Als ich in den Zug einstieg, sah ich dich allein in einem Viererabteil sitzen. Da sonst alle Sitze frei waren, setzte ich mich, nachdem ich zuvor gefragt hatte, ob hier auch wirklich frei wäre, wie es die Höflichkeit verlangt. Zuerst habe ich dich gar nicht weiter beachtet, denn du machtest einen eher unscheinbaren Eindruck. Still, sittsame Kleidung, unaufdringlich. Normalerweise hätte ich einen der Romane gelesen, die ich im Zug immer dabei habe, denn meine Fahrt nach Hause dauert lang. Da kann man quantitativ einiges lesen. Ich weiß nicht weshalb, aber ich habe ein paar Worte mit dir gewechselt und obwohl ich eigentlich nur ein paar freundliche Worte mit dir tauschen wollte, dauerte unser Gespräch an. Du hast mir erzählt, daß du in einer Arztpraxis arbeitest und mich gefragt, was ich beruflich mache. Ich habe es dir verraten und wir unterhielten uns recht angenehm. Dein Lächeln fiel mir sofort auf, es kam aus tiefstem Herzen und mir wurde bewußt, daß du eine sehr herzliche Art hast. Voller Emotionalität, die man ganz tief drin spürt. Mir fiel sofort jemand ein, an den du mich erinnert hast. Auch wenn du optisch ganz anders aussiehst. Deine schwarzen Haare und deine schönen hellblauen Augen bilden sogar einen direkten Kontrast, aber deine Ausstrahlung erinnert mich an sie, an meine erste große Liebe, die ich damals so gemein behandelte. Ach wie lange ist das her … du bist wie sie, obgleich du jemand anders bist, eine völlig andere Person. Auch du verströmst diese warme Herzlichkeit, die mich einst faszinierte. Spontan frage ich dich nach deinem Sternzeichen. Du willst, daß ich rate. Instinktiv vermute ich, daß du Krebs bist. Kein anderes Sternzeichen ist derart emotional. Es stimmt und du bist sichtlich überrascht, daß ich auf Anhieb richtig lag. Dabei war es so einfach, weil auch sie Krebs war. Mein Blick gleitet zu deinen Händen, nirgends sehe ich einen Ring, also bist du wahrscheinlich nicht verlobt. Hoffe ich zumindest, denn ich gönne dich keinem anderen. Mir wird dieser egoistische Gedanke sofort bewußt und ein wenig schäme ich mich dafür, aber was kann ich dagegen machen? Es liegt in meiner Natur. Du verzauberst mich, du bist wie sie, die ich in meiner Unreife so schmählich verriet. Kann das denn Zufall sein, daß wir uns hier begegnen oder bietet mir das Schicksal die Chance, einen Fehler der Vergangenheit zu begleichen? Je länger wir uns unterhalten, desto sympathischer wirst du mir. Du wirst in derselben Stadt aussteigen wie ich, aber im Unterschied zu dir werde ich noch einen weiteren Zug nehmen müssen. Wir haben noch einige Zeit, um uns zu unterhalten, aber früher oder später werde ich meinen Mut zusammennehmen müssen. Wenn ich es nicht tue, sehen wir uns mit Sicherheit nie wieder. Von den Bekanntschaften, die ich innerhalb von fünf Jahren im Zug gemacht hatte, traf ich nämlich keine einzige jemals wieder. Also weiß ich, daß ich etwas tun muss. Soeben erreichen wir einen Bahnhof, der ungefähr in der Mitte der Fahrtzeit liegt. Noch kann ich auf Zeit spielen und weiter versuchen, dein Vertrauen zu erlangen. Doch irgendwann muss ich die entscheidende Frage stellen, denn wenn ich es versäume, werde ich mich nur ärgern können, es nicht getan zu haben, aber helfen wird mir das dann nichts mehr. Wir reden noch eine Weile über an und für sich völlig belangloses, aber mit dir darüber zu sprechen hat seinen besonderen Reiz. Schließlich frage ich endlich, ob du schon einmal an einem Karaoke-Abend teilgenommen hast. Du verneinst und deshalb schlage ich spontan vor, daß wir einmal gemeinsam zu einem gehen könnten, um unser interessantes Gespräch fortzusetzen. So, jetzt war es heraus und zu meiner Freude akzeptierst du. Wir tauschen daraufhin unsere Email-Adressen aus und ich erkläre dir noch, wo das Lokal ist, in dem die besagten Karaoke-Abende regelmäßig stattfinden. Du kennst es zwar nicht, aber ich zeichne dir auf einen Schmierzettel einen Lageplan. Dabei streife ich kurz deine Hand, was mich durchaus positiv berührt. Normalerweise hätte ich in einer solchen Situation um Entschuldigung gebeten, aber in diesem Fall tue ich es nicht und es scheint mir, als sei das für dich völlig normal, weil wir irgendwie vertraut zueinander sind. Schon wieder lächelst du mich so freundlich an, daß ich gar nicht anders kann, als dich einfach gern zu haben. Der Zug fährt indessen unbeeindruckt von meinen Gefühlen weiter gen Süden, die Landschaft rast an uns vorbei, Felder, Wiesen und Haine und immer näher kommen wir unserem Zielbahnhof. Doch das macht nichts, denn ich kann dir schreiben und wir werden uns zudem nächste Woche wiedersehen, weil wir bereits einen Termin vereinbart haben. Am Mittwoch um 21 Uhr. Dann aber kommt der Moment, in dem der Zug anhält und eine Durchsage die Ankunft im Endbahnhof ankündigt. Wir müssen aussteigen. Dein Bein streift beim Aufstehen mein Knie und ich bemerke erneut deine schlanke, zarte Figur, die mir so nah ist. Hast du mich mit Absicht berührt? Wenigstens scheint es dir nicht unangenehm gewesen zu sein. Mir auch nicht. Du hast deine Tasche genommen und ich meinen Rucksack und dann sind wir ausgestiegen. Draußen auf dem Gleis verabschiedeten wir uns, denn du musstest zur S-Bahn, während ich zu einem anderen Gleis hetzen musste, weil wegen Verspätung nur knapp vier Minuten Umsteigezeit geblieben waren. Noch einmal blickte ich dich an, dein Lächeln versüßte mir den Abschied und dann bist du zwischen all den Leuten verschwunden. Eine unter vielen, aber doch etwas ganz Besonderes. Auf welchem Gleis geht mein Zug? Alles klar, wie immer. Jetzt muss ich mich aber sputen, weil sonst erwische ich ihn nicht mehr. In gesteigertem Tempo hetze ich an ein paar fußlahmen Passagieren vorbei, die mir wieder mal mit ihren verdammten Rollkoffern den Weg versperren und biege schon in mein Gleis ein. Der Zug steht noch da, alles in Ordnung. Zwei Minuten noch, ganz locker bleiben. Trotzdem steige ich in den ersten Waggon ein, sicher ist sicher. Als ich sitze und wieder zur Ruhe komme, muss ich unwillkürlich an sie denken. Katja heißt sie. Katja, Katja … ein schöner Name. Das habe ich ihr gar nicht gesagt. Hätte ich vielleicht tun sollen, aber auf der anderen Seite ... nein, das ist zu plump. Das sieht man in so vielen Filmen, da war es sicher besser, es nicht gesagt zu haben. Dennoch finde ich den Klang ihres Namens schön. Das Bild ihres Gesichtes formt sich vor meinen Augen. Sie ist schön, aber ich bin mir unsicher, ob das daran liegt, weil ich sie subjektiv so sehe oder weil sie es tatsächlich ist. Ihre emotionale Aura macht sie jedenfalls schön, das weiß ich sicher. Dabei hat sie eher eine kleine Oberweite, die mir sonst doch immer so wichtig ist. Aber kommt es auf solche Kleinigkeiten an, wenn man jemanden wirklich mag? Nein, ganz sicher nicht. Sie ist eine von der Sorte, die man nicht oft trifft. Ich sehe ihr Lächeln bildhaft vor mir, das aus tiefster Seele zu kommen scheint. „Die Fahrscheine bitte“, bringt mich der Schaffner unsanft aus meinen Gedanken. Ich blicke in ein bärtiges Gesicht, das sachlich-nüchtern meine Fahrkarte stempelt und weitergeht. Die Wirklichkeit ist unbedeutend, wenn es so ein Mädchen gibt. Jetzt hole ich doch einen Roman aus meinem Rucksack und verbringe die restliche Fahrt mit lesen, auch wenn ich gedanklich ab und zu abgelenkt werde. Dann steige ich aus und fahre mit dem Rad vom Bahnhof nach Hause. Sofort setze ich mich an meinen PC, um eine Email zu schreiben. An Katja. Es kostet mich einige Zeit, ehe ich weiß, wie ich anfangen soll.
„Hallo Katja, ich bin gerade zu Hause angekommen. Es war echt eine schöne Fahrt mit dir und ich freue mich schon auf nächste Woche.“ An dieser Stelle weiß ich nicht mehr, wie ich fortfahren soll. Ich konnte doch hier nicht einfach abbrechen. Irgendwas musste ich hier noch ergänzen, weil das sonst so unpersönlich klang. Sollte ich schreiben, daß ich sie mochte? Nein, das ging schriftlich einfach nicht. Das musste man persönlich machen. Also bis nächste Woche warten. Hmm, aber was sollte ich ihr noch sagen? „Ich hoffe, dein Wochenende ist ebenso schön und freue mich auf deine Antwort.“ Prinzipiell gut, aber dadurch habe ich zweimal das Wort „freuen“ drin. Das ist stilistisch nicht gut. Aber ob ihr das auffällt, das ist eine ganz andere Frage. Was könnte man anstelle von „freuen“ noch sagen? Ein Synonym. Hmm, spontan fällt mir nichts gutes ein. Gut, dann lasse ich es stehen. Sie wird auf alle Fälle wissen, was ich meine. Das ist das Wichtigste. Sie ist so empfindsam, daß sie zwischen den Zeilen lesen wird, daß ich sie mag. Sie weiß es sicherlich ohnehin schon. Sie muss es einfach ahnen. „Liebe Grüße, Franz“ beende ich die Nachricht und schicke sie ab. Katja, ich lese deinen Namen und denke an dich. Abermals sehe ich deine grazilen Hände vor mir. Wie angenehm mag es wohl sein, von dir liebkost zu werden? Wenn deine zarten Finger über meine Haut streichen und deine weichen Lippen die meinigen berühren? Werde ich dann die vergessen können, die ich einst im Stich ließ? Wirst du dann vollenden, wozu ich damals nicht imstande war? Du weißt doch, daß es mir nicht darauf ankommt, eine schnelle Nummer mit dir abzuziehen. Darauf kommt es mir nicht an, sondern wichtig ist einzig und allein, daß wir beide zusammengehören. Ich möchte dich in den Arm nehmen und deinen warmen Leib spüren. Ich will mit einem Kuss mein Versprechen besiegeln, dir niemals weh zu tun, denn du weißt besser als ich, daß ich das nie übers Herz bringen könnte. Ich freue mich auf die nächste Woche, denn da kann mein Traum Realität werden.
Bildmaterialien: Eigene Photographie
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2013
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