Liebe Leser,
die unendlichen Weiten des Alls haben mich schon immer inspiriert. Die Utopia-Groschenhefte entführten mich zu fernen Welten und „Raumpatrouille Orion“ sowie „Raumschiff Enterprise“ begeisterten mich. Inzwischen weiß ich es natürlich besser. Wir Nacktfellprimaten haben den Hintern viel zu weit unten, um auch nur eine autarke Marskolonie zu gründen. Allein der Flug zum sonnennächsten Stern Alpha Centauri überfordert uns maßlos. Es geht schon mal los mit dem Treibstoff, denn nach wenigen Monaten wäre bereits der Sprit alle. Daher würde die Reise sehr, sehr lange dauern. Mal ganz abgesehen davon, daß man die Besatzung irgendwie durchfüttern muß, kann man im All auch nur ganz schlecht lüften. Nehmen wir an, wir lösen das Energieproblem durch die Erfindung des Fusionsantriebs. Damit kämen wir dann bei konstanter Beschleunigung rein theoretisch in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit, was die Reise unter Berücksichtigung der Relativitätstheorie zeitlich arg verkürzen wurde. Doch was würde wohl passieren, wenn wir dann versehentlich einen erbsengroßen Stein rammen würden? Zwar ist es da oben relativ leer, aber hundertprozentig eben doch nicht. Nun, der Stein würde unser tolles Raumschiff von vorne bis hinten durchschlagen – die Reise wäre damit zu Ende. Dieses Problem können wir natürlich ganz leicht lösen, indem wir eine hundert Kilometer dicke Frontpanzerung einbauen. Das erschwert wiederum das Design des Schiffs. Also wir sehen, daß wir uns im Kreise drehen. Effektives Lenken dürfte bei annähernd Lichtgeschwindigkeit auch ein Ding der Unmöglichkeit sein, weil die seitlichen Gewichtskräfte die Außenhülle arg strapazieren würden, praktisch auseinanderreißen. Es gibt hier also einige Schwierigkeiten, die uns die Besiedelung einer zweiten Erde für immer verwehren. Doch gerade dies mag der Grund sein, warum die Vorstellung so eine große Anziehungskraft besitzt. Diese Sehnsucht schwingt auch in diesem Kurzroman mit und ich hoffe, daß sie nicht nur ich beim Schreiben verspürte, sondern daß sie auch der geneigte Leser vernimmt.
Inzwischen sollte es sich herumgesprochen haben, daß ich die traditionelle, bewährte Rechtschreibung befürworte. Leider wurden in der Vergangenheit einige meiner Texte mittels Autokorrektur höchst inkonsequent „korrigiert“. Schuld daran war die mangelnde Einbindung der alten Rechtschreibdatenbank in mein Textverarbeitungsprogramm, die eine Inkompatibilität verursachte. Dadurch bedingt wurden einige Schreibungen akzeptiert, während andere Wörter grundsätzlich korrigiert wurden. Heraus kam dabei ein Mischmasch aus alter und neuer Schreibweise, was alles andere als von mir beabsichtigt war. Durch den Wechsel zu einer anderen Version dürfte sich dieses Problem inzwischen geklärt haben. Für die Unannehmlichkeiten bitte ich um Entschuldigung. Ich werde nach und nach meine bereits veröffentlichten Texte noch einmal überprüfen, um hier eine Normung garantieren zu können. Damit schweige ich endlich und wünsche gute Unterhaltung!
FvF
Die Deckenbeleuchtung in meinem Zimmer schaltete sich automatisch ein, als ich erwachte. Leise Musik hatte mich zur üblichen Uhrzeit geweckt, eine angenehme Frauenstimme wünschte mir einen guten Morgen, ehe sie sich erkundigte, ob ich noch etwas schlafen wolle, weil die Analyse meiner Körperfunktionen eine negative Leistungsbeeinflussung ergeben hatte.
„Nein, ich stehe trotzdem auf“, würgte ich Sissi, wie ich den Bordcomputer nannte, ab. Das war überhaupt eine Wissenschaft für sich gewesen, die richtige Stimme zu finden. Nur zu gut konnte ich mich noch daran erinnern, wie meine erste Nacht auf dem Raumschiff zu Ende gegangen war. Eine unpersönliche blecherne Roboterstimme hatte mich mit „Aufstehen! Es ist 8 Uhr! Aufstehen!“ unsanft aus dem Schlaf gerissen. Daraufhin hatte ich diverse Sprachprofile getestet, bis ich schließlich eine recht umgängliche Stimme gefunden hatte. Sanft, beinahe schwesterlich, mit einem dezenten Unterton, erotisch wäre übertrieben, aber damit konnte man arbeiten. In der Datenbank waren die zugrundeliegenden Klangbasen als „Elisabeth 17“ verzeichnet gewesen, daher der Spitzname „Sissi“. Das Frühstück nahm ich auch an diesem Tag wie immer in meinem Quartier ein. Das lag nicht daran, daß ich etwa ungesellig wäre, vielmehr lag es an der fehlenden Gesellschaft. Da spielte es keine Rolle, wo man die Speisen einnahm. Man mußte sich vorher nicht einmal waschen – geschweige denn auf die formale Ethiquette Rücksicht nehmen. Halbnackt im Schlafanzug in der Nase bohren, kein Problem. Das kam mir zugute, denn als geborener Langschläfer tat ich mir nach dem Aufstehen schwer damit, in die Gänge zu kommen. Der Dreitagebart störte mich nicht weiter, als ich mich zur Krankenstation begab. Von hier aus konnte ich über die Konsolen alle medizinischen Einrichtungen kontrollieren. Richtig, ich war damals schon Schiffsarzt. Jetzt möchtest du vermutlich wissen, wie ich ausgerechnet auf dieses Raumschiff gekommen bin. Tja, das war so: nach meinem Abgang von der Militärakademie war ich ein ausgebildeter junger Bordarzt und sollte eigentlich auf einen schweren Zerstörer abkommandiert werden. Die Sparmaßnahmen der pazifistischen Erbsenzähler der Korporative zwangen mich dazu, mehrere Jahre in einer Infanteriekaserne Dienst zu schieben. Das war keine besondere Herausforderung, denn was fehlte den jungen Burschen da schon? Hier mal ein Beinbruch, da mal eine Verstauchung, die waren alle kerngesund, das hat mich nicht recht gefordert. Das sollte ich bis zu meinem Lebensende machen?! Also bin ich in die Privatwirtschaft gewechselt. Das hat mich einiges an Überwindung gekostet, aber ich kam dann zu dem Konzern, der die Marslinie unterhielt. Wahrscheinlich muß ich das hinzufügen, weil du das vielleicht gar nicht weißt: damals hatten wir auf dem Mars noch eine Kolonie, die regelmäßig versorgt werden mußte. Lebensmittel konnte man dort natürlich keine anbauen, weil die Atmosphäre dazu nicht geeignet war. Entsprechend teuer waren die Wohnungen in Marsonia, der einzigen Koloniestadt, die eine abgeflachte Kuppelform aufwies. Nur Reiche konnten sich das Leben dort leisten, fernab der Umweltverschmutzung auf der Erde sowie der Kriminalität. In meiner Heimat hat sich nämlich seit dem Tod meines Großvaters einiges geändert. Das alte Volk ist der Mehrheit einer rücksichtslosen, teuflischen, niederträchtigen Einwanderungswelle zum Opfer gefallen. Das nannte man dann Fortschritt, aber es führte dazu, daß man heute nicht mehr unter seinesgleichen sein kann, weil einfach zu viele Fremde, aber wem erzähle ich das. Das weißt du eh, wie die Situation heute ist. Zu meiner Zeit war das bei weitem nicht so schlimm wie jetzt. Neulich habe ich meine Unterkunft verlassen, um etwas spazieren zu gehen, ja, ich bin hemmungslos altmodisch – also was mir da alles über den Weg gelaufen ist. Das wäre früher undenkbar gewesen. Wir sind wirklich am Ende unserer Entwicklung angelangt, das beweist das wieder einmal. Vier Jahre lang bin ich jedenfalls auf einem Transportschiff immer hin und her geflogen. Passagiere und Proviant zum Mars, mit Passagieren und Müll wieder zurück. Irgendwann hat man mir dann eine äußerst lukrative Stelle angeboten, die finanziell bei weitem über meinem damaligen Spielraum gelegen ist. Du ahnst es sicher schon, genau so war es auch: ich erhielt die Möglichkeit, als Chefbordarzt auf dem Raumschiff Ikarus anzuheuern. Geehrt fühlte ich mich, als man mir dieses Angebot machte, weil das war schon etwas Großes. Das erste Kolonieraumschiff zu einem Planeten außerhalb des Sonnensystems. Natürlich habe ich angenommen. Was man als Jungspund doch für überhastete Entscheidungen trifft! Aber so war ich damals eben. Leicht zu begeistern, abenteuerlustig, auch gierig, weil ich habe das Zehnfache verdient und mir war klar, daß ich nach einer einzigen Fahrt ausgesorgt hatte. Nun gut, die einfache Reise dauerte sieben Jahre, das muß man an dieser Stelle wohl hinzufügen. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade erst 32, also würde ich mit 46 in Pension gehen können, denn ausgeben konnte ich auf dem Raumschiff ja nichts. So habe ich damals gedacht. Jetzt weißt du, wie ich auf die Ikarus gekommen bin. Als reicher Mann hätte ich mir alles leisten können, was auch immer ich begehrte.
Jedenfalls befand ich mich in der Krankenstation und habe wie jeden Tag die Anzeigen überprüft. An Bord der Ikarus befanden sich nämlich 12000 Siedler, die in kryptogenetischen Temporalkammern eine Art Winterschlaf durchliefen. Das mußte man so machen, weil man dadurch den Alterungsprozeß aufheben konnte und zum anderen der Sauerstoffvorrat nicht für so viele Leute gereicht hätte. Im Weltall kann man schlecht lüften. Der Konzern hat sich in seiner Werbung natürlich auf ersteres konzentriert, als besondere Dienstleistung gepriesen im Sinne von „Sie steigen heute ein und morgen in Ihrer neuen Heimat wieder aus.“ Dafür haben diese armen Schweine ein Heidengeld gezahlt, die meisten haben alles verkauft, was sie besessen haben, um sich den Flug leisten zu können. Aber das konnte niemand ahnen, wie sich das entwickeln würde. Ich am allerwenigsten. Das Raumschiff selbst war ja vollautomatisch, es gab zwar vier Techniker, aber die befanden sich ebenso im Tiefschlaf wie die Passagiere. Ich war der einzige, der bei Bewußtsein war. Deshalb bekam ich ja auch so ein hohes Gehalt, von nichts kommt nichts. Jeden Tag prüfte ich also die Funktionstüchtigkeit der Temporalkammern, denn wenn es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten gegeben hätte, wäre ein Menschenleben auf der Kippe gestanden. Du möchtest wissen, wie die Temporalkammern funktionierten? Also du kennst doch sicher diese Frösche, die einen Winterschlaf halten? Denen macht es nichts, wenn sie einfrieren, weil sie eine Art Gefrierschutzmittel in sich haben. So ähnlich funktionierte das da oben auch. Die Passagiere sind praktisch auf Eis gelegt worden und mit Hilfe einer antithermischen Injektion wurde verhindert, daß sich Eiskristalle bilden, die Organe verletzen könnten. Daher war es auch so wichtig, daß die Kammern im Soll liefen. Bei mechanischen Schäden am Schiff selbst oder Dysfunktionen hatte ich die Anweisung, die Techniker aufzuwecken, denn ich war Arzt, kein Techniker. Was verstand ich denn schon von der Konfiguration des Fusionsantriebs? Das Raumschiff mußte wie gesagt nicht navigiert werden, weil die Zielkoordinaten fix einprogrammiert waren. Durch kontinuierliche Beschleunigung wurde die Geschwindigkeit immer höher bis annähernd Lichtgeschwindigkeit. Dadurch konnte man die Entfernung von 4,3 Lichtjahren bereits in 7 Jahren Bordzeit hinter sich bringen. Freilich mußte man irgendwann auch wieder bremsen, sonst wäre man am Ziel vorbeigeschossen. Aber das kümmerte mich wenig, weil das hatte man alles vor dem Start so eingestellt. Anfangs habe ich öfter mal den Bordcomputer gefragt, ob wir noch auf dem richtigen Kurs seien, weil mich da vermutlich irgend so eine Urangst plagte, aber der hat mich stets beruhigt. Irgendwann habe ich mich darauf verlassen, daß alles paßt. Mein Gott, man sieht auch relativ schlecht, wo man gerade ist. Zwar bin ich schon ab und zu mal auf die Brücke, um mir das anzuschauen, aber besonders großartig war die Anzeigetafel nicht. Der Computer hat mir das Bild dann vergrößert, so weit es ging. Den Planeten sah man natürlich gar nicht, weil der Stern viel zu hell ist. Da kannst du als Arzt nur mit den Ohren schlackern, weil viel verstehen tut man da nicht. Ich erinnere mich noch ziemlich gut an eine Unterhaltung mit dem Bordcomputer, als ich ihn wieder einmal fragte, wo wir gerade seien.
„Wir befinden uns 742 Millionen Kilometer von der Erde entfernt“, lautete die Antwort. Das sagte mir recht wenig. „Was bedeutet das, Sissi?“
„Wir haben erst 0,0018239 % der Distanz hinter uns gelegt.“
„Wann kommen wir ungefähr am Ziel an?“
„In 7 Jahren, 2 Monaten, 4 Tagen, 14 Stunden, 27 ...“
„Danke, das reicht“, unterbrach ich. „Du mußt mir das nicht bis auf die Sekunde genau
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: ESO/L. Calçada/Nick Risinger (skysurvey.org)
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8826-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Grafik des Einbands ist eine künstlerische Darstellung des sonnennächsten Sternensystems und stammt von der Europäischen Südsternwarte. Sie wurde vom Format her beschnitten, um die hiesigen Vorgaben zu erfüllen.
Mein Dank geht also an:
ESO/L. Calçada/Nick Risinger (skysurvey.org)
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