Die Bank
„Och bitte Papa, es dauert doch nicht lange.“ Die blauen Augen der kleinen Johanna blickten ihren Vater flehentlich an. „Nur ganz kurz zum Weihnachtsmann. Bitte bitte...“
Ein mürrisches Knurren röhrte durch des Vaters Kehle.
„Du weißt, dass wir dafür keine Zeit haben.“ Er zog den Kragen seines Mantels höher und stellte fest: „Außerdem ist es saukalt.“
Johanna seufzte laut. „Aber...“ wollte sie protestieren, doch ihr Vater nahm sie einfach bei der Hand und zog das Mädchen mit sich. „Komm jetzt, ich will endlich heim in die warme Stube.“
Damit war die Diskussion beendet und Johanna trottete unglücklich neben ihrem Vater her. Der weitere Weg verlief schweigend, die traurigen Seitenblicke Johannas verloren sich in herabfallende Schneeflocken, niemand nahm Notiz davon. Am allerwenigsten ihr Vater. Und Johanna selbst nahm nicht mal das kugelförmige, kalte Weiß wahr, das auf ihre dunklen Löckchen rieselte. Dabei war sie schon immer total wild auf Schnee gewesen. Baute fantasievolle Gebilde aus der weißen Pracht oder Schneemänner mit drei Armen, zwei Nasen und sechs Ohren, die sich um den gesamten Kopf verteilten. Sie war von jeher ein besonderes Mädchen. Doch niemand bemerkte das, am allerwenigsten ihr Vater. Johannas Mutter war das, was man in guten Kreisen eine Dirne und in ihrer Familie eine Schlampe nannte. Was das genau ist, wusste Johanna nicht. Sie hatte lediglich einmal mitbekommen, wie Papa am Telefon zu jemandem sagte: „Wieder nach Hause kommen? Mona? Nee, die Schlampe soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!“ Der Name ihrer Mutter ist Mona, also war ihr klar, dass er sie meinen musste. Seit diesem Tage fragte sich Johanna ständig das Gleiche, seit diesem Augenblick brannte sie auf die Antwort.
„Papa, was ist eine Schlampe?“ fragte das Mädchen ihren Vater und blickte ihn neugierig an. Dieser blieb abrupt stehen und sah zu dem kleinen Mädchen herunter. Ein befremdlicher Ausdruck lag in seinen Augen, die sich inzwischen zu kleinen Schlitzen verengt hatten und ihn ein bisschen wie einen Chinesen aussehen ließen. Johanna spürte, wie die Angst langsam erwachte, fand aber gleichzeitig auch die Ähnlichkeit mit dem Chinesen belustigend. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um nicht los zu prusten.
„Was hast du da gerade gefragt, Johanna?“ Ihr Vater sprach mit einer Stimme, die jeden in die Flucht geschlagen hätte, nicht aber Johanna. „Was ist eine Schlampe?“ wiederholte sie die Frage in ihrer kindlichen Neugier und wich gleichzeitig ein Stück zurück. Wollte Vorsichtsmaßnahmen treffen. Sie rechnete mit einer Ohrfeige und mochte nicht überrascht werden. Das hatte sie schon einmal erlebt und wollte nicht riskieren, wieder eine Woche lang mit einer dicken Backe in die Schule gehen zu müssen. Tobi, Jana, Mareike und sämtliche Kinder aus ihrer Klasse hatten sie mit ihrer Neugier praktisch den gesamten Schultag verfolgt. Ihr förmlich Löcher in den Bauch gefragt, weil jeder wissen wollte, wie Johanna zu dieser geschwollenen Wange gekommen war. Aber sie hatte damals mit niemanden darüber geredet.
Mittlerweile war ihr Vater einem Teufel gleich, es fehlten nur noch die roten Hörner auf seinem Kopf. Aber das brauchte es gar nicht, in Johannas Vorstellung waren sie direkt rechts und links neben der Stirn platziert. Sein Gesicht war inzwischen auch nicht mehr nur noch wegen der Kälte und dem Schnaps rot. Nein, es war rot angelaufen vor Zorn. Zorn auf die Schlampe und den Klotz am Bein, den sie ihm hat dagelassen. Drohend hob Johannas Vater die rechte Hand und kam auf das kleine Mädchen zu. Schmerzlich hatte sie ihn an den Verlust seiner Frau erinnert. An dieses Miststück, das ihn Tag für Tag betrogen und belogen hatte. Jeden Schritt, den er näher kam, wich Johanna weiter zurück. Ihr kleines Herzchen klopfte schnell und überschlug sich fast.
Ihr Vater war wie in Trance, wollte nicht an Mona erinnert werden! An seine Tochter dachte er längst nicht mehr.
Mona...mit seinem ganzen Herzen hatte er sie geliebt und was machte sie? Legte sich in jedes warme Bett, das sich ihr bot. Irgendwann lernte sie einen reichen Knacker kennen, packte blitzschnell ihre Koffer und verschwand. Nur eines hatte sie ihm dagelassen: dieses kleine Biest, das ihn mit ihren Fragen zur Weißglut trieb und ihn immer und überall an die Scham erinnerte. Er wollte das nicht mehr! Wollte nicht mehr leiden!
So langsam bekam Johanna es richtig mit der Angst zu tun. Das Gesicht ihres Vaters hatte sich in eine blutrote Fratze verwandelt und sie stolperte voller Entsetzen und Abscheu nach hinten. Dabei stieß sie gegen etwas Hartes.
„Hoppla, kleines Fräulein“, hörte Johanna jemanden sagen und fuhr herum. Ein älterer Mann mit einer grünen Hose und einem dunkelbraunen Pullover saß auf einer Bank. Er trug weder einen Mantel, noch eine Jacke und schon gar keinen Schal. Johanna war verwundert und dank dieser Ablenkung ihre Angst wie weggeblasen. Dem alten Mann schien überhaupt nicht kalt zu sein, im Gegensatz zu ihr, sie fröstelte und zitterte. Fast wäre Johanna auf seinem Schoß gelandet. Auf dem Gesicht des Alten lag ein mildes Lächeln, aber er sagte kein Wort mehr. Ertappt nahm der Vater seinen Arm herunter. Obwohl der Schnaps ihn normaler Weise derart betäubte, dass keinerlei Gefühle in ihm aufloderten außer Wut und Zorn, wollte er sich dennoch keine Blöße geben. Jedenfalls nicht vor diesem Opa, den Johanna immer noch ungläubig anstarrte.
„Komm jetzt, du kleine Nervensäge! Ich habe dir vorhin schon gesagt, dass wir keine Zeit haben!“
Er schnappte sich die kleine, kalte Hand seiner Tochter und zerrte sie von dem alten Mann weg, der nachdenklich hinter den beiden herblickte.
„Und der Weihnachtsmann ist der Alte ganz bestimmt nicht!“ knurrte er. „Woher weißt du das?“ fragte Johanna. „Kennst du den Opa?“ Ihr Vater blickte ernst drein. „Nein, ich habe auch keine Lust, ihn kennen zu lernen!“ Der Rest des Weges verlief endgültig schweigend und zuhause angekommen, führte sein erster Weg den Vater zum Kühlschrank. Mit einem König-Pilsener pflanzte er sich auf seinen Thron, direkt vor dem Fernseher und schaltete Fußball ein. Das konnte jetzt dauern...
„Ich habe Hunger, Papa.“ Einen Versuch war es zumindest wert. „Wir haben doch keine Zeit zum Essen, Johanna. Das Spiel hat schon begonnen“, erklärte er unbekümmert. „Morgen vielleicht, geh jetzt schlafen.“ Er schaute sie nicht mal an, während er das sagte, was er fast jeden Abend sagte. Johanna konnte froh sein, wenn sie überhaupt eine warme Mahlzeit am Tag bekam und das war meistens in der Schule. Jetzt aber waren Weihnachtsferien und seitdem aß sie nur sehr unregelmäßig. Oftmals schaffte ihr Vater nur ein paar Wurst-und Käsebrote am Tag. Aber das war immer noch besser als nichts.
Mit knurrendem Magen lag Johanna in ihrem Bett und starrte an die Decke. Plötzlich schob sich das Bild eines freundlich lächelnden Mannes vor ihr inneres Auge. „Ob das der Weihnachtsmann war?“ fragte sie sich unwillkürlich, als sie an den Alten auf der Bank dachte. Bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, nahm sie sich vor, ihn am nächsten Tag danach zu fragen. Papa würde in seinem Zustand gar nicht bemerken, wenn sie sich heimlich auf den Weihnachtsmarkt schlich. Überhaupt war nur noch eins für ihn wichtig. Oder besser gesagt zwei Dinge: Bier und Schnaps...
Andere Dinge bedeuteten ihm schon lange nichts mehr, am allerwenigsten Johanna.
Am nächsten Mittag schlenderte das Mädchen durch die Stadt und streifte wie zufällig die Bank, auf der am Tag davor der Alte gesessen und sie so nett angelächelt hatte. Aber heute saß dort keine Menschenseele, die Bank wirkte verlassen und leer, genau wie sie selbst. Traurig ließ Johanna sich auf der kalten Sitzgelegenheit nieder. In ihrem Bauch knurrte, gluckste und rumorte es so laut, dass sie damit ein Tier hätte vertreiben können.
„Das klingt nach verdammt großem Hunger, kleines Fräulein.“ Johanna beschlich eine kleine Hoffnung, diese Stimme kam ihr bekannt vor. Sie schaute auf, direkt in das zwar alte und faltige, aber irgendwie auch gütige Gesicht des Mannes vom Vortag.
„Darf ich?“ fragte er höflich und zeigte auf den Platz neben ihr. Johanna nickte und freute sich so sehr, dass sie strahlte und ihre roten Wangen aufglühten. Wieder trug der alte Mann die grüne Hose und den braunen Pullover. Und er schien noch immer nicht zu frieren. Zumindest verhüllte heute ein schwarzer Schal seinen Hals. Plötzlich rummste es. Ohne jegliche Vorwarnung schmiss sich eine übergewichtige, alte Dame auf ihre Bank. „Was will die denn hier? Die soll weggehen!“ dachte Johanna, verärgert über den Störenfried. Um sich dann gleich darauf für ihre Gedanken zu schämen. „Ich will nach Hause, Bernie. Nur noch nach Hause.“ Die alte Frau atmete schwer ob der Last ihres Gewichtes und des zusätzlichen in Form mehrerer Einkaufstaschen. „Ja doch!“ brummte der Mann genervt. „Ich möchte noch ein bisschen hier sitzen und mich mit meiner kleinen Freundin unterhalten.“ Als er ihrem skeptischen Blick begegnete, sagte er schnell: „Sie hat großen Hunger, musst du wissen.“ Die Alte schnaubte verächtlich. „Dann soll sie nach Hause gehen und etwas essen.“ Und dann zu ihm gewandt: „Komm jetzt endlich. Wir haben für so was keine Zeit. Du weißt doch, dass Störtebeckers nachher zum Kaffee kommen. Und ich muss noch Kuchen besorgen.“ Sie sah ihn noch eindringlicher an. „Wir haben doch keine Zeit, Bernie!“ Mit einem Blick auf Johanna, die ganz still geworden war, schlug er vor: „Pass auf, mein Herz, wir machen es so: du gehst jetzt in aller Ruhe beim Konditor deines Vertrauens eine Torte kaufen, während ich dem hungrigen Mädchen eine saftige Bratwurst mit Senf spendiere.“ Er lächelte besänftigend.
„So verlieren wir keine wertvolle Zeit und alle sind zufrieden.“ Damit nahm er Johanna bei der Hand, küsste seine verdutzte Frau auf die Wange und ließ sie auf der Bank zurück. Am Bratwurstgrill bestellte er das, was das Mädchen begehrte. Johanna hörte die alte Dame immer noch schimpfen. Dennoch lächelte sie und freute sich über die Tatsache, dass es Menschen gab, die auch noch beisammen waren, wenn sie schon alt und faltig sind. Ihre Eltern hatten es leider nicht so lange miteinander ausgehalten.
Es war schön, von der Hand des Mannes gehalten zu werden, es fühlte sich gut an, in seiner warmen, schützenden Handinnenfläche zu ruhen. Ganz anders als der feste Druck, den Papa dabei immer ausübte. Die Hand des Alten war faltig und rau, aber es war wunderbar, gefühlvoll und sicher gehalten und nicht fest
gehalten zu werden. Obwohl ihre kleine, zarte Hand fast in seiner großen Pranke verschwand.
Mit einem Orangensaft und der heißen Bratwurst setzten sie sich auf die wieder Menschenleere Bank, als wäre sie nur für die beiden reserviert. Johanna erzählte zwischen den Bissen von ihrem Zuhause und warum sie so unglücklich war. Sie holte ihre tief vergrabenen Sorgen nach oben und erzählte...
Das machte sie eigentlich nie, nicht mal Frau Raabe, ihre Lieblingslehrerin, wusste über ihren unglücklichen Zustand Bescheid. Aber zu Opa Bernie, wie sie ihn nennen durfte, hatte sie aus unerfindlichen Gründen Vertrauen. Viel zu früh trabte Oma Bernie, mit der Torte vor der üppigen Brust, auf die beiden zu. Johanna seufzte enttäuscht. Bevor seine Frau in Hörweite kam, flüsterte er schnell: „Morgen gegen Mittag warte ich hier auf der Bank. Ich möchte dir etwas zeigen, das wird dir gefallen.“
Johanna konnte nur noch flott nicken, da hörte sie auch schon die schnaufende Alte sagen:
„So Bernie, jetzt haben wir aber wirklich keine Zeit mehr.“ Mit dem Kopf deutete sie auf die Einkaufstüten und bat: „Und bitte nimm mir mal etwas ab, bevor alles noch herunter purzelt.“
Opa und Oma Bernie verabschiedeten sich von dem Mädchen und machten sich samt ihrer Einkäufe auf den Heimweg. Johanna schaute ihnen noch eine Weile hinterher.
„Die Frau vom Weihnachtsmann konnte tatsächlich auch ein bisschen nett sein“, dachte sie vergnügt und machte sich vergnügt hopsend auf den Weg nach Hause. Sie freute sich irrsinnig auf morgen.
Ihr Vater hatte vermutlich nicht mal bemerkt, dass sie fort gegangen war.
Und tatsächlich, er hing schnarchend auf seinem Thron, eine Flasche vom Königsbier in der rechten, die Fernbedienung in der linken Hand. Ein nur allzu bekannter Anblick für das Mädchen, das mit seinen sechs Jahren schon einiges gewohnt war, schon viel zu viel gesehen hatte. Aber was eine Schlampe ist, das wusste sie noch immer nicht. Bevor Johanna in ihr Zimmer ging, nahm sie ihrem Vater die Gegenstände aus der Hand und stellte beides auf den Wohnzimmertisch. Dann malte sie ein paar Bilder und schrieb etwas in ihr Weihnachtsbuch. Wenigstens knurrte ihr Magen nicht mehr, die heiße Bratwurst hatte ihren Hunger vorerst gestillt. Sie konnte schon sehr gut schreiben, obwohl sie erst vor ein paar Monaten eingeschult worden war. Johanna war wirklich etwas Besonderes…
Als die Zeit zum Schlafen nahte, wusch sie sich und putzte ihre Zähne, so wie ihre Mutter es ihr einst beigebracht hatte. In einem schmutzigen Nachthemdchen schlüpfte sie unter ihre ebenfalls verschmutzte Decke und nahm sich vor, Opa Bernie zu fragen, was eine Schlampe ist.
Während Johanna am nächsten, frühen Nachmittag in einen Himmel voller Sterne blickte, verblasste die Wichtigkeit der Frage, die ihr so am Herzen lag, um einige Nuancen. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Das Himmelszelt war rabenschwarz, damit die Sterne sie und Opa Bernie hier unten so richtig anstrahlen konnten. Johannas Bauch kribbelte vor lauter Aufregung, während sie auf dem Boden lag und die Arme unter ihrem Hinterkopf verschränkte.
Es war herrlich! Wunderschön! Sie wollte nie wieder weg von diesem Ort der Magie. Am liebsten hätte sie ihr Bett hierher gebeamt , wie sie es aus der Serie „Enterprise“ kannte. Nur, dass sie dort Menschen beamten und keine Gegenstände.
Hier im Planetarium war es herrlich warm und Johanna zog ihre rote Winterjacke aus. Die sie dann prompt als Kissen umfunktionierte, über das ihre dunklen Locken sich verteilten. Jetzt lag sie herrlich bequem, während ihre Augen in die Unendlichkeit des Alls eintauchten. Vorsichtig schob sie ihre Hand in Opa Bernies große Pranke. Sanft umschloss er sie und schaute Johanna an. „So was Schönes habe ich noch nie gesehen“, schwärmte sie, setzte sich auf und fragte: „Kann man hier auch wohnen, Opa Bernie?“ Der alte Mann lächelte vergnügt. „Nein, Johanna, hier kann man leider nicht wohnen. Aber ich verstehe dich, ich würde hier auch gern leben. Dann könnte ich zu jeder Zeit, wann immer ich wollte, dieses einzigartige Himmelszelt betrachten.“ Mit diesen Worten legte er sich wieder auf den Boden. In Johannas Kopf tauchte wieder dieses Wort auf und nagte an ihr. „Opa Bernie, darf ich dich was fragen?“ Der Alte setzte sich wieder hin und sagte: „Alles, kleines Fräulein.“
„Was ist eine Schlampe?“ fragte sie zaghaft und wich automatisch ein Stück zurück, weil sie doch eine Portion Angst mit dieser Frage verband. Ob Opa Bernie ähnlich wie Papa reagieren würde? Doch stattdessen lächelte er und wollte wissen, woher Johanna diesen Ausdruck kannte.
„Papa hat mal am Telefon zu jemand gesagt, dass Mama eine Schlampe wäre.“ Erwartungsvoll sah sie den Herrn mit dem grauen Haar neben sich an. Der war sichtlich in Verlegenheit geraten und suchte nach den richtigen Worten. „Mama kann ich ja nicht mehr fragen, denn die ist ja weg“, sagte Johanna traurig. Dem Alten tat es im Herzen weh, die Kleine so zu sehen. Da müsste man doch irgendetwas machen können. Dem Mädchen musste geholfen werden. Der Vater hatte offensichtlich ein Alkoholproblem und die Mutter war scheinbar weg und überließ die Kleine sich selbst.
Er entschied sich für eine abgeschwächte Version der Erklärung und sagte, an Johanna gewandt: „Weißt du Kleines, eine Schlampe ist eine Frau, die sehr unordentlich ist und nicht gern aufräumt oder putzt.“
Erstaunt sah das Mädchen hoch. „Das ist alles?“
Der Alte nickte erleichtert, er ging davon aus, dass Johannas Vater diese Betitelung aus ganz anderen Gründen gewählt hatte. Jetzt fiel es Johanna wie Schuppen von den Augen. Deshalb war daheim immer alles so unordentlich gewesen. Wäschestücke lagen überall in der Wohnung verstreut und das schmutzige Geschirr stapelte sich in der Küche. Obwohl sich daran auch nichts geändert hatte, nachdem ihre Mutter verschwunden war. Also musste ihr Vater auch so was wie eine Schlampe sein. Aber das war jetzt unwichtig. Endlich wusste sie, was es mit diesem Wort auf sich hatte. Endlich war ihre Neugierde gestillt! Und endlich konnte sie sich wieder mit anderen Dingen beschäftigen, denn die heißersehnte Antwort hatte sie nun bekommen. Von Opa Bernie, der schon wieder ihre kleine Hand hielt, während sie zurück zum Weihnachtsmarkt und „ihrer“ Bank schlenderten.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Bernie?“ Seine Frau schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Du kannst doch so ein kleines Mädchen nicht adoptieren!“ Das Entsetzen stand ihr mehr als deutlich im Gesicht geschrieben. Ihre rosigen Wangen blähten sich förmlich auf, als sie schrie:
„Wir haben doch gar keine Zeit für ein Kind!“ Jetzt war Bernie entsetzt. „Und warum nicht, Hilde?“
Seufzend nahm er an ihrem ovalförmigen Küchentisch Platz. „Weil du ständig Störtebeckers zum Kaffee einlädst? Oder weil du einmal in der Woche ehrenamtlich in der Kirche tätig bist?“ Er lachte auf.
„Überhaupt, wie vereinbart sich dein Handeln eigentlich mit deiner christlichen Einstellung? Findest du das nicht ein wenig scheinheilig und unmoralisch?“ Er sah sie eindringlich an. „Gerade dir als Ehrenamtliche sollte das Wohl Johannas nicht egal sein.“ Schwerfällig setzte Hilde sich auf den Stuhl gegenüber. Ein tiefes Seufzen entwich ihrer Kehle. „Bernie, ich will dich nicht kränken, aber wir beide sind nun wahrlich zu alt für ein sechsjähriges Mädchen. Das schaffen wir nicht mehr.“ Wenn Bernie tief in sich hineinhorchte, musste er sich eingestehen, dass sie leider nicht ganz Unrecht hatte.
Schweren Herzens verabschiedete er sich von dem längst aufkeimenden Wunsch, auf seine alten Tage noch mal Vater zu werden. „Aber wir überlassen die Kleine nicht einfach ihrem Schicksal, Hilde. Ich will dem Kind helfen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.“ Er erhob sich vom Stuhl und nahm sich einen Kaffee. „Gleich morgen früh werde ich zur Fürsorge gehen.“ Seine Frau nickte bekräftigend. „Heute nennt man das Jugendamt, Bernie“, klärte sie ihn lächelnd auf und nahm seine Hand. „Aber das ist eine gute Idee und ich werde dich begleiten.“
Ein Jahr ist seitdem vergangen. Johanna besucht mittlerweile die zweite Klasse der Grundschule.
Vor einem Dreivierteljahr ist sie in eine gute Pflegefamilie aufgenommen worden, in der sie sich sehr wohlfühlt. Ihr Vater bekam einen Platz in einer Suchtklinik und befindet sich auf einem guten Weg. Er ist jedoch noch lange nicht in der Lage, sich wieder vernünftig um Johanna kümmern zu können. Damit kommt das Mädchen aber erstaunlich gut zurecht und ist glücklich, nicht nur richtige Eltern gefunden zu haben, sondern auch tolle Großeltern.
Hilde und Bernie.
Sie warten bereits an „ihrer“ Bank, der Bank des Schicksals, der Bank, die sie „Johanna“ getauft haben. Und nur einige Minuten später liegen alle drei auf dem weichen Boden des Planetariums und bestaunten zum wiederholten Male das Himmelszelt mit seinen strahlenden Schönheiten.
Ende
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