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Sonnenstadt




Tante Onise hat den Draht aus der Ecke geholt. Während sie laut über mich schimpft, lässt sie ihn prüfend durch die Finger gleiten, auf der Suche nach einer Stelle, die besonders schmerzt. Meine nackten Arme, von blauen Flecken und nur schlecht verheilten Narben fast vollständig übersät, sind auf den dreibeinigen Stuhl gestützt, den ich letzten Sommer gemacht habe.
Ich lausche dem Geräusch der dunkel gefärbten Stimme hinter mir und warte. In wenigen Sekunden wird Tante Onise den Elektrodraht schwingen und ich werde einen neuen Striemen auf der Schulter bekommen. Dann, irgendwann, wird aus dem Striemen eine Furche werden, viele Furchen, aus denen das Blut nur so strömt. Aber das wird bald aufhören. Nach einiger Zeit werde ich die klebrige Flüssigkeit abwaschen können – mit dem Schlamm vor der Hütte.
„Du hast es verdient.“ Tante Onises Stimme reißt mich zurück in die Gegenwart. Sie klingt verdächtig ruhig. Kein wütender oder zorniger Unterton. Nichts. „Du weißt, dass du es verdient hast, Fille, nicht?“
Ich nicke stumm. Keinen Augenblick später schlägt der Draht auf mein rechtes Schulterblatt und ich krümme mich über dem Stuhl zusammen.
„Wie war das? Antworte!“
„Ja, Tante Onise.“
„Ja, was?“
„Ja, Tante Onise. Ich habe es verdient.“
„Was hast du verdient?“
Es ist nicht das erste Mal, dass ich diese Art von Verhör durchmache. Seit ich hier wohne, ist noch kein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht irgendetwas angestellt habe. Nicht gründlich genug den Boden geputzt. Die Schlammkekse zu klein gemacht. Die Suppe zu spät zubereitet.
„Ich habe zu lange gebraucht.“
„Wobei?“ Ich stelle mir vor, wie sich ihre dicken, unförmigen Lippen zu einem genüsslichen Lächeln verziehen, während sie gleichzeitig den Elektrodraht streichelt. Voller Vorfreude.
„Beim Wasserholen, Tante Onise“, flüstere ich und versuche den Gedanken an die nächsten Schläge zu verdrängen. Es wird nicht weh tun. Ich darf einfach nicht daran denken, dann wird es schon nicht weh tun.
Und dann schwingt sie den Draht erneut.


***




„Wann darf ich wieder zurück?“ Die fahlen Höhlen in denen die Augen meines Stiefvaters lagen, sahen mich vollkommen emotionslos an. Er fuhr mit den hageren Fingern durch den langen, struppigen Vollbart, der an seinem Kinn wuchs, bevor er den verkniffenen Mund öffnete.
„Sie werden sich gut um dich kümmern, Tamara. Du wirst in der Stadt wohnen, zur Schule gehen dürfen.“
„Aber wann kann ich –?“
„Deine Mutter und ich sind so stolz auf dich, Tochter“ unterbrach Jacquot mein erneutes Fragen. „Du wirst so viel sehen!“
Seine Stimme bekam einen schwärmerischen Unterton, die schmalen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen – breit und mit schwarzlöchrigen Zähnen – doch sein Blick blieb tot. Leer und wie mit den Augen eines leblosen Fisches gesegnet, glubschte er mich an.
Nach einem kurzen Seitenblick zu meiner Mutter, die ihre Tränen nicht ganz verbergen konnte, beschloss ich, zu schweigen.
Es war besser so.




***




Ich presse die helle Paste im bauchigen Eimer immer und immer wieder zusammen. Der Teig für die Schlammkuchen muss kräftig durchgeknetet werden, bevor er zum Trocknen in die Sonne gelegt wird. Die klebrige Masse hängt überall zwischen meinen Fingern und ich halte kurz inne, um einen Teil abzustreifen. Mein Blick gleitet auf die Welt vor mir, auf die vielen Menschen, bis hin zu unserer Hütte.
Unsere Hütte sieht aus wie alle Hütten. Zusammengezimmert aus all dem Müll in Port-au-Prince ist hier die Cité Soleil mit ihren Wellblechhütten entstanden. Ein Slum. Die Straßen sind vor lauter Dreck kaum noch zu erkennen; überall kauern bettelnde Kinder und Erwachsene, denen es so wie mir – oder schlechter – geht.
Vier Sommer sind vergangen, seit ich meine Familie das letzte Mal gesehen habe. Vier harte, entbehrungsvolle Jahre.
Alle haben mir versprochen, dass ich hier glücklich werde. Alle. Mama. Jacquot. Tante Onise.
Aber jeden Tag muss ich das Haus saubermachen, Essen für Tante Onise kochen und Wasser vom Brunnen holen. Ich bin müde und hungrig. Die Schlammkuchen, die ich jeden Tag backe, machen nicht satt. Lehm, Salz und Butter – das ist ihr Inhalt. Nicht mehr. Sie besänftigen den Schrei des Hungers nur wenige Stunden, aber selbst das ist besser als nichts.
Ich weiß nicht, ob ich glücklich bin. Ich arbeite den ganzen Tag und niemand ist hier, der mich richtig lieb hat. Mama und Jacquot sind nicht ein einziges Mal gekommen und haben mich besucht. Wieso nicht?
Schritte ertönen hinter mir. Ich lege meinen Blick schnell zurück auf die braune Paste im Bottich. Durchkneten, immer weiter durchkneten. Tante Onise soll nicht merken, dass ich eine Pause eingelegt habe.
„Ich bin auf dem Markt. Du machst das hier fertig, fegst das Zimmer, holst zwei Eimer Wasser und machst Essen für die Kinder.“
„Ja, Tante Onise.“ Ich nicke schnell und wende mich dann wieder dem Teig zu. Wenige Sekunden verharrt Tante Onise hinter mir; ich rieche das Misstrauen, das aus all ihren Poren dringt. Dann – entfernen sich die Schritte. Ich atme auf, als ich nichts mehr von Tante Onise höre und erhebe mich.
Jetzt, wo sie weg ist, kann ich endlich zu meinen Schätzen. Sie liegen unter einem alten Stück Karton hinter der Baracke. Dort verstecke ich sie vor Tante Onise.
Ungeduldig und voller Vorfreude zerre ich die Pappe zur Seite und ziehe vorsichtig die alte Schachtel hervor. Fahre zärtlich ihre Konturen nach. Dann greife ich nach dem Schlüssel und drehe ihn zweimal um. Höre das Knacken, als sich das Schloss öffnet und sehe hinein.
Erinnere mich …


***




Behutsam, damit das dünne Papier nicht bricht, rolle ich es auseinander und betrachte die handtellergroße Zeichnung darauf.
Zwei goldene Pfeile sind an der Mitte des runden Kreises befestigt, der merkwürdige Vs, Striche und Kreuze am Rand trägt. Das Ding selbst hängt an einem Holzstück mit spitzem Hut. Ich weiß nicht, was das Bild genau zeigen soll, aber ich mag es. Jedenfalls fast. Mit einem kleinen Stück schwarzer Kohle male ich einen dritten Pfeil zwischen die beiden. Jetzt gefällt es mir.
Rechts von mir ertönt das Grunzen eines Schweines. Es ist schwarz wie der Staub unter meinen Füßen und hat den Kopf tief in einem Müllhaufen vergraben. Ich tue es ihm gleich und werfe mehrere, leere Plastikflaschen zur Seite, bevor mich ein Laut zusammenzucken lässt. Es klingt nach dem Geräusch, das die Rührlöffel von Tante Onise machen, wenn man sie aus Versehen zusammenschlägt.
Ich werfe einen schnellen Blick zur Seite. Das Schwein hat seine Zähne in ein Stück Holz geschlagen und nagt daran herum. Gerade will ich mich wieder zu meinem Müllhaufen umdrehen, als ich bemerke, dass es sich nicht nur um ein kaputtes Holzscheit handelt. Immer öfter höre ich ein hohles Geräusch, das in verschiedenen Höhen auftritt. Fast wie Musik.
Gelangweilt lässt das Schwein nach einiger Zeit vom Holzstück ab und trappelt schwerfüßig davon. Schnell stehe ich auf und trete näher. Vorsichtig stupse ich das seltsame Gebilde vor meinen Füßen mit den Fingern an. Was ist das nur?
Sechs ausgehöhlte Stäbe aus verwittertem Holz, die an dünnen Schnüren von einer einzigen Holzplatte herabhängen. Ich nehme die Platte in die Hand und schaue mir die Röhren noch etwas genauer an. Manche sind dicker, andere dünner; manche länger, andere kürzer. Wieso?
Ein Windstoß lässt mich zusammenfahren. Nicht, weil er meine kurzen Locken berührt, sondern weil er Musik macht. Die Stäbe bewegen sich und schlagen aneinander. Ich lache leise auf, als ich bemerke, dass auch ich Musik machen kann. Mit der freien Hand stoße ich die Holzröhren gegeneinander und lausche den Tönen, die sie machen. Das Schönste, das ich je in meinem Leben gehört habe.
Ich lege die hölzerne Musik auf den bemalten Kreis und suche weiter. Jetzt nicht mehr nach Essen – jetzt suche ich nach einem Eimer, einem Behälter, in welchem ich gefundenen Sachen verstauen kann. Meine Hände graben sich durch abgenagte Knochen und weitere Plastikflaschen und es dauert seine Zeit, bis ich mit dem Ergebnis meiner Suche zufrieden bin.
Es ist kein Eimer. Auch kein Bottich. Es ist eine Art Schachtel aus dunklem Holz, die genau die richtige Größe für meine beiden Schätze besitzt. Mit einem kleinen Schlüssel kann ich die Schachtel verschließen, nachdem ich alles hineingelegt habe.
Ich stehe mit der Schachtel in der Hand auf und gehe den langen Weg zur Hütte zurück. Wenn ich Glück habe, ist Tante Onise noch auf dem Markt und verkauft ihre Holzkohle. Dann gibt es keinen Ärger. Keine Schläge.




***




Wenn ich groß bin, möchte ich auch einen Restavek haben. Meinen Kindern soll es besser gehen. Viel besser. Sie werden Tag und Nacht in meinem Haus wohnen. Nicht bei irgendeiner Tante in der Stadt. Sie werden Besseres als nur Schlammkekse essen. Ich werde Musikerin sein. Mit dem Klang machenden Holz werde ich berühmt werden.

Das weiß ich.


***




Als die Welt untergeht, habe ich die Augen weit geöffnet. Um mich, Dunkelheit. Die Sonne hat sich schon seit einiger Zeit zur Ruhe begeben und so schlafen die meisten Menschen. Nicht ich.
Ich sitze vor unserer Hütte und fege den Boden. Der Dreck wird nie verschwinden, egal wie lange ich kehre. Trotzdem verrichte ich die eintönige Arbeit, die Tante Onise mir aufgetragen hat. Hin und her kratzt der kleine, dünne Besen aus brüchigen Zweigen, die ich zusammen gebunden habe. Der Staub, der dabei aufkommt, bringt mich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr zum Husten. Ich habe mich an ihn gewöhnt.
Die Öllampe neben mir erhellt die Erde kaum. Meine Augen schmerzen schon vom ständigen Zusammenkneifen, aber ich muss weitermachen. Darf nicht aufhören. Muss gehorsam sein. Später, wenn ich fertig gefegt habe, werde ich noch ein bisschen Musik machen. Später, wenn mich niemand hört.

Bubumm.



Die Zeit bleibt stehen.
Die Erde bebt.
Die Öllampe fällt um und erlischt.
Die Wellblechhütten schaukeln.

Bubumm.



Ich falle zu Boden, gemeinsam mit den Hütten, die wie Kartenhäuser in sich zusammensacken. Höre die Schweine grunzen, die Hunde jaulen und die Hähne krähen.
„JESUS! JESUS!“ Kreischen. Gebrüll aus allen Seiten. Blutspritzer. Der Himmel färbt sich grau. Überall Staubwolken. „Herr, komm und rette uns!“ Chaos.
Es hört nicht auf. Es will einfach nicht aufhören. Der Boden bewegt sich immer stärker und ich kann nichts dagegen tun. Ich will aufstehen, aber meine Beine bewegen sich nicht. Wollen sich nicht rühren. Wieso nicht?

Bubumm.



Immer mehr Trümmer. Immer mehr Chaos. Die Menschen um mich herum laufen wild durcheinander. Da – Justine, die Großmutter von gegenüber, den kleinen Emile auf dem Arm. Die tiefen Furchen in ihrem Gesicht haben sich weiter ausgebreitet, werden jedoch von Staub überdeckt. Sie sieht mit schwarzen, großen Augen durch mich hindurch und läuft ebenso wie all die anderen wild schreiend durch die Gegend. Ich sehe Tante Onise und die Kinder, die sich versuchen vor den herabfallenden Trümmern in Sicherheit zu bringen. Wie haben sie es nur aus der Hütte geschafft?
Ein weiteres Mal versuche ich aufzustehen – meine Beine versagen wieder.

Bubumm.



Die Erde wackelt inzwischen nicht mehr. Dafür sehe ich ringsumher nur Entsetzen und Angst. Schreie. Tod.
Kälte durchflutet meinen Körper. Was ist nur los mit mir?
Resigniert lasse ich meinen Kopf zu Boden auf die trockene, staubige Erde fallen. Ich will es zumindest. Stattdessen berührt meine Stirn einen kühlen Gegenstand, der spitz gegen mein Gesicht drückt. Mit letzter Kraft hebe ich den Kopf und schaue auf den kleinen, grauen Schlüssel, der unter mir liegt.
Die Schachtel! Ich habe sie vergessen! Meine Schätze liegen noch hinter dem Karton!
Ich strecke meine Hand nach dem Schlüssel aus und ziehe ihn zu mir. Versenke ihn tief in meiner Armgrube und versuche mich aufzurappeln. Vier Versuche – dann habe ich es geschafft und renne so schnell ich kann hinter die Hütte. Fast alles ist in sich zusammengefallen. Das Bett, in dem Tante Onise und die Kinder sonst immer schlafen, liegt in Trümmern an der einen Seite des Zimmers. Der dreibeinige Stuhl an der anderen. Ich berühre die Holzstücke, in die er zerbrochen ist, kurz, bevor ich weitergehe.
Das Chaos setzt sich auch hinter der Hütte fort.
„MAMA!“ Wild durcheinander wird nach Familie und Freunden geschrien. Der kleine Junge, der nur wenig von mir entfernt steht, macht da keine Ausnahme. Während ich mich durch die Trümmer zwänge, hebt er die Arme über den Kopf und ruft wie ein Wahnsinniger nach seiner Mutter.
Mama. Wo ist meine Mama? Ob es ihr gut geht? Ob es all den anderen gut geht?
Ich versuche meine panischen Gedanken zu beruhigen. Mama und Jacquot wird nichts passiert sein. Im Dorf wird man nichts von der Erschütterung gespürt haben. Allen geht es gut.
Kurz atme ich durch, dann fasse ich nach dem Karton, der wie durch ein Wunder aufrecht stehen geblieben ist. Ich ziehe ihn zur Seite und reiße die Kiste an mich. Für einen Moment vergesse ich das Gebrüll der Menschen. Für einen Augenblick denke ich an gar nichts. Halte die Schachtel beschützend im Arm und streichele sie.

Bubumm.



Schmerz.

Bubumm.



Spüre, wie etwas Hartes gegen meinen Rücken schlägt.

Bubumm.



Für einen Moment tut es weh, ein stechender Schmerz fährt mir in den Körper, dann fühle ich nichts mehr.

Bubumm.



Falle nach vorne.

Bubumm.



Schwärze.


***




„Es ist beileibe kein schöner Anblick.“ Der hochwüchsige Journalist hält das Mikrofon dicht an seine Lippen, während er mit starrem Gesicht in die Kamera blickt.
„Die Menschen in Haiti haben alles verloren. Das Erdbeben der Stärke 7 hat unzählige Häuser und Straßen zerstört, selbst der Präsidentenpalast ist nicht verschont geblieben. Überall liegen Leichen zwischen den Trümmern, Menschen suchen nach ihren Familien, graben nach Verschüttungsopfern. Es ist eine Katastrophe für das Land, das schon vor dem Erdbeben kaum an Reichtum besaß und als das Armenhaus Amerikas bezeichnet wird. Die Zahl der Toten ist noch nicht bestätigt, man rechnet jedoch mit Hunderttausenden. US-Präsident Obama hat den Erdbebenopfern bereits Hilfe zugesichert, ebenso wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, inwieweit die gesammelten Spenden beim Wiederaufbau helfen.“
„Und das war‘s. Sehr gut, Kurt. Die Meldung steht.“ Zufrieden klatscht der Kameramann in die Hände und nickt. Kurt legt das Mikrofon aus der Hand und eilt davon. Den erbärmlichen Gestank nach Blut und Eiter hält er einfach nicht mehr aus. Wenige Meter weiter lehnt er sich über einen großen Trümmerhaufen. Will seinen Mageninhalt auskippen. Doch stattdessen runzelt er die Stirn. Auch hier. Das hat ja einfach sein müssen.
„Kann man denn nirgendwo in dieser gottverdammten Stadt seine Ruhe haben? Muss überall ein Toter liegen?“
Verärgert will er sich umdrehen, da bemerkt er einen silbernen Schimmer, gefolgt von einem Klimpern. Metall? Schmuck? Geld? Aber wieso hier in dem größten Armenviertel Haitis?
Kurt kniet sich auf einen Stuhl aus brüchigem Holz und fasst vorsichtig nach dem glänzenden Etwas. Gerade, als er es erhascht hat, greift eine Hand nach seinem Unterarm und hält ihn fest.
„Was…?“ Er möchte die Hand wieder abschütteln, doch ihr Griff ist zu fest. Klein, ist sie. Klein und schwarz wie Kohle. Sie guckt unter einem Haufen aus Steinen und Wellblechen hervor. Kurz zögert Kurt – dann wuchtet er mit der anderen Hand einen Teil des Gerölls zur Seite. Erblickt immer mehr vom Gesicht eines kleinen Mädchens – dem Aussehen nach erst acht oder neun Jahre alt. Doch Kurt weiß, dass der Schein trügt. In Haiti sind die meisten Menschen so unterernährt, dass sie häufig jünger wirken, als sie eigentlich sind. Vielleicht ist das Mädchen auch schon zwölf.
Das Kleid zerrissen und voller Dreck. Die Unterarme mit Narben und blauen Flecken bedeckt. Die Augen groß vor Hunger. Das Mädchen atmet schnell, schaut aufgeregt zu seiner Hand und nuschelt irgendetwas Unverständliches. Kreolisches Gebrabbel, das so undeutlich ist, dass er keine Silbe versteht. Auch das Mädchen scheint dies zu bemerken, denn urplötzlich wird es ganz still. Deutet nur noch auf den Schlüssel und auf etwas unter sich.
Kurt klettert näher. Tatsächlich! Unter der Brust des Mädchens befindet sich eine Schatulle, nicht größer als ein Din-A4-Papier. Vorsichtig zieht er sie unter dem Mädchen hervor, das dabei nur einen leisen Schmerzenslaut von sich gibt. Als er sie in der Hand hält, beäugt er sie misstrauisch. Sieht ganz normal aus. Nichts Besonderes. Ein altes Kästchen eben. Verschlossen. Er rüttelt ein wenig daran, aber der Kasten ist stabil. Nichts rührt sich.
Erregt deutet das Mädchen auf seine andere Hand. Er öffnet sie. Ein grauer Schlüssel. Ob er…?
Ja. Er passt in das Schlüsselloch. Ein Knirschen ertönt, als er ihn zweimal im Schloss herumdreht, dann schwingt die Hälfte der Schatulle nach oben. Das Mädchen lächelt, als Kurt ein abgenutztes, hölzernes Windglockenspiel hervorholt. Ein Windglockenspiel! Hier … in Haiti! Er entlockt dem Instrument ein paar hohle Töne und beobachtet mit steigender Freude, wie das Mädchen die Augen schließt und dabei leise summt.
Einige Minuten geht das so. Der hellhäutige Europäer spielt dem schwarzen Mädchen aus Haiti zusammenhanglose Laute auf einem Windglockenspiel vor. Immer wieder schlagen dessen Röhren gegeneinander und Kurt fühlt sich beinahe wie ein Hexer, der einen Schlafzauber anwendet. Er schüttelt belustigt den Kopf und legt dann das Windspiel zur Seite, in die ausgestreckte Hand des Mädchens.
Die Schatulle birgt noch ein anderes Geheimnis. Sehr zerknittert, aber noch heil: ein kleines Stück Papier. Das schwarz-weiße Abbild einer alten Turmuhr. Ihre römischen Ziffern sind gut zu erkennen, ebenso wie das Kirchendach, an dem die Uhr befestigt ist. Nur ein sehr verwischter, dritter Zeiger, der mehr wie ein Pfeil aussieht, stört das harmonische Bild. Kurt streicht vorsichtig darüber. Kohle. Ob etwa das Mädchen in seiner Unwissenheit…?
Er wirft einen Blick neben sich. Das Kind hält immer noch die Augen geschlossen. Schläft es? Er klopft behutsam an die Stirn des Mädchens, kneift ihm in den Arm – doch nichts rührt sich. Kurt erstarrt. In der kurzen Zeit kann es doch nicht…! Nein, niemals! Er versucht es mit stärkeren Berührungen, stößt das Mädchen heftig in die Schulter.
Erst, als er den dünnen Blutfaden bemerkt, der aus dem Mundwinkel des Mädchens kommt, hält er inne. Es ist zu spät.
Mutlos rappelt er sich auf. Will die Schatulle, das Windglockenspiel und die Zeichnung mitnehmen. Dann, nach einem weiteren Blick auf das tote Mädchen seitlich von ihm, überlegt er es sich anders. Füllt die Schatulle wieder mit den Gegenständen. Schließt sie ab. Legt das Kästchen in den Arm und den Schlüssel in die Hand des Kindes.
Kurz fährt er mit den Fingern über das dreckige, abgemagerte Gesicht des Mädchens. Streicht durch die kurzen, harten Locken. Dann – lässt er los.
Geht.
Den harten Weg zurück.
Dorthin, wo das Schicksal eines einzigen, haitianischen Mädchens völlig belanglos ist.

In die Realität.


Nachwort




Kaum jemand weiß von ihnen, doch es gibt sie in großer Zahl. Über 300.000 Restaveks soll es in ganz Haiti geben. Tendenz steigend.
Das Wort „Restavek“ kommt ursprünglich aus dem Französischen („rester avec“ – „bei jmd. bleiben“) und ist eigentlich nichts anderes als eine harmlose Umschreibung für das Wort „Sklavenkind“.
Seit mehr als 200 Jahren herrscht in Haiti nun die Tradition des Kinder-Weggebens. Verarmten Landbauern wird Schulbildung, Essen und gute Unterkunft für ihre Kinder versprochen.
Tatsächlich aber müssen die Kinder schwerste Arbeiten verrichten und werden sehr oft misshandelt.
Grund für das Existieren der Restaveks ist der Westen, der Haiti komplett von sich abhängig gemacht hat. Einst war das Land eine der reichsten französischen Kolonien mit fruchtbaren Böden – heutzutage jedoch ist davon nicht mehr viel übrig. Haiti importiert sogar den Lehm, der für die Herstellung der Schlammkekse benötigt wird!
Bei den heutigen Diskussionen um Geld und Finanzprobleme (insbesondere der USA) wird häufig vergessen, dass die Erde auch noch eine andere Hälfte besitzt.
Es gibt Kinder, die von der Hand in den Mund leben. Es gibt Menschen auf der Welt, die nicht drei Autos oder fünf Handys besitzen und trotzdem zurechtkommen.

Menschenleben sollten auch in der Wirklichkeit wichtiger als Kapitalismus und Marktwirtschaft sein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011

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