Madeleine
„Keine Zeit!“
Dreißig Jahre lang waren diese beiden Wörter die häufigsten, die ich Tag für Tag in der Fußgängerzone zu hören bekam, seit ich beschlossen hatte, mein Leben der Verkündigung der Wahrheit zu widmen, viel häufiger als Beschimpfungen oder Spott. Oft musste ich an Schneeflocken denken, die zur Erde fielen, nur um dort zu schmelzen, oder an Wasser, das ziellos den Berg hinabrauscht, wenn ich die Menschenströme an mir vorbeiziehen sah, jeder Einzelne mit seinen kleinlichen Problemen beschäftigt. Keine Zeit! Ihr sagt ja die Wahrheit, liebe Brüder und Schwestern, aber ihr begreift sie nicht. Denn wir haben wirklich keine Zeit. Das Ende ist nahe und nur die, die sich zum rechten Glauben bekennen, können gerettet werden.
Zweifel sind mir nie gekommen, auch nicht, als viele meiner Glaubensgefährten vom Weg abkamen und sich wieder dem Streben nach irdischen Besitztümern zuwandten, als ob diese eine Bedeutung hätten. Auch als der Allmächtige meinen Mann Michael zu sich holte, wurde mein Glaube nicht erschüttert, denn ich weiß, dass wir einst im Paradies vereint sein werden. Unser Leben war gut und gottgefällig. Doch ich war alt geworden, mein Haar war grau, mein Gesicht faltig, meine Glieder schmerzten von zu langem Stehen. Auch mir blieb nur noch wenig Zeit, doch die wollte ich nutzen, um so viele Seelen wie möglich zu retten – und an einem grauen Herbsttag schickte mir der Herr in seiner unendlichen Weisheit das Werkzeug dazu.
Als ich schwer atmend die Treppen zu meiner bescheidenen Wohnung hinaufstieg, sah ich einen Engel vor meiner Tür sitzen. In Wirklichkeit war es nur ein kleines Mädchen mit ungewaschenen blonden Haaren, in einen schäbigen roten Anorak gekleidet, doch von ihrem Antlitz, ihren durchdringenden blauen Augen, ging ein Leuchten aus, das mich alles Elend der Welt vergessen ließ. Dieses Leuchten hatte ich zuletzt in den Augen meines schon lange verstorbenen Propheten und Lehrers gesehen, doch in seinem Gesicht hatte es nie diese Unschuld und Reinheit ausgestrahlt.
„Das ist deine Oma, sag guten Tag zu ihr.“
Die Stimme ließ mich zusammenfahren, und jetzt erblickte ich, was sich bisher im Schatten verborgen gehalten hatte. Mein altes Herz machte einen Sprung und ich konnte mich nur beruhigen, indem ich innerlich den Psalm „Der Herr ist mein Hirte“ aufsagte. Nein, das war nicht möglich, wie konnte sie es wagen?
„Soll ich gleich wieder gehen Mama?“
Das hohläugige Gespenst, dessen Namen ich nie wieder aussprechen werde, sah mich feindselig und herausfordernd an. Die Spuren eines haltlosen, verdorbenen Lebens waren nicht zu übersehen. Sie roch nach Schweiß und Zigaretten. Auf ihrer vorzeitig gealterten Haut ahnte man die Berührungen zahlloser beschmutzter Körper. Dabei hatten mein Mann und ich sie im Geist Christi erzogen. Doch sie war mit siebzehn von zu Hause weggelaufen, hatte uns vor anderen schlechtgemacht und Lügenmärchen erzählt über ihre schreckliche Kindheit in einer „Sekte“.
Natürlich wies ich sie nicht ab. Es war eine Prüfung, die der Herr mir auferlegte. Barmherzigkeit üben – auch der Person gegenüber, die einen am schwersten enttäuscht hat. Vor allem aber war da ihr Kind, Madeleine, in Sünde gezeugt und doch Inbegriff von Unschuld und Reinheit. Fünf Jahre zählte sie erst, aber ihre Augen schienen mir alt wie die Welt. Auch die wenigen Worte, die sie an jenem Abend sprach, waren von einer Grazie und Ernsthaftigkeit, wie ich sie nie von so einem kleinen Wesen erwartet hätte. Wie hatte dieses gottlose Geschöpf nur so einen Engel hervorbringen können?
Sie wolle ihr Leben ändern, sagte meine abtrünnige Tochter. Doch war sie immer noch nicht bereit, zu Gott zu finden. Eine Entziehungskur wolle sie machen, um anschließend eine bessere Mutter für die Kleine zu sein.
„Du warst eigentlich die Letzte, zu der ich sie bringen wollte“, sagte sie mir frech ins Gesicht. „Aber da euer Guru ja in die ewigen Bitgotteriegründe abgestiegen ist und kaum noch jemand außer dir die Broschüren verteilt, wird wohl keine Gefahr für das Kind bestehen.“
Nein, ich war nicht wütend auf sie wegen dieser groben Rede, ich bemitleidete sie. Sie war fehlgeleitet, doch in ihrem Kern musste sie gut sein, sonst hätte sie nicht dieses wunderbare Kind gebären können.
Mit Madeleines Ankunft veränderte sich alles. Die Leute hatten plötzlich Zeit. Eine lächelnde alte Dame mit einem überirdisch strahlenden kleinen Kind an der Hand, welch ein wundervoller Anblick! Viele blieben stehen, hypnotisiert von Madeleines blauen Augen, beugten sich zu ihr hinunter, fragten sie, wie sie heiße und ob es ihr denn nicht langweilig sei und sie nicht lieber spielen wolle. Sie antwortete mit ihrer bezaubernden Engelsstimme: „Ich helfe meiner Oma. Sie hat eine wichtige Botschaft für euch.“ Damit hatte sie mir das Feld geebnet, auf die ich die Saat streuen konnte, und ich sprach zu den Menschen, erklärte ihnen, wie wichtig es ist, die Zeichen, die Gott uns schickt, zu erkennen – den Einsturz der Zwillingstürme, das Erdbeben im fernen Japan, das Massaker des blonden Teufels auf der norwegischen Insel.
„All das sind Vorboten, dass der Antichrist die Weltherrschaft an sich reißt. Kehren Sie um und kommen Sie mit uns auf den Weg unseres Herrn Jesus Christus. Denn das Ende der Welt ist nahe und nur die Auserwählten werden in sein ewiges Reich eingehen.“
Madeleine drückte immer meine Hand, während ich so sprach, und ich spürte, wie von ihr zu mir eine Kraft floss, die mich um Jahrzehnte verjüngte. Nie war ich so glücklich, nie fühlte ich mich so sehr meiner Berufung ergeben, das Sprachrohr Gottes zu sein, wie in diesen Augenblicken.
Natürlich liefen die Menschen nicht in Scharen ihrer Erlösung zu. Viele wandten sich mit panischen Blicken oder sarkastischem Grinsen ab und gingen ihrer Wege, nicht wenige murmelten dabei die beiden am meisten missverstandenen Wörter der Welt: „Keine Zeit.“
Doch einige nickten nachdenklich, kauften mir eine Broschüre ab, und ganz langsam wurden unsere sonntäglichen Versammlungen,die seit dem Tod unseres geliebten Propheten auf kaum mehr als eine Handvoll Gläubiger geschrumpft waren, wieder voller.
Madeleine wurde älter, lernte von Tag zu Tag mehr. Bald war sie so weit, dass sie in den Versammlungen selbst sprechen konnte. Die Leute hingen an ihren Lippen, hingerissen von der Reinheit ihrer Rede, ihrem Charisma, ihrer absoluten Überzeugtheit vom Wort Gottes.
Es wunderte mich nicht im Geringsten, dass ihre missratene Mutter nicht wieder auftauchte. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie mit einem neuen Liebhaber im Ausland lebte. Da es keinen offiziellen Vater gab, war nun ich als nächste Angehörige für Madeleine verantwortlich.
Ich musste sie zur Schule schicken und hatte Angst, dass das rationale Wissen, das dort vermittelt wird, ihre Reinheit verderben könnte. Doch diese Furcht war unbegründet. Wie konnte mein Vertrauen in dieses von Gott gesandte Wesen auch nur einen Moment schwinden? Bald schlossen sich viele ihrer Klassenkameraden und deren Eltern unserer Gemeinde an. Als Madeleine sich allmählich zu einer jungen Frau entwickelte, waren wir viel mehr als zu Zeiten unseres großen Propheten.
Inzwischen sind die meisten Mitglieder junge Leute, der Verkauf unserer Broschüren erfolgt über die neumodische Erfindung des Internets. Wir haben uns schon über das ganze Land verbreitet, und Madeleine ist nun auch offiziell die Prophetin unserer Bewegung. Ihre durchdringenden blauen Augen blicken von Plakaten, auf denen in riesigen Buchstaben steht: „Wir haben doch keine Zeit!“ und kleiner darunter: „Das Ende ist nahe. Folge dem Wort Christi!“
Was für ein Unterschied zu den Zeiten, als ich noch in der Fußgängerzone herumstehen musste, bis mir die Füße schmerzten. Schon längst lebe ich nicht mehr in der schäbigen Wohnung, in die vor vielen Jahren meine kleine Enkelin das Licht Gottes gebracht hat. Madeleine hat mir ein großes, helles Apartment gemietet und bezahlt mir eine Pflegerin, die sich um mich kümmert, denn nun bin ich wirklich steinalt und gebrechlich.
Die Prophetin selbst sehe ich nur noch selten persönlich. Sie ist viel unterwegs, um das Wort Gottes zu verbreiten. Sie muss sich um die Rettung der gesamten Menschheit kümmern, welche Rolle spielt da noch ihre alte Großmutter, die für sie nur die Rolle des Wegbereiters gespielt hatte, wie Johannes der Täufer für unseren Herrn Jesus?
Aber heute Abend wird einer ihrer Auftritte im Fernsehen übertragen. In ein weißes Kleid gehüllt, das lange blonde Haar über die Schultern wallend, hält Madeleine mit ihrer glockenklaren und doch kräftigen Stimme eine Rede in einem Fußballstadion, wobei ihr Bild auf mehrere Großbildleinwände übertragen wird.
Sie spricht von den Gräueln und Kriegen dieser Welt, von der Leere, in die uns der Konsumterror gestürzt hat, und von der Gewissheit, dass die Welt bald zu Ende gehen wird, und dass alle die Umkehr wagen sollen. Ihre Rede treibt den Menschen im Stadion die Tränen in die Augen, immer wieder fängt die Kamera schluchzende Gesichter ein und Hände, die sich um Taschentücher krampfen.
„Wir haben doch keine Zeit“, beendet die Prophetin ihre Rede. „Wendet euch jetzt dem Herrn zu, morgen kann es schon zu spät sein!“
Mit diesem Schlusswort stimmt eine Band den extra für diesen Zweck komponierten „Endzeit-Song“ an und tausende Feuerzeuge glühen im Publikum auf.
Wie ich schon zu Anfang sagte: Mir sind nie Zweifel gekommen an meinem Glauben und meiner Sendung, doch jetzt, da meine Zeit abläuft, tauchen in den Windungen meines alten Hirns plötzlich ketzerische Gedanken auf, und ich frage mich, was an dem, was ich gerade gesehen habe, so schrecklich verkehrt ist.
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