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Für meine Liebsten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Handlung dieses Romans, sowie die handelnden Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Schwartz, Stephanie M.

Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt dieses Buches ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung nicht vervielfältigt oder weitergegeben werden.

1.

 

Helles Licht durchflutete den Raum. Die Wände waren mit grüner Farbe getüncht, doch die wirkte nicht mehr sonderlich frisch. Bilder von Blumen sollten eine gemütliche Atmosphäre erschaffen, doch das gelang ihnen nur teilweise, war doch der gesamte Raum mit Geräten vollgestellt.

Ein ständiges Piepsen begleitet von einem Zischen und Knarzen füllte das Zimmer und gab den Anwesenden das Gefühl sich inmitten eines Organismus zu befinden, der von einer Dampfmaschine angetrieben wurde.

Doch nur eine Person war ständig hier drin. Ihm galten die ganzen Geräte und Schläuche. Sie erhielten ihn am Leben, überwachten seine Körperfunktionen und linderten seine Schmerzen.

Er konnte sich nicht an viel erinnern. Da war diese große, dunkle Gestalt. Dann nur noch Schmerz.

Doch halt.

Da war noch ein Mädchen. Sie rief seinen Namen.

Alexander.

War das sein Name?

Sein Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Die Erinnerung kam nur langsam zurück. Ja, er war Alexander und das Mädchen, das Mädchen war Carolina.

Als wäre das ein Funke gewesen, der den abgesoffenen Motor startete, schlug Alexander die Augen auf. Mit einem Schrei fuhr er in die Höhe, doch er kam nicht weit, denn stechender Schmerz zwang ihn zurück auf sein unbequemes Bett.

»Scheiße«, hauchte er und erschrak ob seiner rauen Stimme.

Vor seinem Gesicht baumelte ein kleines Kästchen an einem Spiralkabel. Darauf war ein gelber Knopf. Es kostete Alexander unglaubliche Anstrengung um den Knopf überhaupt zu erreichen, doch schließlich schaffte er es, ihn zu drücken.

Es dauerte nicht lange. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür auf. Von Gang her blendeten ihn helle Lampen, die nur kurz von einem dunklen Körper abgedeckt wurden.

»Da ist jemand aufgewacht«, sagte eine freundliche weibliche Stimme, »Alles in Ordnung? Haben sie Schmerzen?«

»Nein«, stöhnte Alexander, »Nicht wirklich.«

»Gut, ich werde dann gleich den Arzt holen.«

»Was ist geschehen?«

»Die Einstiche waren tief, aber sie hatten Glück. Sie haben zwar viel Blut verloren, aber das wird schon. In ein paar Wochen sind sie hier raus«, sagte die Schwester und wandte sich um.

Alexander blickte ihrer schlanken Gestalt mit dem brombeerfarbenen Top und den grünen Hosen hinterher. Was war bloß geschehen?

Einstiche?

Welche Einstiche?

Er hatte es doch hoffentlich nicht schon wieder getan.

Alexander erforschte seine bruchstückhaften Erinnerungen. Nein, er war glücklich gewesen mit Kisha. Die Stimmungsschwankungen waren seltener geworden, seit er die Tabletten nahm.

Nein, das war es sicher nicht.

Das hoffte er zumindest.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Arzt endlich auftauchte. Er untersuchte ihn kurz und beschloss dann, dass man ihn nicht mehr auf der Intensivstation behalten musste und auf ein normales Zimmer verlegen konnte.

Auf Alexanders Fragen nach dem Geschehenen konnte er keine Antwort geben. Er sprach nur von mehreren Stichwunden, die allerdings alle lebenswichtigen Organe verfehlt hatten. Er hätte Glück im Unglück gehabt.

Doch Alexander konnte sich an das Geschehene nicht erinnern. Immer wieder zwang er sich selbst sich an die Augenblicke zu erinnern, doch meist trugen seine Bemühungen keine Früchte. Schließlich fiel ihm wenigstens etwas wieder ein. Da war Kisha und ein Anruf von Andrea. Genau, Carolina. Sie hatte irgendetwas vor, war verschwunden. Er hatte sie gesucht.

Damit war diese Erinnerung auch wieder zu Ende.

Man brachte ihn in ein normales Zimmer, wo ihn bereits zwei Polizeibeamte erwarteten. Sie waren freundlich und fragten ihn, ob er sich an etwas erinnern könnte, doch Alexander musste verneinen. Er wusste nichts mehr.

»Was ist passiert?«, fragte er sie, als sie bereits im Gehen begriffen waren.

»Den Zeugen zufolge haben sie im Park einen Vergewaltiger auf frischer Tat gestellt. Als sie ihn von seinem Opfer zerren wollten, hat der auf sie eingestochen.«

Alexander schüttelte den Kopf. Das kam ihm alles nicht bekannt vor.

»Wir haben den Kerl schließlich erwischt. Er hat sich mit den Kampfwunden hier im Krankenhaus gemeldet. Da mussten wir ihn nur abholen. Nach einer Nacht in der Zelle hat er alles gestanden. Dennoch müssen wir alle Beteiligten befragen.«

Alexander nickte schwach. Er fühlte sich müde und ausgelaugt.

Die Polizisten verabschiedeten sich und er blieb alleine in dem dunklen Zimmer zurück.

 

Die Nacht war hart, Alexander hatte kaum geschlafen. Er hatte immer wieder denselben Albtraum, doch wenn er versuchte sich daran zu erinnern, schien er sich sofort in Luft aufzulösen.

Da man ihm verboten hatte aufzustehen, klingelte er nach einer Schwester. Es dauerte nicht lange und eine junge, braunhaarige Schwester erschien im Zimmer.

»Guten Morgen«, sagte sie fröhlich, »Wie geht es ihnen?«

»Ich denke den Umständen entsprechend gut«, antwortete Alexander.

»Das ist gut. Möchten sie vielleicht etwas zu trinken?«

»Zuerst würde ich gerne zur Toilette, wenn das möglich wäre.«

Die Schwester rollte mit den Augen, als überlege sie angestrengt und meinte schließlich: »Tut mir leid, ich muss den Arzt fragen, ob sie das Bett verlassen dürfen. Aber ich kann ihnen eine Bettpfanne bringen und wir sehen danach weiter.«

Alexander nickte. Es war ein dringendes Bedürfnis und wer konnte schon sagen, wie schnell ein Arzt gefunden war, der ihm das Aufstehen erlaubte.

Die Schwester verschwand und erschien nach einer Minute mit einer Bettpfanne aus Metall und einer Rolle Toilettenpapier.

»Ich lasse sie alleine und komme wieder, wenn sie läuten«, sagte sie und überreichte Alexander ihre Mitbringsel.

Der war mehr als froh darüber, bei diesem, von peinlichen Verrenkungen und Geräuschen begleiteten Vorgang, unbeobachtet zu bleiben. Es war eine Erleichterung. Als wäre er seit Wochen nicht mehr auf der Toilette gewesen.

Als er fertig war, läutete Alexander und die Schwester kam zurück. Sie holte die Bettpfanne und verschwand abermals für eine kurze Zeit, nur um gleich darauf mit einer Kanne Saft und einem Glas zurückzukehren.

»Hier, etwas zu trinken. Sie sollten viel trinken. Das hilft bei der Ausscheidung der Medikamente.«

Alexander nickte.

»Wie spät ist es?«, fragte er.

Sie sah kurz auf ihre Uhr.

»Halb fünf Uhr morgens.«

»Oh«, machte Alexander, doch die junge Schwester machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Dafür bin ich da. Sie sind nicht der Einzige, der in der Nacht geläutet hat. Versuchen sie noch etwas zu schlafen.«

Alexander nickte und legte sich wieder in sein Kissen zurück. Doch es gelang ihm nicht mehr einzuschlafen. Er schaltete den Fernseher ein, der schräg gegenüber seines Bettes an der Wand montiert war und zappte durch die Programme des Kabelfernsehens. Doch er fand nur Wiederholungen, Dauerwerbesendungen und Schrott.

Dennoch hielt ihn das Fernsehen bis zum Morgen wach, als es zaghaft an der Tür klopfte.

»Guten Morgen«, sagte die Nachtschwester und trat ein, »Alles in Ordnung?«

»Ja, danke.«

»Mein Dienst ist jetzt zu Ende, ich wollte nur noch einmal nach ihnen sehen.«

»Das ist sehr nett. Bitte nennen sie mich Alexander. Ich fühl mich extrem alt, wenn ich gesiezt werde.«

»Angenehm«, lächelte sie und reichte ihm die Hand, »Ich bin Lina.«

»Dann wünsche ich mal einen schönen Schlaf, Lina«, sagte Alexander und nickte ihr zu.

»Ich hoffe, der Tag wird nicht zu anstrengend. Die Visite beginnt jetzt bald. Danach bekommst du ein Schwammbad. Deine Familie ist benachrichtigt. Nach dem Bad und der Visite können sie dich dann besuchen.

Jetzt muss ich aber. Also, schönen Tag wünsche ich.«

Sie lächelte und verschwand aus dem Zimmer.

Kaum war die Tür geschlossen, klopfte es abermals. Herein kam ein Arzt, in dessen Schlepptau sich mehrere auszubildende Ärzte befanden. Er erkundigte sich nach Alexanders Befinden und untersuchte kurz die Wunden. Dann stellte er seinen Begleitern Fragen und zeigte sich mit den Antworten, von denen Alexander keine verstand, zufrieden.

Sie verabschiedeten sich und wollten den Raum verlassen, doch in der Tür drehte der Arzt sich noch einmal um.

»Ach ja«, sagte er, »Sie dürfen das Bett verlassen. Aber übertreiben sie es nicht.«

»Heißt das mein Schwammbad fällt flach?«, fragte Alexander und lachte trocken.

»Ich könnte es dennoch veranlassen, aber ich denke Duschen wird angenehmer für sie.«

Damit verließ er das Zimmer und Alexander wand sich aus dem Bett. In seinem Arm steckte noch ein verschlossener Venenkatheder, doch sonst zeugten nur noch die Verbände von den Verletzungen.

Kaum war er aus dem Bett aufgestanden, klopfte es abermals an der Türe. Alexander stand vor seinem Bett, gekleidet in ein dünnes Krankenhaushemd, dass ihm bis zu den Knien reichte und das hinten offen war. Doch die Tür öffnete sich und eine ältere Schwester mit Verbandsmaterial trat herein.

»Guten Morgen«, sagte sie, »Ich werde jetzt ihre Verbände wechseln.«

»Könnte ich vorher noch duschen?«, fragte Alexander etwas unsicher und hielt sich an seinem Bett fest, da seine Beine sich noch sehr schwach anfühlten.

»Kein Problem. Ich nehm ihnen schnell die Verbände ab und komme dann in zehn Minuten wieder.«

»Das wäre nett.«

Er ließ sich nach hinten auf das Bett fallen und die Schwester kam zu ihm. Sie legte das Verbandsmaterial neben ihn und öffnete sein Hemd. Alexander wollte sie am liebsten daran hindern, doch hier konnte er sich kaum Schamgefühl leisten.

Sie beugte sich über ihn und öffnete den Verband, der seine Brust und seinen Bauch bedeckte. Mit unheimlicher Geschwindigkeit rollte sie ihn ab und Alexander fühlte sich noch nackter und hilfloser als zuvor.

»So fertig«, sagte sie und rollte den Verband zusammen.

»Danke«, sagte Alexander und stand auf.

Seine Beine machten nun ihre Arbeit gut und mit wenigen Schritten war er in dem kleinen Bad. Hier gab es ein Handtuch, ein frisches Hemd und natürlich Seife.

Als das heiße Wasser seine Haut berührte schwindelte ihm einen Augenblick lang so sehr, dass er sich am Haltegriff festhalten musste um nicht umzukippen. Es dauerte etwas, bis er sich daran gewohnt hatte und es auch genießen konnte.

Nach der Dusche fühlte er sich viel weniger dreckig und als die Schwester abermals erschien, war es ihm um einiges weniger peinlich.

Kaum war er wieder alleine klopfte es zaghaft an der Tür. Sie ging auf und seine Mutter stand im Krankenzimmer. Sie weinte und umarmte Alexander innig.

»Ich bin so froh, dass du wieder wach bist«, schluchzte sie und wollte ihn kaum wieder loslassen.

»Ich freue mich auch. Wie lange war ich eigentlich weg?«, fragte er leise.

»Fast drei Wochen«, antwortete sie müde.

»Drei Wochen?«

War tatsächlich so viel Zeit vergangen. Hatte er so lange geschlafen?

Seine Mutter erzählte ihm, dass er im künstlichen Tiefschlaf gelegen hatte und dass es um sein Leben sehr schlecht stand. Doch er hatte sich zurückgekämpft und von nun an würde alles besser werden.

Alexander erwähnte die Ironie nicht, die er verspürte, als sie von seinem starken Willen zu Leben sprach, der ihn gerettet hätte. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätte er einfach aufgegeben. Doch das war vorbei.

»Wo ist Kisha?«, fragte Alexander schließlich, als sich seine Mutter am späten Nachmittag bereit machte zu gehen.

»Sie war oft hier, doch mit der Zeit fiel es ihr immer schwerer, deinen Zustand zu ertragen. Sie weiß noch nicht, dass du wieder wach bist.«

Alexander schwieg.

»Du darfst ihr das nicht übel nehmen«, sagte seine Mutter, »Sie ist jung und es ist nicht leicht, mit so einer Situation umzugehen.«

Er nickte nur.

Eigentlich war Alexander nicht enttäuscht oder gar wütend. Er konnte Kisha verstehen und doch hätte er sich gewünscht, sie wäre nun hier.

Als seine Mutter gegangen war, schaltete er sein Handy ein. Neben seinem Laptop, einem Internetstick und den dazugehörigen Ladegeräten, hatte ihm seine Mutter auch einen E-Reader mitgebracht, damit er lesen konnte.

Doch das Handy war mit Abstand am wichtigsten. Allerdings war der Akku völlig entladen und erst nachdem er es angehängt und einige Minuten hatte laden lassen, ließ es sich wieder einschalten.

Noch bevor Alexander etwas tun konnte, begann das Handy zu piepsen. Eine SMS nach der anderen kam herein. Viele verpasste Anrufe und viele SMS die gute Besserung wünschten oder, in Unkenntnis der Situation, ihn zu diversen Veranstaltungen einluden.

Es würde ihn Stunden kosten sie alle zu lesen und den Leuten zu antworten. Dennoch entschied er sich, seine Mailbox abzuhören. Zwei Nachrichten darauf waren von Andrea. Eine direkt von dem Tag, als es geschah. Darin konnte er ihre Schritte sowie ihre und die Schreie von Kisha hören.

Er löschte die Nachricht sofort.

Die zweite war ein netter Anruf mit dem Wunsch zur baldigen Besserung, ebenso wie die anderen drei Nachrichten. Von Kisha gab es keine, auch keine SMS.

Mit zitternden Fingern wählte er ihre Nummer und wartete. Das Freizeichen schien ihn zu verhöhnen. Es schien zu sagen: »Es ist alles aus! Mach dir keine Hoffnungen.«

Alexander traten Tränen in die Augen. Er liebte Kisha und wollte sie auf keinen Fall verlieren. Doch eine Extremsituation wie diese war für jede Beziehung eine Belastungsprobe.

Sein Gefühl sagte ihm, dass sich bald ihre Mailbox einschalten würde, als plötzlich das Tuten verstummte und er jemanden atmen hörte.

»Hallo?«, fragte eine zitternde Stimme.

»Hallo Baby«, sagte Alexander und musste sich zusammennehmen, um nicht zu weinen.

Am anderen Ende war ein leises Schluchzen gefolgt, von einem lauten Schniefen zu hören.

»Du bist endlich aufgewacht?«, fragte Kisha schließlich.

»So leicht wird man mich nicht los. Glaub mir, ich habe es versucht.«

Kisha lachte leise, doch sie konnte ihre Tränen damit auch über das Telefon nicht verbergen.

»Ich konnte dich nicht mehr so sehen. Ich habe es nicht ertragen. Es tut mir leid.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hatte nichts davon. Ich habe doch gar nicht mitbekommen, dass du da warst«, erwiderte Alexander, der nun auch seinen Tränen freien Lauf ließ, »Ich hoffe, du kommst mich einmal besuchen.«

Diese Bitte war gewagt. Er konnte nicht wissen, was sich in den drei Wochen verändert hatte. Vielleicht war es wirklich vorbei, doch wenn es so war, dann wollte er sie wenigstens ein letztes Mal sehen.

»Natürlich, am liebsten sofort.«

»Man wird dich nicht reinlassen, die Besuchszeit ist vorbei.«

»Ok«, sagte Kisha und seufzte laut, »Dann morgen. Ich verspreche es dir.«

»Ich freue mich. Bis morgen dann. Ciao.«

»Ciao.«

Alexander legte auf und weinte hemmungslos. War es Glück oder angst davor, was am nächsten Tag passieren würde, er konnte es nicht sagen. Doch das Weinen machte ihn müde und so schlief er bald ein.

 

Die Träume ließen ihn auch in dieser Nacht nicht in Ruhe. Immer wieder sah er eine dunkle Gestalt, die sich über den schneeweißen, nackten Körper eines Mädchens beugte. Er wirbelte herum. In seiner Hand blitzte etwas auf. Jemand schrie »Vorsicht!« und dann stießen sie zusammen. Alexander blickte an sich hinab und sah den blutigen Griff eines Messers aus seinem Bauch ragen.

Danach schreckte er hoch, doch das Bild hatte sich für Minuten in sein Gedächtnis gebrannt und verzögerte dadurch das Einschlafen.

Am Morgen gab es eine neuerliche Visite. Man untersuchte seine Wunden und die Verbände wurden gewechselt. Nach dem Frühstück begann die Besuchszeit. Alexander wartete bereits gespannt darauf, doch er musste zugeben, er wusste nicht einmal, welcher Wochentag war und so konnte er sich nicht ausrechnen, ob und wann heute Besuch kommen würde.

Während er noch angestrengt darüber nachdachte, klopfte es zaghaft an der Tür. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde sie einen Spalt geöffnet und ein dunkelblonder Schopf schob sich herein.

Als sie ihn sah, strahlte Andrea und stürzte auf ihn zu. Ohne ein Wort umarmte sie ihn sanft und küsste ihn auf die rechte Wange.

»Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht!«, sagte sie leise.

»Ich freue mich, dich zu sehen.«

Andrea löste sich von ihm und überreichte Alexander ein kleines Geschenk.

»Ich dachte, du wirst was für deine Nerven brauchen. Und du bist nicht so der Typ für Blumen«, meinte sie lachend.

Alexander öffnete das Geschenk, und als er den Inhalt sah, begann auch er zu lachen. Die Schachtel enthielt unzählige Tüten mit Fruchtgummis.

»Das ist ja nett«, sagte er.

»Ich habe gehört, du bist nicht so der Fan von Schokolade«, erwiderte Andrea.

»Von wem?«

»Von mir.«

Die Stimme war zögerlich und leise. Sie kam von außerhalb des Krankenzimmers. Mit traurigem Gesicht wartete dort Kisha und schien nicht so recht zu wissen, ob sie nun hereinkommen sollte oder nicht.

Alexander sah sie stumm an. Er wünschte sich nichts sehnlicher als sie endlich wieder in die Arme schließen zu können, doch sie rührte sich nicht. Kisha blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Körper zitterte sichtlich und sie weinte.

»Komm her«, ermutigte sie Andrea, doch es dauerte etwas, bis sie sich wirklich überzeugen ließ.

Zaghaft trat Kisha an Alexanders Bett und nahm ihn in den Arm. Als er ihren Hals küsste, verlor sie den Rest ihrer Beherrschung und brach weinend auf ihm zusammen. Doch er hielt sie nur fest und weinte mit ihr.

Dieses Mal vor Glück.

»Ich mache mir solche Vorwürfe«, sagte Kisha schließlich.

»Aber warum denn?«, fragte Alexander.

»Ich habe dich im Stich gelassen. An dem Abend hätten wir uns nie trennen dürfen. Und dann hier im Krankenhaus. Ich konnte es nicht. Ich konnte dich einfach nicht so sehen.«

Alexander streichelte sanft durch ihr Haar, während ein neuerlicher Weinkrampf ihren Körper schüttelte.

»Es war so unwirklich. So seltsam. Die drei Wochen waren die Hölle, wenn du verstehst.«

Er nickte stumm.

»Wenn es das war, ich meine das mit uns. Dann war es eine schöne Zeit«, sagte Alexander ruhig.

Kisha schrak hoch und starrte ihn an. In ihren Augen glänzte Furcht.

»Ich liebe dich«, hauchte sie, »Bitte verlass mich nicht.«

Einige Augenblicke lang war Alexander völlig perplex. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Noch nie hatte jemand, außer seiner Mutter, diese Worte zu ihm gesagt. Kisha wirkte verzweifelt. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass sie vielleicht glaubte, er wolle mit ihr Schluss machen.

»Ich liebe dich auch«, antwortete er und abermals standen ihm Tränen in den Augen.

Sie küssten sich innig, bis Alexander den Kuss abbrach.

»Tut mir leid«, meinte er, »Aber einen Steifen kann ich gerade gar nicht brauchen.«

Andrea musste lachen und erinnerte damit die beiden, dass auch sie noch im Zimmer war. Etwas beschämt beschlossen sie wortlos etwas Abstand zu halten, damit sich Andrea nicht ganz so fehl am Platze fühlte.

»Was habe ich verpasst?«, fragte Alexander, doch die Antwort wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.

Herein kam Lina, die Nachtschwester und grüßte alle Anwesenden freundlich.

»Alles in Ordnung hier?«, wollte sie wissen, als ihr Blick an Kisha hängen blieb.

»Kisha?«, fragte sie, »Was machst du denn hier?«

»Oh Lina«, antwortet die, »Das ist mein Freund.«

»Aha«, machte die kleine Krankenschwester.

»Das ist Andrea«, stellte Kisha die Blonde vor, »Alexander kennst du vermutlich schon.

Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest.«

»Ja, seit zwei Monaten jetzt. Bist du mit der Schule fertig?«, fragte Lina.

»Ja, seit Kurzem.«

»Und jetzt?«

»Ich werd studieren. Medizin, wenn ich die Aufnahmeprüfung schaffe«, lachte Kisha.

»Na vielleicht nenn ich dich mal irgendwann Frau Doktor«, antwortete die Krankenschwester grinsend, »Also alles klar soweit?«

Alexander nickte nur.

»Wenn was ist, einfach läuten.«

Damit war Lena auch schon wieder aus der Türe draußen.

»Woher kennst du sie?«, fragte Alexander neugierig.

»Sie ist in meiner Zumba-Gruppe«, erklärte Kisha.

»Es freut mich euch so zu sehen«, meinte Andrea vom Fußende des Bettes, »Ich habe das vermisst.«

»Es freut mich, dass du hier bist«, antwortete Alexander, ehe ihm wieder einfiel, warum er eigentlich hier war, »Wie geht es Caro?«

Andreas Gesicht verfinsterte sich. Alexander befürchtete das Schlimmste.

»Ich weiß es nicht«, antwortete die Blonde schließlich.

Eine einsame Träne kullerte über ihre Wange, ehe sie zu berichten begann.

»Ich habe sie jeden Tag im Krankenhaus besucht. Sie machte sich solche Vorwürfe wegen allem, was passiert ist. Sie glaubte, du wärst tot und nichts konnte sie vom Gegenteil überzeugen.

Nach ein paar Tagen hat man sie entlassen. Sie kam heim, hat ihre Sachen gepackt und ist in der Nacht einfach abgehauen. Ich sah sie das letzte Mal am Tag vor ihrer Entlassung.«

Nun konnte Andrea sich nicht mehr zusammenreißen und weinte leise vor sich hin.

»Als Letztes sagte sie zu mir, dass sie für alles verantwortlich wäre. Wäre sie nicht lesbisch, dann wäre nichts von allem passiert und wir könnten noch immer glücklich leben.

Dann sagte sie, dass sie mich liebt und mich nie wieder hergeben wolle.

Es war so surreal, weil die beiden Aussagen überhaupt nicht zusammenpassten. Sie stand völlig neben sich, aber die Ärzte hielten sie für gesund.«

»Es tut mir leid. Aber es war weder ihre Schuld, noch deine«, meinte Alex leise.

»Ich weiß«, schluchzte Andrea, »Aber es tut so wahnsinnig weh.«

Sie weinte leise vor sich hin, bis Kisha sie in den Arm nahm. Dennoch dauerte es Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte.

»Ich frage mich, wo sie gerade ist«, hauchte die Blonde schließlich.

»Ich mich auch«, stimmte ihr Alexander nachdenklich zu.

2.

 

Fröstelnd schlug sie ihren Kragen hoch, als sie an der bunt verzierten Auslage vorbei kam. Ein Zittern fuhr durch ihren Körper, doch es war nicht die Kälte. Es war die Aufregung. Bald würde sie wieder den süßen Kuss von Stahl spüren, der ihre Haut durchdrang. Das wohlige Ziehen, den lähmenden Schmerz und das Glücksgefühl, das besser war, als alle Drogen der Welt.

Versonnen streichelte sie ihre Seite. Ihre letzte Sitzung beim Tätowierer war bereits einige Zeit her, das Bild fertig, doch es drängte sie nach mehr.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ins Innere. Der große Raum war mit groben Holzbohlen verkleidet und wirkte wie ein Saloon aus einem Western. Es roch nach Desinfektionsmittel, Tätowierfarben und abgestandener Luft. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, konnte sie das Surren der Tätowiermaschinen aus dem hinteren Teil hören.

Am Tresen hinter dem Eingangsbereich stand ein glatzköpfiges Mädchen. Sie hatte im Gesicht so viele Piercings, dass man sie kaum zählen konnte. Das Mädchen trug ein weißes Spaghettiträgershirt mit einem dunklen BH darunter, der ihren kleinen Busen hoch nach oben drückte. Beinahe jeder Zentimeter ihrer sichtbaren Haut war mit bunten Tattoos verziert. Selbst der Kopf. Nur das Gesicht war davon völlig unberührt. Noch.

Dennoch war sie eine Schönheit mit ebenmäßigen Gesichtszügen und einem wunderbaren Körper, wenn auch ihr etwas seltsames Aussehen genauso abschreckend wie anziehend wirkte.

»Hi Elena«, sagte das Mädchen lächelnd.

Man kannte sich. Immerhin stammte vieles, was Elenas Körper schmückte, aus diesem Studio.

»Hi Lea«, antwortete Elena und ließ ihren Blick durch den Laden wandern.

In den letzten Monaten hatte sich nur wenig verändert. Im Eingangsbereich gab es mehrere Glaskästen, in denen sich Piercings, diverses Zubehör, sowie Ringe und Schmuck aller Art stapelte. Dahinter gab es eine kleine Wartelounge mit Ledermöbeln und einigen Stehtischen.

Dort befand sich auch ein Getränke- und ein Snack-Automat, sowie einige Tische, die mit Vorlagen und Fotos von Tattoos übersät waren.

Direkt daran schloss das offene Treppenhaus mit den Glasstufen an. Acht Stufen führten nach oben zu den Bereichen der Tätowierer. Dort gab es insgesamt sechs Arbeitsplätze, die man mit Vorhängen nach Wunsch abtrennen konnte.

Die acht Stufen nach unten führten zum Piercingbereich, in dem es drei Zellen für Piercings gab.

Als sie an die Piercings dachte, fuhr Elena ein wohliger Schauer über den Rücken. Bald würde es wieder so weit sein.

Ihr Blick kehrte zu Lea und dem Tresen zurück. Er grenzte direkt an das Schaufenster an und zog sich bis zurück zur Wartelounge. Die Wände dahinter waren mit Postern und Plakaten tapeziert. Es fanden sich aber auch amerikanische Nummernschilder, Bierwerbungen und Leuchtreklamen darunter.

Auf der Theke stand eine Kasse, dahinter auf einem kleinen Kasten eine Kaffeemaschine und diverse Ordner. Direkt über Lea, wie eine Art Heiligenschein, leuchtete eine gelbblaue Reklame mit dem Namen des Studios: 'All American Tattoo and Piercing'.

»Wie geht’s dir heute?«, fragte Lea, noch immer lächelnd.

»Kribblig«, antwortete Elena, »Bin schon viel zu lang nicht mehr gestochen worden.«

»Das kenn ich.«

Doch die Angst vor dem Stich war nicht das Einzige, was zu Elenas mulmigem Gefühl an diesem Tag beitrug. Es war vielmehr, dass Anne, die bisherige Piercerin, nicht mehr hier arbeitete. Sie hatte, bis auf eine Ausnahme, all ihre Piercings gestochen und zwischen ihnen hatte es ein Vertrauen gegeben, welches sich der neue Piercer erst verdienen musste.

Nervös spielte ihre Zunge an dem Ring in ihrer rechten Unterlippe. Sie schob ihn hin und her, saugte daran, ließ das Zungenpiercing darüber streichen und fühlte Metall auf Metall reiben.

Schwungvoll füllte sie das Formular aus, in welchem sie bestätigte, dass sie über 18, über die Risiken aufgeklärt worden war und keine ansteckenden Krankheiten wie HIV oder ähnliches hatte. Schließlich legte sie den Stift beiseite und starrte versonnen an die Wand.

»Bist du soweit?«, fragte Lea.

Elena nickte nur.

»Irgendein spezieller Schmuck?«

»Nein«, antwortete Elena, »Einen Circular Barbell, mit Kugeln an den Enden. Ganz normal, vielleicht mit ein bisschen Farbe, aber das muss ich mir erst ansehen.«

»Ok«, sagte Lea, »Von denen habe ich genug Auswahl unten. Dann komm einfach mit.«

Sie wartete am Ende des Tresens auf Elena. Gemeinsam gingen sie an zwei jungen Burschen vorbei, die durch Vorlagen blätterten und mehr ängstlich als aufgeregt wirkten. Vermutlich würden sie nicht den Mut haben, sich wirklich eine Tattoo machen zu lassen, doch als die beiden Frauen an ihnen vorbeigingen, folgten ihnen die Blicke.

Elena trug eine enge Lederhose, die ihren Hintern gut betonte. Dazu, unter ihrem Wintermantel, ein enges, schwarzes Top. Sie war dunkel geschminkt und ihre langen, schwarzen Haare gaben ihr gemeinsam mit dem dunklen Mantel ein düsteres Aussehen. Doch wenn sie ihn nur etwas öffnete und ihre Figur andeutete, das wusste sie, dann schmolzen Männer nur so dahin. Das war in ihrem Beruf auch wichtig.

Elena war schlank, aber nicht dürr. Sie hatte schöne Beine und einen flachen Bauch, dazu kamen die großen, natürlichen Brüste, die Männern schnell den Kopf verdrehte. Als Ausgleich waren auch ihre Hüften etwas zu üppig, doch es passte zur Gesamterscheinung.

Lea ging vor ihr die Treppe hinab. Das Mädchen war dünn, beinahe hager. Dementsprechend wenig waren ihre Hüften und ihre Taille ausgeprägt. Doch der kleine Hintern hüpfte bei jedem Schritt fröhlich unter der beigen Hose.

Im Untergeschoss angelangt führte Lea Elena hinter einen der Vorhänge und zog ihn zu.

»So«, sagte sie schließlich, »Heute bin ich mal für dich zuständig.«

»Du?«, fragte Elena überrascht, »Ich wusste gar nicht, dass du das Piercen gelernt hast.«

»Oh, ich bin ausgebildete Piercerin, Akkupunkteurin und Tätowiererin.«

»Wow, ich dachte, du stehst nur hinterm Tresen.«

»Da hast du falsch gedacht«, lachte Lea.

Sie legte das benötigte Werkzeug bereit, zog sich Wegwerfhandschuhe über und desinfizierte alles gewissenhaft.

»So«, machte sie schließlich, »Was darf es denn sein?«

»Ich hätte gern eins durch die Klitoris«, sagte Elena leise.

»Ok. Selten, sehr selten. Aber gut, sollte kein Problem sein. Ich habe bisher erst einmal eines gestochen. Es haben nicht viele den Mut dazu.

Bist du dir sicher, dass du nicht lieber eins nur durch die Klitorisvorhaut willst? Oder ein Christina, Nefertiti oder Triangle?«

»Wo ist der Unterschied?«

»Nun ja: das Christina wird oben zwischen den zusammenlaufenden großen Schamlippen gestochen und tritt am Venushügel wieder aus.

Das Nefertiti verläuft oberhalb der Klitoris, durch die Klitorisvorhaut zum Venushügel

Das Triangle verläuft unterhalb der Klitoris horizontal durch die Klitorisvorhaut. Etwa an der Stelle, wo die Klitorisvorhaut in die kleinen Schamlippen übergeht.

Ich kann das Nefertiti empfehlen, weil es sexuell sehr stimulieren ist. Zumindest bei mir.«

Lea lachte leise.

»Hast du ein Bild davon?«, fragte Elena.

»Nein, aber warte.«

Lea vergewisserte sich, dass der Vorhang wirklich geschlossen war, und schob dann ihre Hose bis zu den Knöcheln. Sie beugte ihre Knie leicht und deutete auf eine bunte Kugel auf ihrem Venushügel, die zwischen den braunen, zum Landingstrip rasierten, Schamhaaren kaum zu sehen war.

»Von hier«, erklärte sie und spreizte mit den Fingern ihre Schamlippen leicht, wo sie eine weitere Kugel entblößte, »Bis hier.«

Elena nickte und Lea zog sich wieder an.

»Ich weiß nicht. Beim Sex kommt die gut?«, fragte sie unsicher.

»Sehr gut. Ich steh auf das Teil.«

»Machst du das bei jedem Kunden?«, meinte Elena grinsend.

»Bei Männern definitiv nicht«, lachte Lea.

»Und horizontal durch die Klitoris?«

»Das ist immer schwer zu sagen«, meinte Lea, »Es reizt die Gegend natürlich heftig. Das heißt, es könnte zur Desensibilisierung aufgrund der Überreizung führen. Andererseits wird das Teil vertragen, dann ist es, anscheinend, das stimulierendste aller Piercings in diesem Bereich.

Aber erst einmal müsste ich nachsehen, ob es überhaupt geht. Ich brauche mindestens einen Durchmesser von sechs Millimetern, sonst kann ich es nicht stechen. Außerdem darf die Klitorisvorhaut die Klitoris nicht verdecken. Sonst müsstest du dort vorher eine chirurgische Reduktion machen lassen.«

Elena verstand das als Aufforderung sich auszuziehen. Sie legte den Mantel ab und schlüpfte aus ihrer Hose. Der dünne Seidenstring darunter flog schnell zur Seite. Ohne Scheu legte sie sich auf die Behandlungsliege und sah Lea herausfordernd an.

»Na, da hat aber eine schon ein ordentliches Programm hinter sich«, meinte die beeindruckt und strich über das Nabelpiercing mit silbernem Sonnenschild.

»Das ist von Steve?«, fragte sie und deutete auf das Tattoo auf ihrer linken Seite.

Dort schlängelte sich eine Blumenranke ihr Bein hinauf bis unter ihre Achsel. Zahlreiche Blumen, Schmetterlinge und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 13.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7106-9

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