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Die Strahlen der Sonne




Rouen.


Mein Hand versagte mir den Dienst.
Gedankenverloren legte ich Stift beiseite und starrte hinauf in den Himmel, blinzelte gegen die kraftvollen Strahlen der Sonne. Kein Vergleich mit dem zarten Glimmen in meiner Heimat, der Mutter des weltumspannenden Empire. Und was für ein Unterschied zu dem unbarmherzigen Brennen unter dem arabischen Himmel – doch es war nicht nur die Hitze, die ich auf meiner Haut spürte oder vermisste. In Arabien hob sich das Gestirn mit einer Schärfe von dem Himmel ab, die mir bisher nirgends auf der Welt begegnete.
Vermutlich lag es an den Wolken, und der Brechung des Lichtes. Die unterschiedliche Farbe des Himmels als Kontrast perfektionierte die optische Täuschung. Wie sonst konnte ein und dieselbe Sonne in jedem Land ein anderen Anblick bieten?
Doch die wissbegierige Gelehrtheit, die mein Leben in den letzten Jahren bestimmt hatte, hatte mit einem Mal jede Bedeutung für mich verloren. Meine Seele vibrierte vor Fernweh, in meinem Blut sang die Abenteuerlust, und, beflügelt von diesem inneren Feuer, bannte meine Hand wie von selbst die nächsten Sätze auf das Papier:


Schreibe mir nicht zurück, meine Liebste. Ich habe beschlossen, die Lascelles zurückzulassen, und mit Maurice alleine weiter zu reisen. So können wir ein höheres Reisetempo halten; auch würden die die Ziele, die wir ansteuern, würden zu viel für die alte Tante Mary sein.
Mache Dir keine Sorgen, mein Bruder passt schon auf mich auf!
Ich melde mich wieder, sobald ich kann.
Deine ergebene Tochter Gertrude



Das dicke Papier raschelte, als ich diese dürren, kunstlosen Worte in einem Umschlag steckte.
Sobald das Siegelwachs erkaltete, war meine Euphorie verflogen, ausgewischt gleich einem mangelhaften Text auf einer Schiefertafel.
Mutter würde einen hysterischen Anfall bekommen, wenn sie diesen Brief erhielt. Dabei habe ich stets die elementaren Anstandsgebote befolgt und einen knöchellangen Rock getragen, wie es sich für eine viktorianische Lady gehört. Sogar in Beduinenzelten und unter freiem Wüstenhimmel traf man mich schicklich bekleidet an. Ich gebe zu, auf Korsett, Anstandsdame und andere lästige Dinge habe ich in der Tat verzichtet. Welches Fräulein hätte mich schon drei Wochen lang durch die Wüste begleitet, nur mit 2 Packpferden und einem Diener, als Schlafplatz ein winziges Zelt?
Immerhin reiste ich nun mit meinem Bruder. Zwar machte er mir nie Vorschriften und gewährte mir jede Laune - nach Ansicht meiner Eltern benötigte ich einen Aufpasser, der mir meine unschicklichen und gefährlichen Neigungen ausredete. Doch nach außen war der der Anstand gewahrt. Ich würde mir keinen Vorwurf gefallen lassen müssen.
Verärgert bemerkte ich, dass ich erneut Rechtfertigungen suchte. Wie ich es verabscheute, mich in diese Zwänge zu fügen. Deswegen musste ich auch Tante Marys Geselschaft entfliehen. Es war einfach zu anstrengend, ständig mit ihr zu diskutieren.
„Thabiti!“


Der Brief landete in der Ecke, als mein Bruder mich mit seinem ganz persönlichen Kosenamen rief.
„Die Unbeugsame“,

so hatte man mich genannt, als ich das erste Mal darauf bestand, das Zelt eines Scheichs durch den Haupteingang zu betreten. Frauen benutzen in Arabien einen kleinen Seiteneingang, doch ich wollte bildlich wie im übertragenen Sinne von Beginn durch die richtige Tür schreiten. Es sollte kein Zweifel bleiben, welche Behandlung ich für mich einforderte. Und obgleich daheim in England wilde Berichte kursieren, wie die Araber ihre Frauen behandeln, hatte zumindest ich mit keinerlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Meine Methode erwies sich als erfolgreich, gerade wegen des strengen Denkens der arabischen Völker. Eine weiße Frau, die auftritt wie ein Mann – das war fern der Erfahrungswelt der Scheiche und Begs, und so fiel ich weder unter die Regeln von arabischen oder europäischen Frauen, sondern bildete eine Klasse für mich, in der ich die Regeln definierte.
Das sonnenverbrannte Gesicht meines Bruder streckte sich ohne Ankündigung in mein Zimmer. „Thabiti, nun komm schon, wir müssen unsere Reiseroute festlegen!“
Lächelnd folgte ich meinem Lieblingsbruder. Er musste die Seele eines Wüstensohnes besitzen, denn er akzeptierte mich, ohne mir die starren Regeln unserer Heimat aufzuzwingen.


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Bern.




Mehrere Tage hatte unsere Wanderung gedauert, und endlich hatten wir den Fuß des Berges erreicht.
Titanisch ragte er über uns auf.
Wie viele Menschen hatten im Laufe der Jahrtausende hier gestanden, und sich bedeutungslos gefühlt angesichts seiner Präsenz? Allein die schiere Größe verwies einen jeden Menschen demütig auf seinen Platz, und zeigte ihm, dass seine Bedeutung im Universum verschwindend gering sei.
Wer das Schweigen genoss und die Atmosphäre in sich aufnahm, glaubte vor sich zu sehen, wie fellgekleidete Bewohner den Berggöttern ein Opfer darbrachten.
Könige wurden gestürzt und ersetzt, Landstriche entvölkert, Länder gegründet und von den Siegern aufgeteilt – während dieser Riese gleichmütig auf die Welt herab blickte. Selbst die Sonne musste kämpfen, um sich über ihn zu schieben.
Und auch mein lieber Bruder, der sich beschwerte, einen Umweg zu dem höchsten Berg der Schweiz machen zu müssen, verstummte angesichts dieser Pracht.
„1829 kam es sicher zu einer Ersteigung des Gipfels“, brach unser Bergführer die Stille. „Doch die Ostwand des Finsteraarhorns ist noch unbestiegen.“
Viehisches Schnauben in meinem Rücken irritierte den Bergführer. Ich ignorierte Maurice, und erfragte begeistert die Voraussetzungen für den Aufstieg. Ein unbestiegener Teil des Titans – wie könnte ein Reisender dieser Versuchung widerstehen? Und erst recht eine Frau? Was für eine Gelegenheit, zu beweisen, wozu wir fähig sind!
Maurice weigerte sich, mitzukommen. „Welcher Gentleman würde sich einer solchen Anstrengung stellen? Geburtsrecht und vor allem Geschlecht erheben mich über solche Bemühungen. Mir traut jeder diese Tat zu.“
Mein Wutschrei hallte weit in den Alpen wider, als ich mich mit den Fäusten auf den frechen Kerl stürzte. Dies entsetzte die Bergführer noch mehr zu entsetzen als die Vorstellung einer bergsteigenden Lady.
Doch ich setzte meinen Willen durch, wie immer, und ich ließ auch nicht zu, dass wir bei einem Gewitter umkehrten. Maurice trug es mir lange nach, dass wir in einer Berghütte abwarteten und danach den Durchstieg wagten. Sein Buch hatte er schnell ausgelesen, und er langweilte sich zu Tode in diesen Tagen. Doch, zur Hölle mit Maurice' Langeweile: Gertrude Bell durchstieg als erste die Ostwand des Finsteraarhorns! Jodelahiiiidüüü!



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Rom.


„Was um Himmels Willen möchtest Du in den Katakomben?!“ Angewidert hoffte ich immer noch, dass Mo mich nur necken wollte.
„Thalitha

– erinnerst Du Dich an diesen Berg?“
„Es war eine Bergwand“, schnappte ich wütend. „Und wenn es denn wenigstens Malereien oder andere interessante Dinge zu betrachten gäbe! Wände mit Löchern! Massengräber einer vergangenen Zeit – Maurice, das ist abstoßend!“
Nun mischte sich der italienische Jüngling ein, den mein Bruder weiß Gott wo aufgetrieben hatte. Ich hätte mir denken können, dass er mehr Englisch verstand als nötig war, um seine Bezahlung auszuhandeln. Wirklich, in einem arabischen Zelt oder einem türkischen Basar hatte ich mich umsichtiger verhalten! Das musste ich mir für die weitere Reise durch europäische Gebiete merken. Ich nahm meinen Fauxpas nicht zu schwer; nur aus Fehlern kann man lernen, und dass das italienische Temperament schnell aufbraust und nur schwerlich ernsthaft beleidigt ist, hatte ich längst bemerkt.
Doch die flammenden Beschreibungen des Jungen von geheimen Zusammenkünften verfolgter Christen und anderer den Kaisern verdächtiger Subjekte fachte meine Neugier und Phantasie an. Zudem würde mir die Kühle der Steingewölbe gut tun; die senkrechten Sonnenstrahlen ließen die Luft vor Hitze flirren, wie ich es außerhalb Arabien nie erwartet hätte.
„Nun gut – worauf warten wir noch?“ Mit einem scharfen Knall klappte mein Sonnenschirm zusammen, und ich spähte durch die Türe. „Frag den Burschen, ob er weitere Lampen hat, ich stolpere sicherlich nicht in dem schwachen Abglanz Deiner Laterne herum!“
Und da gelang es dem jungen Mann erstmals, mich zu verblüffen, denn er schwieg praktisch während der gesamten Führung. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er regelmäßig wie ein Uhrwerk die Hand zur Faust ballte und zwei Finger abspreizte; was dieser Unsinn soll, kann ich mir nicht vorstellen. Schließlich sagte er, dass er häufig Touristen führt. Doch selbst unter gebildeten Europäern ist Aberglaube weit verbreitet.



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Kowloon, Hong-Kong.



Die Größe des Tin-Hau-Tempels überwältigte uns. Oder treffender gesagt: der Mangel an Größe.
„Was erwartest Du von einem Tempel für Seefahrer? Das chinesische Volk besteht aus Bauern!“, entgegnete Mo meiner Verwunderung mit der Überlegenheit aller englischen Gentleman, die nur die Luft eines Landes atmen müssen, um alles darüber zu wissen. Vor allem, dass es kulturell minderwertig ist.
Ich liebte meinen Bruder, wirklich, doch nach fast sechs Monaten gemeinsamer Reise strapazierte er mein sonst unerschütterliches Nervenkostüm. Die vielen Städte, die ich gesehen hatte, und Erfahrungen, die ich gemacht hatte, hatten meine Abenteuerlust fast vollständig befriedigt.
Fürs Erste.
Nun brauchte ich dringend etwas Zeit, nicht nur um die vielfältigen fremden Eindrücke zu verarbeiten, sondern auch, weil ich ergründen musste, welche Veränderung diese in mir wachgerufen hatten.
Denn ich fühlte mich verändert, etwas regte in den Tiefen meiner Seele, was ich nicht fassen konnte.
Tokyo sollte die letzte Station unserer Weltreise werden, bevor wir heimkehrten. Normalerweise meideten Reisende zu dieser Jahreszeit das Meer, doch wenn die Einheimischen darauf fuhren, war es für uns sicher genug.
Mo hatte sich schnell satt gesehen. Eine kurze Meditation mit geschlossenen Augen, und er ließ mich im Dämmerlicht des Tempels. Man konnte nur hoffen, dass inbrünstige Gebete tatsächlich nicht ausschlaggebend für unsere Sicherheit waren.
Mich bedrückte die Stille und die unausgesprochenen Bitten, die im Raume schwangen, nicht. Ich dachte an die Worte des alten Priesters, der mir das Dao erklärt hatte: der Sinn und Zweck, den mein Leben hat, das, was mein Innerstes ausmacht. So zumindest hatte ich die komplizierten Ausführungen des Dolmetschers verstanden.
Was war denn nur mein Dao?
Als unverheiratete Lady fortgeschrittenen Alters konnte ich die konventionelle Karriere als Ehefrau und Mutter vergessen. Nicht, dass ich gesteigerten Wert darauf legte; doch nach mehreren erfolglosen Ballsaisons hatte ich unerwartet im Ausland meinen Seelenverwandten gefunden. Leider starb er so kurze Monate nach unserer Begegnung. Hätte Papa uns nur die Erlaubnis zur Heirat gegeben! Doch, wie der Priester sagte: das passiert alles nur folgerichtig. Es war nicht mein Dao.
Was soll ich denn nun mit meinem Leben anfangen? Ich konnte nicht auf ewig durch die Welt reisen. Bei meinem Tempo hätte ich in wenigen Jahren alles gesehen, wie Mo mir vorhalten würde. Vielleicht hatte ich ihn wirklich zu sehr gehetzt.
Und je mehr Länder ich sah, desto stärker wuchs meine Faszination für den arabischen und persischen Raum. Uneinheitlich und voller Stämme, Ethnien und Religionen, schien er mir die Summe all dessen zu enthalten, was ich in der übrigen Welt sah.
Schon bei meinem ersten Besuch hatte ich das Gefühl, dass in diesem Teil der Welt die Zeit stillstand. Sie schienen in einer zeitlosen parallelen Welt zu existieren, in der fernste Vergangenheit und Mythen ebenso greifbar waren wie die Gegenwart. Wie zum Beispiel Palmyra.
Vielleicht sollte ich meine arabischen Sprachstudien vertiefen. Zu gerne würde ich wissen, ob an den Erzählungen der Beduinen etwas dran ist.
Irgendeinen Hinweis muss es in diesen Ruinen doch geben...
„Gertrude!“
Huh – Mo schien wirklich ungeduldig zu sein, wenn er mich bei meinem Geburtsnamen nannte.
Schnell sprang ich auf, und stürzte sofort wieder. Doch ich wartete nicht, bis das Blut wieder in meinen lahmen Gliedern zirkulierte. Erneut stand ich auf und humpelte flink zum Ausgang.
Tokyo wartete! Ich hatte schon lange die japanischen Bauwerke sehen wollen. Ob sie wirklich ebenso wie die chinesichen aussahen? Kein Engländer, den ich kannte, hatte sie selbst gesehen.



Nachbemerkung:


Gertrude Bell lebte im 19. und 20. Jahrhundert. Bekannter als ihre Weltreise ist ihre Rolle im Nahen Osten. Als Orientexpertin beriet sie die englische Regierung in politischen Fragen und hatte großen Einfluß, z.B. zog sie die Grenzen des Staates Irak.

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Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011

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