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Der Weltenbummler



"Leon?" Verschlafen rieb Bella sich die Augen und schaute dann umher. "Wo bist du?"
Ihre Hand erfühlte den leeren Platz im Bett. Seine Schlafstelle war noch warm und sein Duft gegenwärtig. Sie stürzte zum Fenster, ihr Blick glitt über den Asphalt. Und dann sah sie ihn.
Den Seesack fest auf der Schulter ruhend, trugen ihn seine kräftigen Schritte fort.
Zurück in die Rastlosigkeit, zurück in die weite Welt, die auf ihn wartete. Zurück in die Einsamkeit eines Weltenbummlers.
Bella erschauerte unwillkürlich. Ihr war, als umgebe ihn ein seltsamer Nebel. Zitternd fingerte sie nach dem Fernglas, das Leon ihr geschenkt hatte. Ein Blick durch den Gucker offenbarte ihr die Vielfalt dieses Phänomens in allen Details. Es schien, als hielten Arme aus Nebel ihn fest umschlungen, als wollten sie ihn niemals wieder loslassen. Bella lief es kalt über den Rücken. Immer und immer wieder schaute sie ungläubig durch das Fernglas, bis Leon sich in der endlosen Weite des Horizonts verlor.

Traurig sank sie zurück auf ihr Bett. Bittere Tränen rannen über ihre Wangen, während sie immer wieder seinen Namen hauchte. "Leon...Leon...Leon..." Der Schlaf ließ nicht lange auf sich warten. Wirre Bildfetzen flackerten durch ihr Unterbewusstsein. Sie bereiste viele Städte und überall tauchte er auf. Leon, der Weltenbummler. An jedem Ort begegnete sie ihm, immer eine andere, wunderschöne Frau im Arm haltend. Doch er wirkte nicht glücklich, dunkle Schatten lagen auf seinem markanten Gesicht. Den Frauen hingegen stand die Liebe zu ihrem Leon geradezu auf der Stirn geschrieben. Die eine strahlte mehr als die andere.
Und ihr, Bella, ging es ganz genauso. Sie konnte all die schönen Damen nur zu gut verstehen. Obwohl ihr nur eine Woche mit dem ruhelosen, rastlosen Leon vergönnt war, reichten diese Hundertachtundsechzig Stunden aus, um ihr verzücktes Herz ganz und gar an ihn zu verlieren. Doch er war ebenso schnell verschwunden, wie er in ihr Leben getreten war. Ihre erste Begegnung fand ganz zufällig statt, unten am Hafen. Bella war auf der Suche nach dem besten Fisch für das Restaurant ihrer Eltern und Leons Schiff hatte gerade angelegt. Beinahe hätte er sie mit seinem Seesack erschlagen, als sie versehentlich ineinander gelaufen waren.
Es war Liebe auf den ersten Blick, der Bella in seine dunklen Augen lockte und dort versinken ließ. Sie standen einfach nur stumm da, sahen sich an. Kein Wort verließ ihre Lippen. Nach gefühlten Stunden fragte Leon, ob sie Zeit für einen Kaffee hätte.
Von da an trafen sie sich jede freie Minute und genossen ihre Zeit miteinander. Am letzten Abend dieser einzigartigen, unvergesslichen Woche hatte Leon ihr von dem Fluch erzählt, der auf ihm lasten soll. Bella jedoch schenkte seinen Worten keinen Glauben und wurde nun von ihrer Einsamkeit und Sehnsucht erschlagen.

Sie war die erste Frau in Leons Leben, die seiner Meinung nach die Wahrheit verdiente. All die anderen hatte er einfach zurückgelassen. Ohne ein Wort, ohne Erklärung, ohne jeden Abschied.
Bella schreckte hoch, Schweißgebadet und schwer atmend. Sie hatte dieses Bild in ihrem Kopf, das ihr der Blick durch das Fernglas beschert hatte. Erneut huschte ein kalter Schauer über ihren Rücken. Das war doch sicher nur Einbildung. Diese merkwürdigen Nebelschwaden, die Leon umgeben hatten, konnten nicht real sein. Wie könnte sich Nebel nur über einem einzigen Menschen bilden? Außerdem hatte ihr Geliebter erklärt, dieses Phänomen würde sich ausschließlich im Mondlicht zeigen, welches sich nachts auf dem Meer spiegelt. Aber Bella hatte es am hellichten Tag gesehen. Oder spielten ihre vernebelten Sinne ihr bloß einen Streich? Waren die gesamten Hundertachtundsechzig wundervollen Stunden mit ihrem Weltenbummler gar eine Sinnestäuschung? War sie so einsam, dass sie sich diese Woche voller Leidenschaft und Liebe nur eingebildet hatte?
Bella glaubte, langsam aber sicher verrückt zu werden. Sie schüttelte ihren Kopf, als wolle sie dadurch ihre verwirrten Gedanken aus ihm herausschleudern.

Doch je mehr sie über seine merkwürdigen Erzählungen nachdachte, desto klarer wurde ihr Verstand. Leon hatte ihr diese Geschichte aus seiner Schulzeit erzählt. In der Abschlussklasse haben sie im Unterricht, bei einer als sehr seltsam verschrienen Lehrerin, über Graf Hermann von Pückler gesprochen. Ein deutscher Landbesitzer, der unter anderem auch als Weltenbummler in die Geschichte einging. Leon hatte sich damals lautstark über den Landschaftsarchitekten lustig gemacht. Er hätte es besser wissen müssen, erklärte er. Diese Lehrerin wäre verrückt gewesen und glaubte an schwarze Magie. Trotzdem trieb er es so weit, dass sie ihn vor die Tür schickte und anschließend mit einem Fluch belegte. Ihre Worte seien folgende gewesen:
"Niemals mehr sollst du länger als eine Woche an einem Ort verweilen, sollst von einer Frau zur nächsten eilen. Einsam und allein sollst du dein Leben beschreiten, von einem Ort zum nächsten ziehen, für alle Zeiten!"


Während dieser Worte habe sich ihr Gesicht in eine hämische Fratze verwandelt, die ihn mit wütenden, blutroten Augen angesehen hatte.
Bella überkam eine Gänsehaut, die langsam über ihren gesamten Körper kroch. Alle Härchen stellten sich auf, beim bloßen Gedanken an seine Erzählungen wurde ihr jetzt noch angst und bange. Doch sie hatte ihm nicht eine einzige Silbe geglaubt. Sondern nahm an, er mache einen Scherz an ihrem letzten gemeinsamen Abend. Irgendwann schlief sie neben ihm ein und ging davon aus, sie würde, wie jeden Morgen, neben ihm aufwachen.

Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken. Ein kleiner Stein war gegen die Fensterscheibe geknallt. Bella ging zum Fenster und schaute vorsichtig hinunter. Sie erschrak, denn es war bereits Abend geworden. Den gesamten Tag hatte sie mit Grübeln und Gedanken an Leon verbracht. Dunkelheit hatte sich längst über die Hafenstadt gelegt. Im Schein einer Laterne erkannte sie Umrisse einer Gestalt, die etwas über der Schulter trug.
Leon!
Er stand einfach nur da und lächelte zu ihr hoch. In Windeseile stürmte Bella die Treppen hinunter, zu ihm, ihrem geliebten Weltenbummler. Direkt in seine Arme.
Liebevoll schob er sie von sich.
"Lass uns ein Stück gehen", bat er und nahm ihre Hand. Ein wohliger Schauer durchflutete Bella ob dieser Berührung. Verzaubert schritt sie neben ihm, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihm abzuwenden. Voller Vertrauen ließ sie sich einfach von ihm leiten.
Ihr Weg führte zum Hafen, sie schlenderten direkt am Wasser entlang. Der Mond schien ungewohnt hell in dieser sternenklaren Nacht.
"Bella", begann er zärtlich, "du bist die Einzige, der ich jemals von diesem Fluch erzählt habe." Sein Gesicht wurde ernst. "Und wirst auch die Letzte sein."
Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Wie meinte er das? Lag eine alles verändernde Nacht vor Leon und ihr? Würde am nächsten Morgen alles anders sein? Diese böse Vorahnung schnürte Bella die Kehle zu, traurig sah sie ihren Geliebten an.
"Was ist los? Rede mit mir, bitte“, presste sie hervor. Doch musste er gar nichts mehr erklären. Verängstigt wich Bella zurück. Mit angehaltenem Atem und innerlich erstarrt verfolgten ihre Augen das Schauspiel, das direkt vor ihr stattfand. Der Nebel, der über Leon schwebte, formte sich zu unzähligen Armen, die ihn fest umschlungen hielten. Hinter ihm, in der endlosen Weite des Horizonts, fing sich ein Lichtermeer in den aufsteigenden Nebelschwaden. Bella stolperte verschreckt zurück. Verwirrt schaute sie umher, liebliche Stimmen erklangen, zart und verführerisch.
"Du kannst nicht gehen, Liebster."
"Und du wirst auch niemals gehen."
"Wir werden auf ewig beisammen sein."
Wie ein leises Flüstern hauchte der Wind die Worte in Bellas Ohren und ließ sie erschauern.
Langsam, aber stetig entfernte sich Leon von ihr. Verlangend streckte sie ihre Arme aus um nach ihm zu greifen. Vergeblich. Sie konnte sich ihm nicht mehr nähern, der Abstand zwischen ihnen blieb immer der gleiche. Mehr und mehr sog die Nebelwolke Leons Körper in ihr Inneres. Bella konnte nichts tun, musste hilflos alles mit ansehen. Eine unsichtbare Wand schien sie zu trennen, mit aller Macht. Nur sein markantes Gesicht war noch schemenhaft zu erkennen. Eine kleine Träne bahnte sich den Weg über Leons Wange und sein Mund formte die drei Worte, die er nie zuvor einer Frau gesagt hatte.
In diesem Moment wurde Bella schmerzlich bewusst, dass sie ihren Weltenbummler niemals wiedersehen würde.

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Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011

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