem zu reden. Ich erzähl auch nichts weiter«, versprach Andrea und schenkte ihrem Gegenüber abermals ein hinreißendes Lächeln. Ein ums andere Mal fühlte sich Carolina mehr zu ihr hingezogen.

»Ist hier irgendwo ein Spiegel, damit ich mich schminken kann? Ich fühl mich gerade irgendwie nackt.«

»Na klar, da hinten ist eine Toilette, da kannst du dich frisch machen«, meinte die Blonde und deutete über ihre Schulter

Gemeinsam gingen sie zu dem kleinen, gelben Häuschen, das bereits von Weitem den typischen Geruch einer öffentlichen Toilette verströmte. Als sie sich im Spiegel sah, musste Carolina feststellen, dass es gar nicht so schlimm um ihr Make-up bestellt war, wie sie angenommen hatte. Glücklicherweise war das meiste Wasserfest und hatte erstaunlich gut gehalten.

Trotzdem entfernte sie erst einmal alles, denn die Klumpen des Gesichtspuders ließen ihr Gesicht wie eine Kraterlandschaft wirken.

»Darf ich was sagen?«, meinte Andrea hinter ihr zögerlich.

»Natürlich.«

»Ich finde, du solltest dich dezenter schminken. Du hast so ein hübsches Gesicht, aber du versteckst es immer.«

»Das ist mein Stil«, antwortete Carolina achselzuckend.

»Darf ich dich schminken?«

Kurz überlegte sie, immerhin war das ihr Stil, ihr Gesicht, ein Teil ihres Selbst und noch wichtiger ihr Image. Aber schließlich antwortete sie: »Warum nicht.«

Sanft drückte Andrea ihren Kopf etwas zurück, nahm zuerst den Kajal um einen Lidstrich zu ziehen und dann Wimperntusche. Puder benutzte sie nur etwas an den Wangen und zum Schluss betonte sie noch das Muttermal rechts oberhalb der Lippe, ehe sie diese mit wenig Lippenstift nachmalte.

»So, fertig. Sieh dich mal an.«

Was hatte sie erwartet? Natürlich sah Carolina sich selbst. Doch sie wirkte reifer und weniger wie eine Puppe. Besonders ihre Haut sah viel gesünder aus als zuvor.

»Gefällt es dir?«, fragte die Blonde leicht verunsichert.

Sie konnte nur nicken.

»Danke«, meinte Carolina und wieder trafen ihre Augen die von Andrea.

Wie die Luft vor einem Gewitter schien mit einem Mal die Luft elektrisch aufgeladen zu sein und zu knistern, als sich ihre Gesichter einander näherkamen. Doch abermals drehte sich Carolina im letzten Augenblick zur Seite.

»Es tut mir leid. Ich kann nicht«, meinte sie nur mit dumpfer Stimme und gesenktem Kopf, doch Andrea nahm ihr Kinn und hob ihn wieder hoch.

»He, das macht doch nichts.«

»Ich will es ja. Ich will es wirklich. Aber es geht nicht. Etwas in mir sperrt sich dagegen. Küss mich! Bitte. Ich will es.«

Carolina klang wirklich verzweifelt.

»Hey, du brauchst dich doch nicht dafür entschuldigen. Wenn es passieren soll, dann wird es passieren. Es lässt sich nicht erzwingen! Und ich will dich nicht küssen, wenn sich etwas in dir dagegen sperrt. Ich möchte, dass du dich dazu selbst überwindest.

Weißt du, ich hatte bisher einen wirklich schönen Tag mit dir, viel schöner als ich gehofft hatte. Ich hoffe, dir hat es auch einigermaßen gefallen«, versuchte Andrea das Thema zu wechseln.

»Das klingt beinahe wie ein Abschied«, erwiderte Carolina enttäuscht, um gleich darauf den Kopf zu schütteln, »Es hat mir sogar sehr gefallen. Ich glaube, ich habe mich selten so wohl gefühlt wie heute. Ich meine, ich musste mich dir gegenüber nicht verstellen, konnte ganz ich sein. Gott, ich habe sogar geheult wie ein kleines Mädchen. Es war schön. Einfach herrlich. Befreiend.«

»Freut mich. Es ist noch kein Abschied, aber ich wollte dir das nur sagen, weil ich ja sehe, wie sehr dich die Zweifel plagen, weil du dich nicht durchringen konntest, mich zu küssen«, womit die Blonde wieder beim ursprünglichen Thema angelangt war.

»Es tut mir wirklich leid.«

»Vergiss es. Es macht doch nichts. Wenn du wirklich willst, wird es geschehen. Früher oder später. Vielleicht mit mir, vielleicht mit einer anderen, aber das alles entscheidest du.

Komm, gehen wir noch ein bisschen spazieren.«

Sanft griff Andrea nach Carolinas Hand und zog sie aus dem Toilettenhäuschen.

»Die Sonne ist herrlich. Ich freue mich schon auf den Sommer«, meinte die Blonde fröhlich und riss Carolina mit sich fort.

»Oh nein, da vorne ist schon wieder einer aus meiner Klasse«, stöhnte die und spielte nervös an ihren Zöpfen.

»Der Typ mit dem Bart und der Sonnenbrille? Sieht viel älter aus.«

»Der ist sogar jünger als ich, um fast ein halbes Jahr«, antwortete Caro.

»Und was stört dich daran?«

»Er ist der absolute Außenseiter in der Klasse. Die Jungs dulden ihn mehr oder weniger, die Mädchen reden überhaupt nicht mit ihm. Er trägt oft schwarze Klamotten, hört Metal, liest und ist ein kleiner Geschichtsfreak.«

»Und deshalb ist er ein Außenseiter? Mann, ganz schön oberflächlich findest du nicht?«, meinte die Blonde mit dumpfer Stimme.

Carolina fühlte, wie sie wieder errötete. Sie fühlte sich ertappt und musste zugeben, dass Andrea auch dieses Mal wieder recht hatte. Das Mädchen war so viel Erwachsener als sie und deshalb schämte sich Caro.

Langsam gingen die beiden auf den am Boden liegenden Jungen zu, der jedoch keinerlei Notiz von ihnen nahm und voll in ein Buch vertieft zu sein schien.

»He, Alex«, sagte Carolina pflichtbewusst.

»Hi«, schreckte der Junge aus seinen Gedanken hoch schien jedoch kaum Notiz von den beiden Mädchen zu nehmen.

»Schöner Tag heute, nicht?«, meinte Andrea freundlich.

Erst jetzt blickte Alex wirklich aus seinem Buch auf und sah der ihm Unbekannten tief in die Augen.

»Oh, hallo. Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Alex«, meinte er und stand auf, um ihr die Hand zu geben.

»Andrea. Sag mal, was liest du da?«

»"Das Silmarillion". Zum Mittlerweile sechsten Mal fang ich damit an und arbeite mich über "Der kleine Hobbit" zum "Herr der Ringe" durch«, lachte Alexander und setzte sich wieder.

»Interessant. Der Herr der Ringe, eines meiner Lieblingsbücher. Ich finde "Das Silmarillion" ist sehr wichtig, wenn man wirklich alle Aspekte dieser großartigen Welt erkennen will.«

»Ja, meine Rede. Aber mir hört sonst nie jemand zu. Es gibt wenige Leute, die ich kenne, mit denen man darüber reden kann. Aber egal.

Was treibt ihr zwei denn so im Park? Das ist mehr eine höfliche Frage, aber da normalerweise meine Klassenkameraden vorziehen nicht mit mir zu verkehren, dachte ich, ich muss ein unverbindliches Thema wählen«, sagte Alex, ohne dabei einen Mundwinkel zu verziehen.

Sofort wurde Carolina rot im Gesicht und krümmte sich ob des Seitenhiebs, doch Andrea winkte ab.

»Und du vergehst hier im Selbstmitleid? Bist du denn schon mal auf sie zugegangen?«

»Mehr als einmal, doch wenn man ein paar Mal hört, man wäre so hässlich, dass man noch nicht mal angesehen werden könnte, dann haftet einem das an der Seele.«

Noch immer keine Regung im Gesicht des Jungen. Die Miene blieb ernst und wirkte etwas traurig.

»Ja, die Welt ist oft grausam zu denen, die anders sind«, seufzte Andrea und ihr Blick streifte Carolina, die sich offensichtlich äußerst unwohl fühlte und nicht mehr die Kraft besaß, einen gleichgültigen Gesichtsausdruck aufrechtzuerhalten.

»Anders oder intelligent genug die Welt in ihrer Wirklichkeit, abseits dieser Hollywoodromantik, zu erkennen.«

Andrea setzte sich neben ihn ins Gras. Carolina stand immer noch etwas abseits und bemühte sich sichtlich um Fassung. Ihr war die ganze Situation mehr als unangenehm.

»Denkst du nicht, dass Andersartigkeit seine Reize hat?«, fragte die Blonde den Jungen, der sie traurig anblickte.

»Oh, ich denke, Andersartigkeit ist das Salz des Lebens. Ich meine, sieh mich an oder unsere Punk-Barbie da drüben. Wo kämen wir hin, wenn wir alle gleich wären, gleich denken würden, gleich handelten?

Wobei ich finde, es wäre besser, wenn mehr Menschen etwas mehr wären wie ich. Das würde die Welt um einiges einfacher machen. Weniger Intrigen, weniger Machtspiele, weniger Gier und vor allem bessere Musik.«

Alexander lachte. Carolina war sich nicht sicher, ob sie den Jungen bisher jemals hatte lachen gesehen. Doch es war ein freundliches und aufrichtiges Lachen.

»Ich glaube, jeder denkt in dem Punkt ähnlich. Ich wünschte mir auch, die Welt wäre etwas freundlicher, doch das wird sich nicht so einfach ändern lassen.«

»Erzähl das den Träumern, die heute Abend mal wieder demonstrieren. Ich hab leider vergessen, wogegen doch ich glaube, es ist dieses Mal ganz besonders wichtig.

Solange sich die Politiker bei uns Fettfressen können, Verbrechen begehen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden und es den Leuten trotzdem nicht schlecht geht, solange werden solche Demonstrationen keinen Erfolg haben. Ich wünsche mir einen dritten Weltkrieg. Nur so kann man die Erde von dem Krebsgeschwür Menschheit heilen.

Und nun meine Damen, ich hoffe ihr entschuldigt mich, aber Beren und Lúthien harren meiner Aufmerksamkeit. Außerdem will ich euch nicht länger aufhalten.«

Es war unübersehbar, dass Andrea schockiert war von der Aussage des Jungens. Sie malte sich aus, was dieser offensichtlich intelligente und freundliche Kerl bisher hatte durchmachen müssen. Die meisten seiner Narben konnte man vermutlich nicht so gut erkennen, wie die an seinen Handgelenken.

»Nein, entschuldige uns«, sagte sie schließlich und lächelte, »Aber wir wollen dich nicht zu lange von deiner Lektüre abhalten.«

Mit einer unheimlichen Grazie kam sie schnell wieder auf die Füße und nickte Caro zu. Die kämpfte noch immer mit ihrer Fassung und hatte von der Unterhaltung kaum etwas mitbekommen. Der Tag war bisher alles andere als einfach gewesen und, dass Andrea sie möglicherweise für eine schwache Mitläuferin halten könnten, die einen harmlosen Jungen drangsalierte, belastete sie noch mehr.

»Es hat mich sehr gefreut und ich hoffe, man sieht sich wieder. Es ist selten genug, dass man eine Frau mit so spitzer Zunge trifft. Die solltest du dir warm halten, Caro«, verabschiedete sich Alexander und zum ersten Mal veränderte sich sein dunkler Gesichtsausdruck zu einem spitzbübischen Lächeln.

»Hoffentlich sieht man sich mal wieder«, antwortete Andrea mit einer angedeuteten Verbeugung und zog Carolina mit sich

Die war noch immer zu perplex, um ein anderes Wort als »Ciao« hervorzupressen. Erst als sie etwas weiter gegangen waren, erinnerte sie sich daran, dass auch sie eine Zunge hatte.

»Was war das jetzt?«, fand sie schließlich ihre Sprache wieder.

»Das nennt man Unterhaltung. Du hättest das Mal probieren sollen, ich finde, er ist ein wirklich netter Typ und vor allem sehr schlagfertig und äußerst direkt. Das mag ich gern. Wenn er für meinen Geschmack auch etwas zu zynisch war«, antwortete Andrea und lächelte.

»Du hast ja recht, aber ich bin halt schwach und passe mich der Menge an.«

»Das solltest du nie tun. Dabei kommen immer die schlimmsten Sachen heraus.«

Wieder musste Carolina eingestehen, dass Andrea um einiges reifer war, als das jugendliche Gesicht vermuten ließ.

»Du bist schnell erwachsen geworden, oder?«, fragte sie und griff nach Andreas Hand um sie zum Stehen zu bringen.

Über ihnen wölbten zwei große Silberweiden ihre mächtigen Kronen und spendeten etwas Schatten. Direkt daneben erstreckte sich ein, zum größten Teil überwucherter, Ententeich.

»Ich musste. Weißt du, einige Leute sind voller Vorurteile und die wenigen, denen ich gesagt habe, dass ich Frauen liebe, reagierten zwar fast alle oberflächlich positiv, doch ein paar auch nicht und einige wandten sich dann von mir ab. Meine beste Freundin konnte es nicht akzeptieren«, meinte Andrea und ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, »Es begann harmlos. Sie hatte plötzlich keine Zeit mehr um sich zu treffen. Sie zog sich langsam immer mehr vor mir zurück und schließlich schlief der Kontakt ein, bis ich erfuhr, dass sie hinter meinem Rücken über mich lästert, weil ich ja eine Lesbe bin und mal versucht hätte sie ins Bett zu bekommen.

Das tat weh und von da an wusste es natürlich die ganze Klasse. Die wenigen Jungen in der Klasse, waren in dem Alter nicht wirklich reif genug, um damit umzugehen. Gott, die meisten sind es wohl in 20 Jahren noch immer nicht. Ich hörte ständig blöde Sprüche. Die Mädchen wollten nicht mehr nach dem Sport mit mir duschen, als würde ich sie anspringen und vergewaltigen. Das Ganze dauerte einige Monate, doch schließlich hat es sich wieder gelegt.

Glücklicherweise hatte ich Freundinnen in der Klasse, die mir beistanden. Sie haben viel für mich erreicht, haben mich genauso behandelt wie vorher. Sie hatten keine Scheu vor mir, zeigten allen, dass ich deshalb nicht anders war als zuvor. Sie waren mit mir unter der Dusche, haben mich umarmt und zur Begrüßung geküsst, so wie es vorher war. Das hatte Signalwirkung.

Schließlich wurde ich akzeptiert und mittlerweile verteidigen mich sogar Leute, die mich früher verarscht haben, wenn ich in der Schule blöd angemacht werde. Und ich bin stolz auf diese Mädchen und Jungen, denn sie gaben mir damit Kraft.

Aber die Zeit davor hat mich wohl ernst und erwachsen gemacht, das gebe ich zu.«

»Weißt du, ich bewundere das. Ich weiß nicht, ob ich das könnte, ob ich das aushalten würde«, antwortete Carolina.

»Ich hatte zu dieser Zeit glücklicherweise eine Freundin, das half mir etwas darüber hinweg. Ich hab oft geweint und sie war immer für mich da. Auch meine Mutter und meine Geschwister. Mein älterer Bruder hat sogar einen Typen verprügelt, der mich auf einer Feier als ›Dreckige Lesbe‹ bezeichnet hat, die ›nur mal ordentlich gefickt werden müsste, damit sie wieder normal wird.‹

Ohne sie hätte ich es vielleicht auch nicht geschafft. Aber du glaubst nicht welche Stärke in dir ruht, bis du sie brauchst.«

Andrea brach ab und blickte auf ihre Uhr.

»Oh verdammt. Ich muss zum Turnen. Schon wieder zu spät dran. Es tut mir leid, aber ich muss mich wohl leider verabschieden«, sagte sie hastig und zog kontrollierend an der Schlaufe ihrer Tasche.

»Das ist schade«, meinte Carolina und drückte Andreas Hand, »Mir hat der Tag sehr gut gefallen und ich hoffe dir ebenso.

Ich fand es wundervoll und äh ...«

Carolina brach ab und blickte kurz zu Boden.

»Hm?«, machte Andrea.

»Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«

»Von mir aus gerne, von mir aus auch gleich morgen«, lächelte Andrea und wieder wurde Caro warm ums Herz.

»Morgen hab ich bis sechs Schule und da fährt dann auch der letzte Bus.«

»Schade. Sonst hab ich ja deine Nummer, wir können uns ja zusammenrufen.«

»Gut, ich hoffe dann auf bald«, sagte Caro.

»Dann, Ciao«, meinte Andrea doch Carolina hielt ihre Hand noch fest.

»Eine Frage noch: Darf ich dich küssen?«

»Das musst du entscheiden«, meinte die Blonde mit einem unwiderstehlichen Lächeln.

Sanft drückte Carolina Andrea unter eine der Silberweiden, bis sie mit ihrem Rücken an den Stamm stieß. Augenblicke lang sahen sie sich nur in die Augen.

Wieder diese Spannung. Die Luft schien förmlich zu knistern. Sie spürte Andreas Atem auf ihren Lippen, als sie sich langsam näherten und sich schließlich trafen. Kleine Blitze schienen sie zu durchzucken und ihr gesamter Körper wurde warm.

Langsam öffnete Andrea ihre Lippen und ihre Zunge glitt sanft über die von Carolina. Kurz zögerte sie, ehe sie auch ihre Lippen öffnete und als sich die Zungen berührten empfand sie ein so starkes Gefühl der Erregung, dass ihre Knie weich wurden.

Der Kuss schien ewig zu dauern, bis sie sich schließlich langsam wieder voneinander lösten.

»Das war wundervoll«, hauchte Carolina und drückte Andrea gleich noch einmal an sich.

»Finde ich auch. Schade, dass ich weg muss, ich würde viel lieber hier noch weitermachen.«

Mit einem schnippischen Lächeln streichelte sie sanft über Caros Wange, ehe sie sich noch einmal küssten.

»Telefonieren wir am Abend?«, hauchte Carolina schließlich und griff nach ihren Händen.

»Ich ruf dich an sobald ich aus dem Turnen heimkomme.

Bis dann also, jetzt muss ich wirklich flitzen.«

Noch einmal winkte Andrea und warf ihr einen Kuss zu, ehe sie hinter den Ästen des Baumes verschwand.

Zurück blieb Carolina, glücklich, zufrieden und doch auch ängstlich und unsicher.

4.

 

Andrea rief tatsächlich an, doch Carolina ging nicht an ihr Handy.

Auf dem Weg nach Hause ekelte sie sich über sich selbst. Sie hatte ein Mädchen geküsst und es sogar noch schön gefunden.

Als müsste sie den Geschmack aus ihrem Mund spülen, hatte sie sich gleich noch an der Tankstelle Bier besorgt und war zum See hinunter gegangen. Dort auf der Bank trank sie nun Flasche um Flasche. Das Wetter war noch immer herrlich warm, wenn auch der Wind vom See kühl war.

Es dauerte nicht lange, bis eine kleine Gruppe auftauchte, die wohl das Gleiche gedacht hatte, wie sie. Es waren drei Jungen und ein Mädchen. Caro kannte sie natürlich alle. Die Zwillinge Gerwin und Gerold, Daniel und Silvia. Sie waren früher in ihrer Parallelklasse gewesen, hatten aber die Schule verlassen und eine Lehre begonnen.

»Hi«, meinte Silvia und setzte sich neben Caro, »Was machst du denn hier? Hab dich schon lang nicht mehr hier abhängen sehen.«

»Nur so«, antwortete Carolina und leerte die Flasche mit einem Zug, »Es war wieder mal notwendig.«

»Meine Rede!«, rief Gerold und drückte ihr eine 2-Liter-PET-Flasche in die Hand, in der sich anscheinend Orangensaft befand.

Carolina öffnete den Verschluss und nahm einen tiefen Zug. Der durchdringende Geschmack von Wodka jagte ihr einen Schauer über den Rücken, aber das war ihr egal. Alkohol half ihr zu vergessen.

Die kleine Gruppe scharrte sich um Carolina und sie war schnell Teil davon. Woher sie den Alkohol hatten, verrieten sie nicht. Es war auch nicht wichtig. Wichtig für Caro war nur, dass er in ausreichendem Maße vorhanden war.

Worüber sie genau sprachen vermochte Caro im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Es schien alles Sinn zu ergeben, was sie sagten und erzählten. Und es half Carolina dabei, den Tag zu vergessen.

Als es kälter wurde, lud Gerwin sie ein, mit ihnen zu kommen. Gemeinsam wanderte die kleine Gruppe vom See in Richtung Ortszentrum, bog danach jedoch ab und ging den kleinen Ortsberg hinauf. Dort stand eine kleine Wallfahrtskirche. Caro war früher immer gern hier oben gewesen und hatte den Ausblick auf den Ort und die Seebucht genossen.

Direkt neben der Kirche, verborgen unter unzähligen Bäumen, fand sich eine alte, riesige Villa. Sie wusste, dass Gerwin und Gerold hier irgendwo wohnten, doch dass dieses riesige Anwesen ihren Eltern gehört, war ihr fremd.

Unterwegs lachten sie viel. Carolina war ziemlich beschwipst, aber noch Herr ihrer Sinne. Zumindest soweit sie das einschätzen konnte. Sie mochte die drei Jungs und Silvia gerne. Alles war so unkompliziert und die Vier so offen.

Gerwin öffnete das schwere, schmiedeeiserne Tor. Es quietschte laut, schwang dann jedoch schnell auf. Carolina fand sich in einer gut fünfzig Meter langen Allee wieder, in der die Bäume auch noch den Rest des spärlichen Tageslichtes abzufangen schienen. Vor ihr erhob sich die mehrstöckige Villa. Das alte Herrenhaus musste einen grandiosen Ausblick auf den See und die Bucht haben.

Die Wände waren in einem, bereits stark ausgeblichenen, gelb getüncht. Zumindest soweit Caro das erkennen konnte, denn die ihr zugewandte Seite, war beinahe vollständig von Efeu überwuchert.

Die Zwillinge gingen vor und führten ihre Freunde zu einer Tür neben der Garage. Kaum war Carolina eingetreten, stieg ihr der muffige Geruch feuchten Mauerwerks in die Nase. Hinter der Tür fand sich ein kleines Treppenhaus. Die Stufen führten etwas nach oben, wo sich ein Eingang ins Innere des Hauses befand. Von dort führte eine weitere Treppe noch höher hinauf.

Gerold ging voran und Caro folgte ihm. Durch die kleinen Fenster konnte sie erkennen, wie sie den Boden immer mehr hinter sich ließ. Ein weiterer Eingang wurde sichtbar, doch die Treppe führte noch weiter nach oben und schließlich erreichten sie den dritten Stock.

»Willkommen in unserem Reich«, meinte Gerold und schob Caro durch die Tür.

Dahinter erstreckte sich ein mit Parkett ausgelegter Vorraum, von dem einige Türen in weitere Räume führten.

»Also«, machte Gerold und drängte sich an Caro vorbei.

Er zeigte auf die diversen Türen und zählte auf: »Klo, Bad, Schlafzimmer von Gerwin, mein Schlafzimmer, Wohnzimmer.«

Er trat durch dich dunkle Holztür am anderen Ende des Ganges und machte eine einladende Handbewegung. Carolina folgte ihm. Sie musste zugeben, sie war etwas nervös, allerdings wirkte der Rausch dem mehr als gut entgegen.

Das Wohnzimmer war ein riesiger Raum. Caro schätzte ihn auf etwa 60 m². Er war rechteckig und mehrere gemütliche Couchen luden zum Hinsetzen ein. Die Wände waren mit allerlei Postern verziert. Dafür fehlten größere Schränke vollkommen. Es gab nur einige kleine Kästchen aus dunklem Holz, sowie mehrere Couchtische. Überall standen Aschenbecher herum. Die breite Fensterfront war mit einem schweren Vorhang abgedunkelt.

Zu ihrem Erstaunen konnte Carolina drei große Flachbildschirme erkennen. Sie schienen willkürlich im Raum verteilt. Vor jedem stand eine Couchgarnitur. Der Boden selbst war mit einem alten, aber sauberen Teppichboden ausgelegt.

»Pflanz dich irgendwo hin«, sagte Gerold und Carolina folgte seiner Anweisung.

Während die Zwillinge in der Küche verschwanden, setzten sich Daniel und Silvia neben sie. Die beiden schienen ein Paar zu sein, denn es dauerte nicht lange, bis sie damit begannen, wild herumzuknutschen. Doch Daniel beließ es nicht nur bei Zungenspielen, denn seine Hand wanderte ungeniert unter Silvias Shirt.

Selbst als die Zwillinge zurückkamen, hörten sie nicht auf. Gerwin drückte jedem einen Drink in die Hand. Caro roch daran und erkannte sofort Whiskey gemischt mit Cola. Während sie mit dem Geschmack kämpfte, schienen die anderen keine Probleme damit zu haben.

Gerold kramte in einer Lade unter dem Couchtisch und förderte einen kleinen Beutel und eine Schachtel Zigarettenpapier hervor.

»So«, machte Gerwin und lehnte sich zurück, »Wieso bist du hier?«

»Weil ihr mich eingeladen habt«, antwortete Carolina mit einem Lächeln um ihre Unsicherheit zu überspielen.

»Nein, ich meine den wahren Grund. Warum betrinkst du dich an einem Montag? Das ist doch nicht normal.«

»Das tut ihr doch auch«, gab sie schnippisch zurück.

»Für uns ist es ein falsches Wochenende. Wir haben heute und morgen frei. Du bist noch in der Schule. Aber da du ausweichst, nehm ich einfach mal an, dass du gute Gründe hast.«

Gerold war damit fertig geworden, die Zigarette zur rollen und steckte sie an. Sofort verbreitete sich ein süßlicher Geruch im Raum. Und Carolina wurde klar, dass das keine normale Zigarette war.

Reihum wechselte der Joint durch die Reihen und gelangte schließlich auch zu ihr. Sie zögerte.

»Na?«, fragte Daniel, »Noch nie einen durchgezogen?«

»Noch nicht mal eine geraucht«, antwortete Caro.

»Einmal ist immer das erste Mal«, sagte Silvia, »Aber sonst gib weiter.«

»Nicht heute«, flüsterte Carolina zu sich und nahm einen tiefen Zug.

Der Rauch kratzte unangenehm im Hals und sie unterdrückte ein Husten. Doch schließlich musste sie nachgeben und stieß in einem Hustenanfall den Rauch wieder aus.

»Wow, easy«, meinte Gerwin, »Am Anfang nur kleine Züge. Versuchs noch mal.«

Carolina nahm einen kleinen Zug und das Kratzen war bereits weniger. Doch der Hustenreiz war immer noch da, auch wenn sie ihn bekämpfen konnte. Sie gab den Joint weiter und versuchte sich auf ihren Körper zu konzentrieren. Mittlerweile hatte sie sich an den Geschmack des Getränks gewöhnt.

Es wurde nicht viel gesprochen, während der Joint seine Runde weiter drehte. Schließlich war er aufgebraucht und Carolina wartete auf eine Wirkung. Doch sie konnte nichts fühlen.

»Also«, sagte Gerwin mit schwerer Zunge, »Wieso bist du hier?«

»Ich schätze mal, wegen dem Gras«, antwortete Carolina und bemerkte, dass ihre Aussprache auch gedehnt und schwerfällig klang.

»Gut?«, fragte Silvia dazwischen und Caro nickte.

»Nein, ich mein was willst du vergessen?«, fragte Daniel und nahm Carolina ins Kreuzverhör.

»Ach nichts«, sagte Caro und musste lachen, warum wusste sie nicht.

»Nichts?«

»Nur ein beschissener Tag.«

»Na, da haben wir‘s ja«, meinte Gerwin fröhlich und füllte die Gläser aus einer mitgebrachten PET-Flasche auf, »Das ist doch Grund genug.«

»Wenn du den Tag vergessen willst, dann hätt ich da noch was für dich«, sagte Gerold und holte ein Säckchen mit Pulver hervor.

»Was ist das?«, wollte Carolina wissen.

Eigentlich hätte sie nun vor Angst schwitzend aufspringen und davonlaufen müssen, doch sie tat es nicht. Immer wenn sie ihre Augen, auch nur für einen winzigen Moment, schloss, sah sie Andreas Bild vor sich. Und ihr wurde warm ums Herz.

Das durfte nicht sein. Und alles, was half diese Augen aus ihrem Gehirn zu vertreiben, war ihr mehr als willkommen.

Sie fühlte, wie ihr Mund trocken wurde. Dagegen half nur mehr Whiskeycola. Caro hatte das Glas schnell geleert und fühlte, wie ihr Kopf immer leichter wurde.

»Also, was ist das«, fragte sie schließlich nochmals lallend, weil sie keine Antwort darauf bekommen hatte.

»Das ist Fantasy. Ist gut fürs Vergessen«, sagte Gerold.

»Dann mal her damit.«

Der eine Zwilling nahm einen kleinen Löffel unter dem Tisch hervor und zog mit dessen Stiel etwas von dem Pulver aus der Verpackung. Währenddessen füllte der andere Zwilling nach. Gerold ließ das salzähnliche Pulver in das Glas fallen und verrührte es.

»Bitte sehr«, sagte er, »Ein Drink um zu vergessen.«

Eigentlich hatte sich Carolina nie viel aus Drogen gemacht. Sie hatte bislang noch nicht einmal geraucht. Doch dieser Tag hatte sie an die Grenzen ihrer psychischen Leistungsfähigkeit und darüber hinaus gebracht und sie wollte ihn nur so schnell wie möglich vergessen.

Sie war nicht lesbisch und stand auch nicht auf Frauen!

Während Caro das nächste Glas trank, drifteten die Gespräche immer mehr ins schlüpfrige ab. Großen Anteil daran hatten Silvia und Daniel, die mittlerweile nur noch Unterwäsche trugen und nicht damit aufhörten, sich gegenseitig herauszufordern. So dauerte es nicht lange, bis Silvia abwechselnd auf den Schößen der Zwillinge saß und damit begann, auch sie auszuziehen.

Normalerweise hätte sich Carolina darüber gewundert, wenn sie es auch mit Interesse verfolgt hätte, doch heute schien alles anders. Sie war nicht im geringsten darüber überrascht und als Daniel zu ihr rückte, und sie küsste, dachte sie nicht daran sich zu wehren.

Seine Hände entfernten ihre Kleidung, bis schließlich alle fünf nur noch in Unterwäsche auf ihren Plätzen saßen. Wie selbstverständlich nahm Carolina die weithin sichtbare Erregung der drei Jungs wahr und freute sich insgeheim darüber, dass ihr Anblick für einen Teil davon verantwortlich war.

»Langsam wird’s Zeit«, hauchte Silvia und setzte sich rittlings auf Daniel.

Der versuchte umständlich ihren BH zu öffnen, schaffte es jedoch nicht.

»Kannst du mal helfen, Caro?«, fragte das Mädchen mit leiser Verzweiflung.

Die Angesprochene richtete sich auf und schwankte kurz. Dann jedoch konnte sie sich am Körper ihrer neuen Freundin abstützen und streichelte sanft über ihren Rücken. Ihre Finger wanderten die warme Haut entlang und erreichten den Verschluss des BHs.

»Mmh«, machte Silvia und ließ ihren Kopf etwas zurück.

Sie sah umwerfend aus mit ihren kurzen, roten Haaren und dem verführerischen Blick. Carolina war nicht mehr dazu in der Lage klar zu denken. Sie tat, was sie wollte. Und so küsste sie Silvia. Das Mädchen quiekte überrascht, ließ sich dann doch schnell auf den Kuss ein.

»Geile Lesbenshow«, lallte Gerwin, der plötzlich hinter ihnen stand und sanft über Carolinas Rücken streichelte.

Als die das Wort hörte, war ihr Kopf mit einem Mal wieder klar.

»Ich bin keine Lesbe!«, sagte sie bestimmt.

»He, ganz cool«, meinte Gerwin, »Natürlich nicht. Ist doch nichts dabei. Jeder, wie er will.«

Für einige Momente schienen alle Augen auf Carolina gerichtet. Silvia hatte sich umgedreht und ihr BH war zu Boden gefallen. Es schien, als würde sie durch Caro hindurch, direkt in ihr Herz blicken.

»Das willst du vergessen, habe ich recht?«, fragte sie und die Angesprochene nickte.

»Dann trink aus und ich helfe dir dabei.«

Carolina tat, wie ihr geheißen war und kaum hatte sie den Rest ihres Getränks geschluckt, war Silvia über ihr und küsste sie. Ihre Hände wanderten über Carolinas Körper, und die genoss nur die zärtlichen Berührungen. Es schien alles so richtig zu sein.

»Ich wollte schon immer mal jemanden mit Ahnung, der meine Spalte leckt«, hauchte ihr Silvia ins Ohr und von da an wusste Caro nichts mehr.

5.

 

Der Freitagnachmittag war sonnig und Andrea hatte es satt weiterhin zu lernen. Die Schularbeit würde sie ohne Probleme überstehen. Am Wochenende wollte sie wenigstens einmal zwei Tage lang nichts mehr von der Schule hören.

So wenig sie es sich eingestehen wollte, doch sie war enttäuscht. Sie hatte mehrfach versucht Carolina zu erreichen, war der Meinung gewesen, es hätte sich alles gut entwickelt. Der Kuss hatte eigentlich eine deutliche Sprache gesprochen. Andrea musste auch zugeben, dass sie in der kurzen Zeit sogar Gefühle entwickelt hatte, die ihr nun im Weg standen.

Am Mittwoch hatte sie aufgehört und Carolina nicht mehr angerufen oder ihr Nachrichten geschickt. Enttäuscht über deren Verhalten löschte sie sogar ihren Account auf der Singleplattform, wo sie sich kennengelernt hatten und vergrub sich in ihren Büchern.

Heute war die erste Enttäuschung wieder etwas in die Ferne gerückt und Andrea machte einen Spaziergang. Wie immer führte sie ihr Weg in den Stadtpark, wo sie bei den beiden Weiden wieder schmerzhaft an Carolina erinnert wurde.

Sie beschloss, das alles hinter sich zu lassen und wanderte über die große Liegewiese in Richtung des Bahnhofs davon. Es war ein warmer Frühlingstag und die Wiese war bereits gut mit Pärchen und vielen anderen Sonnenhungrigen besetzt. Mitten unter ihnen, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht. Es war Alex. Zwar hatte sie ihn erst einmal gesehen, doch sie erkannte ihn sofort wieder.

Er war in sein Buch vertieft und schien sie nicht zu bemerkten. Andrea wollte ihn nicht stören und ging weiter.

»Hi, äh, Andrea«, hörte sie hinter sich.

»Hi«, sagte sie mit einem Lächeln und drehte sich um, »Ich wollte dich nicht stören, verzeih mir meine Unhöflichkeit.«

»Kein Ding«, antwortete Alex und setzte sich auf, »Wenigstens tust du nicht so, als hättest du mich nicht gehört.«

»Warum sollte ich?«

»Och, das kommt öfter vor. Willst du dich ein bisschen zu mir setzen? Mir ist grad nach Gesellschaft.«

Andrea überlegte nicht lange und setzte sich zu ihm in die Wiese.

»Wie geht’s?«, fragte der Junge schüchtern.

»Gut, und selbst?«

»Ich lebe. Ich schätze mal, das ist schon ein Fortschritt.«

»Du bist ganz schön düster«, meinte Andrea und lachte.

»Gut, das muss ich zugeben. Doch bei deinem Lachen fällt einem das richtig schwer.«

»Oh, danke. Weißt du, ich kenne dich kaum, aber bislang denke ich, habe ich noch nie einfach so ein Kompliment von jemandem in meinem Alter bekommen.«

Sie lächelte, schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: »Außer sie wollten mich ins Bett kriegen. Willst du mich etwa ins Bett kriegen?«

Die Frage war alles andere als ernst gemeint, ließ Alex jedoch merklich erschrecken. Er überlegte kurz, wog den Kopf hin und her, als würde er versuchen Andreas Gedanken zu lesen und meinte dann: »Dagegen hätte ich bestimmt nichts. Wer würde bei so einer hübschen Frau auch nein sagen?«

Das Mädchen war überrascht. Ein weiteres Kompliment, dazu ein auffordernder Blick, doch in seinem Lächeln lag der Schalk. Das verunsicherte sie. Meinte er das ernst oder war es nur ein guter Scherz? Hin und hergerissen wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Glücklicherweise löste Alexander, der ihr Zögern bemerkt hatte, die Situation auf.

»Nicht, dass du falsch von mir denkst. Ich halte nichts von solchen Schnellgeschichten.«

»Ich eigentlich auch nicht.«

Beide waren froh, dass die Situation so gelöst worden war und sie unterhielten sich über unverfänglichere Themen. Über Schule, gelesene Bücher, gesehene Filme und sonstigen Small Talk verging der Nachmittag und die Sonne war im Untergehen begriffen.

Als Andrea fröstelte, erhob sich Alexander.

»Ich danke für das Gespräch«, meinte er, »Es war vermutlich das interessanteste und beste Gespräch seit Jahren. Vielleicht hast du mal Lust, dich auf einen Kaffee zu treffen.«

Bei Andrea läuteten die Alarmglocken. Eine solche Einladung war für sie ein Signal, dass er vielleicht mehr von ihr wollte und sie wollte auf keinen Fall den falschen Eindruck vermitteln.

»Weißt du«, begann sie, noch bevor sie wusste, was sie eigentlich sagen sollte, »Du bist ein netter Kerl ...«

»Schon ok«, unterbrach sie Alexander, »Netter Kerl sagt alles.«

Er wandte sich zum Gehen, doch Andrea packte seinen Arm.

»Bleib stehen und hör mir zu«, sagte sie, schärfer als sie wollte, »Ich würde liebend gerne mit dir auf einen Kaffee gehen, doch ich will nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst?«

»Falsche Hoffnungen? Ich dachte, du hast keinen Freund, es wäre nichts dabei, sich mal zu treffen, et cetera.«

»Ich habe gesagt, ich bin Single. Das Wort ›Freund‹ habe ich bewusst vermieden.«

»Das verstehe ich jetzt nicht«, sagte Alexander verblüfft und kratzte sich am Kopf.

»Ich wollte sagen, du bist ein lieber Kerl, doch das ›Kerl‹ ist das Problem in diesem Fall.«

»Soll das heißen …?«, fragte Alex atemlos.

»Das heißt, ich bin lesbisch.«

Normalerweise wurde ein solches Geständnis ihrerseits gefolgt von einigen misstrauischen Aussagen, blöden Kommentaren oder ähnlichem pubertären Gehabe, doch Alexander zuckte nur mit den Schultern.

»Ok. Ich weiß zwar nicht, ob du dich drüber wunderst oder nicht, aber du bist nicht die Erste, die mir so etwas sagt. Und wieder bin ich mir nicht sicher, ob ich dich dann nicht bei der nächsten Party mit einem anderen beim Sex überrasche.«

Für einen Augenblick verlor Andrea völlig die Fassung.

»Eine hat dir gesagt, sie wäre lesbisch um dich loszuwerden?«, fragte sie entgeistert.

»Jap«, machte Alexander als Antwort.

»Das ist hart. Und unverschämt.«

»Ach, so was passiert mir ständig.«

»Also bei mir ist es wahr. Und nachdem das jetzt klargestellt ist, können wir, wenn du willst, gern gleich noch auf einen Kaffee gehen.«

Der Junge nickte nur und gemeinsam gingen sie in ein nahes Café. Draußen sank die Sonne und es wurde dunkler. Obwohl Andrea nicht rauchte, setzten sie sich in den Raucherbereich, denn Alexander hatte während der Zeit auf der Wiese zweimal seine Pfeife angezündet und sie hatte nichts dagegen, solange er ihr den Rauch nicht direkt ins Gesicht blies.

Während er noch seine Pfeife stopfte, bestellte Andrea und schaute ihm zu. Alexander hatte ein sanftes Gesicht und wirkte hoch konzentriert, während er langsam Tabak in den hölzernen Kopf füllte.

»Uh, wen haben wir denn da?«

Die Stimme war so laut, dass man sie im gesamten Café hören konnte. Neben ihrem Tisch tauchte Erik auf. Er war offensichtlich leicht angetrunken und verpasste Alexander einen heftigen Hieb auf die Schulter. Doch der nahm ihn gar nicht zur Kenntnis.

»Was für ein hübscher Anblick«, meinte Erik und reichte Andrea die Hand.

Die allerdings übersah sie absichtlich und ignorierte den Rüpel.

»Keine Manieren?«, zischte Erik und setzte sich auf einen freien Stuhl.

»Von wegen Manieren. Frag erst einmal, ob du überhaupt erwünscht bist«, fuhr Alexander ihn an, doch Erik nahm ihn nicht ernst.

»Sie mal. Das Bröselchen will Stärke zeigen. Hast du eine neue Freundin?«

Abermals schlug er Alex auf die Schulter. Der Aufprall klang schmerzhaft, doch der Junge zeigte keine Reaktion. Seine Augen durchdrangen Erik und versprühten unübersehbaren Hass.

»Was will eine Schönheit wie du, bloß mit einer Flasche wie ihm?«

Eriks Atem stank so sehr nach Bier, dass Andrea schlecht wurde.

»Ich denke mal, das kommt daher, dass er weiß, wie man sich vor einer Dame benimmt.«

Erik schien das nicht zu überzeugen. Er lachte laut los und schlug auf den Tisch.

»Ach komm schon, du stehst drauf«, lallte er und versuchte Andrea zu küssen.

Doch die wich aus.

Erik wollte protestieren und nach Andrea greifen, doch Alexander war blitzschnell. Er packte die Hand des Jungen und drehte sie mit wenig Kraft nach innen. Erik war davon völlig überrascht und rutschte vor Schmerz winselnd vom Sessel.

»Verschwinde hier, bevor ich unangenehm werde«, sagte Alex mit drohender Ruhe in der Stimme.

Er ließ Erik los und der kam fluchend auf die Beine.

»Gut, dann lass ich dich und deine Schlampe eben allein«, zischte er, drehte sich um und wackelte zum Ausgang. Nicht ohne auf dem Weg dorthin gegen mehrere Tische zu stoßen.

»Danke«, sagte Andrea.

»Keine Ursache. Ich hasse diesen Typ.«

»Was hast du da mit ihm gemacht?«

»Es ist ein Aikidō-Griff. Kann schmerzhaft sein.«

»Du machst Kampfsport?«, fragte Andrea erstaunt.

»Seit ein paar Jahren. Es hilft einem dabei, ruhiger zu werden.«

»Und, schon viele Typen vermöbelt?«

»Mein Weg ist, zumindest soweit es geht, die Gewaltlosigkeit. Ich kenne den menschlichen Körper zu gut, als dass ich mich in eine Schlägerei verwickeln ließe.«

»Das heißt?«

»Das heißt, dass ich Angst habe jemanden umzubringen, wenn er mich nur genug provoziert.«

Erschrocken wich Andrea etwas zurück. Alexander hatte seine Pfeife entzündet und blickte gedankenverloren den Rauchwolken nach, die seinen Mund verließen.

»Du hast viel gelitten.«

Ob es eine Frage oder Feststellung war, wusste Andrea nicht, doch sie hatte Mitleid mit dem Jungen.

»Bestimmt nicht so viel wie du. Und doch genug.«

»Wieso glaubst du, ich hätte gelitten?«

»Nun ja, du bist lesbisch und, seien wir mal ehrlich, 99,9% der Leute unseres Alters sind kleine Kinder«, antwortete Alexander ruhig und blies eine große Wolke in die Luft.

»Ich weiß. Doch ich habe es überlebt. Und es hat mich stärker gemacht.«

»Das ist gut. Wie lange bist du schon mit Carolina zusammen?«

Andrea zuckte zusammen, als sie den Namen hörte. Vielleicht war es auch der schnelle Themenwechsel, weshalb sie nichts sagte. Alexander drängte sie nicht und zog währenddessen genüsslich an seiner Pfeife.

»Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst«, meinte er schließlich.

»Schon ok. Wir sind nicht zusammen.«

»Aber du wolltest es.«

Andrea sog scharf Luft ein.

»Ich weiß es nicht. Ich vermute aber ja.«

»Und sie will nicht?«

»Ich weiß es nicht«, seufzte Andrea, »Das Treffen ist eigentlich gut gelaufen. Ich hab etwas zwischen uns gespürt. Doch dann hat sie nicht mehr am Handy abgenommen.«

»Am Dienstag?«, fragte Alexander nach.

»Genau.«

»Sie war seit Montag nicht mehr in der Schule. Es heißt, sie ist krank, aber Stefan hat erzählt, dass sie am Montagabend mit den Ger’s herumgezogen ist.«

»Das heißt?«

»Die Ger’s sind bekannt für ihre Drogen- und Sexpartys. Verwöhnte kleine Pisser. Ich hoffe nur, dass sie sich da nicht hat mit reinziehen lassen.«

»Sie machte nicht unbedingt den Eindruck, als wäre das ihre Richtung. Aber was weiß ich, ich kenn sie erst ein paar Stunden und sie weiß noch gar nichts über sich«, meinte Andrea nachdenklich.

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, sie ist sich nicht sicher, ob sie lesbisch ist oder bi oder nur neugierig. Es ist kompliziert.«

»Oh, oh«, machte Alexander, »Das ist Übel.«

»Was ist?«

»Warst du noch nie so verwirrt, verängstigt, deprimiert oder was auch immer, dass du etwas völlig Absurdes gemacht hast, um dich davon abzulenken?«

»Du meinst doch nicht …?«

Andrea schüttelte den Kopf. So dumm konnte sie doch nicht sein.

»Genau das meine ich«, bestätigte Alex ihrer Befürchtungen, »Sie war verwirrt, konnte ihre Gefühle vielleicht nicht einordnen. Ich weiß nicht, ob das wirklich so schlimm ist, aber ich stell mir das doch extrem vor. Ich meine, du bist plötzlich nicht mehr normal, im gesellschaftlichen Sinne. Das glaub ich kann einen schon fertig machen«

»Mein Gott«, hauchte Andrea, »Du hast recht. Die Phase kann extrem sein. Doch sie machte nicht den Eindruck, als würde sie so schwer mit sich kämpfen.«

»Du kannst in niemanden hineinsehen. Eine Maske aufrechtzuerhalten ist leichter, als du denkst.«

»So eine wie deine?«

»So eine wie meine«, bestätigte Alexander ruhig.

»Was ist es bei dir?«

»Das«, antwortete der Junge und drehte seine Handflächen nach oben.

Erschrocken betrachtete Andrea die Handgelenke. Mehrere Narben zogen sich darüber. Auch die Unterarme waren mit weißen Streifen übersät.

»Was hast du getan?«, fragte sie fassungslos.

»Den Ausweg für Feiglinge gesucht«, meinte Alexander seltsam nüchtern.

»Warum?«

»Wenn ich das wüsste. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Die Hänseleien, das Gepöbel, die Schläge, ständig aufgezogen zu werden. Irgendwann war es zu viel. Um genau zu sein, drei Mal war es zu viel.«

Andrea traten Tränen in die Augen. Mit einem Mal war sie unheimlich traurig. Vor ihr saß ein Junge, der von anderen soweit getrieben worden war, dass er sein Leben beenden wollte. Zur Trauer gesellte sich Wut.

Wut auf die Gesellschaft, die so etwas zuließ. Wut auf die, die ihn so weit getrieben hatten. Wut auf Alexander, dass er es versucht hatte.

»Ich hoffe, du tust etwas dagegen«, sagte sie schließlich.

»Nicht so viel wie ich sollte, aber mehr als die meisten anderen.«

»Das hoffe ich. Ich möchte mich nämlich gern auch in Zukunft noch mit dir auf einen Kaffee treffen können«, lächelte Andrea.

»Es würde mich freuen. Und ich bin am Wochenende in der Nähe von Caros Zuhause. Vielleicht kann ich was für dich in Erfahrung bringen, wenn du willst.«

»Ich weiß es nicht. Aber ich denke schon.«

»Ich werde sehen, was ich machen kann«, antwortete Alexander und nickte ihr freundlich zu.

6.

 

Als Carolina erwachte, fühlte sie sich schlecht. Erst konnte sie nicht erkennen, wo sie sich überhaupt befand, doch langsam dämmerte ihr wieder, wo sie war. Im großen Wohnzimmer verteilt lagen die anderen. Drei nackte Männer und ein nacktes Mädchen. Auf ihren Brüsten hatte Carolina geschlafen.

Als sie auf die Beine kam, hätte sie sich beinahe übergeben, doch sie schaffte es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette. Der Rausch war vorbei. Und was es für ein Rausch gewesen war. Alles war so einfach gewesen, so klar, so leicht.

Während sie auf der Toilette saß, fand sie eindeutige Zeichen ungeschützten Sexualverkehrs. Für einen Moment wurde ihr heiß und kalt gleichzeitig, als sie daran dachte, dass sie zur Zeit keine Pille nahm. Doch die Erinnerung an den Rausch der Gefühle, der die letzte Nacht bestimmt hatte, überdeckte diese Angst.

Als sie schließlich fertig aus dem Bad kam, kam ihr Silvia entgegen. Sie wirkte ähnlich mitgenommen, wie sie, doch sie lächelte.

»Das war doch ne geile Nacht«, meinte Sie und drückte ihren nackten Körper gegen Carolina.

Die wollte sich erst dagegen wehren, fand es dann aber angenehm und ließ es zu.

»Ich weiß kaum noch was davon.«

»Naja, du hast es mir besorgt, ich dir, dann die Jungs uns beiden. Und was du angestellt hast. Ich meine, alle drei auf einmal, das war echt wie in einem Porno.«

Silvia strahlte übers ganze Gesicht.

»Oh, ich werd ganz heiß, wenn ich nur dran denke«, kicherte das Mädchen und streichelte Caro.

Das war der dann doch zu viel und sie wich zurück.

»Also, genug Spaß für dich? Es ist noch Fantasy da, wenn du willst«, meinte Silvia und zog Caro mit sich.

Die wollte einfach nur vergessen und dazu war ihr jedes Mittel recht. Schnell hatte sie etwas von dem Pulver in zwei Gläsern Cola aufgelöst und die Mädchen stürzten sich gierig darauf. Die Dosis schien stärker zu sein, als am Tag davor, denn schon nach wenigen Minuten fand sich Caro in den Armen Silvias wieder. Schließlich war die Erinnerung vorbei. Die letzten Fetzen endeten mit Silvias gespreizten Beinen, als diese Caros Gesicht dazwischen drückte.

Am Mittwochmorgen war dann alles vorbei. Die vier anderen mussten zur Arbeit und Caro konnte nun nicht mehr mit ihnen gemeinsam in den Rausch fliehen.

Ihren Eltern hatte sie erzählt, dass sie bei einer Freundin übernachtet hätte, weil sie gemeinsam für eine Prüfung lernten. Für die Schule hatte sie eine gefälschte Entschuldigung ihres Vaters angefertigt. Bisher war das noch nie entdeckt worden.

Als sie am Mittwoch um 10 Uhr vormittags nach Hause kam, war niemand da. Natürlich, ihre Eltern waren in der Arbeit, die Geschwister in der Schule oder im Kindergarten. Sie hatte genug Zeit um sich auszuruhen. Ihr gesamter Unterleib schmerzte, doch die Erinnerungen an den süßen Rausch ließen das schnell vergessen.

Sie verbrachte beinahe den gesamten Tag im Bett und schlief. Als sie gegen Abend aufwachte, waren ihre Eltern gerade nach Hause gekommen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie um diese Uhrzeit schon hier war, also stellte keiner Fragen. Bis auf ihre Mutter.

»Du siehst ja furchtbar aus«, meinte sie und streichelte Carolina sanft über die Stirn, »Was ist los?«

»Nichts. Bloß Stress in der Schule«, hatte sie geantwortet und ihrem Mutter damit besänftigt.

Den restlichen Abend verschlief sie, stand am Donnerstag früh auf und verließ das Haus. Sie würde zurückkommen, wenn die anderen weg waren.

Als sie an diesem Morgen ins Bad wankte und sich schminkte, hatte sie Probleme mit ihren Händen. Sie zitterte so stark, dass sie kaum ihren Kajal halten konnte. Nur unter gewaltigen Anstrengungen schaffte sie es, ihr Make-up aufzutragen. Die Anstrengung war so groß, dass sie danach sogar schwitzte.

Für einige Momente war Carolina so außer Atem, dass sie glaubte, sich hinsetzen zu müssen, doch der aufgetretene Schwindel verschwand schnell wieder. Sie wünschte sich in den Rausch zurück, in dem alle so einfach schien.

Gerwin hatte ihr verraten, wo sie das Fantasy kaufen konnte und so machte sie sich mit dem Bus auf in die Stadt. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde, doch schließlich erreichte sie den dortigen Bahnhof und hielt nach dem beschriebenen Typen Ausschau.

Schließlich entdeckte sie ihn in seinem Geschäft. Er betrieb einen kleinen Laden, direkt am Bahnhof, der Kameras, Filme und Fotozubehör verkaufte. Außerdem war ein kleines Studio angeschlossen, in dem man Pass- und Porträtfotos machen konnte.

Carolina stand lange vor dem Laden und sah sich die Auslage an. Sie war vollgestopft mit vielen, alten Kameras. Alle analog, keine davon digital. Digitalkameras konnte sie im Inneren des Geschäfts entdecken. Schließlich konnte sie sich dazu durchringen einzutreten.

Als sie die Tür öffnete klingelte ein Strauß Glöckchen, die ihr Eintreten kommentierten. Sofort tauchte der Mann, von dem sie wusste, dass er Heinz hieß, hinter seinem Tresen auf und blickte ihr freundlich entgegen.

Heinz war nicht unbedingt das, was sie sich vorgestellt hatte. Gerwin hatte ihn als größeren, älteren, untersetzten Mann mit Schnurrbart beschrieben. Die Beschreibung traf auch zu, doch sein gesamtes Auftreten, bis hin zu seinem Designeranzug war nicht die Haltung eines Dealers, sondern eines erfolgreichen Geschäftsmannes.

»Guten Tag«, grüßte er freundlich und Carolina antwortete in gleicher Weise.

»Was kann ich für sie tun?«

»Ich, äh«, stotterte Caro, der gerade nicht sonderlich wohl war, »Ich hätte gerne Passbilder. In A4.«

Dieser Satz ergab keinen Sinn, doch Gerwin hatte ihr erzählt, dass sie das sagen müsste, damit Heinz wusste, worum es ging.

»Wie viele Abzüge?«

Das Gespräch entwickelte sich genauso, wie es der Zwilling vorhergesagt hatte. Caro wusste, dass Heinz der einzige Händler in der Umgebung war, der Fantasy als Pulver anbot. Die anderen verkauften vorgefertigte Lösungen, wo man sich nie sicher sein konnte, wie stark sie wirklich waren. Das Pulver allerdings konnte man selbst dosieren und so die Wirkung begrenzen.

In den Tagen und Nächten, die sie nackt in der Wohnung der Ger’s verbrachte hatte, hatte sie viel darüber erfahren. Sie wusste nun, wo sie es bekam und wie viel sie Dosieren durfte. Auch wusste sie, dass die Lösung selbst etwa 50-70 Euro für ein 25-ml-Fläschchen kostete. Für 10 Gramm konnte sie mit gut 100 Euro rechnen.

»Zehn bitte«, antwortete Carolina und fühlte, wie ihr Mund trocken wurde.

»Bitte folge mir nach hinten.«

Sie folgte Heinz hinter einen grauen, dicken Vorhang, der den Verkaufsraum von einem kleinen Atelier trennte. Dort nahm sie auf einem Hocker Platz, der von mehreren Schirmen für den Blitz umgeben war.

»Wir kennen uns noch nicht«, meinte Heinz ruhig und streckte ihr die Hand entgegen, »Heinz.«

»Stefanie«, antwortete Caro.

Der Mann nickte und öffnete einen verschlossenen Schrank. Er kramte kurz darin und zog schließlich einen kleinen Druckverschlussbeutel hervor, in dem sich ein weißes Pulver befand, das an Salz erinnerte.

»Wer hat mich empfohlen«, meinte er mit unverfänglichem Ton.

»Gerwin«, sagte Carolina und wurde sich bewusst, dass sie seinen Nachnamen nicht kannte.

»Mhm«, machte Heinz und legte das Säckchen vor sich auf eine Ablage, »Macht 150.«

»Was?«, meinte Caro und machte ein fassungsloses Gesicht, »100 sollen 10 Gramm kosten, nicht mehr.«

»Sagt das Gerwin? Nun, dann hat er dich belogen Mädel. 150 für 10 Gramm. So ist es, so bleibt es.«

150 Euro, das war mehr als ihr gesamtes Monatstaschengeld.

»Es muss doch eine Möglichkeit geben, den Preis etwas zu drücken«, sagte sie und versuchte einen möglichst verführerischen Ton zu treffen.

»Weißt du wie viele Mädels und Jungs täglich in meinen Laden marschieren und mir Sex gegen Stoff anbieten? 150. Nimm es oder lass es.«

Grummelnd holte Caro ihre Geldbörse aus der Handtasche und zahlte die 150 Euro. Damit war ihr gesamtes Taschengeld und der Rest des Geburtstagsgeldes auf einmal weg.

»Die Firma dankt«, meinte Heinz und warf ihr den kleinen Beutel zu.

Das war das Signal für Carolina zu verschwinden. Sie nahm das Säckchen, steckte es in ihre Tasche und verließ mit einem leisen Gruß den Laden.

Ihr Herz schlug wie wild. Sie hatte Angst, war verunsichert und verzweifelt gleichzeitig. Doch jetzt hatte sie etwas, das gegen die abnormalen Gedanken half. Zehn Dosen, wenn sie weniger nahm, vielleicht sogar zwanzig, aber das würde sich zeigen.

Auch den Freitag verbrachte Carolina zu Hause. Sie war froh, dass sie nicht mehr zitterte und das Pulver in ihrer Tasche gab ihr ein gewisses Maß an Sicherheit, sich wehren zu können, wenn ihre Zweifel wieder die Oberhand gewannen.

Als würde sie versuchen sich selbst zu therapieren, sah sie sich den halben Nachmittag über Fotostrecken mit männlichen Models an. Doch im Endeffekt fühlte sie sich danach nur betrogen und lächerlich.

Am späten Nachmittag döste Caro auf ihrem Bett ein. Doch lange, schlief sie nicht, denn bereits nach wenigen Minuten war ihr, als beuge sich jemand über sie. Als sie die Augen aufschlug, blickte sie in Andreas Gesicht. Das Mädchen lächelte ihr zu und versuchte Carolina zu küssen. Doch die wehrte sich dagegen.

Das Zimmer verwandelte sich in eine weite Wiesenlandschaft. Andrea war verschwunden, doch nun waren da Silvia, Daniel und die Ger’s. Sie waren nackt und gerade heftig zugange. Silvia winkte ihr zu, deutete zwischen ihre gespreizten Beine und rief: »Komm her Schlampe und lass deine Zunge tanzen!«

Carolina schrie, doch sie konnte sich nicht dagegen wehren. Ihr Körper wurde näher an das Mädchen herangezogen und ihr Gesicht versank zwischen den Beinen.

Dann zog jemand an ihren Haaren und Caro war zurück in ihrem Zimmer. Über ihr stand Andrea und lächelte auf sie hinab.

»Du weißt es, wehr dich nicht dagegen«, sagte sie und versuchte abermals Carolina zu küssen.

Mit einem Schrei wachte sie schweißgebadet auf. Vor dem Fenster war die Sonne bereits im Untergehen begriffen. Ihr Wecker zeigte 18:03.

Carolina rieb sich die Augen. Ihre Gedanken kreisten schon wieder um Andrea. Wieso konnte sie das nicht endlich abstellen?

Sie sprang auf, schnappte sich ihre Tasche und wühlte darin herum, bis sie das kleine Säckchen gefunden hatte. Es würde ihr helfen, Andrea wieder zu vergessen.

Im Bad füllte Caro eine fertige Dose Whiskeycola in eine kleine PET-Flasche um und fügte mithilfe, eines Löffelstiels eine kleine Menge des Pulvers hinzu, die sie für angemessen für die Menge Flüssigkeit hielt.

Dann packte sie ihre Sachen und machte sich auf in Richtung See. Der Weg führte sie die Bundesstraße entlang, den kleinen Hügel hinunter. Vorbei an der Tankstelle, wo sie sich ihr erstes Bier gekauft hatte. Dort musste sie auch die Straße überqueren und folgte dann einem Fußweg über den Friedhofparkplatz, vorbei an einem kleinen Sportplatz, weiter in Richtung Seepromenade.

Als sie den kleinen Sportplatz überquerte, fielen ihr mehrere Jungen auf, die dort Fußball spielten. Mitten unter ihnen erkannte sie Alex. Bisher hatte sie nicht gewusst, dass Alexander so sportlich war, doch soweit sie das erkennen konnte, war er nicht schlecht. Gekonnt umspielte er einen Gegenspieler, machte einen kurzen Doppelpass und donnerte dann den Ball über den überraschten Tormann hinweg ins Kreuzeck.

Kein Jubel, keine Geste, noch nicht einmal ein Lächeln. Er nahm das Tor hin und trottete wieder in die andere Richtung, als er Carolina erblickte. Sofort deutete er seinen Freunden, dass sie kurz pausieren sollten, und kam ihr entgegen.

»Hi«, sagte er und musterte sie.

»Hallo«, gab sie zurück.

»Du warst nicht in der Schule. Alles ok?«

Carolina hatte keine Lust auf Small Talk.

»Ach, leck mich«, fuhr sie ihn an.

»Ok, Ok. Sorry, dass ich gefragt habe. Ich hab gehört du hängst jetzt mit den Ger’s rum.«

Augenblicklich lief Caro rot im Gesicht an. Sie wusste um den Ruf der Zwillinge und wenn das jemand erzählt hatte.

»Geht’s dich was an?«, zischte sie.

»Das hat man also von seiner Freundlichkeit. Tut mir leid, aber mir geht es nicht am Arsch vorbei, wenn sich Leute, die ich kenne, am Ende selbst ins Grab bringen«, antwortete Alex ungewöhnlich scharf.

»Soll das heißen, ich nehm Drogen? Hältst du mich für einen Junkie.«

»Woher soll ich das wissen? Aber Andrea macht sich Sorgen um dich. Immerhin hast du ihr nicht geantwortet und dich nicht mehr gemeldet.«

Als der Name fiel verkrampfte sich Carolina augenblicklich. Sofort sah sie das freundlichste Gesicht vor sich, in dass sie bisher hatte blicken dürfen. Sie sehnte sich danach, es zu berühren und zu küssen. Doch mit einer energischen Handbewegung war das Trugbild verschwunden.

»Idiot«, schimpfte sie und setzte ihren Weg fort.

Ein weiteres Mal war eine Bundesstraße zu überqueren, dann erstreckte sich der große Parkplatz des Seebades vor ihr und dahinter der See. Carolina bog nach links ab und folgte der Zufahrtsstraße über den Parkplatz, überquerte den großen Spielplatz und setzte sich auf eine Bank direkt an der Mole.

Die ganze Zeit grübelte sie über Alexanders Worte nach. Hatte er mit Andrea gesprochen? Carolina hatte die Anrufe und SMS ignoriert. Sie war normal und wollte nichts mit dieser Lesbe zu tun haben.

Doch nun verzehrte sie die Sehnsucht. Es war, als würde ihr ein Stück fehlen. Aber das war nicht richtig.

Trotzig griff sie in ihre Tasche und holte die Flasche hervor. Die braune Flüssigkeit darin sah wie normales Cola aus. Carolina nahm einen tiefen Zug. Der Geschmack des Whiskeys jagte ihr einen Schauer über den Rücken und sie zitterte einen Moment, doch dann verdrängte sie den Ekel und nahm einen weiteren Schluck.

Augenblicke später wurde ihr Magen warm und diese Wärme breitete sich bis in ihre Fingerspitzen aus. Bald würde das Fantasy wirken. Normalerweis trat die Wirkung nach wenigen Minuten ein. Und der Alkohol tat sein Übriges.

Nachdenklich wog sie die Flasche in der Hand. Noch kreisten ihre Gedanken um Andrea, um Frau Schuster, Kisha und Lily. Doch die Erinnerung wurde dumpfer.

»Das Zeug bringt dich irgendwann um«, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Da stand Alex. Verschwitzt in einen Trainingsanzug gehüllt sah er ihr direkt in die Augen.

»Is nur Cola«, antwortete Caro und starrte wieder auf den See hinaus.

Er schnupperte lautstark.

»Mit etwas Whiskey, wenn ich mich nicht irre.«

Alexander sprang über die Lehne der Bank und setzte sich neben Carolina. Die war darüber überrascht. So offen und kontaktfreudig hatte sie ihn bisher noch nie erlebt. Still saßen sie nebeneinander.

»Darf ich auch einen Schluck?«, fragte er schließlich.

»Nein«, antwortete Caro trotzig.

»Was ist noch drin?«

Das Mädchen stutzte. Woher wusste er, dass noch etwas anderes beigemischt war?

»Nichts. Nur Whiskeycola«, sagte sie schließlich.

»Ja, ich weiß und ich bin der Papst. Du klammerst dich daran, als wär es eine Medizin, die deinen Krebs im Endstadium augenblicklich heilen könnte.«

Verärgert setzte Carolina die Flasche an und trank sie auf einen Zug aus. Kurz war ihr schwindlig und vor allem schlecht, doch dann verdrängte sie den Geschmack des Alkohols und es ging wieder.

»Nichts ist drin, die Flasche ist leer. Außerdem, was geht es dich an?«, zischte sie.

»Geht mich nichts an. Ich mein ja nur. Andrea hat mich gebeten, mal nach dir zu sehen. Sie macht sich Sorgen. Besonders seit sie weiß, dass du mit den Ger’s herumziehst.«

»Soll sich um ihren eigenen Scheiß kümmern, die Schlampe«, sagte Caro und bemerkte, dass ihre Zunge bereits schwer war.

Endlich kam sie dem Rausch näher, den sich so dringend brauchte. Andreas Bild verblasste vor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 13.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7110-6

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