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Buntes Treiben
Nachts im Glockenturm



Kurz vor Mitternacht, die Dunkelheit liegt über dem kleinen Ort Kieloben, als das Läuten der alten Kirchturmglocke die sogenannte Geisterstunde verkündet. Die Einwohner der Stadt schlafen zum Großteil schon, während andere Einwohner jetzt erst erwachen. Herr Bauer liegt neben seiner Frau und lauscht ihrem ruhigen Atemzügen, während sie gerade vom muskelbepackten Nachbarn träumt. Derweil sitzen Herr und Frau Taube in den offenen Fensterluken des Kirchturmes und kümmern sich nicht um das Gebimmel der alten Uhr. Das Uhrwerk läuft mit einem Klacken eine Minute weiter. Herr Taube turtelt mit seiner Liebsten, beide schnäbeln, was dem menschlichen Küssen entspricht. Dieses wird nur ab und an unterbrochen, vom Putzen des Federkleides mit den Schnäbeln. Dafür wird der Kopf weit nach hinten geworfen und der Schnabel zwischen die Federn gedrückt. Zur gleichen Zeit seilt sich Thekla, die fette achtbeinige Spinne, vom Gehäuse des alten Uhrwerks ab. Ein feines gewebtes Netz zeichnet sich gegen das Mondlicht ab, dass durch die Öffnungen, der hoch gelegenen Fenster, seicht ins Innere des Glockenturmes leuchtet. Im Netz kämpft eine kleine unscheinbare, mit Blut vollgesogene Mücke, den letzten Kampf ihres Lebens.

In der Zwischenzeit sind auch Herrn Bauer die Augen zugefallen. Die leise Melodie des hölzernen Windspiels, dass seine Frau am Rosenbogen des Terrassenaufgangs aufgehängt hat, wiegte ihn in den Schlaf. Während ihm die Augen bereits zufallen, suchen seine Hände noch die warmen Hüften seiner Elsa, um diese dort verweilen zu lassen. Das Gurren der Tauben tat sein übriges, zum melodischen Klang des hölzernen Dinges, dem er nichts abgewinnen kann, aber das seine Frau so sehr liebte. Ein letztet Kuss auf die Schulter seiner Frau, dann schlief auch er ein.

Keine 200 Meter entfernt erwachte jetzt erst die kleine Wohngemeinschaft der Kirche. Herr Maus weckt seine Frau, um auf Essenssuche, für sich und die Kleinen, zu gehen. Leise tippeln ihre kleinen Füße über den Holzfußboden, auf ihrem Weg zur Stiege. Beide hüpfen Stufe für Stufe hinunter, in der Hoffnung irgendwo auf einer der 137 Stufen einen Brocken Brot oder ein Stück Käse zu finden. Erst als sie im Altarraum ankommen, finden sie ein Stück Käse. Herr Maus springt darauf zu und versucht es für sich und seine Familie zu ergattern. Doch plötzlich spürt er einen Schlag im Genick und seine letzten Piepser gelten Frau Maus. „Rette den Käse für die Kinder.“ Dann stirbt er, getroffen vom harten Schlag der Mausefalle, die Frau Pastor am gestrigen frühen Abend aufgestellt hatte. Seine Frau hat keine Zeit nachzudenken, ob sie ihm helfen soll oder nicht, da sie nur allein von der Sorge um ihre Kleinen getrieben wird. Sie schnappte sich das Käsestück, rennt zum Glockenseil und klettert dieses wieder hinauf. Die Zeiger der Turmuhr schreiten unerbittlich voran.

Eine vorwitzige Holzwurmfamilie frisst sich zu diesem Zeitpunkt durch die alten Holzdielen des Kirchturmbodens. Ihre kleinen Mäuler beißen sich Stück für Stück voran, als Frau Holzwurm eine alte Schatulle entdeckt, die unter einem Stapel von alten Lappen und Holzlatten steht. Mit ihren Augen tastet sie das Objekt der Begierde ab und entscheidet, dass sie es für die Familie testen wird. Sie kämpft sich schnell bis dorthin vor und betrachtet das schöne Stück von dichtem. Es leuchtet fast im Schein des Mondlichts. Das gelackte Ebenholz lässt ihnen das Holzwurmwasser im Munde zusammenlaufen. In der Kiste verwahrt Frau Pastor die Liebesbriefe ihres Geliebten, die sie hier oben, unter der Kirchturmuhr, versteckt hatte. So manchen Nachmittag, wenn ihr Mann die Gemeindearbeit leistet, klettert sie die alten abgetretenen Holzstiegen hinauf, um sich die Briefe ihres Liebhabers noch einmal durchzulesen. Dann sitzt sie meist unter dem Uhrwerk, lauscht dem gleichmäßigem Ticken der alten Turmuhr und liest dabei die Briefe. Nun aber macht es sich Familie Holzwurm in den Wänden der Schatulle bequem und richtet sich dort häuslich ein, wohl wissend immer das beste Essen auf dem Tisch zu haben. Ein kräftiger Biss und die Tür für die Holzwurmfamilie ist geöffnet. Langsam fressen sie sich voran.

Keine zehn Zentimeter von ihnen entfernt erwacht Familie Bücherwurm aus ihrem leichten Schlaf. Um besser sehen zu können, fressen sie sich durch den Wust von Briefen, nur um einen Blick auf die Eindringlinge werfen zu können. Das Papier war für die Holzwürmer wie alter Wein, je älter sie wurden, desto besser schmeckten sie und hatten ein spezielles Aroma entwickelt, dass die kleine Familie mit jeder Mahlzeit aufs Neue genießt. Mittlerweile hat der Tauberich seine Frau überzeugen können, dass es Zeit für einen Akt wäre, damit sie bald Nachwuchs ausbrüten kann. Als Antwort schnäbelt Frau Taube noch einmal mit ihrem Mann, der dann auf sie springt und den Vogelakt vollzieht. Nach Beendigung des Selbigen flog Herr Taube davon, um sich mit seinen Kumpels am Ententeich zu treffen, wo man immer mal wieder ein paar Krumen zu Essen fand.

Eine Horde kleiner Käfer sucht sich derweil ihren Weg durch einen Haufen von alten Lappen und Eimern, in dem schon die Familie Maus wohnt und die Kleinen auf die Mutter warten, die immer noch damit beschäftigt ist, am Seil der Glocke hinaufzuklettern. Während sie alle ihre Kraft, die noch übrig ist, darauf verwendet am Strang hinaufzuklettern und dabei den Käse zu halten, schwingt das Seil, vom Winde und Frau Maus angetrieben im Turm hin und her. Ein Blick nach oben zeigte ihr, dass es nicht mehr weit war.

In der hintersten Ecke des Turmes hatte es sich die Schleiereule in ihrem Nest bequem gemacht und hütete ihre junge Brut. Schon seit Jahren lebt sie mit Herrn Schleiereule zusammen und zieht bereits die dritte Brut mit ihm auf. Der Versorger der kleinen schreienden Piepmätze ist gerade, wie die Eltern Maus es auch waren, auf Essenssuche und schwebt mit suchendem Blick über den Kirchplatz. Frau Maus hat den Käse gerettet und erreich Punkt 2 Uhr am Morgen wieder die oberste Etage des Glockenturmes. Glücklich rennt sie zu ihren Kindern, lässt diese sich an sie kuscheln und verteilt das Stück Gouda.

Plötzlich wird das kleine bunte Turmvolk von einem knackenden Geräusch der alten Stiegen aufgeschreckt. Jemand kommt herauf. Herr und Frau Taube fliegen davon, Mutter Schleiereule verdeckt ihre Küken mit den Flügeln und deutet ihnen an, still zu sein, Frau Maus bittet auch ihre Kinder um Ruhe, die Käfer krabbeln schnell zwischen die Nischen in den Ritzen, die Mücke hat mittlerweile ihren letzten Lebenshauch von sich gegeben, während die Spinne und die Würmer sich einen feuchten Dreck um das Geräusch kehren.
Langsam erklimmt Frau Pastor die letzten, vom Mondlicht beleuchteten, Stufen zum Obergeschoss hinauf. Ihr Atem geht schwer. Sie fühlt zwischen den Lappen und sucht nach ihrer alten Schatulle. Dann setzt sie sich auf den Boden, nimmt eine Taschenlampe aus ihrem Morgenmantel heraus, leuchtet damit die Schatulle an und öffnet sie. Ihre Augen leuchten beim Anblick der alten, mittlerweile, vergilbten Liebesbriefe. Sie nimmt den Packen heraus, entfernt das rote Band, das diesen zusammenhält und streicht liebevoll über den kleinen Stapel. Dann öffnet sie den ersten Brief und beginnt zu lesen. Familie Bücherwurm wird bei dieser Aktion aus den Briefen heraus auf den Boden geschüttelt und verliert dadurch ihr zuhause, während sich die Holzwürmer weiter froh durch das Ebenholz fressen. Nach einer Stunde schließt die Dame des Hause wieder ihre Schatzkiste und versteckt diese erneut. Keine fünf Minuten später ist sie nicht mehr zu sehen und zu hören.

Die Tiere nehmen wieder ihr Treiben auf. Die Spanne hat sich mittlerweile über ihren Fang hergemacht. Durch die Wärme und das feuchte Klima wimmelt es in der Luft nur so von Mücken, von denen sich eine Vielzahl in ihrem Netz verfangen hat.
Die Kirchturmuhr schlägt fünf, der Wecker von Herrn Bauer klingelt und das erste Geräusch, das er vernimmt, stammt vom Windspiel. Der Wind weht jetzt stärker, sodass die Melodie des Spiels lauter und schneller durch den frühen Morgen tönt. Herr Taube kommt zurück von seinem Ausflug und turtelt erneut mit seiner Liebsten. Die anderen Tiere fallen in einen leichten Schlaf. Familie Bücherwurm hat es sich in einer alten Bedienungsanleitung für Kirchturmuhren bequem gemacht und die Holzwürmer reiben sich genüsslich ihre dicken Bäuche.

Nur Herr Pastor stellt sich den ganzen Morgen die Frage, wieso der Körper seiner Frau übersät ist von Mückenstichen.

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Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011

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