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Der verlorene Schlüssel oder manchmal wird Mut belohnt



Die schrillen Freudenschreie von Leander und Laura hallen durch das gesamte Haus. Selbst die dicken Wände schützen die angrenzenden Wohnungen nicht gegen diese Art von Lärm. Daher sind, wie zu erwarten, alsbald genervte Klopfgeräusche im Wohnzimmer der Odenthals zu vernehmen. „Geht es auch ein wenig leiser da drüben?“ dringt die strenge Stimme von Herrn Müller durch die Wand ins Innere der Wohnung. Leander und Laura sehen sich wissend an und grinsen breit.
„Neiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeennnnnn!“ schreien sie im Chor und biegen sich vor Lachen. Doch bereits ein Sekündchen später räuspern sie sich und sind muksmäuschenstill. Der mahnende Blick ihres Vaters hat unmittelbare Wirkung auf ihre Ausgelassenheit.
„Ach Papa“, sagt Leander entschuldigend, „das war doch nur der olle Müller, der meckert doch immer“. Bei diesen Worten setzt er seinen treuen Hundeblick auf und legt den Kopf schief. Markus Odenthals Gesichtszüge entspannen sich und nun muss auch er lachen. Der ausgebufften Mimik seines Sohnes kann er nur ganz selten standhalten.
„Ist es denn wirklich wahr, Papa?“ Ungläubig schaut Laura ihren Vater an. „Wir machen wirklich zwei Wochen Ferien auf einem richtigen Schloss?“ Markus Odenthal lächelt seine Tochter an.
„Ja, Laura, es ist...“ weiter kommt er nicht, denn er wird unsanft unterbrochen. Ellen Odenthal zieht ihren Mann in die Küche und schließt die Tür.
„Markus, bitte“, sagt sie und sieht ihn flehentlich an. „Setze den Zwillingen keine Flausen in den Kopf. Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir uns einen Urlaub auch dieses Jahr nicht leisten können.“ Traurig lässt sie sich auf einen der Küchenstühle nieder.
„Glaubst du, ich hätte vergessen, wie mies es mit unseren Finanzen aussieht?“
Markus Odenthal setzt sich auf den Stuhl gegenüber und legt eine Hand auf den Arm seiner Frau.
„Diese Ferien sind fast geschenkt, Liebes. Deshalb habe ich sofort zugegriffen, als der Mann im Reisebüro mir diesen Vorschlag gemacht hat.“
„Wie, geschenkt?“ fragt Ellen skeptisch.
„Herr Richter aus dem Reisebüro erzählte mir, dass dieses Schloss...naja, eigentlich ist es eher eine alte Burg, quasi leer stünde. Es wohl fast unbewohnt sei und die Bediensteten daher froh sind, wenn sie überhaupt Gäste haben.“
Markus Odenthal lächelt versonnen. „Und besonders freuen würden sie sich über Kinderlachen. Und wer lacht mehr als unsere frechen Zwillinge?“ Ellen Odenthal entspannt sich zusehends und ein Lächeln legt sich um ihre Lippen.
„Und wo ist diese Burg? Wohin müssen wir fahren?“ fragt sie neugierig.
„Es geht in den wunderschönen Frankenwald. Ich habe Bilder gesehen, Liebes. Es wird euch umhauen. Gegend und Burg sind einsame Spitzenklasse!“ Markus' Begeisterung ist kaum zu bremsen.
„Worauf warten wir dann noch? Lass uns packen!“ ruft sie fröhlich und springt auf. Im Wohnzimmer geht es unterdessen so heiß her, dass der alte Müller schon wieder seinen Besen schwingt und die Wände der Odenthals zum Beben bringt.
„Das wird das Schönste an unserem Urlaub werden. Zwei Wochen ohne Klopfen, ohne Schreien und ohne Herrn Müller!“ Erleichtert atmet Ellen auf, dann macht die Familie sich gemeinsam ans Packen.
Schon seit langem rechnet Markus Odenthal Monat für Monat hin und her, ob die Familie endlich ausziehen und dieses Mausoleum hinter sich lassen kann. Aber es reicht vorne und hinten nicht. Also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in diesem Mietshaus voller lebender Toten noch weiter Zeit zu verharren. Es ist ruhig wie auf dem Friedhof im gesamten Haus, zu ruhig. Kein Laut, kein Herzschlag, kein Leben ist zu vernehmen. Lediglich aus der Wohnung der Odenthals dringt ab und zu ein Geräusch von Lebensfreude, Liebe und Glück. Leider kann sich keiner der anderen Bewohner so richtig damit anfreunden, dass eine Familie mit Kindern eingezogen ist. Markus würde am liebsten mit seiner kleinen Familie ein eigenes Haus beziehen, aber das wird für die nächsten Jahre erst einmal ein Traum bleiben müssen. Dennoch arbeitet er daran, sehr hart. Und irgendwann wird er sein eigener Herr sein, dann können Leander und Laura den ganzen Tag lang fröhlich sein und lachen.
Das laute Schlagen der alten Turmuhr, das vom Marktplatz hinter dem Haus zu ihm vordringt, holt den jungen Vater aus seinen Gedanken zurück.
„Bam! Bam! Bam! Bam! Bam! Bam!“ macht es in einer immensen Lautstärke.
„Komisch, dass sich über dieses stündliche Schlagen bisher noch kein Bewohner beschwert hat“, wundert er sich. Es gibt Momente, in denen diese Turmuhr ihn fast um den Verstand gebracht hätte. Manchmal schreckt er förmlich hoch, wenn sie erklingt. Obgleich alle in der Familie Odenthal wissen, dass sie nun mal jede volle Stunde anschlägt, kann sie einen dennoch hochschrecken lassen.
Bei einem spannenden Film, einem gemeinsamen Spiel oder einem Buch, in das man vertieft ist. Oft erwischt ihr ohrenbetäubender Lärm einen der Odenthals auch bei einer längeren Sitzung auf dem Klo und das ist nicht besonders Verdauungsfördernd. Zweifelsohne, da ist sich Markus hundertprozentig sicher, ist die Lärmbelästigung, die von dieser Turmuhr ausgeht, wesentlich schlimmer als die seiner Zwillinge.
„Wo bleibst du denn, Liebling?“ ruft seine Angetraute ungeduldig und lenkt ihn von der Uhr ab.
„Hilf uns beim Packen, ansonsten musst du wohl hier bleiben. Oder willst du den ganzen Urlaub über nackt herumlaufen?“ Dabei kichert sie wie ein Teenager. Markus stellt sich nur für einen klitzekleinen Augenblick vor, was seine Frau gerade gesagt hat, schüttelt heftig den Kopf und eilt zu Ellen ins Schlafzimmer. Zärtlich umarmt er sie von hinten.
„Aber nur, wenn du ebenfalls den ganzen Tag nackt bleibst“, flüstert er und schiebt ihr Haar zur Seite. Liebevoll bedeckt er ihren Hals mit zarten Küssen. Ellen entfährt ein wohliger Seufzer.
Leises Kichern reißt die beiden aus ihrer Innigkeit. Laura und Leander stehen frech im Türrahmen und beobachten ihre Eltern völlig ungeniert.
„In alles müsst ihr eure frechen Nasen nun auch nicht stecken.“ Markus geht auf seine Zwillinge zu. „Packt schön weiter eure Sachen zusammen, damit eure Mutter und ich sie später verstauen können. “Damit schließt er die Schlafzimmertür und dreht den Schlüssel herum.
„Die sind wir erst einmal los!“ Freudige Erregung schwingt in seiner Stimme mit, während er sich langsam mit seiner Frau auf dem Bett nieder lässt.

Pünktlich um sieben Uhr am nächsten Morgen ertönt der Wecker der Odenthals. Begleitet von der Turmuhr auf dem Marktplatz. Mark erschütternde sieben Mal schickt sie ihr „Bam“ gnadenlos durch das ganze Haus und lässt es vom Keller bis zum Dach erbeben. Wenn man zur vollen Stunde aufstehen muss, ist es fast unmöglich zu verschlafen. Das ist der einzige Vorteil, den diese Uhr birgt. Ob das allerdings auch für die leblos wirkenden, stets in Trance wandelnden Nachbarn gilt, das vermag Markus nicht zu beurteilen.
Und so steht die gesamte Familie bereits um kurz nach Sieben vor dem gemeinschaftlichen Badezimmer und streitet darüber, wer nun zuerst seiner Schönheitspflege frönen darf.
„Wir brauchen unbedingt einen Plan für das Bad“, fordert Ellen beim gemeinsamen Frühstück.
„Später Liebling, später“, sagt Markus kauend. „Heute fahren wir erst einmal in unseren ersten Urlaub seit vier Jahren. Ich freue mich wie ein kleines Kind.“ Seine Augen blitzen auf, voller Vorfreude. Die Zwillinge sehen sich Kopfschüttelnd an und lachen los. Es folgt ein typisch frech fröhliches Odenthal-Frühstück und dann geht es gut gestärkt an das Verstauen des Gepäcks in den Minivan. Der einzige Luxus, den die Odenthals sich noch gönnen. Alle elektrischen Geräte ausgeschaltet, teilweise vom Stromnetz getrennt und die Wohnung hermetisch verriegelt, lässt die Familie das Mausoleum hinter sich und begibt sich auf den Weg in ihr Feriendomizil. Zwei Wochen voller Entspannung, Liebe und Freude liegen nun vor ihnen.
Markus Odenthal lenkt den Minivan sanft gen Osten, braust über Autobahnen, zieht gemächlich über Landstraßen, vorbei an saftigen, unendlich wirkenden Wiesen. Im Rückspiegel seine schlafenden Kinder betrachtend, die schon während der Fahrt ein Stück der so lang ersehnten Ruhe schenken.
Es dauert nur einige Stunden, bis sie an ihr Ziel gelangen. Bereits am späten Nachmittag kommt der Minivan auf dem riesigen Parkplatz, eine Meter vor dem Burgtor zum Stehen. Laura und Leander blicken mit offenen Mündern von der Rückbank aus auf die alte, aber romantische Burg.
„Wow, ist die klasse“, schwärmt Laura. Herr Richter hat nicht zu viel versprochen, diese Burg hat tatsächlich ein außergewöhnliches Flair und ist wunderschön.
Ein großer, schlanker Herr im schwarzen Frack schreitet elegant auf das Auto zu.
„Schau mal, Laura, hier gibt es Pinguine!“
Laura schaut erst ihren Bruder und dann den Herrn an. Wie zu erwarten, prustet sie laut los. Markus Odenthal schnellt herum.
„Etwas mehr Respekt, junger Mann!“ Dann wendet er sich seiner immer noch lachenden Tochter zu. „Für dich gilt das Gleiche, junge Dame! Reißt euch zusammen“, mahnt er mit strengem Unterton. Seine Frau legt beruhigend eine Hand auf seinen Arm. In dem Moment werden auch schon die Autotüren geöffnet und die Odenthals überschwänglich begrüßt. Weitere schwarze Herren laden den Minivan aus und bringen das Gepäck in die bezugsfertigen Zimmer auf der Burg. Markus und Ellen sind begeistert, noch nie wurden sie derart verwöhnt. Die Inneneinrichtung ist das nächste Highlight und ihre typisch mittelalterlichen Zimmer für die nächsten zwei Wochen bringen die Odenthals gänzlich in Verzückung. Sie genießen jeden einzelnen Augenblick und auch die Zwillinge sind ungewohnt ruhig beim Abendessen.
„Bestimmt müssen sie die Ereignisse des heutigen Tages erst verarbeiten“, flüstert Ellen ihrem Mann zu. Markus nickt kauend. „Verständlich. So viel Aufmerksamkeit an einem einzigen Abend ist ihnen sicher unheimlich.“
„Geht es euch gut da hinten?“ ruft Markus über die lange Tafel. Die Familie nimmt ihr Abendessen, ganz traditionell, im Rittersaal ein.
Die Zwillinge nicken wortlos und schaufeln weiter das üppige Mahl in sich hinein.
„Na, ihren gesunden Appetit scheinen sie nicht verloren zu haben. Nur ihre Sprache“, kichert Ellen.
„Weißt du“, grinst Markus, „das hat auch was, wenn sie mal nicht quasseln wie ein Wasserfall.“
Nachdem die Familie ihren Appetit gestillt hat, ziehen sich Markus und Ellen in ihr Schlafgemach zurück, ihnen steht der Sinn nach Zweisamkeit. Leander dagegen ist total aufgekratzt und will mit seiner Schwester die Burg erkunden. Seine Neugierde, die ungefähr für die Dauer des Abendessens geschlummert hat, ist neu entfacht. Nun will er alles über ihr Feriendomizil wissen! Vor allem, weil sie völlig allein und ungestört sind, da die nächsten Gäste frühestens in zwei Wochen erwartet werden, wenn überhaupt. Laura ist dagegen eher gemütlich, gelassen.
„Was wollen wir uns zuerst ansehen? Den Kerker? Der ist ganz bestimmt im Kellergewölbe!“ schlägt Leander vor. Doch Laura verzieht das Gesicht.
„Nee, nachher liegen da noch irgendwelche Überreste von Gefangenen herum. Iiiiiiihhhhh!“
Leander verdreht die Augen.
„Bor, typisch Mädchen!“ raunzt er. Laura verschränkt die Arme vor der Brust.
„Pffff, dann geh doch allein. Ich jedenfalls steige nicht in das schäbige Kellergewölbe, um nach Kerkern zu suchen. Mich interessiert viel mehr die Dirnitz im oberen Teil der Burg.“
Sie zeigt mit dem Finger nach oben. „Darin soll sich nämlich ein wunderschönes Gewölbe befinden und das möchte ich mir unbedingt ansehen.“ Sie lässt ihren Bruder einfach stehen und wandert los.
„Das ist nun wirklich typisch Mädchen“, denkt sich Leander.
„Wunderschönes Gewölbe! Pah!“ ruft er seiner Schwester hinterher. „Dann geh ich mir jetzt eben die Bastionen ansehen, das ist sowieso nichts für Mädchen!“
Und so streunt jeder Zwilling allein durch die Burg. Laura findet die Dirnitz, oder auch Dürnitz genannt, recht schnell. Mit großer Erwartung betritt sie das riesige Zimmer. Und wird nicht enttäuscht. Staunend sieht sie sich um und kann förmlich das Mittelalter, die Ritter, den Wein und das üppige Essen riechen, welches sie bestimmt auch hier eingenommen haben. Das Gewölbe im hinteren Teil des Zimmers ist wahrlich wunderschön. Laura kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus und geht mit langsamen Schritten durch den Raum. Jede Ecke, jedes Gemälde und vor allem dieses Gewölbe werden akribisch von ihr studiert. Dann stößt sie gegen ein kleines Tischchen. Dieses ziert ein weißes, ovalförmiges Spitzendeckchen, auf dem eine betörend schöne Schatulle seinen Platz hat. Wie von Magie angezogen schweben Lauras Hände auf sie zu. Ihre Finger streichen ganz zart, fast ehrfürchtig über den Deckel und folgen den wunderschönen Metallverzierungen, die einer Krone ähneln. Lauras Herz pocht vor Begeisterung. Besonders das Bild einer Rokokodame, das im Deckel eingelassen ist, hat es ihr angetan. Wirklich wunderschön!Nun interessiert sie brennend, was sich in der Schatulle befindet und so versucht sie, diese zu öffnen. Doch vergebens, der schöne Deckel lässt sich nicht abnehmen. So sehr sich auch bemüht, er bewegt sich keinen Millimeter.
„Das ist eine französische Schmuckschatulle, Anfang des 19. Jahrhunderts“, sagt plötzlich eine weise Stimme in die absolute Ruhe. Verschreckt schnellt Laura herum und blickt in das Gesicht eines der Pinguine, wie sie die Bediensteten heimlich nennt.
„Haben Sie mich erschreckt!“
Der Herr macht ein Schuldbewusstes Gesicht: „Verzeihung, junges Fräulein, das war nicht meine Absicht.“ Dann lächelt er Laura freundlich an. „Ein wunderschönes Gefäß, nicht wahr?“
Das Mädchen nickt schweigend und betrachtet die Schatulle weiter.
„Warum kann man sie nicht öffnen? Was ist darin?“ Dass die Dose sich nicht öffnen lässt, macht Laura nur noch neugieriger.
„Dazu benötigt man einen Schlüssel. Leider ist dieser schon vor Jahrzehnten verschwunden.“
„Wie aufregend. Und was entdeckt man Geheimnisvolles in der Schatulle, wenn man den Schlüssel gefunden hat?“
„Das ist nicht so wichtig, junge Dame. Viel wichtiger ist es dem Hausherrn, dass der Schlüssel auffindbar wird. So wichtig, dass er einen ordentlichen Finderlohn zahlen würde.“
„Oh! Das ist so aufregend! Wenn ich das zuhause erzähle, werden meine Freundinnen vor Neid platzen. So tolle Ferien haben die bestimmt nicht!“ Der Herr im schwarzen Anzug nickt und Laura lacht voller Vorfreude.
„Tut mir leid, junge Dame, aber die Pflicht ruft, junge Dame. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern.“ Er verbeugt sich und das Mädchen kichert verlegen. Dann verlässt er die Dirnitz. Zurück bleibt eine leicht errötete Laura Odenthal, die sich nun wieder dieser geheimnisvollen Schatulle widmet.

In der Zwischenzeit erkundet Leander nach den Bastionen das Kellergewölbe. Jeden noch so kleinen Winkel untersucht er. Doch jetzt ist es dunkel und still um ihn geworden. Mittlerweile ist er sehr tief ins Gewölbe vorgedrungen und ihm wird langsam etwas mulmig. Seine Taschenlampe hat den Dienst versagt und er fragt sich, ob er den Weg zurück findet, so allein, ganz ohne Licht. Nicht mal dem Schein einer Kerze könnte er folgen. Ein Anflug von Panik kriecht in seinen Körper. Plötzlich hört er etwas. Da war ein Geräusch, ganz leise nur in seinem Ohr, aber da war etwas...es klingt wie ein Summen, Leander bleibt abrupt stehen. Ein Windhauch streift sein Gesicht, die nackte Angst packt ihn. Das Herz des Jungen klopft so laut, dass er meint, jeder könnte es hören. In seinem Kopf rauscht und pulsiert es, Leander verliert die Orientierung. Gerade will er um Hilfe schreien, als er eine leise Melodie wahrnimmt. Zeitgleich streift ihn erneut ein kühler Windzug. „Was ist hier los?“ fragt er in die Dunkelheit. Doch statt einer Antwort glimmt ein Kegelförmiger Lichtschein auf, wie aus dem Nichts.
„Was bedeutet das alles?“ Ängstlich schaut er um sich, aber er scheint immer noch allein zu sein.
„Ein Licht wächst doch nicht einfach aus dem Boden“, stellt er unsicher fest und tritt vorsichtig etwas näher an den Schein heran. Für einen Moment verdrängt die Neugier und die Erleichterung, wieder sehen zu können, seine Angst. 'Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Sinnestäuschung? Ja genau! Seine Sinne spielen ihm einen Streich! Oder der helle Schein tritt aus der Schatzkammer hervor. Entstanden durch den vielen glitzernden Goldschmuck.'
Diese Erklärung gefällt ihm am besten. Mutig geht er weiter in das Licht. Erneut dringt dieses Summen, es klingt wie eine Melodie, an sein Ohr. Unbeirrt geht er weiter voran, bis er inmitten des Lichtkegels steht, der ihn derart blendet, dass er kaum noch sehen kann. Doch die Neugier übermannt alle anderen Gefühle. Stück für Stück arbeitet er sich weiter vor, bis er im direkten Mittelpunkt des Scheins steht. Dann hält er inne, etwas hat seinen Kopf berührt, er hat es genau gespürt! Ein leiser Schrei löst sich aus seiner Kehle, Leander will weglaufen, gleichzeitig aber auch erfahren, was es mit dem Licht auf sich hat. Sein Herz rast, die Gedanken fahren Achterbahn und die Angst droht die Herrschaft zu übernehmen. Wieder spürt er diesen Gegenstand, der mit seinem Haar spielt. Auch diese Melodie schleicht sich wieder in seine Ohren. Egal, ein wildes Tier oder ähnliches wird es schon nicht sein! Er nimmt allen Mut zusammen und greift mit seinen Händen nach oben und versucht, den Gegenstand zu ertasten, zu erspüren. Sensor artig gleiten seine Finger über das unbekannte Etwas. Es fühlt sich an wie mehrere kleine Holzröhrchen, die an etwas hängen.
„Was ist das denn?“ Intensiv nimmt er die Holzstäbchen in seine Hände und stellt fest, dass sich eines von den anderen unterscheidet. Ihm ist, als befinde sich etwas in diesem einen. Irgendetwas ist darin versteckt. Leander fingert noch eine Weile daran herum und dann hält er den Gegenstand in seiner Hand. Der Lichtschein erlischt, bevor er einen Blick darauf werfen kann. Also muss er den Gegenstand ertasten. Es scheint ein kleiner, länglicher Schlüssel zu sein. „Wozu der wohl gehört?“
In dem Moment legt sich eine Hand auf seine Schulter. Erschreckt fährt er herum und sieht direkt in den Schein einer Taschenlampe.
„Mensch Leander! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil du so lange weg warst! Was machst du denn hier unten?“ Erleichterung lässt ihm einen dicken Stein vom Herzen fallen und er atmet auf.
„Ich war noch nie so froh, dich zu sehen, Laura!“
Das Mädchen hält die Lampe auf den Gegenstand, den ihr Bruder gerade noch untersucht hatte.
„Ui, das ist aber schön!“ ruft sie begeistert aus. „Ein Windspiel aus Holz. Und das baumelt hier einfach so im Kellergewölbe herum? Merkwürdig“, findet Laura. „Ich kenne diese Dinger von Janas Mutter. Die steht voll auf diese Bambuswindspiele, eines baumelt an der Tür.“
Das Windspiel im Kellergewölbe hängt direkt vor einem kleinen Kerkerfenster und auch nur der Hauch eines Windstoßes lässt seine Musik erklingen. Laura zuckt mit den Schultern.
„Egal, ich muss dir unbedingt etwas zeigen, Bruderherz. Komm mit!“ Sie nimmt ihn einfach an die Hand und zieht den verdutzten Leander mit sich.
„Ich habe dir auch einiges zu erzählen, Laura. Aber jetzt will ich erst mal hier raus. Hast du dir den Weg zurück gemerkt?“ fragt er skeptisch.
„Denkst du, ich bin blöd? Ich habe natürlich Spuren gelegt, damit ich mich hier unten nicht verlaufe.“ Sie schüttelt sich. „Es ist total gruselig hier!“
Wie sehr sie damit Recht hatte, das verschweigt ihr Leander allerdings vorerst. Er will nicht als Weichei vor ihr da stehen. Den Schlüssel hält er noch immer ganz fest in seiner Hand umklammert, denn er möchte ihn keinesfalls verlieren. Irgendetwas muss es damit auf sich haben und es ist aufregend und spannend. Verkrampfung und Angst weichen langsam aus seinem Körper und er lässt sich von Laura widerstandslos in die Dirnitz zur Schatulle führen.
„Schön. Und was ist darin nun so Besonderes?“ fragt er ohne größeres Interesse. „Das ist doch Mädchenkram.“ Laura seufzt laut.
„Das weiß ich leider nicht, weil sie verschlossen ist. Man braucht einen Schlüssel, um den Deckel zu öffnen.“
Sie wendet ihren Blick von der Schmuckdose ab und sieht Leander an.
„Willst du denn gar nicht wissen, was darin ist? Einer von den Pinguinen hat mir vorhin erzählt, dass der Schlüssel dazu schon seit Jahrzehnten gesucht wird.“ Sie macht eine kurze Pause, um ihren nächsten Worten mehr Ausdruck zu verleihen. „Und der Hausherr hat sogar eine fette Belohnung für den Finder! Krass, oder?“ Sie stupst den sprachlos gewordenen Leander an.
„Was ist los? Warum sagst du nichts?“
Wortlos hält er die Hand mit dem Schlüssel vor Lauras Gesicht und öffnet sie ganz langsam.
Auch Leander sieht den Schlüssel jetzt zum ersten Mal bei Licht. Seine ganze Pracht entfaltet sich erst in diesem Moment, sein Goldmantel glitzert und schimmert ihn an.
„Denkst du, was ich denke?“ fragt Laura, sich plötzlich in einer ganz merkwürdigen Stimmung wieder findend. Leander nickt wortlos, die Zwillinge bekommen eine leichte Gänsehaut. Je näher Leanders Hand der Schatulle kommt, desto mehr scheint der Schlüssel in seiner Hand zu leuchten. Zitternd steckt er ihn in das alte Schloss und dreht zweimal nach links.
„Er passt! Er passt tatsächlich!“ jubelt Laura.
Genau in diesem Moment räuspert sich jemand hinter ihnen. Die Zwillinge drehen sich ertappt um. Der kluge Herr von vorhin sieht sie streng an.
„Nana Kinder, das geht Euch aber nichts an, oder? Der Inhalt ist äußerst privat. Es handelt sich um Fotos und Schmuck von unschätzbarem individuellem Wert.“
„Oh...ja...natürlich“, stammelt Laura verlegen. „Entschuldigung“, murmelt nun auch Leander. Doch schnell legt sich ein strahlendes Lächeln auf das Gesicht des Herrn und er deutet auf den Schlüssel, der noch in der Schatulle steckt. „Ich kann es nicht glauben, dass ihr den Schlüssel gefunden habt. Wie habt ihr das angestellt? Der Hausherr wird über alle Maßen erfreut sein. Wie schon erwähnt, ist der Inhalt der Schatulle für ihn von unermesslichem Wert. Er wird Euch reich belohnen.“
Die Gesichter der Zwillinge hellen sich auf. „Der Schlüssel war unten im Kellergewölbe versteckt“, erklärt Leander. „Durch diesen Fund werdet ihr sprichwörtlich über Nacht reich“, lacht er und zieht sich zurück, um die frohe Botschaft zu verkünden. Die Zwillinge eilen unterdes sofort ins Schlafgemach ihrer Eltern und erstatten Bericht. Jedes kleinste Detail erzählen sie, mit Händen und Füßen, während Markus und Ellen Odenthal mit offenem Mund lauschen. Ungläubige Blicke wechseln sich mit erstaunten ab, aber auch sorgenvolle und ängstliche. Und erst als der weise Herr alles bestätigt, geben sie sich geschlagen und glauben ihren Kindern. „Eine unglaubliche Geschichte“, stellt Markus Odenthal fest, bevor alle Vier erschöpft im Ehebett einschlafen.

Einige Tage später gibt sich der Hausherr persönlich die Ehre, ein sehr sehr alter Mann mit weißem Haar und Bart. Während des Festmahls, welches er für die Odenthals hat ausrichten lassen, lüftet er das Geheimnis um die Schatulle.
„Diese überaus prunkvolle Schmuckschatulle hat meiner Liebsten gehört“, erzählt er mit gebrochener Stimme. „Fünfzig Jahre waren wir miteinander verheiratet, dann ist sie gestorben.“ Markus und Ellen fassen sich bei den Händen und lächeln. „Wie romantisch, ein ganzes Leben lang“, flüstert sie leise.
„Die Schatulle ist das Einzige, was mir von ihr geblieben ist. Leider ging irgendwann der Schlüssel verloren. Ich habe ihn dreißig Jahre lang gesucht und suchen lassen.“ Dann geht ihm die Kraft zum Reden aus und er erholt sich einen Moment. „Der Inhalt ist von unschätzbarem Wert für mich. Und sie zerstören, um an den Inhalt zu gelangen, das kam für mich nie in Frage. Meine Gemahlin hat die Dose von Herzen geliebt. Ich habe sie ihr an unserem Hochzeitstag geschenkt.“ Sein Atem geht schwer, er lehnt sich zurück. „Also habe ich bis heute gehofft, ihn wiederzufinden.“
Ein glückliches Lächeln legt sich auf sein faltiges Gesicht, als er die Zwillinge ansieht.
„Ich danke Euch beiden von Herzen.“
Laura räuspert sich verlegen. „Eigentlich war es Leander, der den Schlüssel entdeckt hat. Versteckt in einem alten, hölzernen Windspiel im Kellergewölbe.“ Der alte Mann lächelt beeindruckt.
„Ja, das stimmt zwar, aber Laura hat mich unten im Kellergewölbe gefunden und wieder nach oben gebracht. Meine Taschenlampe hatte nämlich den Geist aufgegeben und es war echt finster da.“
Von den anderen Erlebnissen sagt er nichts, jedenfalls nicht vor so viel Publikum wie hier...
Der gebrechlich wirkende Hausherr hustet krächzend und nippt an seinem Wein.
„Das ist doch unerheblich. Ich bin sicher, meine Belohnung kommt der ganzen Familie Odenthal zu Gute“, schnauft er und klingt ein bisschen wie eine alte Dampflok. Und damit sollte er Recht behalten. Die großzügige fünfstellige Summe allein war schon überwältigend, aber der alte Mann, dem ein Stück seines Glücks zurück geschenkt wurde, sorgte auch noch dafür, dass sie aus ihrem trostlosen Mausoleum ausziehen und in ein wunderschönes Haus am Stadtrand einziehen konnten. Mit einem großzügigen Garten, in dem die Zwillinge nach Herzenslust herumtollen und lachen können. Keine genervten Nachbarn, die den Besen schwingen, keine toten Lebenden, die jedes Geräusch von Freude kategorisch ablehnen und vor allem keine unmenschlich laute Turmuhr mehr. Nicht mal annähernd...

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Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011

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