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Das Leben ist grausam




Ich warte am Wegesrand, in meiner Linken eine halbvolle Bourbone Flasche, in meiner Rechten eine halbleere Zigarettenschachtel. Ein leichtes Zittern macht sich wieder bemerkbar und ich nehme einen lindernden Qualmstängel, um meinen Nerven ihre neblige Auszeit zu gönnen. Mein Alkoholpegel ist immer noch ausreichend hoch, um nicht daran denken zu müssen, was ich gerade getan habe. Lebenslängliche wäre wohl zu mild, um das zu honorieren, wozu mich meine menschliche Schwäche oder animalische Stärke geleitet hat. Keine Strafe des Justizsystems wäre dieser Tat würdig. Stolz eines egomanen Einsiedlers, auf sich allein gestellt, in seiner eigenen, stillen aber schönen Welt und Scham eines Rudeltieres, abgerichtet darauf, nett und stumm zu nicken, in einem Haufen Gleichgelähmter Ja-Sagern, mischen sich zu einem widerlichen Gebräu, das sich in meinem Schädel breitmacht. Ich spuckte aus. Langsam läuft der Rotz am Baum herunter, wie meine Geschichte, mein Lebenslauf, meine Karriere? Ich hatte nie eine. Nur Zwischenstation auf den stätigen Fall nach unten, ein Paar wenige, scharfe Klippen, die mein Weltbild auseinanderrissen und das hinterließen, was ich am Boden angekommen, in meiner eigenen Blutlache sah. Mich. Mein abgemagertes, leeres Gesicht, meine stummen Augen, welche keine Emotionen mehr festhalten konnten, sie waren zu schwach, zu ausgedörrt, vom vielen Weinen, das keiner sah, von den vielen Schreien, die keiner hörte, von dem wenigen Wünschen, an die ich niemals glaubte.
Nicht mehr weit und die Speicheltropfen erreichen den Boden, sickern ein und verschwinden unter die Erde. Genau wie ich. Nur dass sich mein Weg noch ein wenig ziehen wird. Der schnelle Tod ist mir nicht vergönnt und eine künstliche Erlösung widerspricht meinen Werten. Ja, selbst so jemand wie ich hat Werte, an denen ich mich festzuhalten versuche, immer noch, trotz der Überzeugung, sie seien nichts wert. Wahrscheinlich geht es nicht ohne. Der Glaube ist ein Fluch, wenn man ihn in seiner Banalität begreift. Ich glaube nicht mehr an Gott, seit dem er mich ausgelacht hat und zu mir sagte: „ Du bist wie all die anderen. Eine Made in meinem Reich. Ein unnützes Wesen. Hilf dir selbst. Ich werde es nämlich nicht, ich hab meine eigenen Probleme.“
Und ich tat, wie mir gehießen.

Die Sonne liebäugelt schon mit dem Horizont und bewegt sich unauffällig aber sicher auf ihn zu. Die Schatten werden länger und legen sich langsam zur Ruhe. Meine Uhr zeigt 20:13. Ein rundes Ziffernblatt, überdeckt von einer kratzerfreien Glasfläche, funkelt leicht im roten Licht des Vorabends, bei jeder Bewegung, die ich mache. Das Zittern kommt wieder. Diesmal setze ich die Flasche an meine Lippen und trinke, bis sich mein Magen mit dem brennenden Feuerwasser gefüllt hat, bis ich all meine Eingeweide spüre, bis die Speiseröhre, in jedem ihrer Zentimeter, das hochprozentige Gift einsaugt und ich mich spüre. Ich spüre, ich lebe. Die schwere Massiv Gold Rolex kommt mir heute kleiner vor, als sonst; ich habe mich an den Luxus gewöhnt. Was ich einst in mühevoller Arbeit und monatelangem Sparen nicht einmal ansatzweise zusammenbekommen habe, ist heute ein kleines Taschengeld. Verbrechen lohnt sich, vor allem, wenn man nichts zu verlieren hat. Ich bin in dieser günstigen Lage. Hinter dem verrotztem Baum zappelt sie wieder. Sie wird wohl nie Ruhe geben. Ich nehme einen letzten Zug von meiner Zigarette und lasse sie fallen. Mein glänzender, frischpolierter Gucci Treter lässt sie, mit langsamen, kreisförmigen Bewegungen, ersticken. Müde bewege ich mich auf meine Ware zu. Sie ist wieder weggetreten und ihre großen, blauen Augen sind hinter den geschwollenen Lidern verschwunden. Dass sie überhaupt noch am Leben ist – ein kleines Wunder, bei der Menge Blut, die sie verloren hat. Die ich sie verlieren habe lassen. So jung und schon fast tot. Genau, so wie an den Luxus, habe ich mich an das Foltern gewöhnt. Knochen brechen nicht mehr so laut, Haut reißt wie Papier, alles ist Routine, jeder Schrei prallt an mir ab, meine Ohren sind taub für so etwas geworden. Das Leben ist grausam und ich sollte es wahrscheinlich beenden, aber wie in jeder grausamen Geschichte braucht es einen Helden, der das Böse vernichtet, besiegt, auslöscht. Hier gibt es keinen. Nur mich, dieses wehrlose Mädchen, meine Gier und unersättliche Unmenschlichkeit -, ja, Hass auf alles und auf jeden, resultierend aus Hass auf mich selbst,- ihren Vater, der, mit einem Arsch voller Geld, Angst um seine Tochter hat und mir einen Teil davon zu geben bereit ist. Geld stinkt nicht auch wenn es aus dem größten Arsch kommen mag, es stink einfach nicht. Und selbst wenn es stänkte, hielte man sich die Nase zu, denn es bleibt eh nicht lange. Man kauft sich damit einen Traum, zwei Träume, drei Träume, die Welt. Und dann? Dann steht man wieder vor seinem Spiegel und kann das Bild darin nicht ertragen. Ich besitze keine Spiegel, ich besitze schon lange die Welt.

Die Landstraße liegt gelangweilt in dem Dämmerlicht der Waldlichtung. 20:59. Etwas bewegt sich in der Ferne, es kommt langsam näher, bedächtig, vorsichtig, fast schon schüchtern. Ich erkenne zwei Silhouetten. Einen Erwachsenen und ein Kind. Ich komme ihnen entgegen und schirme mit meinem Körper meine Ware ab – sie ist immer noch ohnmächtig. Er soll nicht gleich die Mängel sehen, die ich, im Prozess der Konfektion, mit Absicht oder ungewollt, entstehen ließ.
„Wo ist meine Tochter?“ Seine Stimme zittert, wie ein Junkie vor seinem nächsten Schuss.
„Wer ist das neben dir?“, frage ich leise. Meine Stimme hört sich fremd an, ich erkenne sie nicht wieder. Schon tagelang habe ich mit keiner Menschenseele gesprochen und es machte mir nichts aus. Einsamkeit war mein Begleiter und ich kam gut klar mit ihr.
„Wo ist meine Tochter?“
„Sie ist hier. Wer ist das Kind?“
Ein Lachen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Lacht er mich aus?
Mit einer halben Drehung stellt er sich hinter seinen Begleiter, dabei zieht er ein Messer aus seiner Tasche und legt es dem Kind an den Hals.
„Sag hallo Daddy.“
Als er die Kapuze vom Kopf des Kindes runterzieht, sehen mich zwei tiefblaue Augen an. Meine Augen. Das erste Mal seit Jahren sehe ich wieder meine Augen. Es tut weh. Es zerreist mich…


„Daddy, gehen wir heute Schwimmen?“
„Nein, Großer, ich hab zu tun. Wir gehen ein ander Mal schwimmen.“
„Aber ich will schwimmen. Bitte, bitte“
„Schatz, bitte, dieser Bericht muss bis morgen fertig sein, sonst bekommt Daddy kein Geld und dann kann er dir keine tollen Geschenke kaufen. Das willst du doch nicht, oder?“
„Aber Geld ist mir egal, Daddy. Ich will mit dir schwimmen gehen und Zeit mit dir und Mummy verbringen.“
„Später, Schatz, später.“


Meine Augen weinen, meine Augen haben Angst, meine Augen sehen mich an und flehen um Hilfe.
Dieser Junge ist mir wie aus dem Gesicht geschnitzt. Unglaublich, wie er sich in den Jahren verändert hat.
„Na los, gib mir meine Tochter, sonst schneid ich ihm die Kehle durch. Jetzt hast du nicht mehr so ne große Klappe, wie am Telefon vorhin.“
Ich sollte jetzt alles beenden, mich aus diesem Strudel befreien und wieder fühlen. Ich will das alles nicht mehr, ich will nicht morden, will nicht quälen und schlagen. Ich will meinen Sohn, ich will Frieden, ich will wieder glauben. Ist das eine zweite Chance? Ist das ein Zeichen von dem unendlich Unbarmherzigen da oben. Gibt er mir eine zweite Chance? Ich hab sie doch gar nicht verdient. Ich bin ein Monster. Ich will lieben. Ich will für meinen Sohn da sein, ich will…

„Gut, du hast gewonnen.“
Ich drehe mich um und gehe zum Baum. Knie mich nieder und fange an, das Mädchen loszubinden. Ihre Augen öffnen sich langsam. Verwirrt schaut sie mich an. Ich kann den Augenkontakt nicht lange halten, konzentriert widme ich mich dem Seil zu. Das ist der Moment, der Moment um auszusteigen, es zu beenden und mein Restleben normal zu leben. Mit meinem Sohn. Ich werde ein guter Vater sein, ich werde mich kümmern, ich werde mir Zeit nehmen und für ihn da sein.
Sie kann nicht mehr stehen, als ich sie hochziehe. Immer wieder verliert sie das Bewussten. Ich stütze sie, schleppe sie nach vorne und bleibe wenige Meter vor ihm und meinem Sohn stehen.
„Was hast du mit ihr gemacht? Du Monster.“ Ich sehe den Hass in seinem Blick, Verzweiflung, Wut, das alles bringt ein absurdes Bild zum Vorschein, das sich in seinen Zügen widerspiegelt.
„Gib mir meinen Sohn und du kannst sie haben. Sie lebt noch, keine Angst, ich war gnädig.“
„Kathy, oh Kathy was hat er mit dir gemacht? Nein, das lass ich nicht unbestraft, nein...“

Das Blut spritzt, ich höre einen Schrei. Meine Augen sehen meine Augen, die sich langsam schließen. Das Leben ist grausam und ich habe es nicht besser verdient...

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Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011

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