Cover

Der Fluch



Durst. Hunger. Müde und erschöpft schleppt sich der alte Mann mit den tiefen Furchen im Gesicht vorwärts. Seit Tagen hat er auf seiner mühsamen Wanderschaft in dieser Einöde keine Menschenseele mehr gesehen. Seine Gedanken zerfallen wie Staub. Seine Gefühle hat er unterwegs verloren. Nur der Überlebensinstinkt treibt ihn vorwärts.

Er schwankt und stolpert. Nur nicht fallen. Er darf nicht fallen! Wie sollte er dann wieder aufstehen können? Die Schwäche will ihn doch schon jetzt übermannen. Er darf nicht stehen bleiben. Er muss weiter. Er hat keine Wahl. Irgendwo muss es doch Wasser, Nahrung und einen schönen Platz zum Ausruhen geben.

Er keucht, seufzt und hält doch einen Moment inne. Er wirft sein langes, graues Haar nach hinten. Sein trüber Blick schweift umher. Er geht langsam weiter. Da sieht er in der Ferne auf einer Anhöhe einen Kirchturm! Er rafft sein karges Bündel zusammen und beschleunigt seinen Schritt.

Der Weg ist noch weit, aber seine Schritte werden immer schneller und leichter. Er fühlt sich gestärkt. Durst und Hunger sind verschwunden. Die Müdigkeit ist der Aufregung gewichen. Seine gebeugten Schultern richten sich auf. Sein Blick wird hell und klar. Seine Arme holen schwungvoll aus. Seine Beine laufen kraftvoll. Große Freude erfüllt sein Herz. Das Ziel ist sein einziger Gedanke. Er kommt näher und näher.

Er rennt und rennt. Sein langes, schwarzes Haar fällt ihm in die Stirn. Sein glattes Gesicht strahlt. Er rennt und rennt. Atemlos und doch atemvoll. Er stolpert über seine Hosenbeine. Er sieht nur sein Ziel. So nah und greifbar. Geschafft!

Der Junge bleibt verwundert stehen. Oben auf der Brüstung des alten Kirchturms steht eine Gestalt. Ihre blonden Locken und ihr weißes Kleid flattern im Wind. Sie presst ihre Hände auf ihre Ohren.

Es ist still. Die alte Turmuhr schlägt nicht. Warum hält sie sich die Ohren zu? Er schaut angestrengt nach oben. Die alte Turmuhr läuft rückwärts! Die Zeiger drehen sich sehr schnell gegen den Uhrzeigersinn. Der Junge staunt und schaut sich um. Hinter der Kirche stehen einige verfallene Häuser. Die alte Kirche scheint Sturm und Regen zu trotzen. Der Turm ragt stolz in den Himmel.

Der Junge läuft um die Kirche herum, findet eine geschlossene Tür und versucht zunächst vergeblich diese zu öffnen. Er stemmt sich mit aller Kraft dagegen und schließlich gibt sie nach. Er hastet durch den Innenraum, entdeckt eine massive Wendeltreppe, eilt die Stufen empor und steht vor einer jungen Frau.

Ihre Augen sind geschlossen und ihre Haltung ist verkrampft. Sie presst immer noch ihre Hände auf ihre Ohren. Um den Hals trägt sie eine merkwürdige, große Kette. Mehrere Püppchen mit roten Köpfen baumeln daran.

Er spricht sie an. Er ruft. Sie reagiert nicht. Da fasst er ganz behutsam ihre Hände und streichelt sie sanft. Die junge Frau öffnet endlich ihre Augen. Blaue Augen, die ihn skeptisch mustern. Dann lächelt sie. Sie lässt ihre Hände in seine Hände fallen und verzieht kurz schmerzhaft ihr Gesicht. Dann greift sie zu der großen Kette, nimmt sie ab und legt sie auf den Steinboden. Ihr Gesicht entspannt sich. Sie lächelt wieder, schaut ihm tief in die Augen und sagt: "Wilhelm, du bist endlich gekommen. Du hast mich gerettet!" Der Junge ist verwirrt. "Warum nennst du mich Wilhelm? Wer bist du?" "Ich bin Alexandra." Sorgenvoll betrachtet sie ihn und spricht weiter: "Es ist höchste Zeit. Du bist schon so schrecklich jung. Wir müssen uns beeilen, sonst bist du verloren." Sie umarmt ihn, lässt ihn wieder los und zeigt auf die alte Turmuhr. Der Junge fragt: "Warum laufen die Zeiger rückwärts?"

Alexandra streicht ihm liebevoll über sein Haar. "Du wirst gleich alles verstehen. Wo ist deine Schatulle?" Er blickt sie verständnislos an. Sie zeigt aufmunternd auf sein Bündel. Er schaut hinein und findet darin eine schmale, silberne Schatulle. "Sie ist verschlossen." Er durchwühlt sein Bündel aufgeregt. Alexandra beruhigt ihn. "Ich bin der Schlüssel und werde sie für dich öffnen. In dieser Schatulle sind deine Erinnerungen aufbewahrt." Zögernd überreicht der Junge ihr die Schatulle. Sie legt sanft ihren Zeigefinger auf das Schloss und die Schatulle springt auf. Sie ist leer. Enttäuscht sieht der Junge Alexandra an. Sie deutet ihm, weiter in die Schatulle zu schauen und plötzlich trifft den Jungen die Erkenntnis.

Wilhelm. Sein Name ist Wilhelm. Alexandra! Heimliche Küsse an versteckten Orten. Leidenschaft in ihrer Kammer. Das hölzerne Windspiel vor ihrer Tür schützte vor Entdeckung! Wenn die Püppchen erklangen, versteckte er sich vor ihrem Vater. Alexandra war einem Herzog versprochen. Die gemeinsame Flucht. Die Häscher ihres zornigen Vaters. Die Gefangennahme. Die Trennung. Die Jahrzehnte im Kerker. Hoffnungslosigkeit. Sehnsucht. Traurigkeit. Verbitterung. Verzweiflung. Dann das Erbarmen des neuen Herrschers. Freiheit! Die lange Suche nach Alexandra. Die silberne Schatulle, Alexandras Geschenk, das er in all den schweren Jahren immer unter seinem Wams verborgen hatte.

Wilhelm taucht in Alexandras Augen ein und sieht ihre Erinnerungen. Die Verbannung in ein fernes Land. Die Drohungen. Ihre Verweigerung. Der Fluch! Ihr Vater verfluchte in seinem unerbittlichem Groll das ganze Land! Die Menschen verschwanden. Alexandras Schutz war das Windspiel, das sie seit der gemeinsam Flucht immer bei sich trug.

Jetzt liegt das Windspiel auf dem Steinboden. Aufgewühlt und verwirrt will Wilhelm danach greifen. "Warte, fass es noch nicht an", sagt Alexandra. "Es hat Macht über die alte Turmuhr. Hier auf dem Turm hält es für dich die Zeit an. Es kann nur einen Menschen schützen." "Dann nimm du es!", ruft Wilhelm erschrocken. "Ich brauche es nicht mehr. Du hast mich gerettet! Höre mir gut zu", sagt Alexandra beruhigend. "Mir wurde geweissagt, dass ich weiter leben kann, wenn ein anderer meinen Platz hier auf dem Turm einnimmt. Meine Erinnerungen habe ich zu deinen Erinnerungen in die Schatulle gelegt. Pass gut auf sie auf. Das Windspiel wird dich schützen, aber du wirst ständig die Glockenschläge der Turmuhr hören. Du musst hier bleiben. Ich werde einen Weg finden, dich zu erlösen. Vertraue auf Gott. Wir werden wieder zusammen sein." Wilhelm, der immer kleiner wird, nickt traurig. Alexandra legt ihm das Windspiel um den Hals, umarmt und küsst ihn und eilt zur Wendeltreppe.

Ein kleiner Junge steht auf dem Turm. Er presst seine Hände auf seine Ohren.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /