Versteinerte Zeit
Die Schläge der Turmuhr von Santa Isabella weckten Alfred Düsterwald. Der Dschungel hatte wieder zu ihm gesprochen, ihm zugeraunt: Dring nicht tiefer vor. Lass ruhen, worüber ich in meiner Weisheit meine Zweige gebreitet habe.
Noch hatte er ihn nicht verschluckt – auch Evelyn nicht. Ein unendliches Gefühl der Dankbarkeit ergriff Alfred. Sie stand neben dem Fenster, hatte das Windspiel abgenommen und brachte mit ihren schmalen Händen die hölzernen Stäbe zum Klingen. Zart und schlank wie eine Elfe war sie, gleich würde er aufstehen, sie in die Arme nehmen, über ihr blondes Haar streichen und ihre weiche Haut an seinen Lippen spüren. Aber halt, warum sah er sie nur verschwommen, warum gehorchte ihm sein Körper nicht, als er aus dem Sessel aufspringen wollte? Er hatte keine Kraft, seine Knochen knackten bei jeder Bewegung, und dann überwältigte ihn die Erkenntnis zusammen mit einem quälenden Hustenanfall: Er war 87 Jahre alt, die Turmuhr war nicht die von Santa Isabella, sondern die der Vorstadtpfarrei St. Leopold neben der gleichnamigen Seniorenwohnanlage, und das Mädchen am Fenster war auch nicht seine Evelyn.
Die junge Frau wandte sich erschrocken, wie bei etwas ertappt, um. Die Turmuhr tat ihren letzten Schlag und man hörte nur noch die Klänge des Windspiels in dem nach Medikamenten riechenden Raum. Und das rasselnde Geräusch seines Atems war noch da. Es war so schwer geworden, die Luft in die Lungen zu ziehen und wieder auszustoßen.
„Entschuldigung, Sie waren plötzlich eingeschlafen, vor ein paar Minuten, und da wollte ich ...“
„Ich schlafe bald für immer, da hättest du mich ruhig wecken können. Wo waren wir stehengeblieben ... Aurelia?“
„Laura. Ich heiße Laura.“
„Laura, ja. Weißt du, dass du Evelyn zum Verwechseln ähnlich siehst?“
„Ja. Oma hat mir oft Fotos von ihr gezeigt. Sie hat ihre Schwester sehr geliebt. Ihr Hochzeitsfoto hatte sie auch. Sie beide waren ein sehr schönes Paar.“
„Hatte sie meinen Kopf nicht rausgeschnitten?“
„Nein, warum sollte sie denn? Oma hat nie schlecht von Ihnen geredet. Durch sie bin ich doch erst auf die Idee gekommen, Ihre Aufzeichnungen zu lesen, die leider nie die verdiente Würdigung erhalten haben.“
Alfred wollte laut auflachen, doch es wurde wieder nur ein schmerzhafter Hustenanfall daraus.
„Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen oder nach einer Pflegerin klingeln?“
Er wies mit seiner zittrigen Hand auf das Wasserglas neben der Nachttischlampe, wehrte aber die Frage nach der Klingel mit heftigem Kopfschütteln ab.
„Lügen lohnen sich für mich nicht mehr, mein Kind“, fuhr Alfred fort, nachdem er seine Kehle befeuchtet hatte. „Auch keine gut gemeinten. Ich weiß, dass sie mich gehasst hat, weil ich ihre kleine Schwester mit nach Mittelamerika genommen habe. Und recht hatte sie: Sie hatte dort nichts zu suchen, diese zarte blonde Elfe. Sie war für luftige Tannenhaine geschaffen und nicht für feuchte, schwere Dschungelluft, in der es von Fieberkeimen wimmelt.“
Eine Weile herrschte völlige Stille. Nur das Windspiel vibrierte noch ein wenig.
„Die Zeichen auf den Holzstäben“, hob Laura an, „sie erinnern entfernt an die Kalenderzeichen der Maya, aber sie unterscheiden sich. Sie sind von einer älteren Kultur, nicht wahr, den ...“
„Tloacté“, ergänzte Alfred. „Das Geistervolk, das nur in der Fantasie von Dr. Alfred Düsterwald existiert, einst vielversprechender Archäologe, aber dann verschlang der Urwald seine junge Frau und seinen Verstand gleich mit. Wirres Gerede von zerschlagenen Steinfiguren und Vollmondmagie. Weißt du, dass sich nur noch esoterische Weltuntergangsspinner für mich interessieren?“
„Nein, Herr Düsterwald. Die Forschung wird Sie rehabilitieren. Ich selbst studiere im fünften Semester Archäologie und habe Ihre Berechnungen genau geprüft. Ich will ...“
„Du bist genauso hartnäckig wie Evelyn. Richtig besessen war sie von dieser Stadt, die wir damals im Dschungel ausgruben. Stundenlang hat sie diese Steinfiguren betrachtet und darüber sinniert, warum man sie zerschlagen hatte, so dass Kopf und Körper sauber getrennt waren. Dabei war sie gar keine Archäologin. Sie wollte mich einfach nur begleiten.“
„Und sie war es auch, die diesen Pater dazu gebracht hat, Ihnen das Geheimnis der Turmuhr anzuvertrauen“, warf Laura ein.
Alfred spürte einen kalten Schauder in allen Gliedern.
„Woher weißt du das von der Turmuhr? Ich habe es nirgends aufgeschrieben, weil sie mich dann ins Irrenhaus eingewiesen hätten.“
„Sie haben vorhin davon angefangen, kurz bevor Sie eingenickt sind.“
Resigniert schloss der alte Mann die Augen. Er erinnerte sich nicht mehr an das, was er vor einer Viertelstunde gesagt hatte, aber die Ereignisse des Jahres 1958 waren ihm mit grausamer Klarheit präsent. Nun denn, vielleicht hatte er alles schon einer der Pflegerinnen vorgelallt und wusste es nur nicht mehr. Dann konnte er es diesem neugierigen Gör auch erzählen.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Düsterwald, ich möchte, dass Ihr Bericht der Nachwelt erhalten bleibt.“
Er schnalzte nur gleichgültig mit der Zunge, als sie ihm verlegen lächelnd eines dieser unsäglichen elektronischen Geräte unter die Nase hielt, mit denen die jungen Leute heutzutage verwachsen sind. Warum sollte er das Geheimnis mit ins Grab nehmen? Und im Nachhinein war es auch egal, ob sie ihn für verrückt erklärten oder nicht.
„Der Dschungel hält wohl auch heute noch viele Geheimnisse mit tausenden seiner Schlingpflanzenarme fest und hat Insekten, Schlangen und Krankheitskeime als Wächter aufgestellt. Die Ruinen, die wir ausgraben sollten, waren gar nicht mal so tief verborgen. Vom Dorf Santa Isabella aus waren sie in einer Stunde zu Fuß zu erreichen. Einheimische halfen uns, Schneisen in das Dickicht zu schlagen und die seit Jahrhunderten überwucherten Gebäude zu befreien. Es waren einfache Menschen. Um das Jahr 1600 hatten ihre Vorfahren unter der Fuchtel spanischer Missionare die alte Stufenpyramide abgerissen und aus ihren Steinen eine Kirche errichtet. Aus der Erdgöttin Ixchaltab wurde die heilige Isabella. Die kleine Kirche war weder ein architektonisches Meisterwerk noch barg sie wertvolle Schätze. Aber da war diese Turmuhr. Meistens tat sie ihre Pflicht ganz normal, schlug zur vollen und halben Stunde, und die Indios wussten, wann sie dem fremden Gott, seinem Sohn und seinen Heiligen Reverenz zu erweisen hatten. Doch es gab eine Legende: In bestimmten Vollmondnächten änderte die Uhr ihre Laufrichtung. Sobald der Mond die Landschaft mit seinem silbernen Licht erhellte, begannen sich die Zeiger rückwärts zu bewegen, schneller als normal, bis zum Ende der Nacht. Dann waren die Zeiger wieder an ihrem ursprünglichen Ort angelangt. Jedes Mal, wenn das der Fall war, brach Panik im Dorf aus, die christianisierten Indios fielen wieder in die abergläubische Furcht heidnischer Zeiten zurück, und es endete stets damit, dass einige Menschen spurlos verschwanden.“
„Weil die Göttin Opfer forderte“, fiel Laura atemlos ein. Alfred spürte einen Stich im Herzen, denn fast dieselben Worte hatte Evelyn vor mehr als fünfzig Jahren mit dem gleichen Enthusiasmus ausgesprochen.
„Das, mein Kind, ist ein naheliegender Verdacht. Pyramiden waren in der Tat oft Schauplatz blutiger Menschenopfer, die in einem genau berechneten Intervall stattfanden. Aber ich als junger Wissenschaftler tat es als Aberglauben ab. Wenn da nicht Pater Ignacio, der Pfarrer von Santa Isabella, gewesen wäre, ein düsterer Mann und fanatischer Gelehrter. Er interessierte sich sehr für die Ruinen und begleitete uns oft in den Dschungel zu der Ausgrabungsstätte. Dass es sich um heidnische Heiligtümer handelte, schien ihn nicht weiter zu stören. In jahrelanger Arbeit hatte er die Aufzeichnungen seiner Vorgänger gelesen und mit den Dorfältesten gesprochen. Evelyn unterhielt sich viel mit ihm und ihr gelang es, sein Vertrauen zu gewinnen. So erzählte er uns, dass er meinte, den Zeitpunkt zu kennen, an dem es das nächste Mal so weit wäre. Der Kalender der Maya, die dieses Land lange Zeit beherrscht hatten, folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als der gregorianische, deshalb ist der Zyklus für uns nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Manchmal waren es 63 Jahre, dann wieder 78, dann wieder nur 52. Auch die Monate und Tage waren ganz unterschiedlich. Nur der Vollmond – der war die bleibende Konstante.“
Das Mädchen nickte ungeduldig. Natürlich kannte sie die Berechnungen. „4. Februar 1958“, sagte sie wie auf die Prüfungsfrage ihres Professors.
Alfred nahm noch einen Schluck Wasser und versank in der Vergangenheit. Er spürte, wie sich das silberne Mondlicht um seinen Körper schmiegte, fühlte Evelyns Hand in der seinen und sah Pater Ignacios schlanke, asketische Gestalt vor dem Kirchturm. Der Priester hielt ein Bündel aus hölzernen Stäben in der Hand, auf denen alte Schriftzeichen zu sehen waren. Die Indios hatten alle ähnliche Konstruktionen an ihren Dächern hängen, die schon bei leichtem Wind melancholische Töne erzeugten. War es nur Schmuck oder nicht doch eine Art Zauber, um böse Geister abzuwehren? Nicht zum ersten Mal fragte sich Alfred, ob der Gottesmann nicht längst der Magie dieses Landes erlegen war und insgeheim den alten Göttern huldigte.
Der Druck von Evelyns Hand wurde immer stärker, während das Mondlicht auf die Turmuhr zufloss. Als es die XII erreichte, verschmolzen Alfred, Evelyn und Pater Ignacio zu einem Wesen. Ihre Atemzüge und Herzschläge setzten einen Moment lang aus und erwachten gemeinsam mit den Schlägen der Turmuhr in neuem Takt wieder zum Leben. Folgerichtig begann sich der Minutenzeiger der Uhr langsam rückwärts zu bewegen, und auch die kleine Prozession bewegte sich rückwärts in der Zeit, ließ das Dorf hinter sich, dem die Zivilisation des Abendlandes nur wie ein lockerer Umhang übergeworfen worden war, den es jederzeit wieder abstreifen konnte, und bewegte sich in Richtung des uralten Dschungels. Um sie herum blieb alles still. Keine hysterischen Schreie ertönten aus den Hütten. Die Indios schliefen oder lagen wach in ihren Betten und beteten, die Erdgöttin Ixchaltab möge sie verschonen.
Pater Ignacio ging voran, Alfred und Evelyn folgten Hand in Hand, so als würden sie noch einmal wie bei ihrer Hochzeit den Kirchengang hinauf zum Altar hinanschreiten. Nur war Alfred nicht der Bräutigam, sondern er führte die Braut einem Ritual zu, das keiner von ihnen kannte. Das Mondlicht erhellte den Weg, lenkte ihre Schritte sicher über Wurzeln und Stämme, und die Tiere, denen der Urwald nachts gehörte, hielten sich in respektvoller Entfernung.
Als Alfred die Ruinen vor sich sah, schreckte er aus seinem willenlosen Zustand hoch. Das Klimpern der Holzstäbe in Pater Ignacios Händen, vermischt mit den Geräuschen des Dschungels, klang wie der Gesang toter Seelen, und er dachte an die Steinfiguren, die sicher wieder zum Leben erwacht waren. Er wollte Evelyns Hand drücken und bemerkte zu seinem Entsetzen, dass sie nicht mehr an seiner Seite war. Um ihn herum herrschte Schwärze, doch ein Strahl Mondlicht erleuchtete die Stufen der verfallenen Pyramide, auf der Evelyn stand. Nie zuvor hatte ihr elfengleiches Gesicht so schön ausgesehen und nirgendwo hatte es je so fehl am Platz gewirkt. Als würde die Erdgöttin Ixchaltab selbst sich über diesen Frevel empören und dieses fremdartige Opfer zurückweisen, begann sie zu erbeben, doch auch sie konnte ihren Priester Ignacio nicht mehr von seiner Tat abhalten: Während Alfred sich zu Boden warf, um einem der herunterbrechenden Steine auszuweichen, legte der schwarz gekleidete Pater den Arm von hinten um Evelyns Hals und brach ihr das Genick.
„Ruhig, Herr Düsterwald, ruhig! Es war nur ein Traum.“
Alfred schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht seiner Pflegerin, einer kräftigen Frau, die ihn mit professioneller Freundlichkeit anlächelte.
„Sie sind in Ihrem Sessel eingeschlafen. Kommen Sie, wir legen Sie jetzt ins Bett.“
„Ist sie schon weg?“
„Wer?“
„Evelyn, nein, Aurelia, nein, sie hieß ... ich weiß nicht mehr, aber sie sah aus wie Evelyn.“
„Sie haben geträumt Herr Düsterwald. Hier, nehmen Sie Ihre Tabletten.“
„Schwester, könnten Sie mir einen Gefallen tun?“
„Ja, bitte?“
„Könnten Sie mir bitte die kleine Schatulle aus der Schublade im Nachttisch holen? Sie muss ganz hinten sein.“
Die Pflegerin öffnete die Schublade, wühlte darin herum und zuckte die Schultern. „Tut mir leid, Herr Düsterwald, da ist keine Schatulle. Kommen Sie, wir legen Sie jetzt ins Bett.“
Als Alfred im Bett lag, ging sein Blick sofort zum Fenster, wo das Windspiel hing. Doch es war fort, einfach fort. Dann erinnerte er sich wieder, wie Evelyn am Fenster gestanden und die hölzernen Stäbe berührt hatte. Natürlich, das ergab Sinn, auch dass die Schatulle nicht mehr da war. Sie war gekommen, um ihn zu holen. Gleich würde er bei ihr sein. Beruhigt schloss er die Augen.
Wütend auf sich selbst legte Laura das Stemmeisen hin. Natürlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Es gehörte sich einfach nicht, einen alten, todgeweihten Mann zu bestehlen.
Aber sie hatte sich vorgenommen zu klären, was aus ihrer Großtante Evelyn geworden war, und hatte diesen Alfred sehen wollen, den ihre Oma so sehr gehasst hatte, weil sie ihn als Mörder ihrer Schwester betrachtete. Die Zeichen auf dem Windspiel interessieren sie wirklich. Sie wollte sie von ihrem Professor analysieren lassen. Der Alte würde bestimmt gar nicht merken, dass es weg war.
Vielleicht war er ja wirklich unschuldig. Tatsache war, dass in der Vollmondnacht vom 4. Februar 1958 ein Erdbeben das Dorf Santa Isabella samt seiner Kirche zerstört hatte. Alle Mitglieder des deutschen Ausgrabungsteams waren dabei ums Leben gekommen, bis auf den Leiter Alfred Düsterwald, der sich aus unerfindlichen Gründen mit dem Pfarrer im Dschungel herumgetrieben hatte. Letzterer war von einem Stein aus den Ruinen erschlagen worden, der sich durch das Beben gelöst hatte. Evelyns Leiche wurde nie gefunden.
Das, was er zum Schluss in ihr Smartphone genuschelt hatte, war nur zur Hälfte zu verstehen gewesen. Sie würde es sich später noch einmal genau anhören, jetzt wollte sie erst einmal wissen, was in der verschlossenen Schatulle war. Der Alte hatte während seiner Erzählung begonnen, verstört mit den Händen zu fuchteln, und hatte immer wieder auf den Nachttisch gezeigt, so dass sie sofort in dessen Schublade nachgesehen hatte, als er wieder eingenickt war.
Jetzt verfluchte sie sich dafür, dass sie nicht auch noch nach dem Schlüssel gesucht hatte. Die Schatulle war verdammt schwer zu öffnen. Als der Deckel dann endlich doch unter dem Stemmeisen nachgab, war sie zunächst maßlos enttäuscht. Alles, was sie sah, war eine in zwei Teile zerbrochene Steinfigur, wie man sie zu Dutzenden in jedem archäologischen Museum findet. Erst als sie den abgetrennten Kopf näher betrachtete, kroch langsam ein Gefühl der Kälte in ihre Knochen. Denn das war kein indianisches Gesicht mit mandelförmigen Augen und hohen, ausgeprägten Wangenknochen, sondern es trug die zarten Züge einer Elfe – und für einen grauenhaften Moment glaubte Laura sogar, sie sähe sich selbst in der Schatulle liegen.
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011
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