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Aber Oma!



Schon als ich die Tür zu Omas Wohnung öffne, weiß ich, dass etwas anders ist. Die sonst so schmuddelige Hausstätte hat sich in ein Paradies der gepflegten Hausfrau verwandelt. Der stechende Geruch nach Dutzenden von Insektiziden und Essigreinigern durchdringt die blitzblank polierte Wohnung und löst einen Würgereflex in meiner Kehle aus. Ich atme einige Sekunden ruhig durch und starre dann voller Unglauben auf die Landschaftsaquaralle, die die schäbige Wand des Flures mit ihrer Myriade an Drecksflecken verdecken.

„Nun die Beine ein wenig zur Seite drehen und strecken. Versuchen Sie mit den Daumen an ihre großen Zehen zu gelangen und lassen Sie sich bei dieser großen Anstrengung nur von dem einen Bild, dem Bild ihrer künftigen Traumfigur, beflügeln.“



Oma sitzt im Fitnessanzug und mit ausgestreckten Beinen auf einer Isomatte vor dem Fernseher und verrenkt ihre Glieder in alle möglichen Richtungen, als ich das Wohnzimmer betrete. Ohne vom Boden aufzustehen, nickt sie mir zu.
„Paulinchen, schön, dass du kommst. Stört es dich, wenn ich nebenher ein bisschen meine Bohnen trainiere?“
„Äh, was?“ Bohnen? Habe ich mich da etwa verhört?
„Na meine Knochen. Bohnen, so sagen das doch die Amis.“
Oh.
„Oma, hast du etwa schon wieder vergessen, deine Tabletten zu nehmen?“
„Näwer äwer!“ Oma wechselt in den Lotussitz und ich muss mitansehen, wie der Anzug rund um ihren Hintern seine hässlichen Falten aufgibt und sich immer stärker spannt.
„Äh, Oma…?“

„Jetzt den Kopf zwischen die Knie und Tempo, Tempo!“

,

zwitschert die hochgewachsene Frau aus dem Fernseher und grinst mich unverschämt an. MICH!
„Ja, Darling?“, stöhnt Oma, während sie ihren
Kopf nach vorne beugt und in einer Lage versinkt, die immer gefährlicher wird. Ich höre ein unsichtbares Reißen, bevor mir etwas ins Gesicht springt und sich mit meiner Brille verheddert.
Die Welt um mich herum wird dunkel und statt dem beißenden Geruch von Reinigern vernehme ich nun ein anderes Düftchen; Schweiß gemengt mit … Katzenfutter? Vorsichtig umfasse ich den – geplüschten? – Stoff mit beiden Fingern und zerre ihn dann mit einem Ruck von meinem Gesicht. Meine Brille fällt zu Boden, doch auch ohne ihre Hilfe erkenne ich problemlos, was ich in der Hand halte.
„Omaaaaaa!“, brülle ich und schmeiße das pinke Teil, das ursprünglich zu Omas Sporthose gehört hat, weit von mir.
„Aber schpärro, was musst du denn immer gleich so schreien?“, ist das Einzige, was ich von Oma zu dem Vorfall höre, dann setzt sie ihre Nachmittagsgymnastik fort. Mit einer halben Hose.
Einige Sekunden schaue ich wie erstarrt auf ihren voluminösen Oberschenkel …

„Jetzt das rechte Bein hinter das linke klemmen und die Arme nach oben recken. Immer weiter nach oben, ihrer Traumfigur entgegen!“



… dann hebe ich meine Brille auf und nehme rasch Reißaus von der Frau, die mich gerade mit dem englischen Wort für Spatz angesprochen hat, stolpere die wenigen Schritte bis zur Wohnungstür, öffne sie so schnell wie möglich, und rase die Treppe hinunter als wäre der Teufel hinter mir her. Bloß weg hier! Keine Minute länger verweile ich bei dieser Gruselfrau!


Beim Abendessen sitze ich stumm am Esszimmertisch und kaue immer wieder auf demselben Stück Broccoli herum. Das Bild von Oma, wie sie da auf ihrer blassblauen Isomatte thront, will mir einfach nicht aus dem Kopf.
„Pauli, was ist los?“ Mit seinem Stirnrunzeln verstärkt Papa die tiefen Furchen, die sich in die Haut über seinen Augen eingegraben haben. Er sieht mich prüfend an, doch ich weiche seinem Blick aus und sehe auf den vollen Teller vor mir.
„N-nichts. G-g-gar nichts“, stottere ich und schiebe mir schnell eine Spinattortellini in den Mund. „Wusstet ihr schon, dass Legenden zufolge, Tortellini den Bauchnabel der Venus darstellen? So ein italienischer Koch soll sie beim Anziehen beobachtet haben und fand ihren Bauchnabel wohl so schön, dass er die Tortellini erfunden hat.“
„Was für ein Spanner!“, stößt Lukas, mein kleiner Bruder, verächtlich hervor und verteilt dabei einen großen Haufen Spinatspucke in seiner Umgebung – sprich, auf Papas, Mamas und mein Gesicht. „Der ist ja fast genauso wie Herr Schäfer von nebenan. Der spannt auch die ganze Zeit bei Pauli.“
„Lukas!“ Meine Mutter springt ein und schaut meinen Bruder streng an, während sie sich mit einem Taschentuch die grünen Spritzer auf der Backe wegwischt. „Erstens sagt man so etwas nicht und zweitens putzt Herr Schäfer nur seine Vorhänge und nichts anderes.“
„Ich wette, er hat auch eine Videokamera am Fenster installiert, die uns Tag und Nacht ausspioniert“, frotzelt Lukas und bohrt nebenbei in der Nase. „Vielleicht war er früher Geheimagent. So wie 007.“
„Das glaubst du doch selbst nicht!“, entgegne ich, muss aber trotzdem breit grinsen, als ich mir den Nachbar-Geheimagenten vorstelle. „Ich heiße Schäfer. Peter Schäfer. Dürfte ich mir ihre Vorhänge ansehen?“


„Es reicht, junger Mann“, pflichtet mir meine Mutter bei. „Putz deine Nase gefälligst mit einem Taschentuch und halte endlich deinen Mund und konzentrier dich aufs Essen.“
Lukas mault irgendetwas Unverständliches, hält aber tatsächlich für ein paar Minuten seinen Mund.
„Werden Leute, wenn sie älter werden, eigentlich immer so exzentrisch?“, frage ich in die plötzliche Stille, die nur von Lukas‘ Gabel unterbrochen wird, die immer wieder gegen den Tellerrand schlägt.
„Wie meinst du das?“ Papa sieht mich argwöhnisch von der Seite an und ich bemerke, wie sich seine dunklen Augenbrauen eng zusammenziehen.
„Na, Herr Schäfer ist nur noch mit dem Putzen von Vorhängen“ – „Und spionieren“, wirft mein Bruder rasch ein – beschäftigt, Agatha Christies Miss Marple löst einen Mordfall nach dem anderen und Oma …“ Ich breche ab.
„Was ist mit Oma?“, bohrt Mama nach.
„Findet ihr nicht, dass sie sich in letzter Zeit ein wenig merkwürdig verhält?“
„Merkwürdig?“ Mama legt den Kopf auf ihre Hände und sieht mich neugierig an. „Merkwürdig, wieso?“
„Nicht die Bohne!“, antwortet Papa fast zeitgleich und ich verziehe mein Gesicht. Schon wieder Bohnen!
„Naja …“ Ich stocke kurz, dann entschließe ich mich dazu, es ihnen zu sagen. „Oma hat heute Sport gemacht“, flüstere ich dann leise, ganz leise, sodass Herr Schäfer ja nichts von meinen Worten mitbekommt.
„Was ist schon dabei, wenn man ein bisschen Sport treibt?“, wundert sich Papa.
„Aber vor dem Fernseher!“
„Das macht doch nix. Sport ist Sport“, lächelt Mama.
„Auf der Isomatte!“
„Na und?“
„Aber sie hatte diesen Fitnessanzug an!“
„Den hat sie noch? Der muss ja Jahrzehnte überdauert haben!“, grinst Papa und zwinkert mir dann verschwörerisch zu. „Hat sie den Spagat noch hinbekommen? Damit hat sie nämlich damals vor uns immer angegeben!“
„Ihr versteht nicht! Sie hat Englisch gesprochen!“, rufe ich verzweifelt und schwenke mit den Armen.
„Na sowas! Alte Damen können also doch noch Sprachen lernen. Das ist ja super!“, freut sich Mama.
„Aber sie hat ihre Wohnung aufgeräumt und überall hängen jetzt diese seltsamen Auqarellbilder!“
Auf einen Schlag ist alles still. Papa sieht mich ungläubig an, Mama lässt fast ihre Gabel fallen und selbst Lukas nimmt den Finger aus seiner Nase und hört auf zu bohren.
„Sie hat aufgeräumt?“
„Ja.“
„Du meinst, sie hat wirklich

aufgeräumt?“
„Aber ja doch!“
Die Jubelschreie sind so laut, dass Herr Schäfer beim Vorhängeputzen vor Schreck bestimmt vom Stuhl gefallen ist.
„Großer Gott!“, seufzt meine Mutter. „Endlich sind wir der Gefahr des Erstickens nicht mehr ausgesetzt, wenn wir sie besuchen.“
„Oder der Mottenplage!“, ergänzt mein Bruder und feixt. „Ich glaube Pauli hat ein paar mit in ihr Zimmer geschleppt. Ihre Haut ist auch schon so löchrig!“
Ich sitze da und starre fassungslos auf das Bild meiner Familie. Nichts nehmen sie ernst. Gar nichts. Alle meine Bedenken tun sie mit einem Lächeln ab – oder schmeißen mit Spinat um sich – aber ich weiß, dass mit Oma etwas nicht stimmt. Und ich werde es herausfinden, so wahr ich Paulina Engelhardt alias Agentin 007 heiße!


„Tut mir leid, gnädiges Fräulein, aber Frau Engelhardt ist nicht hier. Sie wollte zum Einkaufszentrum in die Stadt.“ Die schrille Stimme der Vermieterin echot in meinen Ohren und ich muss mich zusammenreißen, um sie mir nicht mit beiden Händen zuzuhalten.
„Oma ist nicht da?“, frage ich perplex. Was um Himmels Willen macht Oma im Einkaufszentrum?
„Es tut mir leid“, wiederholt die schlanke Frau vor mir, die die Blüte des Lebens anscheinend schon hinter sich hat. Schwarz waren ihre Haare ursprünglich wohl mal – jetzt sind sie grau, schuppig und voller weißer Strähnen. Sie schlägt mir die Tür vor der Nase zu und ich bleibe völlig verdattert vor der weißen Holztür stehen, brauche ein paar Augenblicke um die Worte der Vermieterin zu verdauen.
Oma. Ist. Im. Einkaufszentrum. OMA!
Oma, die jahrelang der gesamten Familie Sparsamkeit gepredigt hat. Oma, die ihre Kleider immer so lange trägt, bis sie auseinanderfallen und nichts von verschwenderischen und unnötigen Einkäufen hält. OMA!
Ich drehe mich um und laufe die lange Einbahnstraße entlang, die an den Seiten von zahlreichen Hortensienbüschen gesäumt ist. Gen Stadt. Um Oma zu finden.
Im Einkaufszentrum gehe ich mehrere Läden durch, bevor ich in ‚Austins Secondhandladen – Hundert Prozent Schnäppchen‘ Erfolg mit meiner Suche habe. Eine junge Frau, die gerade Jeans in ein Regal einordnet, hat Oma gesehen.
„Ja, ich erinnere mich an die Dame. Ein pinkes Kleid mit Rüschen am Saum und ein Paar weißer Handschuhe hat sie sich gekauft“, berichtet mir die Verkäuferin und hat anscheinend keinerlei Probleme damit, dass eine neugierige Enkelin ihrer Großmutter sogar in einen Secondhandladen nachspioniert.
„Und dann?“
„Sie hat bar bezahlt und dann schnell einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk geworfen“, erzählt die Secondhandladenfrau. „Hatte wohl einen wichtigen Termin beim Reisebüro. ‚Wir haben doch keine Zeit!‘

, hat sie fröhlich ausgerufen und dann den Laden verlassen.“
„Das Reisebüro? Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verhört haben?“, frage ich bestürzt nach und verstehe die Welt nicht mehr, als die Verkäuferin meine Frage bejaht.
Was zum Teufel macht Oma im Reisebüro? Sie verabscheut doch alles, was mehr als zehn Kilometer von ihr entfernt ist. Außerdem ist sie eine strikte Gegnerin der Umweltverschmutzung. Sie würde nie auch nur einen Kubikmillimeter mehr CO2 ausstoßen, um eine Reise zu machen. Nie!
Ich danke der Verkäuferin schnell für die Auskunft und renne dann fast einige Passanten um, als ich die Straße entlanghetze. Dem Reisebüro entgegen.
Der Leiter des örtlichen Reisebüros wirft mir einen missbilligenden Blick zu, als ich einfach so in das Geschäft platze und mich in den Ledersessel vor seinem Schreibtisch werfe. Mein Atem geht schnell und ich spüre, wie mein Herz laut gegen meine Brust klopft. Oma ist nicht da.
„Dass bei den jungen Leuten immer alles so schnell gehen muss“, murmelt er abfällig in seinen grauen Bart, zwingt dann aber doch ein Lächeln auf seine steinalten Lippen und sieht mich abwartend an.
„Wohin soll die Reise gehen, junge Dame?“
„Oma!“, stoße ich atemlos hervor.
„Ein Besuch bei den Großeltern ist immer gut. Wo hält sich die Oma denn gerade auf?“
„Das wüsste ich auch gerne“, sage ich resigniert und sehe fragend in die mausgrauen Augen hinter der Brille mit den runden, großen Gläsern. „Haben Sie eine Ahnung, wo sie ist?“
„Ihre Oma? Woher soll ich das denn wissen?“ Verwirrt sieht mich der Leiter des Reisebüros an, dann macht sich eine schleichende Erkenntnis in seinem Gesicht breit. „Sie wollen mich doch veräppeln, junge Frau! Entweder Sie buchen jetzt eine Reise oder Sie verlassen auf der Stelle mein Büro!“ Voller Gereiztheit ist seine Stimme um ein Vielfaches höher geworden und die Augen hinter der Brille sind nun fast so groß wie reife Pflaumen.
„Nein, ich wollte wissen, ob Sie meine Oma gesehen haben“, erkläre ich. „Sie soll vor einigen Minuten in ihrem Reisebüro gewesen sein.“
„Wie sieht sie denn aus, die Oma?“, fragt der Reisebüroleiter. Er klingt nun besänftigter; wahrscheinlich ist er voller Mitleid für dieses arme, verzweifelte Wesen, das seine Oma sucht.
„Etwa ein Meter sechzig groß, etwas füllig und kurze, weiße Haare.“
„Es tut mir leid, aber so eine Dame war nicht hier. Die einzige Kundin, die ich in den letzten zwei Stunden hatte, war eine Frau mit pinkem, längerem Haar in Fitnessanzug und mit einer dicken Einkaufstüte. Sie hat eine Reise nach Mexiko gebucht. Nach Mexiko, können Sie das glauben? Unsereins ist schon zufrieden, wenn er mehr sieht, als die umliegenden Dörfer und die feine Dame reist nach Mexiko!“ Während sich der Reisebüroleiter noch darüber aufregt, fangen meine Finger unkontrolliert zu zittern an.
„Wissen Sie, wohin die Dame nach Ihrem Termin bei Ihnen wollte?“, frage ich mit schwacher Stimme.
„Sie hat irgendetwas von einem Goldschmied gesagt, bevor sie sich mit einem ‚Wir haben doch keine Zeit!‘

verabschiedet hat“, antwortet der Leiter und sieht mich kurz drauf entschuldigend an. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen bei Ihrer Suche nicht helfen konnte. Aber vielleicht taucht die Oma ja schneller als gedacht auf.“ Er lächelt mir aufmunternd zu und ich verlasse das Geschäft auf wackeligen Beinen. Ja, vielleicht taucht Oma schneller als gedacht auf. In Fitnessanzug und mit pinken Haaren. Hilfe!
Nur zehn Minuten später stehe ich in Goldnagels Goldschmiede und bestaune den Schmuck, der dort ausliegt. Oma ist natürlich nicht da, sondern schon wieder weg. Zur Kirche soll sie gegangen sein, das sagt mir der junge, gutaussehende Verkäufer, der nach kurzer Besehen dann aber doch schon die 30 überschritten hat. Leider.
„Kirche?!“, stoße ich überrascht hervor. Was will Oma denn in der Kirche? Am heutigen Tag zeigt sie eine Vielzahl von Gewohnheiten, die ich sonst so gar nicht von ihr kenne. Aber die Kirche? Oma glaubt nicht an Gott. Sie hasst Gottesdienste, Pfarrer und ‚all den anderen Kram‘. Warum also geht sie an einem Samstagnachmittag in die Kirche?
‚Wir haben doch keine Zeit!‘

, hat sie gesagt und dann war die pinke Dame auch schon aus der Tür“, erzählt der Verkäufer und lacht leise. „So eine exzentrische Frau ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen. In den Ring, den sie gekauft hat, sollte doch tatsächlich ein Sombrero eingearbeitet sein! Ein Sombrero!“
Ich bin ratlos, verabschiede mich von dem netten Verkäufer, dessen Auskunft mir allerdings nicht viel weiterhilft, und setze mich auf die grau-bläuliche Holzbank vor dem Laden.
Uff! Endlich können sich meine Beine etwas entspannen. Die ungewollte Tour durch die Stadt hat sie sehr strapaziert und so freuen auch sie sich über den kurzen Zwischenstopp.
Pinke Haare. Ein pinkes Kleid. Mexiko. Wir haben keine Zeit! Und natürlich der Sombrero-Ring. Ich erkenne Oma nicht mehr wieder! Sollte sich Demenz nicht schleichend bemerkbar machen? So wie es aussieht, habe ich zwei Möglichkeiten.
Entweder ich flitze zur Kirche und hoffe, dass ich Oma dort noch erwische – was, nebenbei bemerkt, ziemlich unwahrscheinlich ist – oder ich setze mich in ihre Wohnung und warte dort seelenruhig auf ihre Rückkehr, bevor ich sie zur Rede stelle. Ich muss nicht lange überlegen, meine Füße kennen die Antwort schon zu genau und so befinde ich mich nur wenige Minuten später wieder an meinem Ausgangsort. Die Vermieterin steht wieder auf ihrem Guckposten am Fenster und noch bevor ich sie um den Schlüssel zu Omas Wohnung bitten kann, öffnet sich die Eingangstür schon von ganz alleine und das abgezehrte Gesicht der Vermieterin sieht mich überrascht an.
„Sie schon wieder?“
„Überraschung!“, flöte ich und sehe sie dann ungeduldig an. „Könnte ich bitte den Schlüssel zur Wohnung meiner Oma bekommen? Ich habe erfahren, dass sie noch eine Weile in der Stadt verbringen wird und würde hier auf sie warten.“
„Es tut mir leid, aber das ist unmöglich“, entgegnet die Vermieterin und sieht mich entschuldigend an.
„Was? Wieso soll das nicht gehen? Ich bin die Enkelin von Else Engelhardt und möchte hier auf sie warten. Welcher Teil davon soll denn bitte unmöglich sein?“, knurre ich die Frau vor mir wütend an und sehe mit Zufriedenheit, wie sie ein Stück weiter hinter die Schwelle stolpert.
„Frau … Engelhardt ist … sie ist, äh … sie hat gekündigt“, stammelt die Vermieterin. Das Schrille aus ihrer Stimme ist fast vollkommen verschwunden, ihre Augen sehen mich mitleidig an.
„Sie hat WAS?!“ Mein Kreischen ist bestimmt in der gesamten Nachbarschaft zu hören. Hoffentlich gibt es hier keinen Herr Schäfer! „Oma hat GEKÜNDIGT?! Wann?“
„Vor nicht ganz fünf Minuten. Ihre Sachen werden von einem Möbelwagen im Verlauf des Abends abgeholt, die vertraglichen Sachen hat sie gerade mit mir bei einem Cappuccino geklärt und ist dann verschwunden. Sie hatte wohl keine Zeit.

Die neue Frisur steht ihr übrigens hervorragend!“ Die letzten Worte flüstert die Vermieterin mir verschwörerisch zu. „Glauben Sie, dass mir die Farbe auch stehen würde?“ Damit beugt sie sich nach vorne, wedelt mit einer Hand in ihren fettigen, weiß-grau-schwarzen Haaren herum und fegt mir dabei einen Schuppenwind entgegen.
„Äh …“ Ich bringe meinen Satz nicht zu Ende, sondern drehe mich um und rase wie der Blitz davon. Kein Wunder, dass Oma so komisch geworden ist. Bei so einer Vermieterin!


Die ganze Nacht bekomme ich vor lauter Grübeln und Nachdenken kein Auge zu. Oma muss ihren Verstand verloren haben, eine andere Erklärung für ihr seltsames Verhalten finde ich nicht. Aber was soll ich mit meinem Wissen jetzt anfangen? Endlich entscheide ich mich dazu, den anderen alles beim Frühstück zu erzählen und mit ihnen gemeinsam über eine Lösung für das Problem nachzudenken.
Schneller als gedacht ist es schon Morgen und Sonntagsglocken plus ein laut brüllender Bruder wecken mich unsanft aus meinem viel zu kurzen Schläfchen.
„Früüüüühstück!“, schreit Lukas mir ins Ohr und widerwillig erhebe ich mich und tapse gähnend die Treppe hinunter zum bereits gedeckten Frühstückstisch.
„Naaa, hat mein kleiner Engel gut geschlafen?“
„Nunja, ich …“, versuche ich zu erklären, da unterbricht mich meine Mutter.
„Naaa, mein Stinkerchen? Möchten die Pampers auch Hallo zu Mama sagen?“
Äh … Mir dämmert, dass Mama nicht mit mir spricht, als ich den strengen Gestank wahrnehme, den die Windeln meiner kleinen Schwester verströmen.
„Mama?“
„Ja, Pauli?“
„Oma hat den Verstand ver…“
„MAMAAAAA! Pauli hat schon wieder heimlich alle Chips gegessen!“ Anklagend deutet Lukas auf die leere Packung in seiner Hand.
„Pauli! Wie konntest du nur!“
„Aber…!“ Erstens habe ich die Chips nicht genommen und zweitens ist Oma gerade um einiges wichtiger!
„Kein Aber! Du entschuldigst dich sofort bei deinem Bruder!“ Mama klingt so aufgebracht, dass ich mich dazu entschließe, ihrer Aufforderung lieber zu folgen. Ist sicherer.
„Tschuldigung, Lukas“, brumme ich entnervt und muss mitansehen, wie das kleine Bürschchen mir hinter Mamas Rücken die Nase herausstreckt. Fiesling.
„Mama, ich hab gestern Oma…“
„Lisa, könntest du der Kleinen nicht im Wohnzimmer die Windeln wechseln? Es stinkt gewaltig!“, verkündet Papa, als er in diesem Moment die Küche betritt. Erneut werde ich unterbrochen.
„Aber Oma…!“
„Tut mir leid, Hartmut, aber da dein Sohn hat den Fußboden, das Sofa und alle Kommoden mit Playmobil vollgestellt. Bedanke dich bei ihm für den magnetischen Geruch!“
„Lukas!“ Papa dreht sich zu Lukas um, der ihn mit der Miene eines Unschuldslamms anlächelt. „Aufräumen. Sofort!“
Diesmal strecke ich Lukas die Zunge heraus, als er mit hängenden Schultern die Küche verlässt und in Wohnzimmer trippelt. Ja, Rache ist süß.
„Papa, Mama? Ich wollte euch etwas…“ Doch schon wieder werde ich unterbrochen. Nicht von Lukas, sondern von einem Stück festen Papiers, das mir vom Fenster aus direkt ins Gesicht segelt und dabei meine Brille zu Boden schmeißt. Mal wieder.
Allmählich reicht es! Leicht angesäuert hebe ich das Papier, das in etwa so groß ist, wie eine halbe Din-A4-Seite zusammen mit meiner Brille auf und betrachte es dann. Ist das nicht …?
„Omaaaaaa!“, kreische ich gleich drauf und lasse die Postkarte zu Boden fallen.
„Pauli, was ist los?“ Papa sieht mich verblüfft an, bevor er sich beugt und die heruntergefallene Karte aufhebt. „Mach doch nicht so einen Auf… Mein Gott, MAMA!“
„Hartmut, Pauli, hört endlich auf so herumzubrüllen! Herr Schäfer fällt ja noch von seinem Vorhängeposten!“, versucht Mama uns zu beruhigen, aber Papa und ich starren immer noch sprachlos auf die Karte. „Was ist denn…? OH MEIN GOTT!“
Alle sehen wir entsetzt auf die Postkarte. Die Vorderseite sieht noch ganz unschuldig aus: das Bild zweier Hände; einer älteren mit überdeutlichen Altersflecken und kleineren Falten und das Bild einer jüngeren, einer Kinderhand, die sich darin befindet.
Es passt merkwürdig gut zum Inhalt der Karte. Sie zeigt Oma und Kind. Oder Oma, wie sie sich selbst die Hand reicht, wie sie das Kind, das sie tief in ihrem Inneren noch ist, grüßt. Eine perfekte Wahl.
Und dann lese ich die Karte ein zweites Mal.


Hola!

Esteban und Elsa lassen grüßen und verabschieden sich hiermit von euch. Das frisch verheiratete Ehepaar ist ab sofort nur noch in Mexiko anzutreffen – dort wohnen wir jetzt.
Eure Oma/(Schwieger-)Mama hat euch allesamt lieb und wünscht euch ein schönes Leben! Vielleicht besucht man sich ja mal.
Besonders liebe Grüße gelten natürlich Pauli, der ich die Blitztrauung in der örtlichen Kirche zu verdanken habe. Liebes, du bist wirklich eine gute Schnüfflerin – nur schneller könntest du manchmal noch sein.

Nos vemos!
Elsa

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