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1. Kapitel

Heinrich hatte kurze, schwarze Haare, blaue Augen und war von schlanker Statur. Sein freundliches Wesen unterstrich seine Gutmütigkeit und verhalf ihm zu einem breitgefächerten Freundeskreis. In diesem Jahr hatte er seine gymnasiale Schulausbildung mehr oder weniger erfolgreich abgeschloßen. Nach der Verleihung der Abiturzeugnisse genehmigte er sich einen mehrwöchigen Urlaub. In den folgenden Wochen verdiente er als Paketzusteller etwas Geld, bis schließlich sein Studium an der Fachhochschule am 1. Oktober begann. Er hatte die Fachrichtung Informatik gewählt, da es ihn erstens interessierte und zweitens seine Eltern meinten, er müsse nicht befürchten, je arbeitslos zu werden. Die ersten Tage an der FH waren für Heinrich etwas gewöhnungsbedürftig, denn er kannte noch niemanden innerhalb seiner Gruppe. Dies änderte sich nach zwei Wochen, als die erste FH-Party stattfand. Dort lernte er nämlich eine gewisse Lena kennen. Diese Lena war blond, hatte grünliche Augen und war von eben derselben Gutmütigkeit wie Heinrich. Daher ergab sich auch sogleich ein inniges Gespräch, in dessen Verlauf Heinrich erfuhr, dass Lena Innenarchitektur studierte und sie sich deshalb im Gebäude wohl kaum zufällig begegnen könnten. Daher wollte er natürlich ihre Telefonnummer wissen, damit der Kontakt nicht abriss, die sie ihm auch bereitwillig gab. Um kurz vor zwölf Uhr verabschiedete sich Lena, weil sie am nächsten Morgen früh aufstehen musste. Heinrich zwar auch, aber er verweilte noch gut eineinhalb Stunden, um sich noch ein wenig zu amüsieren, dann trat er ebenfalls den Heimweg an.

2. Kapitel

Am nächsten Morgen war Heinrich ziemlich müde – kein Wunder, denn er hatte nicht einmal fünf Stunden geschlafen. Dennoch fuhr er zur ersten Stunde in die FH, um sich dort die GDI-Vorlesung (Grundlagen der Informatik) anzuhören. Heinrich empfand dies zu anfangs eher als eine Art Mischung aus Mathe, Physik, Bio und Steinzeitinformatik, aber egal. Professor R. Heiter kam wie immer etwa fünf Minuten zu spät. Vermutlich ging seine Uhr nach oder er fuhr ganz einfach zu spät los. War ja auch egal. Jedenfalls begann dann die Vorlesung über Codierung, Information, Redundanz und allem, was dazu gehört. Heinrich hörte mehr oder weniger gelangweilt zu, sich nebenbei mit seinem Nachbarn unterhaltend, der von seinen Erlebnissen auf der gestrigen FH-Party erzählte. Nach etwa vierzig Minuten hielt der Professor mit seinem Vortrag inne und verkündete eine „kleine Verschnaufspause“. Normalerweise dauerte die dann aber doch zwischen 8 und 15 Minuten. Vermutlich lag das daran, dass der Heiter immer nach unten in sein Zimmer ging, um dort ungestört telefonieren zu können. Mit wem? Wer weiß ...

Laut einer persönlichen Aussage „mit einer meiner zahlreichen Freundinnen“. Heinrich jedenfalls nutzte die Zeit immer, um sich von unten eine Tasse Kaffee oder sonst was zu holen, so auch an diesem Tag. Als er zurückkam, um sich wieder an seinen Platz zu setzen, war er erstaunt, weil der Professor bereits mit seinem Vortrag wieder begonnen hatte.

„Ist der da vorn krank?“, fragte er deshalb einen seiner Nachbarn.

„Sein Telefon ist wahrscheinlich kaputt“, schmunzelte dieser.

In der zweiten Stunde betrat Professor H. Schaf pünktlich wie immer den Raum. Sein Fachbereich war Mathemathik. Pausen gab es bei ihm keine – zu spät kommen oder eher gehen erlaubte er sich ebenfalls nicht. Dafür gab es 90 Minuten Vorlesung am Stück – das ist doch auch was schönes.

Als sich Heinrich gegen Mitte der Stunde etwas angeregter mit seinem Nachbarn über die geplanten Tätigkeiten am Nachmittag unterhielt, meinte Prof. Schaf sachlich, aber bestimmt:

„Würden Sie beide bitte die Vorlesung verlassen?!?“

Nun ja, dann sind Heinrich und sein Nachbar Karl eben nach draußen gegangen.

„Gehen wir in die Mensa?“, schlug Karl vor. „Da kann man sich eh besser unterhalten.“

„Von mir aus – ich habe sonst nichts vor ...“, meinte Heinrich grinsend. Nach einem lauhwarmen, aber wenigstens genießbarem Essen kehrten die beiden wieder zurück, denn Mathe war soeben zu Ende. Die dritte Stunde am Donnerstag befasste sich wieder mit GDI, diesmal aber als Übungsstunde. Soll heißen Prof. Heiter löste eines seiner Übungsblätter, die besonders als Vorbereitung für die Prüfung wichtig waren. Selbstverfreilich gab es auch hier wieder eine Verschnaufspause. Zuviel Streß ist schließlich gefährlich für die Gesundheit.

Außerdem erlaubte sich der Heiter in der Übungsstunde immer etwas früher als normal wieder zu verschwinden – genauer gesagt im Schnitt rund 30 Minuten eher. Solche Professoren sollte es echt mehr geben. Aber urteilen wir nicht zu hart mit diesem Zeitgenossen. Alles in allem genommen hatte er sowohl Fachwissen, Charakter, Menschlichkeit als auch Humor. Eine Kombination, die leider nur sehr selten auftritt.

In der vierten Stunde stand nichts auf Heinrichs Plan, so dass er ohne schlechtes Gewissen ins Rechenzentrum gehen konnte. MP3s herunterladen, im Internet Schach spielen, Dateien verschicken und was man sonst noch so alles machen kann. Die fünfte und letzte Stunde am Donnerstag war DVS (Datenverarbeitungssysteme) bei Professor G. Müller. Genauso wie in Mathemathik gab es auch hier keine Pausen – oder zumindest nur selten. Das lustige an diesem Zeitgenossen war seine Wortwahl. So liebte er die Kombinationen aus „So“, „Ja“, „Ok“, „also“ und „nicht“ zu allen möglichen Anlässen. Das war schon irgendwie recht erheiternd – vor allem wenn man darauf wartete oder Strichlisten führte. Irgendwann war auch diese Stunde überstanden und Heinrich fuhr entnervt nach Hause. Seine Mutter wartete bereits mit dem Abendessen. Hastig schlang er die Spaghetti hinunter. Heute dauerte ihm alles zu lang. Lag wohl daran, dass er hundemüde war. Doch bevor er ins Bett ging, schaute er sich wie jeden Donnerstag abend noch die recht bekannte Krimiserie „Tatort“ an. Sozusagen als „Betthupferl“. Da sind spannende Träume garantiert.

3. Kapitel

Am nächsten Tag, ein Freitag, stand Heinrich erst gegen 11 Uhr auf. Freitags hatte er lediglich in der zweiten Stunde Mathe, also von 9:45 bis 11:15, aber darauf konnte er gut und gerne verzichten. Letzte Woche war es da nämlich recht langweilig gewesen. Daher beschloß er ab sofort dort nur noch selten zu erscheinen – also alle zehn Wochen oder so. Oder gar nicht mehr?!? Nach dem, sagen wir mal Spätstück, schnappte sich Heinrich sein Rennrad, um ein wenig Dampf abzulassen. Nach über elf Stunden Schlaf braucht man schließlich zur Abwechslung etwas Bewegung. Nachdem er etwa zwanzig Kilometer geradelt war, machte er eine kleine Rast und drehte dann wieder um. Erschöpft kam er um kurz nach 14 Uhr zu Hause an, wo er sich zuerst etwas zum Essen machte. Der Einfachheit halber Tiefkühlpizza. Das ging nun mal am schnellsten und schmeckte gar nicht so übel wie man immer denkt. Danach verdrückte er sich in sein Zimmer, holte einen Notizzettel hervor und wählte die Nummer, die darauf stand.

„Gruber?“, meldete sich eine tiefe Männerstimme.

„Grüß Gott – ich bin der Heinrich, ist die Lena daheim?“ – „Einen Moment bitte.“

Zehn Sekunden vergingen, dann hörte er eine vertraute Stimme: „Lena?“

„Hallo Lena, ich bin’s“, rief Heinrich erfreut. „Wie geht’s dir?“

„Grüß dich – wie soll’s mir schon gehen – am Beginn des Wochenendes?“

„Keine Ahnung, deshalb frag ich ja“, meinte Heinrich grinsend.

„Ganz gut natürlich und dir?“ – „Ja, auch nicht schlecht.“

Nach einer kurzen Unterredung kamen die beiden überein, sich in einer guten Stunde in einem kleinen Café in der Stadt zu treffen.

4. Kapitel

Heinrich stellte sein Rennrad vor dem Café mit klangvollem Namen „Seppi“ ab. Dann betrat er das Gebäude. An einem Ecktisch mit Blick auf den Eingang ließ er sich nieder und wartete. Als die Bedienung kam, bestellte er sich schon mal eine Tasse Tee. Kaum fünf Minuten später kam Lena herein, die ihn sofort entdeckte.

„Servus!“, begrüßte sie ihn nach Landesart freudig. Nachdem sie Platz genommen und sich ebenfalls einen Tee bestellt hatte, plauderten die zwei über alles mögliche. Zum Beispiel über persönliche Freizeitbeschäftigungen, die FH und individuelle Dinge. Eine Stunde und zwei weitere Getränke später fasste Heinrich all seinen Mut zusammen.

„Hast du vielleicht Lust, mit mir mal eine kleine Radeltour zu machen?“

Nervös wartete er auf Lena Antwort, die da lautete: „Von mir aus. Und wohin?“

Eifrig legte Heinrich los: „Ich kenne da eine nette Strecke, über Feldwege, durch Wälder, an einem See entlang ...“

„Klingt nicht übel“, murmelte Lena nachdenklich. Eine kurze Pause entstand.

„Fehlt nur noch das wann“, warf Heinrich beiläufig ein. „Wie wäre es mit morgen?“

„Morgen kann ich nicht“, wandte Lena mit Bedauern ein. „Vielleicht am Sonntag?“

Jetzt war Heinrich in der Klemme: am Sonntag nachmittag kam nämlich im Fernsehen ‚Der Henker von London’. Das war einer der wenigen Edgar Wallace-Filme, die er noch nicht gesehen hatte.

„Sonntag ist mir recht – da habe ich nie was vor“, schwindelte er, die Wahrheit nicht ganz genau nehmend, schließlich spielte er sonntags mit seinen Freunden immer Fußball. Es sei denn es kam wie gesagt ein Edgar Wallace-Film, den er noch nicht gesehen hatte.

„Gut“, meinte Lena, „und um wieviel Uhr?“

„Mir egal. Halb eins?“ – „Geht klar“, bestätigte Lena, „und wo treffen wir uns?“

„Ich fahre bei dir vorbei und hol dich ab, ist das okay?“

„Ja“, akzeptierte Lena. Die Adressen hatten die beiden nämlich schon im Lauf des Gesprächs ausgetauscht. Nach dem üblichen Verabschiedungsritual trennten sich die beiden. Als Heinrich wieder zu Hause angekommen war, setzte er sich zufrieden vor seinen PC. Jetzt noch ein paar entspannende Ballerorgien in „Halflife“ – dann war seine Euphoriekurve auf dem Maximalwert angelangt.

5. Kapitel

Am Sonntag vormittag wachte Heinrich erst gegen elf Uhr auf. Aber was machte das am Wochenende schon aus? Nach einer Mischung aus Frühstück und Mittagessen packte er eine große Flasche Mineralwasser in seinen Rucksack. Anschließend nahm er sein Rad um loszufahren. Lena wohnte nur etwa drei Kilometer von ihm entfernt, daher brauchte er nicht lange, bis er dort eintraf. Seine Uhr zeigte 12 Uhr 26, als er die Klingel drückte. Überpünktlich also. Besser als umgekehrt. Eine Frau mittleren Alters mit blonden Locken und eleganter Brille öffnete ihm.

„Grüß Gott, ich bin der Heinrich“, stellte er sich vor.

„Ich nehme an, du willst zu Lena“, mutmaßte die Frau, bei der es sich um Lenas Mutter handelte. Heinrich hatte soeben den Gang des Hauses betreten, als eine Tür aufging und Lena vor ihm stand. Nun konnte die Radeltour losgehen. Zuerst ging es ein Stück an der Hauptstraße entlang, aber schon bald bogen sie in einen holprigen Feldweg ein, der sich durch Wiesen und kleinere Waldstücke schlängelte. Nach etwa zwanzig Minuten tauchte vor ihnen ein dichter zusammenhängender Wald auf, der sich um einen kleinen See herumwand. Dort machten sie bei einer am Ufer stehenden Bank eine kleine Pause.

„Willst du was trinken?“, fragte Heinrich und holte seine Flasche aus dem Rucksack. Lena nahm dankend an. Eine Weile blieben sie einfach sitzen und starrten auf den ruhigen See hinaus, auf dessen glatter Oberfläche einige Enten sowie Blesshühner herumschwammen.

„Ruhig ist es hier“, stellte Lena schließlich fest. Heinrich legte behutsam seinen Arm um sie, berührte sie dabei jedoch nicht mit den Fingern. So selbstsicher war er dann auch wieder nicht. Plötzlich tat sie etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte: sie streichelte mit ihrer Hand seine linke Wange und gab ihm seitlich einen Kuß auf den Hals. Überrascht blickte er in ihre blauen Augen.

„Hmpflblb“ stotterte er verdutzt, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Lena beugte sich etwas vor, um ihm einen Kuß auf die Wange zu geben. Diesmal erwiderte Heinrich etwas unbeholfen ihre Zärtlichkeit, bis sie schließlich abrupt aufhörten. Ein magisches Glitzern lag in Lenas Augen, zumindest empfand Heinrich es so. Ihm war überhaupt sehr eigenartig zumute. ‚Mensch, reiß dich zusammen’, versuchte er sich einzureden. Doch dieses unbekannte Gefühl blieb. Nach einigen Minuten stand Heinrich von der Bank auf. „Fahren wir weiter?“

„Gut“, akzeptierte Lena, also schwangen sich die beiden wieder auf ihre Räder. Nach einer gemütlichen Fahrt um den See herum, einen Hügel hinauf und anschließend geradeaus über einen Feldweg kamen sie wieder an der Straße an, die in Richtung Stadt führte. Als sie vor Lenas Haus ankamen, begleitete Heinrich sie noch bis zur Tür, wie ein echter Kavalier. Bevor Lena hineinging, hauchte sie ihm noch einen Kuß zu. Immer noch ganz verzaubert radelte Heinrich langsam heim. Den restlichen Sonntag über verbrachte er in seinem Zimmer, wo er sich laute Musik anhörte. Nach dem Abendessen entschied er sich ins Bett zu gehen, wo er noch längere Zeit über die Ereignisse des Tages nachdenken musste.

6. Kapitel

Die neue Woche begann wie immer mit frühaufstehen. Schlaftrunken setzte sich der gnädige Herr Studiosus an den Frühstückstisch zu seinen Eltern. Er konnte sich kaum erklären, warum er so müde war, schließlich war er gestern schon vor 20 Uhr eingeschlafen. Wenigstens standen heute nur zwei Stunden auf dem Plan, denn die zweite Stunde fiel aus, weil Prof. Schaf aus irgendeinem Grund verhindert war. Fairerweise hatte er das schon letzte Woche verkündet, so dass sich jeder frühzeitig darauf einstellen konnte. Sportlich wie immer fuhr er mit dem Rad zur FH und kam circa zehn Minuten zu spät zur 1. Stunde – auch wie immer. Aber was machte das schon aus? In den ersten fünf Minuten passierte ohnehin nicht viel und in den nächsten fünf nicht soviel, als dass man sich nicht mehr auskennen würde, wenn man sie versäumte. Gähnend ließ er sich auf seinem Stammplatz nieder und plauderte zuerst einmal mit seinen Banknachbarn über das vergangene Wochenende, bis er schließlich von Professor Heiter ermahnt wurde:

„Für Diskussionen empfehle ich die Mensa, da gibt es erstens etwas zu essen und zweitens stört einen da keiner.“

Die Freistunde – eigentlich waren es ja zwei volle Stunden, denn zwischen zwei Vorlesungsstunden war jeweils eine viertel Stunde Pause – verbrachte Heinrich im Rechenzentrum. Mit etwas Glück konnte er gerade noch einen PC mit Brenner ergattern. Heute wollte er schließlich ein paar MP3-Dateien, also komprimierte Musik herunterladen. Mangels Soundkarte konnte er zwar die Qualität nicht sofort beurteilen, aber zu Hause war das ohnehin gemütlicher. Gegen 11 Uhr 10 hatte er ungefähr 350 MB zusammen. Na ja, das war durchaus eine rentable Ausbeute. Nur noch schnell brennen, dann stand dem Musikgenuß nichts mehr im Wege. Ganz so schnell ging es dann aber doch nicht – der Brenner unterstützte nämlich maximal nur vierfache Geschwindigkeit, so daß es bei gut der halben CD-Kapazität fast 14 Minuten dauerte. Heinrich nutzte die Zeit, um eine Kleinigkeit zu essen. Arbeiten macht schließlich hungrig.

7. Kapitel

Die dritte Stunde war langweilig wie immer. Irgendwann verging jedoch auch diese hochinteressante Vorlesung und Heinrich fuhr nach Hause. Was Lena jetzt wohl gerade machte? Nach dem Essen rufe ich sie mal an, nahm er sich vor. Gesagt, getan, aber leider war Lena noch nicht zu Hause – sie hatte an diesem Tag bis 15 Uhr Vorlesung. Tja, dachte Heinrich, dann muß halt der Computer herhalten. Also PC eingeschaltet, CD ins Laufwerk geschoben und die frisch heruntergeladenen MP3s kopiert. Einige waren dabei, die ihm echt gut gefielen, andere hingegen löschte er sofort wieder. Nach dem Aussortieren blieben knapp 200 MB übrig, das waren umgerechnet an die drei Stunden Musik. Während des oberflächlichen Anhörens verging die Zeit wie im Fluge, bis irgendwann das Telefon läutete. Auf Grund der Tatsache, dass seine Eltern zu Verwandten gefahren waren musste Heinrich selbst rangehen.

„Ja?“, murmelte er lustlos in den Hörer.

„Servus Heinrich – ich bin’s, Lena“, kam aus der Muschel. Schlagartig verbesserte sich der Klang von Heinrichs Stimme. „Servus Lena, wie geht’s?“

„Passt schon, ich hab’ gehört, du hast mich angerufen ...“

„Stimmt, aber da warst du noch nicht da.“

„Aber jetzt bin ich da.“

„Also“, begann Heinrich, „möchtest du heute mit ins Kino gehen? Auslöscher XIV mit Alfred Weißenegger?“

„Hört sich gut an, um wieviel Uhr?“

Heinrich sah kurz auf seine Armbanduhr. 15:30 schon.

„Um 17 Uhr 20 wäre die nächste Vorführung.“ – „Geht klar, ich hol dich ab, okay?“

„Ja, ja, ist mir recht“, meinte Heinrich. „Also bis später, mach’s gut!“

„Du auch“, schloß Lena. „Bis dann.“

Heinrich setzte sich wieder vor seinen PC und zog sich noch ein paar von den neuen Liedern rein. Ein paar fand er einfach nur geil, darum hörte er sie sich gleich mehrmals hintereinander in voller Lautstärke an. Bloß gut, dass sie in einem Einzelhaus wohnten ... weiß der Teufel was die Leute in den Blocks wohl machten, wenn sie etwas Musikgenuß haben wollten. Vielleicht schleppten die dann ihre Lautsprecher in den Keller, wo sich niemand gestört fühlte?

Ab 16 Uhr 30 drosselte er jedoch die Lautstärke, damit er das Läuten hörte, wenn Lena kam. Das wäre nämlich nicht besonders gut, wenn sie draußen stehen und niemand aufmachen würde. Ein paar Minuten vor fünf war es endlich so weit: jemand begehrte Einlaß. Heinrich öffnete die Haustür – draußen stand Lena. Sie hatte ein rotes Oberteil an, das farblich bestens zur ebenfalls roten Hose passte. ‚Fesch’ dachte Heinrich, der eine schwarze Jeans und einen blauen Pullover anhatte, ‚aber ich bin auch nicht übel’. Ein Anflug von Heiterkeit huschte über sein Gesicht.

„Komm rein“, sagte er, mit dem Finger über seine Schulter zeigend. „Ich muß noch schnell den PC ausschalten ...“

„Soll heißen es dauert noch fünf Minuten“, folgerte Lena messerscharf. Heinrich grinste.

„Genau. Das liegt nur an diesem vermaledeiten Windoof-Betriebssystem, das aber leider sehr weit verbreitet ist.“

Trotz all dieser Umstände kamen die beiden rechtzeitig ins Kino, denn Lena war mit dem BMW ihres Vaters vorbeigekommen. Der hatte 150 PS unter der Haube und war deshalb in der Stadt die optimale Wahl, denn da konnte man von Ampel zu Ampel so richtig gut beschleunigen und kam dabei mindestens auf 40 km/h, ehe man wieder bremsen musste. Im Filmtempel angekommen setzten sich die beiden in eine der mittleren Reihen, von wo aus sie einen optimalen Blick auf die Leinwand hatten. Nach ein paar Minuten Werbung begann dann der eigentliche Film und Lena lehnte sich mit dem Kopf an Heinrichs Schulter, den dieser Umstand etwas vom eigentlichen Geschehen – vom Film – ablenkte. Das mitgebrachte Popkorn stellten sie zwischen ihre Sitze, so dass sich jeder bedienen konnte. Es kam Heinrich vor, als schlüge sein Herz so laut wie der gute alte Big Ben in London, den er im Englandurlaub einmal gehört hatte, aber offenbar bildete er sich das nur ein, denn Lena bemerkte diesbezüglich nichts. Nach dem zugegebenermaßen eher mittelmäßigen Film verließen die beiden das Kino.

„Hat’s dir gefallen?“, wollte Heinrich wissen.

„Ja, war nicht schlecht“, meinte Lena. „Und dir?“

„Der Vorgänger war vielleicht ein bißchen origineller, aber gut war er auf jeden Fall.“

Lena setzte sich wieder hinter das Steuer des BMW, Heinrich nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Während der Fahrt unterhielten sie sich noch etwas über den Film und darüber, was in den nächsten Tagen alles in der FH auf sie zukam. Nach der viertelstündigen Fahrt parkte Lena direkt vor Heinrichs Wohnhaus, wo Heinrich ausstieg.

„Willst du noch kurz mit reinkommen? Etwas trinken oder so?“, bot er an.

„Ich weiß nicht so recht“, entgegnete Lena vorsichtig. „Mein Vater muß heute nochmal mit dem Wagen weg ...“

„Komm gut heim“, beendete Heinrich den Vorschlag und blickte ihr sehnsüchtig hinterher, als sie wegfuhr. Jetzt hatte er sich wirklich zusammengenommen, versucht seine Schüchternheit zu überwinden und was war dabei herausgekommen? Nichts! Einfach großartig ... was hätte wohl Casanova in dieser Situation anders gemacht? Aber vermutlich war das alles nur Aufschneiderei.

8. Kapitel

Die nächsten Tage vergingen mehr oder weniger ereignislos. Lena hatte nicht besonders viel Zeit, so dass sich erst am Samstag wieder etwas ergab. Heinrich hatte sich den Passat seiner Eltern geliehen und holte Lena am späten Vormittag ab.

„Bin ich müde“, jammerte Lena, nachdem sie losgefahren waren.

„Hast du was Besonderes gemacht?“, wollte Heinrich wissen.

„Na ja“, gestand Lena. „Gestern abend war ich mit einer Freundin noch ein bißchen in der Stadt. Das hat sich dann etwas hingezogen ...“

„Tja“, stellte Heinrich nüchtern fest. „Wir können heute ja etwas Ruhigeres machen. Beispielsweise in der Gegend rumbrettern – der Tank ist fast voll.“

„Das wird sicher spaßig“, meinte Lena lächelnd. „Wohin willst du zuerst?“

„Na, auf die Autobahn – Höchstgeschwindigkeit testen, es sei denn du hast Angst.“

„Vor was denn? Und wenn DU dabei bist ...“

Die nächste Autobahn war etwa zehn Kilometer Luftlinie entfernt, aber da eine Landstraße praktisch direkt darauf zuführte, dauerte es nicht lange, ehe er den Wagen in den dortigen Verkehr einreihte. Nach dem Beschleunigen auf Tempo 100 zog er das Fahrzeug auf die Überholspur, damit er einen vor ihnen fahrenden älteren Herrn in einem Audi überholen konnte, der seinen Führerschein vermutlich im Altersheim gemacht hatte. Auf Grund der Tatsache, dass nicht besonders viel Verkehr herrschte, blieb Heinrich gleich auf der linken Spur und beschleunigte weiter. Bei Tempo 140 fing die linke Hintertür zu klappern an, bei 160 wackelten die Sitze und bei

180 röhrte der Motor gefühlt im Dreivierteltakt.

„Mehr ist nicht drin“, stellte Heinrich enttäuscht fest.

„Also mir ist das schnell genug“, bemerkte Lena.

Allmählich drosselte Heinrich die Geschwindigkeit wieder. Schnell Fahren verbraucht schließlich überproportional viel Benzin, das seit Einführung des Teuros ganz schön teuer geworden ist. An der nächsten Ausfahrt fuhr er von der Autobahn herunter auf eine kleine Landstraße.

„Hier in der Nähe gibt es eine alte Kiesgrube“, erzählte er. „Wollen wir da ein paar Runden drehen?“

Verschmitzt schaute Lena ihn an. „Wenn du deswegen keinen Ärger mit deinen Eltern kriegst – warum nicht?“

„Der Wagen ist beinahe zehn Jahre alt, außerdem kaufen sich meine Eltern bald einen neuen Karren“, erklärte Heinrich. „Dann gehört der Passat ohnehin mir.“

In diesem Moment bog er in einen kleinen Feldweg ein, der zur Kiesgrube führte. Mit vollem Karacho steuerte Heinrich auf einen verstaubten Kiesweg zu. Lena juchzte begeistert auf, als der Wagen durch ein Schlagloch holperte. Nach ein paar Runden Kieshügel erklimmen, Schlaglöcher durchfahren und Handbremsenwendungen steuerte Heinrich wieder zurück auf die Landstraße.

„Einfach geil!“, meinte Lena euphorisch. „Machst du das öfters?“

„Nun ja, ab und zu – wenn mir danach ist“, gestand Heinrich, wobei er es ehrlich gesagt erst ein einziges mal gemacht hatte. „Fahren wir wieder auf der Autobahn zurück oder auf der Landstraße?“

„Willst du schon wieder heim?“, fragte Lena verdutzt.

„Nein, natürlich nicht“, erklärte Heinrich, „aber in der Stadt gibt es auch was Lustiges ... laß dich überraschen.“

„Da bin ich aber gespannt. Nehmen wir diesmal die Landstraße?“ – „Gut“.

Nach zehn Minuten waren sie wieder in der Stadt angelangt. In der Nähe eines Kinos bog Heinrich in ein Parkhaus ein, das neugebaut worden war und in dem man im Moment noch umsonst parken konnte. Doch danach war ihm gar nicht zu Mute. Er steuerte mit Vollgas zur nächsten Auffahrt, bog scharf ein, die Auffahrt hinauf, in die Kurve, die nächste Auffahrt hinauf und so weiter bis sie im obersten der 5 Stockwerke angekommen waren. Anschließend das ganze nochmal nach unten bis ins zweite Untergeschoß. Dann fuhr Heinrich wieder hinaus.

„Ich glaube das mach’ ich demnächst auch mal ...“, grinste Lena verhalten. „Das ist echt toll!“

„Besonders lustig ist es, wenn Schnee liegt. Aber da müssen wir wohl noch ein paar Wochen warten.“

Die beiden fuhren noch eine Weile durch die Gegend, dann entschloßen sie sich, in einer kleinen Pizzeria einen Happen zu essen, denn es war bereits Mittagszeit.

„Hab’ ich einen Hunger“, gab Lena zu. „Was bestellen wir uns?“

„Also ich nehm’ Pizza Tonno, die mag ich am liebsten.“

„Was ist denn da so alles oben?“

„Hauptsächlich Thunfisch, Tonno heißt auf italienisch Thunfisch.“

„Aha“, meinte Lena knapp. „Dann nehm’ ich Pizza Prosciutto et Funghi. Hört sich irgendwie interessant an.“

Weibliche Intuition kann man da nur sagen. Als der Kellner sich ihnen zuwandte, bestellte Heinrich die besprochenen Sachen und zum Trinken zwei Gläser Rotwein, die innerhalb von einer Minute auf dem Tisch standen. Die Pizzen dauerten selbstverständlich etwas länger, aber den beiden war nicht langweilig. So plauderten sie über allerhand interessantes und weniger interessantes, aber diese Einschätzung ist wohl eher subjektiv. Nach einer viertel Stunde brachte der Ober die Pizzen, die er elegant auf einem Arm trug.

„Die schmeckt genauso wie in Italien“, stellte Lena nach ein paar Bissen fest. „Vielleicht haben die hier einen italienischen Pizzabäcker?“

„Sag’s zweimal oder sie importieren die Pizzen aus Italien“, witzelte Heinrich.

Nachdem sie fertig gegessen und ihren Wein ausgetrunken hatten, winkte er einen Ober herbei. „Wir möchten zahlen“, erklärte er. „Ich lad’ dich ein“ meinte er bestimmt in Lenas Richtung, als er bemerkte, dass sie in ihrer Jacke kramte.

„27 Mark 80“, las der Ober von seinem Notizzettel ab.

„30“, erläuterte Heinrich und gab einen Zwanziger sowie einen Zehner her. Es macht schließlich psychologisch betrachtet einen guten Eindruck, wenn man vor Frauen spendabel ist. Ein paar Minuten blieben die beiden noch sitzen, dann verließen sie das Lokal.

„Hast du heute noch was vor?“, fragte Heinrich vorsichtig.

„Nein, wieso?“ – „Wir könnten noch kurz zu mir – ich hab’ da so ein PC-Spiel daheim, dass ich dir gern zeigen würde.“

„Was ist das denn für ein Spiel?“, erkundigte sich Lena neugierig.

„Eine Art Quiz mit recht unkonventionellen Fragen, ist vor allem zu zweit ganz witzig.“

Lena war dem nicht abgeneigt, so dass sich die beiden alsbald wieder in den Passat setzten, um zurück zu Heinrichs Addresse zu fahren. In der Küche war Heinrichs Mutter damit beschäftigt, Plätzchen für Weihnachten zu backen. Sein Vater war wie jeden Samstag nachmittag bei seinen Spezln beim Pokern. Nachdem Heinrich seiner Mutter kurz seine Begleitung vorgestellt hatte, führte er Lena in den ersten Stock hinauf in sein Zimmer.

„Das ist mein Allerheiligstes“, verkündete er mit ernster Stimme und deutete auf seinen PC, der auf einem Schreibtisch stand. Als Lena zu grinsen anfing, musste er ebenfalls lachen.

„Ich schalte ihn mal ein, den Blech-Heini ...“

Er stellte einen zweiten Stuhl neben den, der schon vor dem PC stand und bot Lena den Platz an.

„Möchtest du vielleicht was trinken?“, wollte er höflich wissen. Lena wollte, also holte er ihr von unten etwas, während der PC noch mit dem Starten beschäftigt war.

„Wenn du nochmal ein Glas willst oder Hunger hast – laß es mich wissen“, erläuterte Heinrich, übergab das mitgebrachte Glas und lümmelte sich neben Lena auf den Stuhl. Nach dem Hochfahren legte er eine CD ins Laufwerk ein, es war ‚Du kennst Sepp nicht’, ein Quiz der etwas anderen Art. Nach mehreren Runden, die insgesamt ein paar Stunden dauerten, kam Heinrichs Mutter ins Zimmer.

„Wollt ihr auch Tee trinken? Ich hab g’rad’ welchen gemacht.“

Heinrich starrte fragend in Lenas Augen.

„Ja, wir kommen gleich runter“, antwortete Lena für beide. Nach der aktuellen Frage verließ Heinrich das Programm und schaltete den Computer aus. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinab ins Eßzimmer, wo auf dem Tisch bereits drei Tassen standen. Heinrichs Mutter kam gerade aus der Küche, von wo sie einen Teller mit Plätzchen mit herein brachte. „Bedient euch.“

Na ja, das taten die beiden dann auch. Zugleich entwickelte sich ein nettes Gespräch mit Heinrichs Mutter, während es draußen langsam dunkel wurde.

„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Lena irgendwann.

„Zwanzig vor fünf“, las Heinrich von seiner Uhr ab.

„Dann muss ich langsam heim“, sagte Lena bedauernd. Nachdem sie sich von Heinrichs Mutter verabschiedet hatte, stieg sie zusammen mit Heinrich in den Passat ein, der es als selbstredend erachtete, sie auch wieder heimzufahren. Noch dazu wo es schon ziemlich dämmrig war. Was da nicht so alles passieren kann ... beispielsweise ein Mord mit der stochastischen Wahrscheinlichkeit 1 zu 500 000 oder eine Vergewaltigung mit 1 zu 100 000 ...

Nach einer zügigen Fahrt hielt Heinrich vor Lenas Addresse. Lena beugte sich kurz zu ihm herüber und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

„War ein schöner Tag mit dir“, murmelte sie in sein Ohr. Dann stieg sie aus. Noch immer auf der siebten Wolke schwebend fuhr Heinrich wie in Trance heim.

9. Kapitel

Am nächsten Tag, ein Sonntag, besuchte Heinrich einen alten Freund, mit dem er seit der 5. Klasse befreundet war. Sie spielten abwechselnd Halflife, ein 3D-Ballerspiel mit recht netter Grafik, in dem man als Wissenschaftler gegen Aliens und Soldaten kämpfen musste. Natürlich stand dieses Spiel auf dem Index: wegen übertriebener Gewaltdarstellung. In Deutschland nimmt man es nunmal besonders genau – nicht nur in der Bürokratie. Jedenfalls vertrieben sich die beiden mit diesem Spielchen den Nachmittag, bis sich Heinrich auf grund der fortgeschrittenen Stunde von seinem Freund, sein Name ist Werner, verabschiedete und wieder heimfuhr. Diesmal mit dem Rad, denn regelmäßige Bewegung hält den Körper gesund. Das hatte Heinrich mal irgendwo in einem höchst doktoralen Buch gelesen. Wieder daheim setzte er sich sogleich vor den Fernseher – Tatort anschauen. War doch immer wieder spannend, obwohl ein ständiges Kommen und Gehen bei den Kommissaren herrschte, so dass man sich kaum auf deren Charaktere einstellen konnte. Nach dem Spektakel, das wie immer mit der Verhaftung des Bösewichts endete, marschierte Heinrich schnurstracks in sein Zimmer. Doch obwohl er müde war, konnte er nicht einschlafen. Tausend Gedanken jagten durch seinen Kopf, alle verschieden und doch auf ein Ziel gerichtet. So sehr er sich auch bemühte, an gar nichts zu denken, er konnte es nicht. Ständig dachte er an ein Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen. Ihr Name war Lena.

10. Kapitel

Der Montag Morgen begann leider wie jeder Tag mit dem Aufstehen. Noch dazu zu einer Zeit, die man durchaus als mitten in der Nacht bezeichnen könnte. Draußen war es ja auch noch dunkel. Wenigstens musste er sein Frühstück nicht selbst herrichten. Das erledigten seine Eltern beziehungsweise seine Mutter, denn sein Vater war in der Früh auch nicht besonders tatkräftig. Während Heinrich noch überlegte, ob er mit dem Rad oder mit dem Auto in die FH fahren sollte, meinte seine Mutter beiläufig:

„Ähm, Heinrich? Ich brauch’ heut’ vormittag das Auto, würdest du vielleicht mit dem Rad fahren?“

Tja, Überlegung beendet – also doch Radfahren. Nach dem, was man in der Früh halt alles so macht schnappte Heinrich seinen Rucksack, den er lässig über seine Schulter schwang und radelte los. Für seine Verhältnisse pünktlich um zehn nach acht betrat er das Zimmer 308 und setzte sich an seinen angestammten Platz. Als sein Blick über die nähere Umgebung fiel, bemerkte er, dass sein Nachbar auf einem separaten Blatt diverse Eintragungen gemacht hatte:

„29.10.  10 Minuten“. Eine Verspätungsliste also, dachte er grinsend. Naja, wenn es ihm Spaß macht ...

GDI war diesmal etwas interessanter, denn Prof. Heiter laberte über Packalgorithmen, die er teilweise zwar selbst nicht verstand, aber was machte das schon aus? Er musste im Januar schließlich keine Prüfung schreiben. In der bekannten „kleinen Verschnaufspause“ unterhielt sich Heinrich mit seinem Hintermann.

„Gehst du morgen auf die FH-Party?“, fragte dieser.

„Ach, die ist schon morgen? Ja, ich denke schon, dass ich hingehe“, meinte Heinrich. Zumindest wenn Lena auch hingeht, fügte er in Gedanken hinzu. Nach exakt 11 Minuten kam der Heiter wieder zurück und setzte seine Vorlesung fort. Was es nicht alles für Packverfahren gibt ...

Die zweite Stunde war wieder mal extrem einschläfernd. Mathe hatte Heinrich noch nie übermäßig interessiert, noch dazu wenn man irgendetwas berechnete, mit dem man im realen Leben überhaupt nichts anfangen konnte. Es ist sowieso fraglich, weshalb man im Studiengang Informatik 8 (in Worten: acht) Schulstunden Mathe pro Woche hat. Da kann man ja gleich Mathe studieren. Aber irgendwo muss man ja auch die ganzen untätigen Mathemathiker unterbringen, die auf Grund falscher Schwerpunktsetzung der Regierung in der Vergangenheit jetzt immer noch vorhanden sind. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sozusagen. Damit es nicht gar so viele intellektuelle Arbeitslose gibt. Hört sich schließlich in der Statistik schlecht an, wenn sogar Professoren arbeitslos sind – das ist nicht gut für die Motivation des Normalbürgers. So nach dem Motto: wenn selbst ein studierter Promovierter keine Arbeit bekommt, was mache dann ich mit meinem Realschulabschluß? Um der Langeweile etwas zu entfliehen hatte sich Heinrich extra ein Spiele-Magazin mitgenommen, dass er nebenbei oder besser gesagt hauptsächlich, las. Nach den üblichen 90 Minuten wusste er jetzt zumindest, welche Spiele er sich in der nächsten Zeit etwas näher anschauen musste. Kaufen oder leihen oder anderweitg beschaffen. Für DVS hatte sich Heinrich bereits ein Blatt Papier hergerichtet, auf dem er während der Stunde einen Strich hinzufügte, wenn Prof. Müller wieder eines seiner „Lieblingswörter“ verwendete. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sorgten verständlicherweise immer wieder für Heiterkeit in der näheren Umgebung. An diesem Tag war er allerdings nur durchschnittlich. Schade!

„ ... und damit beschäftigen wir uns dann das nächste Mal ...“, beendete der Müller die Vorlesung. Na dann nichts wie ab nach Hause. Nach dem Mittagessen vergnügte sich Heinrich zuerst mal etwas vor dem PC. Alien vs. Predator 2 war schon ein echt geiles Spiel und vor allem so friedlich, besonders in der englischen Version ...

Den restlichen Nachmittag verbrachte er mit mehreren Freunden in der Stadt. In dieser Nacht träumte er das erste Mal von Lena. An die genauen Erlebnisse konnte er sich zwar nicht mehr erinnern, als er aufwachte, allerdings bemerkte er, dass sich sein Herz anfühlte wie mit Watte eingewickelt. Oder wie wenn es eine eigene Seele hätte. Das kann man schlecht mit Worten beschreiben. Jedenfalls war ihm sehr eigenartig zu Mute, als er erwachte.

11. Kapitel

Am Dienstag abend gegen 18 Uhr brach Heinrich in Richtung FH auf – Lena ging nämlich auch zur FH-Party. Als Heinrich ankam war bereits ziemlich viel los. Doch so sehr er sich auch umsah, er konnte Lena nicht entdecken. Nachdem er fast das halbe Gelände abgelaufen war, fand er sie schließlich. Nach einer verhaltenen Umarmung setzten sich die beiden auf die erstbeste freie Bank, die sie finden konnten. Während Lena den Platz freihielt, besorgte Heinrich was zu trinken. Bier für sich selbst und Wein für Lena. Nach einer Weile bekamen sie Hunger, daher organisierte Lena ein paar belegte Brote, die sie mit gesundem Appetit hineinmampften. Dann wollte Lena unbedingt tanzen, aber Heinrich zierte sich ein wenig.

„Ich kann nicht besonders gut tanzen.“

„Das ist ganz einfach“, versuchte Lena ihn zu ermutigen. „Ich zeig’s dir.“

Nach einer gewissen Zeit machte es Heinrich sogar Spaß, obwohl er sich trotzdem etwas lächerlich vorkam mit dem Gehampel, das er abzog.

„Gefällt dir die Musik?“, wollte Lena wissen. Ihr schien sie offenbar zu gefallen.

„Nun ja“, schätzte Heinrich überlegend ab. „Klingt wie eine Mischung aus klingonischer Oper und Backstreet Boys.“

Eine viertel Stunde später holte sich Heinrich noch ein Bier.

„Weil man den Krach sonst nicht aushält“.

Eine Stunde und noch ein Bier später saßen die zwei etwas abseits der großen Meute, wo sie sich besser unterhalten konnten.

„Ach Lena“, seufzte Heinrich, den das Bier mittlerweile sehr gesprächig gemacht hatte. „Du bist echt ein nettes Mädel ...“

Lena, die nach einem Glas Wein wohl durchaus noch als nüchtern zu bezeichnen war, fand seinen Zustand recht belustigend. Noch dazu, wo sie erst vor kurzem gelesen hatte, dass Alkohol erstens gesprächig macht, man zweitens zwischen wichtigem und unwichtigem nicht mehr klar unterscheiden kann und daher oft Sachen sagt, die man sonst nicht sagen würde.

„Vor ein paar Tagen hab’ ich sogar von dir geträumt“, erzählte Heinrich weiter. „Liegt wohl daran, dass du das Mädchen meiner Träume bist.“

„Ich mag’ dich auch, Heinrich“, murmelte Lena und gab ihm einen Kuss. Eine Weile blieben die beiden noch, dann entschieden sie sich aufzubrechen. Morgen mussten sie schließlich wieder früh aufstehen, zumindest wenn sie nichts versäumen wollten.

„Soll ich dich heimfahren?“, bot Lena an. Heinrich, der mit Mühe und Not noch einigermaßen gerade gehen konnte, nahm dieses Angebot dankend an. Auf der Heimfahrt wurde er zunehmend müder, so dass seine Kommunikationsbereitschaft rapide abnahm.

„Schlaf gut“, wünschte ihm Lena, als er torkelnd ausstieg.

„Du auch“, meinte dieser gähnend, bevor er die Haustür aufschloß und hinauf in sein Zimmer wankte. Zähneputzen nicht vergessen, Schlafanzug anziehen, Mann, war das eine Feier.

12. Kapitel

Am nächsten Morgen kam Heinrich nur mit großer Mühe aus dem Bett heraus. Vielleicht hatte er gestern doch ein wenig zu viel Bier getrunken? Die Einsicht kommt spät, aber sie kommt ...

Nach dem Frühstück entschloß er sich nochmal ins Bett zu gehen. In diesem Zustand in der FH zu hocken würde sowieso nicht viel bringen. Obwohl er ziemlich kaputt war, konnte er nicht mehr einschlafen, darum stand er dann doch auf. Mal schauen, wie spät es ist ... aha, kurz nach acht. Naja, dann lohnt es sich direkt noch, in die erste Stunde hineinzuschneien. Gemütlich zog sich Heinrich an, packte sein Zeug zusammen und fuhr los. Gegen halb neun erreichte er das von außen unscheinbare FH-Gelände. Jetzt nur noch einen schönen Parkplatz finden und dann nichts wie hinauf zu „Programmieren“. Um genau 8 Uhr 36 betrat Heinrich das Zimmer mit der Nummer 308. Sein Nachbar fügte sofort zu seiner „Verpätungsliste“ die Zeile „31.11.  36 Minuten“ hinzu. Grinsend steckte er daraufhin den Zettel wieder weg und meinte schelmisch:

„Sind wir gestern wieder nicht ins Bett gekommen?“

„Erinner mich bloß nicht“, stöhnte Heinrich. „Ich bin jetzt noch immer nicht ganz nüchtern ...“

Von der Programmieren-Vorlesung bei Prof. T. Grobtor bekam er daher nicht all zu viel mit. Wenigstens war in der zweiten Stunde frei, so dass er sich ein wenig im Rechenzentrum erholen konnte. Sofern man zwei Stunden Daten herunterladen als Erholung bezeichnen kann. Das ist nämlich ziemlich streßig. Von einer Seite auf die nächste wechseln, Daten anklicken, auf das Stammverzeichnis kopieren, vorher die Datenqualität im Schnelldurchlauf auskundschaften, neue Daten suchen und so fort. In der dritten Stunde in DVS musste sich Heinrich wirklich zusammenreissen, um nicht vor sich hin zu dösen. 90 Minuten können sehr lange dauern ...

Doch alles hat bekanntlich irgendwann ein Ende – bis auf die Wurst, denn die hat bekanntlich zwei. Aber damit schweife ich etwas vom Thema ab. Wie gesagt war DVS auch einmal vorbei, so dass Heinrich wieder nach Hause fahren konnte. Wegen seiner Müdigkeit unternahm er nichts Besonderes. Fernsehen, computern, lesen, ausspannen – ruhige Sachen eben. Im Lauf des Nachmittags entschloß er sich Lenas Nummer zu wählen. Warum? Na, um mit ihr zu telefonieren.

„Lena?“, meldete sich jemand.

„Grüß dich Lena, ich bin’s“, gab sich Heinrich zu erkennen.

„Ach du bist’s“, meinte Lena. „Wie geht’s dir heute so?“

„Na ja ... ich bin kaum aus dem Bett heraus gekommen. In der FH wars auch ziemlich streßig, Schwamm drüber. Hab’ ich gestern abend eigentlich irgendeinen besonderen Schmarrn erzählt?“

„Sagen wir mal so: es war recht aufschlußreich“, umschrieb Lena. „Du warst ganz in Ordnung. Ich hab’ da schon Kerle gesehen, die wussten praktisch nicht mehr wo sie wohnten. Gut, das ist vielleicht ein bißchen übertrieben, aber du weißt schon wie ich es meine.“

„Ich denke doch“, bekräftigte Heinrich. „Wie ist es dir heute ergangen?“

„Bis auf die Tatsache, dass ich ein wenig müder als sonst war, an und für sich ganz passabel. Was machst du jetzt noch?“

„Keine Ahnung“, meinte Heinrich. „Ein wenig vor dem Fernseher entspannen, Musik hören, mal schauen. Und du?“

„Eine Freundin holt mich ab und wir gehen ein wenig in die Stadt. Hast du Lust mitzukommen?“

„Nicht unbedingt“, gab Heinrich zu. „Ich bin ehrlich gesagt ziemlich müde und würde ganz gern etwas eher ins Bett gehen. Mal was anderes: am Samstag abend macht ein Freund von mir seine Geburtstagsfeier. Willst du mitkommen?“

„Hmm“, überlegte Lena. „Was sagt denn dein Freund dazu, wenn du jemanden mitbringst?“

„Der freut sich bestimmt. Er hat nämlich extra betont, dass man auch in weiblicher Begleitung kommen kann.“

„Na ja dann ...“, meinte Lena. „Wo sollen wir uns dann treffen? Bei dir?“

„Es wird das Beste sein, wenn ich dich abhole. Ist dir das recht?“, fragte Heinrich.

„Ja, klar. Um wieviel Uhr?“

„Offiziell beginnt die Feier um 19 Uhr, aber es genügt, wenn wir so um 20 Uhr aufkreuzen. Erstens sind dann schon die meisten anwesend, zweitens ist vorher noch nichts zum Essen da und drittens müssen wir dann nicht beim Herrichten helfen.“

„Aha“, kam Lenas irritierte Stimme aus dem Apparat. „Was ist denn das für eine Feier?“

„Ach, eine ganz normale“, erläuterte Heinrich schmunzelnd. Nachdem sie noch etwas über belanglosere Dinge gesprochen hatten, beendeten sie ihr Gespräch. So billig war der Tarif der Telekomik dann auch wieder nicht. Und um 3 Uhr in der Nacht hatten sie auch etwas Besseres vor, als sich stundenlang zu unterhalten.

13. Kapitel

Am Samstag abend pünktlich um 19:45 Uhr mitteleuropäischer Zeit stand Heinrich vor Lenas Haustür und klingelte. Die Tür ging auf und eine elegant gekleidete Lena kam heraus.

„Fesch!“, bewunderte Heinrich das blaue Abendkleid. Er selbst hatte lediglich eine graue Jeans sowie einen gelben Pullover an. Mit Heinrichs Passat fuhren sie durch die halbe Stadt bis in die Gegend, in der Heinrichs Freund wohnte. Eine Kirchturmuhr in der Nähe schlug gerade 20 Uhr, als sie vor dem Haus hielten. Von außen bemerkte man bereits, dass hier etwas los war, denn Musik dröhnte trotz geschloßener Fenster auf die Straße heraus und ein halbes Dutzend Autos stand unmittelbar vor dem Haus. Heinrich öffnete die offene Haustür und bahnte sich einen Weg durch den engen Gang nach oben in den ersten Stock. Dort begrüßte er zuerst einmal alle Anwesenden, von denen er die meisten persönlich kannte und übergab anschließend dem Geburtstags“kind“ – man bedenke den Umstand, dass Peter 20 Jahre alt geworden war – sein mitgebrachtes Geschenk.

„Alles Gute, Peter“, wünschte er ihm die Hand drückend.

„Wer ist das?“, fragte Peter neugierig, als er hinter Heinrich Lena erspähte.

„Das ist eine Freundin von mir“, erzählte Heinrich. „Sie heißt Lena.“

„Servus Lena“, meinte Peter kurz und stellte sich selbst als „Ich heiß’ Peter.“ vor.

„Ich wünsch dir natürlich auch alles Gute“, schloß sich Lena dem Wunsch von Heinrich mit an. „Ich danke euch“, sagte der Gastgeber ergriffen. „Wenn ihr Hunger oder Durst habt: bedient euch, wenn nicht, dann nicht.“

Damit deutete er auf zwei lange Tische, auf denen alles mögliche stand: belegte Brote, Salate, Kuchen und räumlich davon getrennt diverses zum Trinken als da wären Cola, Limo, Wasser und selbstverständlich Bier.

„Kennst du die Typen alle, die hier sind?" fragte Lena.

„Ja“, bestätigte Heinrich. „Das sind alles Kumpels von früher, von denen ein paar ihre Freundinnen mitgebracht haben, die ich zum Teil auch kenne.“

Lena blickte ihn mit gespielter Entrüstung von der Seite her an.

„Aber nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst“, fügte er daher eilig hinzu. Der Reihe nach stellte ihr Heinrich alle Anwesenden vor, die er dabei jeweils in ein kleines Gespräch verwickelte.

„So“, schloß Heinrich seine Bekanntmachungen. „Also ich geh’ jetzt was essen. Kommst du mit oder willst du dich gleich mit irgendwem unterhalten?“

„Nicht mit irgendwem“, zwinkerte Lena bestimmt. „Mit dem blondhaarigen Burschen da drüben im grünen Sessel.“

„Ah“, machte Heinrich. „Mit Tommi. Laß dir aber von ihm bloß nicht eine Mitgliedschaft bei der Jungen Union aufschwatzen.“

„Ist der politisch engagiert?“, fragte Lena.

„So kann man es nennen. Der will bis spätestens 2030 Bundeskanzler werden, aber ob das klappt ...“ Heinrich wiegte unsicher seinen Kopf hin und her. „Also: amüsier dich.“

Schon hatte sich Heinrich herumgeworfen und steuerte auf die Fressalientafel zu. Als erstes verspeiste er zwei Wurstsemmeln gefolgt von zwei Käsesemmeln und Unmengen an Chips, die er auch im weiteren Lauf des Abends immer wieder mal in sich hineinstopfte. Und weil das Zeug durstig macht, trank er gleich ein Bier hinterher. Aber nur eins. Er wollte schließlich nicht schon wieder besoffen sein, wenn Lena mit dabei war. Außerdem musste er noch mit dem Auto heimfahren. Lena unterhielt sich währenddessen unter anderem mit Tommi, der es wie Heinrich vorhergesagt hatte tatsächlich versuchte, Lena zu einer Mitgliedschaft in der JU zu verhelfen, aber dabei scheiterte, sowie mit Sonja, einer alten Bekannten von Peter. Heinrich fachsimpelte indessen mit Theodor und Werner über Computerspiele, genauer gesagt Strategiespiele.

„Zuerst schickst du deine Panzer nach vorn“, begann Werner. „Dann rückst du mit Infanterie nach und sobald du auf den Feind triffst, stößt du mit den Panzern an zwei oder drei Stellen durch. Mit der Infanterie kesselst du dann alles ein, was sich vor dir bewegt. Früher oder später geht den Truppen im Kessel der Nachschub aus und – rumms – schon hast du gewonnen.“

„Hört sich ja ganz nett an“, gab Heinrich zu. „Aber: was machst du, wenn deine Panzer nicht durchstoßen können?“

„Schwerpunktbildung“, antwortete Werner knapp. „Dann kommst du garantiert durch.“

„Na ja“, bemängelte Thomas. „Das kann aber ganz schön verlustreich sein. Ich finde es ist besser, den Gegner in einer geschloßenen Linie anzugreifen, um ihn so überall in die Defensive zu zwingen.“

„Dann musst du deine Truppen aufteilen und dann ist der Angriff nicht so effektiv“, schüttelte Heinrich den Kopf.

„Ja, ja“, entgegnete Thomas und setzte zu einem erneuten Gegenargument an. So ging das eine ganze Weile, bis Lena schließlich hinzukam.

„Über was redet ihr eigentlich? Über den dritten Weltkrieg?“ fragte sie. Heinrich grinste verschmitzt.

„Strategische Kriegsführung. Und du hast dich auch gut amüsiert?“

„Ja. Es war bisher recht nett“, bestätigte Lena. „Ich hol’ mir noch was zu trinken. Soll ich was mitbringen?“

Heinrich und Werner lehnten dankend ab, Thomas hingegen bat Lena ihm noch ein Bier mitzunehmen.

„Versoffen wie eh und je, gell Thomas?“, witzelte Werner, der an diesem Abend nach seinem zweiten Bier nur noch Limo trank.

„Er wiegt ja auch ein bißchen mehr als du“, erklärte Heinrich. „Da verteilt sich dann das Bier besser ...“

Langsam aber sicher neigte sich der Tag seiner letzten Stunde entgegen und die ersten verließen die Feier. Werner gehörte unter anderem zu ihnen. Gegen 1 Uhr 30 waren nur noch Heinrich, Lena, Thomas, Sonja und Peter da und als Lena über Müdigkeit klagte und daher zusammen mit Heinrich aufbrach, löste sich die Runde von selbst auf.

„Bin ich müde“, murmelte Lena, bereits halb die Augen schließend.

„Soll ich schneller fahren?“, erkundigte sich Heinrich.

„Lieber nicht“, erwiderte Lena ängstlich. „Nicht das noch was passiert.“

„Was soll schon groß passieren? Um diese Uhrzeit ist ja ohnehin fast niemand mehr unterwegs.“

Dennoch hielt er sich an Lenas Bitte, soviel Ehrgefühl besaß er in jedem Fall. Nach nicht einmal zehn Minuten kamen sie in der Straße an, in der Lena wohnte. Wie schnell man doch durch die Stadt vorankam, wenn kaum Verkehr herrschte und die Ampeln ausgeschaltet waren.

„Wir sind da“, stellte Heinrich fest. Lena nahm dies zur Kenntniss, doch bevor sie ausstieg, beugte sie sich zu ihm hinüber und sie küssten sich noch eine Weile recht leidenschaftlich.

14. Kapitel

Die neue Woche begann zur Abwechslung mit einem Verkehrschaos, denn in den frühen Morgenstunden am Montag hatte es bis auf 500 Meter herunter geschneit. Was für eine Gaudi! Da hatte man wenigstens einen triftigen Grund, wenn man zu spät kam. Heinrich beschloß mit dem Rad zu fahren, denn das war sicher die schnellste Methode. Man bedenke, dass die meisten Leute – hauptsächlich aber Frauen und ganz speziell Blondinen – schon bei gutem Wetter etwas Probleme mit dem Autofahren haben. Soll heißen bei Schneetreiben musste man annehmen, dass ein einziges Chaos herrschte. Diese Annahme war auch richtig. Bloß gut, dass Heinrich ein paar kleine Schleichwege kannte, so daß er in der Lage war, verstopfte Kreuzungen und Straßen recht gut zu umfahren. Dennoch kam er erst gegen 8 Uhr 25 in der Hochschule an. Diesmal jedoch nicht wie sonst fast immer als letzter – denn gelegentlich kam auch eine Blondine aus der ersten Bank zu spät – sondern als vorletzter. Die eben genannte Blondine kam circa fünf Minuten später deutlich hörbar herein, denn sie trug gewöhnlich Schuhe mit hohen Absätzen, welche das typische klack-klack erzeugten, was die Aufmerksamkeit natürlich überpoportional stark auf sich zog. An den übrigen Tagen der Woche kam jedoch Heinrich wieder als letzter. Seinen Rang als Europameister im Zuspätkommen hatte er damit erfolgreich verteidigt.

Fürs Wochenende hatte Heinrich mit Lena vereinbart ein wenig zum Skifahren in die Berge zu fahren. Weil Lena am Samstag schon etwas vorhatte, fuhren die beiden am Sonntag und zwar mit dem BMW von Lenas Vater. Beide waren warm angezogen, denn die Temperatur betrug frostige -10 Grad. Das hieß in den Bergen war es noch um ein paar Grad kälter, aber wozu hatten denn beide einen Skianzug an? Nach der recht ruhigen Fahrt über Landstraßen folgte eine längere Strecke, die sich in Schlangenlinien windend leicht anstieg. Doch die Straßen waren bestens geräumt, so dass dies kein Problem darstellte. Einige Minuten später hatten sie ihr Ziel, einen kleinen Parkplatz am Fuße eines Berges, dessen Name Heinrich zwar nicht wusste, aber den er schon öfter bestiegen hatte, erreicht. Nach dem eher beschwerlichen Aufstieg durch den knietiefen Schnee mit den Skiern auf den Schultern machten die beiden eine längere Pause auf der Berghütte am Gipfel. Anschließend traten sie die rasante Fahrt ins Tal an. War schon eine Mordsgaudi in einem Affenzahn dahin zu brettern. Als sie unten angekommen waren, bibberte Lena:

„Ich spüre meine Finger gar nicht mehr, obwohl ich Handschuhe anhabe.“

„Mir geht’s genauso“, erwiderte Heinrich. „Ist schon ziemlich kalt hier. Aber euer Auto hat doch sicher eine Standheizung oder?“

„Hoffentlich“, wünschte sich Lena und ihr Wunsch wurde erfüllt. Auf der Heimfahrt tauten beide recht rasch wieder auf, aber irgendwo musste man ja einen Unterschied zwischen einem BMW und beispielsweise einem Fiat erkennen können. Der Preisunterschied war zumindest nicht gerade leicht zu übersehen. Jedenfalls kamen die zwei am Nachmittag wieder zu Hause an, noch ehe es richtig dunkel war. Der wegen der kalten Witterung noch immer am Boden liegende Schnee sorgte außerdem für eine optimale Restlichtverwertung.

„Morgen hab’ ich wieder einen langen Tag“, erzählte Lena. „Bis dreiviertel fünf.“

„Du Arme. Dann geh’ halt einfach eher.“

„Ich glaub’ nicht, dass ich mir das leisten kann. Wie lang hast du denn?“

„Normalerweise hätte ich bis drei“, meinte Heinrich, „aber ich geh’ immer um eins heim. In BWL bin ich noch nie gegangen und dahin werde ich auch garantiert nie gehen. Ich hab’ das schließlich am Schimpansium schon bis zur Vergasung durchexerzieren müssen.“

„Tja“, schloß Lena. „Dann wünsch ich dir noch einen geruhsamen Abend.“

„Ich dir ebenfalls.“

Damit trennten sich die beiden.

15. Kapitel

In den nächsten Wochen festigte sich die Freundschaft zwischen Lena und Heinrich weiter, so dass Heinrich am Mittwoch, den 5. Dezember beschloß, die Nichtanwesenheit seiner Eltern am darauffolgenden Wochenende zur weiteren Verbesserung dieser Freundschaft auszunutzen oder sagen wir besser: zu verwenden. Hört sich nämlich wesentlich braver an. Nach einem kurzen Telefongespräch mit Lena schwenkte er auf sein anvisiertes Gesprächsthema ein und legte los:

„Meine Eltern sind am Wochenende nicht da ...“

„Wo sind sie denn?“, fragte Lena neugierig.

„Beim Skifahren“, erwiderte Heinrich beiläufig. „Hast du am Samstag Zeit?“

„Ja“, flötete Lena.

„Du kannst vorbeikommen, wann du willst – ich bin den ganzen Tag über daheim. Sturmfreie Bude muß man doch ausnutzen, oder?“

„Auf alle Fälle“, pflichtete Lena bei. „Und inwiefern willst du’s ausnutzen?“

Jetzt war das Gespräch sozusagen auf dem Höhepunkt angelangt. Eifrig meinte Heinrich:

„Wenn du Lust hast, könntest du auch bei mir übernachten ...“

Das war das blöde an der Kommunikation per Telefon, denn man bekam nicht mit, wenn der Gesprächspartner errötete, skeptisch dreinblickte oder sonst eine wichtige Geste oder Handlung machte. Die Sekunden vergingen im Zeitlupentempo – die Antwort ließ auf sich warten.

„Mal schauen“, wich Lena vorsichtig aus. Typisch Frau. Wenigstens hatte sie nicht nein gesagt. Das war schon mal was wert.

„Nun gut“, fuhr Heinrich unbeirrt fort. „Morgen ist Nikolaus, aber davon werde ich kaum was mitkriegen. Du weißt ja, dass ich bis dreiviertel fünf DVS hab. Aber dafür bleib ich am Freitag sozusagen als Ausgleich daheim.“

„Also du nimmst das schon recht locker“, bemerkte Lena. „Wann habt ihr denn Prüfung in Mathe?“

„Keine Ahnung. Irgendwann im zweiten Semester, ist also noch ne Ewigkeit hin und bis dahin hab ich freitags immer frei ...“

16. Kapitel

Am Samstag morgen früh um 6 Uhr verließen Heinrichs Eltern das Haus, um möglichst bald in Österreich anzukommen. Heinrich bekam davon natürlich nichts mit. Er war am Vorabend etwas länger aufgeblieben und schlief daher noch. Um kurz vor 10 Uhr wachte er auf, doch er blieb noch ein wenig liegen. War schließlich schön warm im Bett und müde war er irgendwie immer noch. Trotzdem stand er dann doch auf und machte sich erst einmal ein Frühstück. Eine Tasse Kaba und ein paar Honigbrote wie an jedem Morgen. Daran hatte er sich im Lauf der Zeit so gewöhnt, dass er nicht mehr darauf verzichten wollte. Um das Frühstück etwas gemütlicher zu gestalten, schaltete Heinrich die Stereoanlage an. Eine Runde Rammstein nach dem Aufstehen tat doch immer wieder gut. Erst recht wenn man von niemandem mit „Mach den Krach leiser“ zurechtgewiesen wurde. Manche Leute wussten einfach nicht, was gute Musik ist. Quasi Kunstbanausen. Nachdem die ganze Herzeleid-CD abgespielt worden war, suchte Heinrich das Bad auf. Wenn Lena kam, wollte er wenigstens einigermaßen fesch sein. Und sei es nur um sein Selbstbewußtsein zu erhöhen. Nach zehn Minuten war er fertig. Rasieren, Waschen, Zähne putzen dauert nun mal nicht lang und so setzte er sich zur Zerstreuung vor den Computer. Eine kleine Panzerschlacht, gefolgt von einem Infanteriesturmangriff, schon war er in seinem Element. Als es plötzlich an der Tür läutete, sah er kurz auf die Uhr. 13 Uhr 30. Das hieß, er hatte etwa zweieinhalb Stunden gespielt. Lag wohl daran, dass die virtuelle Zeit schneller vergeht. Vor der Tür stand, wie konnte es anders sein, Lena.

„Morgen – komm rein“, wurde sie sogleich begrüßt.

„Grüß dich Heinrich.“

„Hast du schon was zu Mittag gegessen?“, erkundigte sich dieser.

Lena nickte kurz. „Bevor ich losgefahren bin.“

„Dann mach ich mir schnell noch was – ich hab’ nämlich die Zeit etwas übersehen“, kündigte Heinrich an. „Bin vor lauter Computerspielen nicht zum Mittagessen gekommen.“

„Die unwichtigen Sachen kommen eben immer zu kurz“, meinte Lena zynisch. Heinrich strich sich in der Küche ein paar Butterbrote, die er dann mit Käse belegte.

„Soll ich dir was zu trinken bringen?“ bot er an, doch Lena war nicht durstig. Während er also seine Käsebrote aß, erzählte Lena von ihren Erlebnissen am vorangegangenen Tag. Sie war mit zwei Freundinnen in die Stadt gegangen und dort hatte sie ein Kerl angesprochen, der ihnen mit den Worten „Ruft mich an“ eine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte.

„Und?“, warf Heinrich neugierig ein.

„Was und?“, fragte Lena.

„Hast du schon angerufen?“ – „Ich ruf doch nicht einfach irgend jemand an, der mir seine Telefonnummer gibt“, meinte Lena bestimmt.

„Wie sah der Typ denn aus?“, wollte Heinrich wissen.

„Ganz normal würd’ ich sagen. Schwarze Haare, mittelgroß, unrasiert, fleischige Nase, normal angezogen.“

„Den würd’ ich schon mal anrufen“, grinste Heinrich verhalten. „Das ist sicher ein lustiger Typ.“

„Dann ruf du ihn halt an“, schlug Lena vor. „Willst du seine Nummer haben?“

„Und was sag ich dem dann? Dass er mir seine Visitenkarte gegeben hat?“

Lena fing zu kichern an. „Meld dich halt mit ‚Hallo mein Süßer’.“

Nun musste auch Heinrich grinsen, bevor er endgültig das Thema wechselte.

„Bist du mit dem Auto da?“ – „Ja, warum?“ – „Fahren wir ne Runde raus zum See?“

„Gut. Jetzt gleich?“

„Nun ja“, überlegte Heinrich. „Je länger wir warten, desto dunkler wird es draußen.“

Der Schnee war in den letzten Tagen auf Grund eines zwischenzeitlichen Wärmeeinbruchs bis auf kleine Reste geschmolzen. Die Temperatur betrug für diese Jahreszeit angenehme 9 Grad Celsius. Nicht nur im Schatten sondern auch in der Sonne, aber da man die Sonne nicht sah, weil Wolken davor waren, kam das auf dasselbe hinaus. Als sie am See angekommen waren, parkten sie den BMW auf dem Parkplatz eines Badestrands, der im Winter natürlich ziemlich leer war. Es gibt zwar einige Leute, die auch im Winter zum baden gehen, aber nicht aus Spaß, sondern wegen ihrer Gesundheit. Eisschwimmen tut angeblich bei Erkrankungen der Nebenhöhlen gut. An diesem Tag war allerdings keiner dieser harten Gesellen unterwegs, den man hätte beobachten können. Darum marschierten sie zu Fuß weiter bis zu der Bank, an der sie vor einigen Wochen mal bei der Radtour eine Rast gemacht hatten. An dieser Bank hatten sie sich das erste Mal geküßt, daher hatte sie einen fast schon magischen Charakter für Heinrich. Deshalb hatte er auch vorgeschlagen zum See zu fahren, um dort eben zu jener Bank zu gelangen. Ob Lena symbolisch betrachtet genauso viel mit der Bank verband wie er selber, konnte er nicht sagen. Jedenfalls setzten sich die beiden eine Weile dorthin. Heinrich legte zärtlich seinen Arm um ihre Schultern und küsste sie zuerst hingebungsvoll am Hals, dann weiter nach oben gehend bis zur Mundregion. Lena schloß dabei die Augen, doch als er aufhörte, blickte sie ihn wieder mit ihren blauen Augen an, in denen ein Glanz lag, den man nicht in Worte fassen kann.

„Ich liebe dich“, murmelte Heinrich leise. Lena berührte mit ihrem Zeigefinger seine Lippen, so als ob sie wollte, dass er schwieg.

„Ich liebe dich auch“, flüsterte sie. Die beiden blieben noch mehrere Minuten händchenhaltend sitzen, bis Heinrich schließlich aufstand.

„Laß uns weitergehen“, schlug er vor. Sie folgten dem Weg, der um den See herum führte bis zum Parkplatz, auf dem sie ihr Auto abgestellt hatten. Obwohl es noch nicht einmal drei Uhr war, begann es bereits langsam zu dämmern. Liegt wohl daran, dass im Winter der kürzeste Tag gerade mal gut halb so lang ist wie der längste Tag im Sommer. Zumindest bei uns in Mitteleuropa. Woanders sieht das natürlich ganz anders aus. Man denke zum Beispiel an Norwegen oder Schweden, wo es monatelang Tag beziehungsweise Nacht ist. Jedenfalls hatten die beiden keine große Lust, weiter im Halbdunkel herumzuwandern, denn ganz so romantisch war das dann doch nicht. Daher fuhren sie wieder zurück. Die Wärme des geheizten Wohnzimmers verbunden mit einer Kanne heißen Tee sorgte binnen kürzester Zeit für leibliches Wohlbefinden.

„Soll ich ne CD einlegen?“, macht Heinrich einen Vorschlag.

„Kommt darauf an“, meinte Lena. „Wenn es was anderes als Rammstein ist ...“

Lena kannte Heinrichs Vorliebe für diese Rockgruppe aus Berlin, die sie jedoch aus unverständlichen Gründen nicht teilte.

„Wie wäre es mit Böhse Onkelz? Oder Volxsturm?“, stellte Heinrich zur Auswahl. „Vielleicht Knorkator? Auch nicht? Joachim Witt?“

Lena bevorzugte eher etwas ruhigere Musik, aber sie schwärmte durchaus auch für den letztgenannten, daher legte Heinrich die Bayreuth 1-CD ins Laufwerk. Schon orgelte die Anlage mit ‚Das jüngste Gericht’ los. Ein passender Einstieg in die düster bis mystische Gesangswelt des Joachim Witt der späten 90er Jahre. Heinrich setzte sich neben Lena auf das gepolsterte Sofa, das in einer Ecke des Wohnzimmers stand. War schon irre gemütlich – das warme Zimmer, die Musik, das weiche Sofa auf dem jemand saß, den man sehr gern hatte – kurzum: so konnte man es aushalten. Eben begann das zweite Lied mit dem Titel ‚Das geht tief’, als Lena ihre Füße auf dem Sofa ausstreckte und ihren Kopf in Heinrichs Schoß legte. Liebevoll kraulte er ihre Haare, die wie Gold glänzten. Aber was zählte schon Gold, wenn man einen viel wertvolleren Schatz gefunden hatte?

„Das geht so tief, tief, tief ...“, schallte es aus den Lautsprechern in den Zimmerecken. In der Tat, dachte Heinrich. Gerade als ‚Die Flut’ zu Ende war, setzte sich Lena wieder auf.

„Hast du eine Ahnung wie spät es ist?“

„Kurz nach 16 Uhr“, gab Heinrich bekannt. „Willst du etwa schon gehen?“

„Nein“, lächelte Lena. „Ich will nur daheim anrufen und meinen Eltern sagen, dass sie heute nicht mit dem Essen auf mich warten brauchen.“

„Wie lange gedenkst du hier zu bleiben?“, erkundigte sich Heinrich vorsichtig.

„Du hast mich doch eingeladen bei dir zu übernachten, oder?“, erinnerte Lena.

„Ja klar“, bestätigte Heinrich. „Aber du warst dir nicht recht sicher ...“

„Ich will halt nichts überstürzen“, erwiderte Lena. „Aber jetzt bin ich mir sicher, dass es die richtige Zeit ist.“

Na also, ging es Heinrich durch den Kopf. Warum nicht gleich so?

„Also ich ruf kurz daheim an. Bin gleich wieder da“, kündigte Lena an, bevor sie das Zimmer verließ. Nach kaum zwei Minuten kam sie zurück und setzte sich wieder neben Heinrich aufs Sofa. Eine ganze Weile lauschten sie noch den Klängen der Stereoanlage, bis die CD zu Ende war.

„Soll ich eine andere CD einlegen?“, schlug Heinrich vor.

„Wegen mir nicht“, meinte Lena. „Lass uns einfach die Stille genießen.“

Lena beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. Dann ließ sie sich auf seinem Schoß nieder, strich mit ihren Händen über sein Gesicht und küsste ihn abermals. Heinrich erwiderte ihre zarten Liebkosungen und bemerkte, wie ihn dies erregte. Das musste sie doch auch mitkriegen, sie saß ja direkt auf dem Erregungszentrum. Richtig geraten, denn Lena brachte es auf den Punkt:

„Du weißt schon, dass ich zaubern kann, oder? Ich kann Dinge groß machen, die vorher ganz klein waren ...“

17. Kapitel

Nachdem sie sich noch eine Weile miteinander beschäftigt hatten, kamen sie überein auf dem PC noch eine Runde „Du kennst Sepp nicht“ zu spielen.

„Angenommen Kleopatra hätte eine Kontaktanzeige aufgegeben. Welcher Satz darin wäre eine glatte Lüge gewesen?“, las Lena grübelnd vor. „Erstens: Echte Ägypterin zeigt dir die Liebe, zweitens: Sie, mit Bruder vermählt, sucht dich, drittens: Lebensmüde bevorzugt, Natter vorhanden oder viertens: Marc Anton fand mich super ... keine Ahnung ...“

„Um so besser“, grinste Heinrich schadenfroh, „dann macht es dir ja nichts aus, wenn ich dich nagle ...“

Mit „Nageln“ ist bei diesem Quiz gemeint, dass man seinen Spielpartner dazu zwingen kann, auf eine Frage zu antworten. Allerdings hat man nur einen Nagel pro Runde – also pro 10 Fragen – zur  Verfügung. Daher sollte man ihn gezielt einsetzen und angesichts einer 3000 Mark-Frage wie in diesem Fall lohnte sich das schon.

„Ich weiß es nicht“, jammerte Lena. „Aber ich glaube am wahrscheinlichsten ist Antwort vier.“

Darum drückte sie eben auf diese Zahl, doch der PC war anderer Meinung, denn er spielte eine der vielen „Falsch“-Klänge ab.

„Kleopatra hatte mit Marc Anton drei Kinder“, erklärte Heinrich. „Außerdem war sie mit ihrem Bruder Ptolemaios vermählt und hat sich nach der Niederlage gegen die Römer mit einer Schlange umgebracht. Bleibt also nur noch erstens übrig.“

„Genau“, flötete der Moderator des virtuellen Quiz. „Aber diese Lüge hätten Sie der lieben Kleo doch gern vergeben ...“

„Hast du die Frage gekannt?“, fragte Lena.

„Nein“, gab Heinrich zu. „Ich hab nur vor kurzem einen Film namens ‚Kleopatra’ im Fernsehen gesehen. Das war so eine Art Historienfilm und da hab ich mir halt ein paar Sachen gemerkt. War ja auch eine ausgesprochen interessante Frau ...“

Nachdem sie etwa eine Stunde gespielt hatten, zeigte Heinrich noch diverse Bilder her, die ein Freund von ihm mit seiner Digitalkamera aufgenommen hatte. Die Fotos deckten so ziemlich alle Bereiche ab, die man sich nur denken konnte: Abistreich, Abiparty, mehrere Geburtstagsfeiern, den Besuch von Edmund Stoiber in der Stadt, Geschehnisse in der Schule, als da wären fliegende Schwämme, mit Wasser gefüllte Wurftüten, aufeinander gestapelte Tische, verwüstete Klassenzimmer und vieles mehr, was aufzuzählen den Rahmen dieser bescheidenen Geschichte sprengen würde. Angesichts der großen Anzahl an Fotos – nämlich so an die 2500 Stück – verging  einige Zeit, bis Heinrich schließlich Hunger bekam.

„Gehen wir runter, um noch eine Kleinigkeit zu essen?“, schlug er daher vor.

„Gute Idee“, gestand Lena. „Langsam kriege ich nämlich auch richtigen Hunger.“

„Na dann nichts wie runter – ich weiß zwar nicht, was wir alles da haben, aber irgendwas werden wir schon finden.“

Genau und zwar im Kühlschrank, denn dort lag genug Käse und Wurst, um eine halbe Kompanie satt zu kriegen. Heinrichs Eltern hatten also offenbar Angst gehabt, er könne am Wochenende verhungern.

„Magst du Käse oder Wurst?“, erkundigte sich Heinrich. „Wir hätten auch noch Salami, seh’ ich grad.“

„Käse – zumindest wenn’s kein Stinkkäse ist“, erwiderte Lena.

„Gut, dann nimm ich Salami. Wieviele Scheiben Brot willst du?“

„Zwei“, antwortete Lena lapidar. „Ich muss schließlich etwas auf meine Linie schauen.“

„Also ich mag schon vier Scheiben.“

Heinrich schnitt also mit der elektrischen Brotschneidemaschine sechs Scheiben ab, die er im Verhältnis zwei zu eins auf zwei Teller aufteilte.

„Guten Appetit“, wünschte er. „Soll ich noch einen Tee machen oder willst du was anderes trinken?“

„Wenn du auch Lust auf Tee hast, warum nicht?“

Heinrich setzte nebenher das Wasser auf und kramte schon mal nach den Teebeuteln. Während das Wasser langsam aber sicher zu kochen anfing, verzehrten die zwei ihre Brote. Eben als sie fertig waren, fing das Teewasser zu sprudeln an. Nach fünf Minuten Ziehenlassen schenkte Heinrich jedem eine Tasse ein.

„Tut gut, so ein warmer Tee“, meinte Lena.

„Es gibt viele Sachen, die gut tun“, sagte Heinrich. „Wenn du noch duschen willst ...“

„Ja, mach ich später noch. Willst du auch noch duschen?“

„Nach dir“, meinte Heinrich höflich.

„Warum nicht MIT mir?“, fragte Lena.

„Na ja“, lächelte Heinrich unbeholfen. „Ich weiß nicht so recht. Das ist doch ein wenig eng zu zweit ...“

„Das macht es doch gerade erst interessant.“

„Nun ja, das stimmt schon“, gab Heinrich zu. „Ich hab’ ja rein generell nichts dagegen, wenn wir ... also ...“, hüstelte er unsicher. „Aber es muß doch nicht unbedingt in der Dusche sein, oder? Es gibt doch auch bequemere und weniger feuchte Lokalitäten.“

Die gibt es in der Tat. So kam es, dass sich Lena auf später vertrösten ließ. Als sie ihren Tee fertig getrunken hatte, marschierte sie hinauf in den ersten Stock ins Bad. Heinrich vertrieb sich derweil im Wohnzimmer vor dem Fernseher mit „Von-einem-Kanal-auf-den-anderen-schalten“ die Zeit. Was nicht so alles im Abendprogramm läuft ... Arztserien, Krimis, Western, Komödien, Nachrichten, Horrorfilme und sonst noch einiges andere mehr, was einzuordnen teilweise allerdings etwas schwer fällt. Heinrichs diesbezüglichen Versuche wurden jäh unterbrochen, als Lena von oben irgend etwas herunterplärrte. Da er es nicht verstanden hatte, ging er hinaus auf den Gang. „Was hast du gesagt?“, sprach er in Richtung erster Stock.

„Könntest du mir vielleicht ein Handtuch bringen? Es sind nämlich keine hier“, gab Lena bekannt. Jetzt fiel Heinrich wieder ein, was ihm seine Mutter am Freitag abend noch gesagt hatte: dass sie die Handtücher in der Waschmaschine gewaschen hat und dass sie im Lauf des nächsten Tages trocknen würden. Mal überlegen, wo hingen die Handtücher bloß? Draußen ganz sicher nicht, denn dort würden sie bei dem aktuellen feuchten Wetter garantiert nicht über Nacht trocknen. Im Erdgeschoß hatte er ebenfalls keinen Wäscheständer gesehen. Folglich musste er im Heizungskeller fündig werden.

„Ich bring dir gleich ein paar“, versprach Heinrich, der schon auf halbem Weg in den Keller war. Die Handtücher hingen in der Tat im Heizungskeller. Wegen der recht niedrigen Luftfeuchtigkeit waren sie so trocken wie sie nur sein konnten. Folglich legte er sich alle über den Arm und marschierte zwei Etagen aufwärts. Er öffnete die Badtür und sah – wie konnte es anders sein – Lena  unbekleidet und tropfnaß da stehen. Während er ihr ein paar der mitgebrachten Handtücher überreichte musste er sich eingestehen, dass Lena wirklich gut gebaut war. Einfach erotisch. Nachdem er sich von ihrem Anblick losgerissen hatte, deponierte er die restlichen Handtücher ebenfalls im Bad. Er wusste schließlich nicht, wo seine Mutter die sonst aufbewahrte. Anschließend ging er wieder nach unten und spielte dort noch etwas mit der Fernbedienung des Fernsehers herum. Ist nämlich ein echt nettes Spielzeug mit so vielen Knöpfen, auf die man alle drücken und schauen kann, was passiert. Nach einer Weile kam Lena herein ins Zimmer.

„Was machst du Schönes?“, wollte sie wissen.

„Ach, ich probier nur was aus“, erklärte Heinrich. „Gut, dann gehe ich jetzt hinauf zum Duschen. Wenn du fernsehen willst – hier hast du die Fernbedienung.“

Er pflegte normalerweise immer heiß zu duschen, doch heute machte er eine Ausnahme, denn ihm war schon heiß genug  ...

18. Kapitel

Als Heinrich mit dem Duschen fertig war, sahen sich die beiden noch einen Film an. Wenigstens kam dieser auf einem öffentlich-rechtlichen Sender, der keine Werbung ausstrahlte. Das ist bei den privaten Sendern immer eine absolute Schikane, wenn man alle dreißig Minuten für 5 Minuten Sendepause hat – oder noch länger. Angesichts der Tatsache, dass sich diese Sender aber die guten Filme leisten können, muss man dies wohl oder übel in Kauf nehmen. Man kann die Werbung aber auch produktiv nutzen: zum Beispiel um aufs Klo zu gehen oder schnell mal eben was zum Knabbern aus der Küche zu holen.

Der Film – vom Genre her ein Abenteuerfilm – handelte von einem Großwildjäger, der in Afrika auf die Jagd ging. Allerdings nicht auf Tiere, sondern auf einen Schatz, den er irgendwo bei einem alten Elefantenfriedhof zu finden hoffte. Natürlich fand er weder den Schatz noch den Elefantenfriedhof. Im Gegenteil: er verirrte sich sogar und marschierte tagelang durch den Dschungel, bis er schließlich endlich wieder herausfand. Damit endete der Film. 22:00 Uhr zeigte die Videorekorderuhr an.

„Schauen wir uns noch irgendwas an?“, fragte Heinrich.

„Muss nicht unbedingt sein. Ich würd ganz gern ins Bett gehen“, beantwortete Lena die Frage.

„Gut, dann schlag ich vor, wir gehen nach oben.“

19. Kapitel

Jetzt kommt endlich das, worauf einige (oder sind es sogar viele?) Leser sicher schon seit mindestens zwanzig Seiten gewartet haben. Natürlich werde ich diesem Thema den ihm gebührenden Platz zukommen lassen. Erstens will ich die oben angesprochenen Leser nicht enttäuschen, zweitens will ich nicht in den Verdacht geraten prüde zu sein, wenn ich dieses Thema weglasse und drittens kann ich diese Geschichte nun offiziell ab 16 freigeben, weil „jugendgefährdende“ Passagen enthalten sind, wie es die Bundesprüfstelle wohl formulieren würde. Kehren wir aber wieder zurück zum Geschehen: die beiden betraten Heinrichs Schlafzimmer, das räumlich betrachtet zwischen dem Bad und dem Computerzimmer lag. Lena setzte sich auf das Bett, das in der Zimmerecke stand und blickte Heinrich erwartungsvoll an.

„Komm her!“, forderte sie ihn auf. Er konnte ihr nicht widerstehen – er wollte es auch gar nicht. Trotzdem war ihm irgendwie komisch zu Mute. Mit einem unbekannten flauen Gefühl im Magen kam er ihrer Aufforderung nach. Sich gegenseitig entkleidend ließen sich die beiden auf dem Bett nieder. Heinrich war ziemlich nervös wie anno dazumal, als er im Mathe Leistungskurs ausgefragt worden war und keinen blassen Schimmer hatte, um was es überhaupt ging. Dieses Problem bestand jetzt nicht, denn er wusste sehr wohl, worum es ging. Sanft berührte er Lenas Körper, deren Hände über den seinen glitten, bis sie schließlich in der Hüftregion verhielten und nach kurzer Zeit wieder aufwärts wanderten. Heinrich betastete gleichzeitig Lenas überproportional stark gekrümmte Körperteile. Ihre Haut fühlte sich weich wie Samt an. Nach etwas herumknutschen setzte sich Lena auf Heinrich drauf, was diesen – sagen wir mal: erregte – doch nicht so sehr wie man jetzt vielleicht denken könnte. Das kommt schon noch. Wie schon gesagt ging Lena zu einer Art freien Reiterstellung über und legte sich mit dem Oberkörper auf den von Heinrich, der ausgestreckt auf dem Rücken lag. Lenas Brüste pressten sich auf seinen Bauch, so dass er ihre Nippel spürte. Etwas weiter unten verspürte er ebenfalls etwas – soviel zum Thema Stange. Ab hier ging alles recht rasch: Lena kam mit rythmischen Bewegungen des Unterleibs zum Höhepunkt, der zwar nicht lange währte, aber die beiden dennoch irgendwohin zwischen Wolke sieben und das Paradies versetzte. och nach jedem Gipfel folgt bekanntlich ein Tal. Auf ganz bestimmte Weise erschöpft ließ sich Lena neben Heinrich nieder und legte ihren Arm auf seine Brust. Heinrich streichelte sanft ihre Hand und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Durch die körperliche Ekstase müde geworden schliefen die beiden binnen kurzer Zeit ein.

20. Kapitel

Am nächsten Morgen wachte als erste Lena auf. Zärtlich schmiegte sie sich an Heinrichs Körper, der noch seelig vor sich hin schlummerte. Der Wecker auf dem Nachtkästchen neben dem Bett zeigte 9 Uhr 10. Zeit zum frühstücken. Leise stand Lena auf und zog sich erstmal etwas über – FKK  im Bett ist ja ganz nett, in der Küche wirkt dies aber eher störend. Nach etwas Herumsuchen fand sie alle Utensilien, die sie brauchte, um das Frühstück machen zu können. Drei Honigbrote sowie eine Tasse Kaba für Heinrich, zwei Marmeladenbrote und Tee für sich selbst. Als der Tisch gedeckt war, marschierte sie wieder hinauf zu Heinrich, der noch immer schlafend im Bett lag. Mit mehreren Küssen auf die Wangen änderte sie diesen Zustand.

„Mmm“, brummte Heinrich müde, abrupt aus dem Schlaf gerissen.

„Das Frühstück ist fertig“, bemerkte Lena. Gähnend stieg Heinrich aus dem Bett heraus. Jetzt erst war ihm bewußt, dass er nichts anhatte.

„Ich ziehe mir noch was an und komm gleich nach, in Ordnung?“

Lena nickte kurz und ging nach unten ins Eßzimmer. Nach drei Minuten kam Heinrich herein.

„Du bist ein Schatz“, stellte er fest, als er den gedeckten Tisch sah. Bevor er sich neben seine Angebetete setzte, gab er ihr noch einen dicken Kuß. Nach dem Frühstück legten sich die beiden nochmal ein wenig zum Kuscheln ins Bett. Der Austausch von Zärtlichkeiten war Lena sehr wichtig und auch Heinrich kam dabei auf seine Kosten. Irgendwann nach 11 Uhr zogen sie sich dann aber doch endgültig an. Sie hatten vor, an diesem Tag eine kleine Wanderung in den Bergen zu machen. Nun gut, was heißt klein? Vermutlich würden sie auch im Gebirge übernachten. Allerdings nicht in einer Hütte, sondern im Auto. War zwar nicht sonderlich bequem, aber mal etwas anderes. Ganz allein in der Natur versprach dies darüber hinaus ziemlich romantisch zu werden. Bevor sie mit Lenas Kiste losfuhren, packten die beiden noch ein paar Sachen zusammen: Brot, Käse, Wurst, eine Thermoskanne mit Tee, eine Taschenlampe für alle Fälle, eine Decke sowie warme Anoraks. Dann setzten sie sich ins Auto und fuhren los. Zuerst auf der Autobahn bis nach Österreich, anschließend weiter auf einer Landstraße bis zum Fuß eines Berges, der aussah wie eine reife Birne. Dort angekommen vertraten sie sich erst ein wenig die Beine, bevor sie die Wanderung zum Gipfel begannen. An einem kleinen Bach entlang marschierten sie durch einen lichten Laubwald bis Lena Hunger bekam. „Machen wir mal ne Pause?“

„Meinetwegen“, meinte Heinrich. In der Nähe setzten sie sich auf einen wohl bei einem Sturm umgefallenen Baumstamm, packten ihre Brote aus und ließen es sich schmecken. Noch ein paar Schluck Tee aus der Thermoskanne hinterher, schon konnte es gestärkt weitergehen. Mittlerweile war es Nachmittag geworden, langsam setzte die Dämmerung ein. Ein Eichhörnchen huschte über den Waldboden, eine Eule blinzelte müde von einer alten Eiche herab und beäugte die zwei Gestalten, die durch den Wald wanderten. Heinrich hatte mittlerweile seine Taschenlampe eingeschaltet, denn im Wald fiel man sonst leicht über Wurzeln, Äste und was noch so alles herum liegt. Nachdem sie eine weitere Stunde marschiert waren, erreichten sie eine kleine Berghütte. „Machen wir hier halt oder gehen wir weiter?“, fragte Heinrich.

„Ich bin dafür wir gehen weiter“, meinte Lena. „Sonst müssen wir mitten in der Nacht zurück zum Auto latschen.“

„Das müssen wir sowieso. Aber deswegen haben wir ja eine Taschenlampe dabei.“

„Ich mein’ halt, es wäre gut, nicht all zu spät zurück zum Auto zu kommen, weil sonst schlafen wir morgen so lange. Zurückfahren müssen wir dann auch noch, da kommen wir in jedem Fall erst etwas später in die FH.“

„Macht doch nichts“, entgegnete Heinrich.

„Natürlich nicht“, gab Lena zu. „Aber ich möchte halt nicht den ganzen Tag versäumen.“

Das wollte Heinrich auch nicht, schließlich freute er sich schon wieder auf die dritte Stunde (DVS), in der er wieder mitprotokollieren wollte, wie oft Prof. Müller eines seiner „Lieblingswörter“ sagte. So kam es, dass die zwei die Hütte links liegen liessen und weiter zum Gipfel marschierten. Außer ihnen war niemand mehr unterwegs, zumindest sahen sie keinen, was in der Dunkelheit aber nicht viel heißen musste. Etwa um 21 Uhr kamen sie beim Gipfelkreuz an, an dessen Sockel sie sich hinsetzten. Die Luft war genauso rein wie klar. Man sah im Tal die Lichter von Siedlungen und überall auf dem Himmel schimmerten ferne Sternensysteme.

„Wie weit es da wohl nach oben geht ...“, fragte sich Heinrich.

„Vermutlich so weit, dass man das Ende gar nicht erreichen kann“, spekulierte Lena. „Unendlich weit.“

„Das kann aber irgendwie nicht sein“, bezweifelte Heinrich diese Theorie. „Wenn etwas kein Ende hat, dann besitzt es auch keinen Anfang. Wenn etwas aber nirgendwo beginnt, kann es einfach nicht existieren. Dass das All existiert, sehen wir, folglich muß es auch ein Ende geben.“

„Klingt logisch“, gab Lena zu. „Aber was ist, wenn irgendwo ein Fehler im Gedankengang ist?“

„Dann stimmt es halt nicht?!?“

Lena umfasste Heinrichs Hand und drückte sie fest an ihre Brust.

„Hörst du mein Herz schlagen?“ Heinrich nickte ergriffen. „Es schlägt nur für dich.“

„Ach Lena“, seufzte Heinrich. „Mir geht’s genauso.“

Schweigend saßen sie eine Weile, bis plötzlich die Taschenlampe zu flackern begann.

„Was ist denn jetzt los?“, wunderte sich Lena.

„Ich befürchte die Batterien sind bald leer“, vermutete Heinrich mit technischem Sachverstand.

„Na toll“, fand Lena. „Dann dürfen wir im Dunkeln runterstolpern.“

Solange die Lampe noch einigermaßen ihren Dienst tat, marschierten die beiden zügig hinunter ins Tal, doch der Weg war weit. Als sie gerade an der Berghütte vorbeigekommen waren, die sie auch beim Aufstieg passiert hatten, machte es klack und Finsternis umgab sie.

„Keine Angst“, mahnte Heinrich. „Wir finden auch ohne Licht hinunter. Schließlich war ich mal bei den Pfadfindern.“

Mehr fallend als gehend spazierten sie den Berg hinab ins Tal. Als sie in der Nähe Wasser rauschen hörten, hatten sie das schlimmste geschafft. Denn an diesem Bach waren sie beim Aufstieg entlangmarschiert. Sie brauchten also nur noch dem Verlauf des dunkel schimmernden Wassers zu folgen. „Nur“ ist natürlich relativ, denn im Wald war es noch ein Stück finsterer.

„Irgendwie romantisch“, stellte Lena begeistert fest. „Wir zwei ganz allein im Dunkeln, neben uns das Plätschern des Baches und um uns herum nichts als Bäume.“

Für Romantik hatte Heinrich im Moment aber nicht so viel übrig. Ihm war kalt geworden. Von den Füßen her nach oben steigend. Die Stiefel, die er anhatte, taugten offensichtlich nicht besonders viel. Vielleicht lag es auch daran, dass er aus Versehen Sommersocken angezogen hatte, weil er zu faul gewesen war, nach dickeren Socken zu suchen?!?

„Mir ist kalt“, bemerkte Heinrich.

„Wenn wir wieder im Auto sind, werde ich schon dafür sorgen, dass das nicht lange so bleibt“, versprach Lena. „Außerdem haben wir eine Standheizung, falls du das vergessen hast.“

Natürlich hatte er das nicht vergessen, aber auf letzteres konnte er gegebenenfalls verzichten – auf  ersteres wollte er nicht. Beides zugleich war allerdings der Optimalfall.

Verfroren erreichten sie zu guter letzt den Stellplatz des BMWs. Lena schloß die Tür auf und drehte erst mal die Heizung voll auf. Im Wagen war es fast genauso kalt wie draußen. Bibbernd saß Heinrich auf dem Beifahrersitz. Lena war auch nicht gerade warm, aber die Heizung verrichtete gute Arbeit. Innerhalb von fünf Minuten konnte man es recht gut aushalten, nach weiteren fünf war es so warm geworden, dass Lena die Heizung wieder ausschaltete. Verbraucht schließlich relativ viel Energie, das Teil, und ersticken wollten sie im Auto auch nicht.

„Nun“, meinte Lena. „Ich schlage vor, wir machen’s uns auf der Rückbank bequem.“

„Gute Idee“, fand Heinrich. Gemeinsam legten sie die rückwärtige Bank um, so dass sie mehr Platz hatten. Heinrich schaltete noch schnell das Licht aus, damit nicht irgendein potentiell herumlaufender Spanner was zum schauen hatte. Nach dem üblichen Vorspiel begann der akrobatische Teil der Übung. In einem Auto hat man nun mal nicht so viel Bewegungsfreiheit. Insbesonders fiel hier die Reiterstellung etwas zu Lasten des Obenaufsitzenden. Delle im Kopf nichts dagegen. Doch dadurch liessen sie sich nicht stören – der Erfolg gab ihnen recht. Nach vollzogener Tätigkeit zog Lena die mitgebrachte Decke heraus, um sich und Heinrich damit zuzudecken.

„Ich liebe dich“, flüsterte Heinrich leise in Lenas Ohr.

„Ich dich auch“, murmelte sie ebenso leise in sein Ohr. Glücklich schliefen die beiden ein. Es war nun bereits kurz nach Mitternacht. Sprich: am nächsten Tag würden sie sicher mehrere Vorlesungsstunden versäumen. Aber was zählte das schon? Die Liebe ist nun mal wichtiger als alles andere auf der Welt.

21. Kapitel

Am nächsten Morgen wachte Heinrich als erster auf. Besonders bequem war die Nacht nicht gerade gewesen, musste er sich eingestehen. Aber eigentlich ist ein Auto auch nicht dafür vorgesehen, dass man darin schläft. Es dient eher der Fortbewegung.

„Lena?“, fragte er leise.

„Hmmm?“, brummte Lena mit noch geschloßenen Augen.

„Fahren wir dann langsam wieder zurück oder willst du noch ein bißchen schlafen?“

„Wie spät ist es denn?“, murmelte Lena gähnend. Mittlerweile hatte sie die Augen aufgemacht.

„Viertel nach neun“, las Heinrich von der Uhr am Amaturenbrett ab.

„So spät schon?“, meinte Lena überrascht. „Na ja, dann würd’ ich sagen wir essen noch die restlichen Brote von gestern als Frühstückersatz und fahren dann.“

Heinrich holte die Brote hervor, die er mit dem verbliebenen Käse und der Wurst belegte. Er selbst aß im Schneidersitz, Lena im Liegen. Dabei fielen natürlich Brösel auf die Sitze, dazwischen und was weiß ich wo noch überall hin. Nun ja, da hatte Lenas Vater wieder etwas, worüber er sich aufregen konnte. Bevor die beiden losfuhren, vertraten sie sich noch eine Runde die Beine. Dann klappten sie die Rückbank wieder hoch, Lena setzte sich hinters Steuer und Heinrich auf den Beifahrersitz. Obwohl man das eigentlich nicht ausdrücklich erwähnen braucht, denn wo sollte er sonst sitzen? Es gab zwar Leute, die steigen aufs Dach hinauf, weil es da so schön zieht, aber das sind wohl eher Einzelfälle. Die Autofahrt dauerte ziemlich genau eineinhalb Stunden, bis die beiden auf dem Parkplatz der FH eintrafen. Mittlerweile war es 11 Uhr 20. Gerade noch rechtzeitig für die dritte Stunde.

„Was hast du jetzt?“, erkundigte sich Heinrich.

„Konstruieren“, erläuterte Lena. „Linien ziehen, Striche zeichnen, Kreise zirkeln und so was in der Art.“

„Klingt ja hochinteressant“, meinte Heinrich ironisch. „Wir machen in DVS zur Zeit Assembler – das ist eine Programmiersprache, mit der man aber nichts besonderes programmieren kann, weil die gesamte Struktur ziemlich unübersichtlich ist und komplexere Programme praktisch nicht mehr realisierbar sind.“

„Na toll. Warum programmiert ihr dann damit?“

„Das weiß ICH doch nicht“, rechtfertigte sich Heinrich. Vor dem Haupteingang zur FH trennten sich die beiden. Innenarchitektur fand in einem anderen Gebäudekomplex statt als Informatik.

„Also Lena, mach’s gut heute“, verabschiedeten sie sich.

„Du auch – ich rufe dich an, okay?“

Heinrich nickte nur und gab ihr noch einen flüchtigen Abschiedskuß, bevor er sich umdrehte und die FH betrat. Prof. Müller war noch gar nicht da, als Heinrich das Zimmer betrat. Um so besser. Da konnte er sich noch ein wenig in Ruhe unterhalten.

„Na?“, wurde er von seinem Banknachbarn begrüßt. „Kommst du auch noch?“

„Ach ja“, erläuterte Heinrich. „Ich hab mir gedacht, ich brauch’ wieder mal einen neuen ‚So’-Rekord. Außerdem hatte ich Sehnsucht nach dir.“

Karl grinste verhalten. In diesem Moment betrat Prof. Müller den Raum.

„So“, stellte er fest. „Ich glaube wir können anfangen – okay.“

Heinrich kramte einen Zettel hervor und begann sofort mit den Eintragungen. Man glaubt gar nicht, für wieviel Heiterkeit das Mitnotieren sorgen kann. Als Prof. Müller beispielsweise gerade einen „Nicht? Ja? So! Okay ... So: also dieser CMOS-Speicher ...“ daherplapperte, prustete Heinrich lachend hervor: „Das ist so geil!“

„Was finden Sie denn an einem CMOS-Speicher geil?“, wunderte sich der werte Professor. Bloß gut, dass er nichts von dem eigentlichen Anlaß der Heiterkeit ahnte. Dadurch würde sicher die Frequenz dieser Worte sinken und Heinrich wollte unbedingt noch ein paar Rekordzahlen haben. Einen Rekord gab es an diesem Tag sogar noch: 206 mal „Ja“ in 85 Minuten. Das war nicht übel. Wenn man allerdings bedachte, dass seinerzeit ein Englischlehrer auf dem Schimpansium in nur 45 Minuten immerhin 212 mal „Ja“ gesagt hatte, war es noch um einiges steigerbar.

„Gehst du heute in BWL?“, riß ihn Karl aus seinen Gedanken.

„In BWL war ich noch nie und da werde ich auch nie hingehen“, antwortete Heinrich. „Das wär’ ja noch schöner!“

„Na dann bis morgen“, verabschiedete sich Karl. Heinrich verließ die FH durch den Haupteingang, als es ihm jäh einfiel: er war mit Lena hergekommen, aber die hatte jetzt im Anschluß noch Vorlesung. Das hieß er musste entweder zu Fuß heimgehen oder mit dem Bus fahren. Ach, zu Fuß ging das ohnehin schneller, dachte er sich und machte sich auf den Weg. Außerdem wohnte er nicht weiter als fünf Kilometer von der FH weg. Nach fünfundreißig Minuten kam er zu Hause an. Ist doch ein ganz schöner Schlauch, aber wenn man mit dem Auto oder mit dem Rad fährt, merkt man das gar nicht. Als er das Haus betrat, lag der Geruch von Sauerkraut in der Luft. Natürlich, seine Eltern waren ja wieder zurück.

„Hast du heute in der FH übernachtet?“, wollte Heinrichs Vater wissen, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte.

„Wieso?“, entgegnete dieser.

„Als wir gestern abend um zehn heimgekommen sind, warst du weder vor dem Fernseher, noch vor dem Computer geschweige denn im Bett – ergo: du warst nicht zu Hause und heute morgen warst du immer noch nicht da.“

„Ich bin mit Lena ein bißchen durch die Gegend gefahren“, erzählte Heinrich wahrheitsgemäß.

„Die ganze Nacht?“, fragte sein Vater ungläubig.

„Nein, in der Nacht natürlich nicht mehr, aber davor und danach.“

„Aha“, machte sein Vater. „Hoffentlich hat’s Spaß gemacht.“

„Hat es. Danke der Nachfrage.“

Nach dem Mittagessen verbrachte Heinrich eine gute Stunde vor dem PC – etwas ausspannen nach so viel Streß musste einfach sein. Die Entspannungsphase wurde jäh unterbrochen, als das Telefon läutete und wieder mal niemand hingehen wollte.

„Ze fix“, schimpfte Heinrich lautstark und drückte die Pause-Taste, um das Spiel zu pausieren.

„Ja?“, schnaufte er genervt in den Hörer.

„Hallo Heinrich. Bist du schlecht gelaunt?“, vernahm er eine süße Stimme. Es war Lena.

„Nein“, log er. „Ich hätte nur gemeint, es wäre jemand anders.“

„Wer denn?“, fragte Lena neugierig.

„Jemand, den ich nicht so besonders mag.“

„Ah ja“, gab sich Lena damit zufrieden. „Wie war es in DVS?“

„Langweilig wie immer. Wenigstens hat’s einen neuen Rekord gegeben ...“

Heinrich erzählte von seinen Ergebnissen, woraufhin Lena lachen musste.

„Hast du sonst nichts zu tun?“

„Nein, eigentlich nicht“, meinte Heinrich.

„Na dann kannst du doch jetzt gleich mal bei mir vorbeischauen“, schlug sie vor.

„Gut“, akzeptierte er. „Ich spiele nur noch schnell die Mission fertig, dann komm ich.“

„Bis bald“, verabschiedete sich Lena und gab ihm noch einen ferngesteuerten Kuß durchs Telefon.

22. Kapitel

Zwanzig Minuten später traf Heinrich bei Lena ein. Gemeinsam verzogen sie sich in ihr Zimmer, denn ihre Eltern hatten das Wohnzimmer belegt und sie wollten ja ungestört sein.

„Komm her“, sagte Lena in verführerischem Tonfall. Dabei ließ sie sich auf ihr Bett fallen und strich mit ihren Händen aufreizend über ihre Brüste. Als Heinrich näherkam, schmiegte sie sich mit ihrem Kopf an seine Hand und begann an seinem Daumen herumzulutschen. Anschließend öffnete sie seine Hose und vollführte dieselbe Übung nochmal eine Stufe größer. Heinrich legte den Kopf in den Nacken und gab Töne des Wohlwollens von sich. Kaum eine halbe Minute später war es soweit: die Reizschwelle war überschritten worden und sein Körper reagierte entsprechend darauf. Schon wieder durchflutete ihn dieses eigenartige Gefühl, das ihn die Welt um sich herum vergessen ließ ...

23. Kapitel

Am nächsten Tag erwachte Heinrich bereits gegen 5 Uhr. Zumindest zeigte das der Wecker auf dem Nachtkästchen an. Obwohl er liegen blieb, konnte er nicht mehr einschlafen. Lag wohl daran, dass ihm Lena schon seit Wochen schlaflose Nächte bereitete. Übermüdet saß er später in der ersten Stunde, Programmieren, das ging gerade noch. Aber Mathe in der zweiten – das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wenigstens waren bald Weihnachtsferien. Zuvor durfte sich jedoch Prof. Schaf noch so richtig austoben: Sinus x, Bruchstrich, x Quadrat plus 4, blabla, Tangens hyperbolicus, laber, laber, 2. Ableitung, Übung, räusper, zur Lösung, fachsimpel ... Dabei hatten sie den ganzen Stoff schon anno dazumal in der Kollegstufe durchgeackert. Das war ihm damals schon auf die Nerven gegangen. Wenigstens konnte sich Heinrich in der dritten Stunde ruhigen Gewissens ins Rechenzentrum begeben, denn er hatte zu dieser Zeit frei. Nach der darauffolgenden durchaus als interessant zu bezeichnenden Übungsstunde in Programmieren fuhr er wieder nach Hause. Sein Versuch Lena telefonisch zu erreichen scheiterte, also hoffte er auf ihren baldigen Rückruf. Bis dahin ließ er sich vom Fernseher unterhalten. Es kam zwar nichts Besonderes, aber was soll’s? Nach etlichen eher langweiligen Billiglaberrunden auf diversen Kanälen klingelte das Telefon. „Heinrich?“, meldete er sich erwartungsvoll.

„Servus Heinrich“, hörte er eine ihm so vertraute Stimme. „Du hast vorher angerufen?“

„Ja genau. Hast du heute Zeit?“ Natürlich hatte sie die. Für ihn immer. „Gut, dann schlag ich vor, wir treffen uns in einer halben Stunde auf dem Christkindlmarkt.“

„Gute Idee“, fand Lena. „Also bis später.“

Exakt nach 24 Minuten traf Heinrich auf dem Christkindlmarkt ein. Sich etwas umsehend schlenderte er zwischen den Buden herum, in denen allerlei angeboten wurde: hauptsächlich Weihnachtsschmuck sowie diverse kulinarische Dinge wie heiße Maroni, gebrannte Mandeln und natürlich maßlos überzuckerter Glühwein. Nach ein paar mal auf und ab marschieren entdeckte er Lena. Auch sie hatte ihn in diesem Moment erkannt und steuerte in seine Richtung. Auf den Begrüßungskuß folgte das Schlendern an den Buden entlang, an denen sie sich Glühwein sowie Stollen kauften.

„Gehen wir noch woanders hin?“, fragte Heinrich, als sie sich satt gesehen hatten.

„Zu dir?“, wollte Lena wissen.

„Da können wir natürlich auch hingehen, aber ich hab’ eigentlich gemeint, ob du noch irgendwohin in die Stadt willst.“

„Nun, muß nicht unbedingt sein. Wir können schon zu dir gehen.“

Gesagt, getan. Weil ihnen beiden kalt war, beschloßen sie erst einmal zu duschen – gemeinsam. Als Heinrich zu Lena in die Dusche stieg, begann sich bei ihm von ganz allein etwas zu regen.

„Jetzt krieg’ ich schon wieder nen Steifen ...“ kommentierte er dies. Lena fand diesen Umstand aber recht lustig.

„Da muss ich ja gar nicht mehr nachhelfen“, meinte sie schmunzelnd.

„Keine Angst, du wirst schon noch benötigt“, murmelte er in ihr Ohr und drehte das Wasser auf. Sich gegenseitig einseifend alberten sie herum, bis das Wasser dampfte und die Wände der Dusche beschlugen. Heinrichs Lippen berührten die von Lena, wanderten dann langsam den Hals entlang nach unten, über den Bauchnabel hinweg weiter, bis er schließlich aufhörte. Die nachfolgende Region war nämlich wegen Wildwuchs unpassierbar, so daß er eine Umleitung über den linken Oberschenkel machen musste. Er hatte halt wieder mal seine Heckenschere verlegt. Das wäre einem Freund von ihm sicher nicht passiert, denn der hatte immer einen Werkzeugkasten zur Hand. Ganz zu schweigen vom Klappspaten, der Stichsäge und dem Akkuschrauber. Aber nicht jeder war ein geborener Handwerker beziehungsweise Hausmeister. Lena hielt sich mit ihren Händen an seinem Kopf fest, während dieser sie – sagen wir mal: oral stimulierte. Allerdings war dies für Heinrich nicht befriedigend genug, wenn Sie, lieber Leser, verstehen, was ich meine ...

Daher suchten die beiden nach ihren ausgiebigen Wasserspielen noch Heinrichs Zimmer auf, um dort an der Stelle weiterzumachen, an der sie aufgehört hatten ...

24. Kapitel

Die nächsten Tage vergingen ohne größere Erfolgserlebnisse. Am letzten Tag vor den Ferien, am Donnerstag den 20.12., denn Heinrich blieb wie schon mal angesprochen freitags zu Hause, traf er Lena zufällig in der Mensa beim Mittagessen.

„So ein Zufall“, meinte er überrascht und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Man traf nämlich Studenten aus anderen Studiengängen so gut wie nie, sofern man sich nicht explizit mit ihnen verabredet hatte. Auf Lenas Tablett lag ein gemischtes Vielerlei an Gemüse, Salat, Kartoffeln und unidentifizierbarer Soße.

„Schmeckts?“, fragte Heinrich.

„Mehr oder weniger.“ Heinrich grinste. „Eher mehr oder eher weniger?“

„Du weißt schon: besser als nichts, aber schlechter als gut. Der Hunger treibts rein.“

Nach dem – wie Heinrich fand – wenigstens einigermaßen schmackhaften Mittagessen unterhielten sich die beiden noch über alles mögliche, bis sich die Mittagspause dem Ende entgegen neigte.

„Was hast du jetzt?“, wollte Heinrich wissen.

„Kunstgeschichte.“

„Ich hab’ frei.“

„Also Rechenzentrum“, folgerte Lena. „Na ja gut, dann viel Spaß dabei.“

Den sollte er auch haben. Auf dem S-Laufwerk, also einer Festlatte, auf der hauptsächlich Studenten ihre Daten abspeicherten, hatten sich in der letzten Zeit wieder mehrere hundert Gigabyte Videos sowie fast sieben Gigabyte MP3s angesammelt. Bevor Heinrich die DVS-Übungsstunde besuchte, brannte er zuerst noch diverse Dateien, die er auf dem S-Laufwerk durchstöbert und für gut befunden hatte. DVS-Ü war wie immer stellenweise etwas verwirrend, aber dennoch interessant. Am Ende, also um 16 Uhr 45, war es draußen bereits ziemlich dunkel. Jetzt nur noch mit dem Rad heimfahren ... Mist! Die Batterien der Lampe waren schon wieder mal leer. Warum nur hatte er nicht drangedacht, neue einzupacken? Na ja, dann musste er eben ohne fahren. Die Straßen waren in der Stadt ohnehin recht gut beleuchtet. Gegen 5 Uhr kam er schließlich zu Hause an. Jetzt erst einmal duschen, dann Happa-happa und nichts wie vor den Fernseher. Dann konnte das Wochenende beginnen. Noch besser war allerdings die Tatsache, dass sich an das Wochenende außerdem noch die Ferien anschloßen.

In den ersten Ferientagen war Lena zeitlich leider etwas kurz angebunden: sie musste noch Geschenke besorgen, diverse Vorbereitungen erledigen und so weiter. An den Feiertagen hatte dann Heinrich ebenfalls etwas Probleme, denn Verwandte kamen zu Besuch, um die alljährlichen Rituale abzuhalten, ohne die ein Weihnachten offenbar schon nicht mehr möglich war. Seis drum. Am 27. Dezember waren die Festlichkeiten weitgehend abgeklungen und Lena traf sich mit Heinrich, um ein wenig spazieren zu gehen. Nach etwa einer Stunde kamen sie zurück und beschloßen sich noch ein bißchen mit dem PC zu vergnügen. Heinrich hatte im Internet eine Seite gefunden, auf der man sich diverse lustige Videos anschauen konnte und hatte sich auch bereits eine ganze Menge davon heruntergeladen. Beispielsweise sah man da Typen, die versuchten ihren eigenen Pfurz anzuzünden und sich dabei versehentlich das Hinterteil versengten, einen Stier, der einer menschlichen Nervensäge mit den Hörnern die Hose auszieht oder einen Kerl, der seine Freundin im Eifer des Gefechts auf die heiße Herdplatte hievt – sehr zum Leidwesen der guten Frau. War schon spaßig. Als nächstes beschäftigten sich die beiden wieder mit etwas ernsthafterem: mit einem Computerspiel namens „Der Exorzist“, über das ich hier mangels Kenntnis des Spieles nichts sagen kann. Am späten Nachmittag schlenderten die zwei noch eine Runde durch die Stadt. Dabei kamen sie auch an der FH vorbei.

„Schauen wir schnell einen Sprung rein?“, schlug Heinrich vor.

„Hast du etwa schon zeitlang?“, erwiderte Lena.

„Nein, eigentlich nicht“, gab Heinrich zu. „Laß uns von mir aus weitergehen.“

Trotz allem hätte es ihn interessiert, ob während der Ferien irgendjemand durch die Gänge huschte. Vielleicht auch noch aus niederen Beweggründen wie beispielsweise die Bücherei besuchen, um Fachliteratur durchzuschmökern. Da Heinrich unbedingt noch etwas trinken wollte, steuerten die beiden eine kleine Bar in der Nähe an. Wie es der Zufall wollte, traf Heinrich dort einen alten Bekannten, mit dem er auf dem Gymi gewesen war.

„Servus Andreas“, begrüßte er ihn. „Alte Fischhaut, was geht ab?“

„Ja servus Heinrich, dich Zipfel habe ich ewig nicht gesehen“, antwortete dieser. „Wen hast du denn heute wieder aufgerissen?“

„Das ist meine Freundin.“

„Oh!“, meinte Andreas verlegen und an Lena gewandt. „Wie heißt du?“

„Lena.“ – „Schöner Name. Na dann wünsche ich dir viel Spaß mit ihm ... was machst du jetzt eigentlich, Heinrich? Zivi?“

„Nein, die wollten mich Gott sei dank nicht, darum bin ich auf der FH und du?“

„Ach, ich hab mich auch irgendwie durchmogeln können und mach jetzt in der Uni in München Psychologie. Was studierst du schönes?“

„Informatik.“

„Na ja, was sonst?“, meinte Andreas schmunzelnd. Schließlich war Heinrichs Leidenschaft für PCs schon früher sehr ausgeprägt gewesen.

„Psychologie hätte mich auch interessiert“, erzählte Heinrich. „Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Du weißt ja wie das ist.“

Die drei unterhielten sich eine Weile, bis sich Andreas verabschiedete. Er musste noch zu einer anderen Bar, weil er dort mit seinen Saufspezeln verabredet war. Ein wichtiger Termin also ... Nachdem Lena und Heinrich ihr Bier ausgetrunken hatten, brachen sie ebenfalls auf. Mittlerweile war es nämlich schon 21 Uhr geworden und sie wollten ja auch noch etwas anderes tun außer sich unterhalten und Bier trinken ...

25. Kapitel

An Sylvester kam Heinrich gegen 19 Uhr bei Lena vorbei, um mit ihr das noch verbliebene alte Jahr zu verbringen. Feuerwerkskörper hatten sie zwar keine, aber die brauchten sie nicht – es gibt genügend andere Leute, die ihr Geld buchstäblich in den Himmel schiessen. Und wofür das Ganze? Nun ja, eigentlich nur, weil offiziell ein neues Jahr losgeht. Das ist natürlich nichts außergewöhnliches, denn das passiert ja regelmäßig alle 365 Tage. Wenn man sich außerdem die konstellationsspezifischen Daten des 1. Januars ansieht, bemerkt man, dass dieser Tag absolut durchschnittlich ist. Der kürzeste Tag im vergangenen Jahr war zum Beispiel der 21. Dezember mit 8 Stunden 23 Minuten Tageslicht. Dieser Tag wäre daher eher geeignet, der Beginn einer neuen Periode zu sein. Doch gibt es irgendwen, der den 21.12. in irgendeiner Form besonders beachtet hätte? Nein? Komisch, gell? Auf der anderen Seite wäre der 19. Juni mit 16 Stunden 2 Minuten Tageslicht genauso ein Tag gewesen, dem man eine höhere Priorität einräumen hätte können: als Maximum der helleren Jahreshälfte und zugleich Beginn der immer dunkler werdenden. Aber warum logisch, wenn es auch chaotisch geht? Folglich wurde dem unbedeutsamen 1. Januar eben soviel Bedeutung zugeteilt, aber nicht in allen Kulturen. Das jüdische Jahr beginnt beispielsweise an einem anderen Tag. Sei es wie es sei. Jedenfalls lohnt es sich gelegentlich hinter die Dinge zu blicken. Lena blickte indessen Heinrich an, der ein Bier nach dem anderen trank.

„Der letzte Rausch in diesem Jahr“, versprach er schelmisch. Nach dem dritten Bier, inzwischen war es immerhin schon 21 Uhr, wechselte er zu Limo.

„Damit ich nicht schon vor Mitternacht unter dem Tisch liege ...“ erklärte er in hörbar angetrunkenem Zustand. Lena hatte mittlerweile auch schon zwei Halbe geleert, so dass sie in etwa genauso heiter war wie Heinrich, wenn man ihr geringeres Körpergewicht und den Umstand, dass sie eine Frau war, mit einberechnete. Da Alkohol bekanntlich müde macht, lümmelten sich die beiden auf das Sofa in Lenas Zimmer und schalteten den Fernseher ein. Man glaubt gar nicht, wie lustig ein Sylvesterabend mit Karl Moik sein kann, wenn man besoffen ist. Ein paar Minuten vor Mitternacht begannen dann draußen die ersten Leute damit, ihre Raketen durch die Gegend zu ballern. Also zum Beispiel in die Gärten der Nachbarn, auf deren Hausdächer und auf die Straße. Irgendein Trottel räumte den ganzen Mist dann jedes Jahr wieder weg. Meistens einer derjenigen, die sich nicht am Feuerwerk beteiligt hatten. Tja, irgend einer muss immer den Mitprimaten hinterherräumen. Jedenfalls gingen Heinrich und Lena nach unten ins Wohnzimmer, um mit Lenas Eltern auf das neue Jahr anzustoßen. Vom Wohnzimmerfenster aus beobachteten sie die Raketen, die in den unterschiedlichsten Farben am Himmel explodierten und die Nacht in unwirklich wirkende Farbtöne tauchten. Lena küsste Heinrich auf die Stirn.

„Ich wünsche dir ein schönes neues Jahr.“

„Ich dir auch“, meinte Heinrich und gab ihren Kuß zurück. Das Jahr begann zumindest schon mal nicht schlecht. Ein gutes Omen sozusagen. Nach einer guten viertel Stunde hatten die meisten Leute ihr Pulver verschoßen, daher kehrten Lena und Heinrich wieder zurück in ihr Zimmer, wo Heinrich nochmal den Fernseher anmachte und suchend hin und herschaltete.

„Kommt nach Mitternacht normalerweise nicht Lido?“, wunderte er sich.

„Was ist das denn?“, fragte Lena.

„Ach, das ist so eine französische Vorstellung mit halbnackten Tänzerinnen ...“, erklärte Heinrich.

„Halbnackt? Da hab ich aber was dagegen, wenn du dir das anschaust. Da werde ich sonst nämlich eifersüchtig“, flötete Lena.

„Das will ich natürlich nicht“, schmunzelte Heinrich und knabberte sanft an ihrem Ohr herum, woraufhin Lena kichern musste. „Das kitzelt.“

Beide ließen sich auf das Bett nieder und damit begann für sie die erste Nacht des neuen Jahres.

26. Kapitel

Die Ferien vergingen wie immer viel zu schnell. Aber die nächsten Ferien, die Semesterferien, begannen ja wiederum schon in etwa drei Wochen. Trotzdem war der erste Tag recht streßig: das Aufstehen zu früher Stunde, das Radfahren bei klirrender Kälte, das stundenlange Herumhocken in der FH und die Tatsache, dass man deswegen weniger Freizeit hatte. Da muss Lena heute aber ganz besonders lieb mit mir sein, dachte Heinrich. Das war sie auch.

Ein paar Tage später erwärmte ein Hoch die Temperatur auf für Januarverhältnisse angenehme 5 Grad Celsius. Das musste man glatt ausnutzen. Heinrich schnappte sich das Telefon und wählte eine Nummer, die er inzwischen längst auswendig wusste.

„Treffen wir uns in einer halben Stunde unten am See bei unserer Bank?“, schlug Heinrich nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln vor.

„Ist gut. Also bis dann“, akzeptierte Lena sofort. Heinrich fuhr mit dem Passat zum Parkplatz am See, wo er den Wagen in der Nähe parkte. Den restlichen Weg bis zur Bank legte er zu Fuß zurück. Seit seinem Anruf bei Lena waren kaum zwanzig Minuten vergangen. Pünktlichkeit ist nunmal eine

Zier. Um die Warterei etwas angenehmer zu gestalten, wanderte er in einem Umkreis von rund hundert Meter um die Bank herum auf und ab. Von Zeit zu Zeit sah er auf seine Uhr beziehungsweise in die Gegend. Mittlerweile war es nämlich schon mehrere Minuten über den vereinbarten Zeitpunkt hinweg. Lena konnte folglich nicht mehr lange aus sein. Als er nach einer halben Stunde immer noch allein dastand, wunderte er sich langsam aber doch. Hatte sie unterwegs ein Problem mit dem Auto gehabt? War ihr Vater mit dem Wagen weggefahren und musste sie daher mit dem Rad fahren, was natürlich länger dauerte? Alles mögliche ging ihm durch den Kopf. Zeit hatte er ja genug. Er beschloß noch eine weitere halbe Stunde zu warten. Doch so sehr er auch in die Landschaft spähte, Lena kam einfach nicht. Unverrichteter Dinge trottete er enttäuscht zum Parkplatz zurück. In gemächlichem Tempo fuhr er zurück. Ob Lena vielleicht bei ihm zu Hause auf ihn wartete? Denkste. Nicht einmal seine Eltern waren da. Auf dem Küchentisch stand ein Zettel, der besagte, dass sie kurz zu Bekannten gefahren seien und gegen 16 Uhr wieder zurück wären. Aus einer inneren Unruhe heraus beschloß er bei Lena vorbeizufahren.

Als er vor dem Haus ankam, spürte er sofort, dass etwas nicht normal war. Von einem unguten Gefühl begleitet stieg er aus. Sein Finger drückte mehrmals auf den Klingelknopf. Die Tür öffnete sich wie in Zeitlupe und Lenas Vater stand im Türrahmen.

„Hallo Heinrich“, begrüßte er ihn tonlos. „Komm rein.“

„Ist irgend etwas passiert?“, fragte Heinrich erschrocken, da Lenas Vater normalerweise nie so niedergeschlagen war.

„Lena hat einen Unfall gehabt. Sie liegt jetzt auf der Intensivstation.“

„Aber das kann doch nicht wahr sein“, stammelte Heinrich fassungslos. Doch die Wahrheit kann man bekanntlich nicht ablehnen, man kann sie nur anzweifeln. „Was ist denn passiert?“

„Sie ist mit einem LKW zusammengestoßen“, stieß Lenas Vater hervor. „Es geht ihr nicht gut. Ihre Mutter ist bei ihr.“

In Heinrichs Magenregion machte sich zunehmend ein Gefühl breit, das er nicht so ohne weiteres beschreiben konnte. Es war die Angst um jemanden, den er nicht verlieren wollte. Seine Gedanken kreisten im Dreieck.

„Ich fahr’ sofort ins Krankenhaus“, rief er verzweifelt.

Mit quietschenden Reifen kurvte Heinrich in Rekordzeit durch die Innenstadt. Den Passat parkte er auf dem erstbesten halbfreien Parkplatz, den er vor dem Krankenhausgelände finden konnte. Hastig sprang er aus dem Auto und lief die Auffahrt zum Hauptgebäude hinauf, erkundigte sich nach Lenas Zimmernummer und rannte wie der Blitz durch die Gänge. Völlig außer Atem kam er in einem Zimmer an, in dem ein junges Mädchen in einem Bett lag. Der Kopf war zur Hälfte verbunden, diverse Schläuche übernahmen die künstliche Beatmung sowie die Ernährung. Lenas Mutter saß neben ihr, machte angesichts der Umstände aber einen erstaunlich gefassten Eindruck.

„Lena?“, flüsterte Heinrich mit zitternder Stimme, doch sie konnte ihn nicht hören. Behutsam berührte er mit seiner Hand ihre Wange. Lena war bewußtlos. Soviel stellte sogar er als Laie fest. Den halben Nachmittag wachte Heinrich neben Lenas Bett und wartete darauf, dass sie aufwachte. Er wartete umsonst. Irgenwann kam eine Krankenschwester zusammen mit einem Arzt herein, die Lenas Zustand begutachteten.

„Sie hat eine schwere Schädelfraktur. Im Moment kann man nicht sagen, ob und wie sie es übersteht. Sie können aber sicher sein, dass wir alles getan haben, was in unserer Macht liegt“, erklärte der Arzt an Heinrich gewandt.

„Die nächsten Tage werden entscheidend sein“ fügte er vorsichtig hinzu, bevor er gemeinsam mit der Krankenschwester den Raum wieder verließ. Heinrich fiel irgendwann ein, dass sich seine Eltern vermutlich Sorgen um ihn machten, daher telefonierte er im Foyer kurz nach Hause und erklärte, dass er erst später heimkommen würde. Anschließend kehrte er in Lenas Zimmer zurück, doch auch in den nächsten drei Stunden geschah nichts bewegendes. Mittlerweile war es 20 Uhr geworden. Heinrich verspürte langsam aber sicher ein Hungergefühl, das er aber nicht weiter beachtete. Er hatte es aufgegeben, daß Lena an diesem Abend nochmal aufwachen würde, daher beschloß er heim zu fahren. Um seine innere Unruhe zu bekämpfen, raste er noch ein wenig mit dem Passat ziellos durch die Gegend. Doch auch das gab ihm nichts ab. Niedergeschlagen fuhr er nach Hause, wo er seine Eltern von den fürchterlichen Geschehnissen des Tages unterrichtete.

„Lena wird schon wieder“, versuchte sein Vater ihn aufzumuntern. Es gelang ihm nicht.

„Ich geh’ ins Bett“, meinte Heinrich niedergeschlagen.

„Willst du vorher nicht noch was essen?“, fragte seine Mutter besorgt.

„Ich hab’ keinen Hunger“, antwortete er und marschierte in sein Zimmer. In dieser Nacht konnte er nicht besonders gut schlafen. Mehrmals wachte er auf, weil er diverse Alpträume gehabt hatte. Am nächsten Morgen wurde er mehr oder weniger müde aufgeweckt. Sein erster Gedanke war, nicht in die FH zu gehen, doch seine bloße Anwesenheit machte Lena auch nicht schneller gesund. Erst recht nicht, wenn sie immer noch nicht bei Bewußtsein war. Mal überlegen, heute war Dienstag, das hieß er hatte nachmittags bis um drei. Ach das lenkt mich vielleicht ein wenig ab, dachte Heinrich. Mit seinem Rennrad fuhr er in rekordverdächtiger Zeit zur FH, doch dieser Umstand war ihm heute völlig gleichgültig. Die erste Vorlesung (Programmieren) zog mehr oder weniger wie ein Film an ihm vorbei. Vor sich sah er immer das Bett, in dem Lena lag. Blaß, zerbrechlich, hilflos. Karl, der wie schonmal erwähnt direkt neben Heinrich saß, bemerkte Heinrichs geistige Abwesenheit und meinte:

„Hast du gestern wieder bis um eins Krimis geschaut?“

Heinrich grinste gequält. „Meine Freundin hat gestern einen Unfall gehabt und liegt im Krankenhaus.“

„Oh, das tut mir leid“, erwiderte Karl betroffen.

„Und mir erst ...“, fügte Heinrich hinzu.

„Wie geht’s ihr denn?“, wollte Karl wissen.

„Nicht besonders gut“, erhielt er als Antwort. Heinrich hielt trotz aller widriger Umstände bis um drei Uhr durch. In der Übungsstunde in Programmieren brachte er zwar nichts besonderes zusammen, aber das war ihm ziemlich egal. Von der fortgeschrittenen Uhrzeit erlöst verließ er das Gebäude, um noch kurz nach Hause zu fahren zwecks essen. Anschließend fuhr er mit dem Passat zum Krankenhaus. Er musste einfach wissen wie es Lena heute ging. Vielleicht war sie ja schon aufgewacht. Unter Umständen konnte er sogar mit ihr reden. Das wäre schon mal ein Anfang. Plötzlich wurde er von einem blauen VW Golf überholt, dessen Beifahrer eine Kelle zum Fenster herausschwenkte. Zivilfahnder also. Was wollten die nur von ihm? Bereitwillig lenkte er den Wagen rechts ran. Als die beiden Polizisten in Zivil ausstiegen, kurbelte er das Fenster herunter.

„Gibt es irgendein Problem?“

„Kann man so sagen“, setzte der eine Polizist formal korrekt an. „Sie haben eine rote Ampel überfahren.“

„Hab ich das?“, fragte Heinrich ungläubig.

„Ja“, bestätigte nun der Beifahrer des Sprechers. „An der letzten Ampel Kreuzung Münchnerstraße.“

„Tut mir leid“, verteidigte sich Heinrich, „aber meine Freundin liegt im Krankenhaus.“

„Das ist kein Grund“, erläuterte der erste der Polizisten. „Wenn jeder so herumfahren würde, wären die Krankenhäuser bald doppelt so voll.“

„Sie haben ja recht“, gab Heinrich mit einem flehenden Ausdruck zu. „Aber ich muss unbedingt ins Krankenhaus.“

Der eine Polizist sah den anderen an, fasste sich dann an die Mütze und meinte:

„Nun ja, wir wollen den Vorfall auch nicht überbewerten. Fahren Sie weiter. Und passen Sie in Zukunft ein bißchen besser auf.“

„Mach ich garantiert“, versprach Heinrich erleichtert. Die beiden Polizisten stiegen in ihr Fahrzeug ein und reihten sich in den Verkehr ein. Heinrich tat dasselbe, nachdem er sich wieder gefasst hatte. Kaum zehn Minuten später kam er vor dem Krankenhaus an. Ausgerechnet jetzt fand er auf Anhieb keinen freien Parkplatz. Es war wie verhext. Nach fünf Minuten Suchen ergatterte er schließlich eine freie Stelle. Binnen einiger Minuten hatte er den Weg durch die verwinkelten Gänge hinter sich und stand vor Lenas Zimmer – doch was hatte das zu bedeuten? Sie war nicht mehr hier. Hatte man sie etwa in einen anderen Raum verlegt? Oder wurde sie gerade operiert? Suchend blickte er sich um. Eine Krankenschwester kam gerade aus einem der Nachbarräume heraus.

„Entschuldigung“, sprach er sie kurzerhand an.

„Ja?“ – „Ist die Patientin aus diesem Zimmer verlegt worden?“

„Sind sie verwandt mit ihr?“, erkundigte sich die Krankenschwester.

„Nein, aber ich bin ihr Freund“, erklärte Heinrich.

„Nun, es hat da einige Komplikationen gegeben ... sie wird gerade operiert.“

Der Angstschweiß stand Heinrich auf der Stirn. „Was für Komplikationen?“

„Ich weiß es nicht genau. Am besten fragen Sie da den Oberarzt, wenn er mit der Operation fertig ist.“

„Und wie lange kann das noch dauern?“

„Das wird sich etwas hinziehen. Darauf warten wird sich kaum rentieren.“

Mit sehr gemischten Gefühlen fuhr Heinrich zurück nach Hause. Den restlichen Tag verbrachte er damit, an längst vergangene Tage zu denken. Als er Lena das erste Mal geküßt hat, an ihre erste gemeinsame Radtour, an ihren Ausflug in die Berge, an alles eben, was ihm Freude bereitet hatte. In dieser Nacht schlief er erneut sehr unruhig. Aber nach den Geschehnissen konnte man wohl nicht erwarten, gut zu schlafen.

27. Kapitel

Der nächste Tag dämmerte bereits als Heinrich aufwachte. 8 Uhr schon. Verdammt! Offenbar hatte er seinen Wecker nicht gehört, der ihn eigentlich um 7 Uhr 10 hätte aufwecken sollen. Na, dann komm ich halt noch ein bißchen später als normal, dachte Heinrich verschmitzt. Ist doch völlig egal.  Wen interessiert es schon, wann ich komme? Alles völlig unerheblich. Seine Gedanken kreisten sowieso nur um Lena. Hoffentlich war die Operation gut verlaufen. Wenn nicht ... er mochte gar nicht daran denken, was dann wäre. Ohne besondere Eile frühstückte Heinrich und machte sich danach allmählich fertig. Um 8:40 Uhr kam er in der Programmieren-Vorlesung an. Professor Grobtor schenkte ihm nur einen kurzen Seitenblick und fuhr danach sogleich wieder mit seinen Ausführungen fort. Die Zeit verging schneller als erwartet, so kam es, dass Heinrich den Raum schon bald wieder verlassen konnte. Seine Freistunde verbrachte er im Rechenzentrum – wo sonst? Aber irgendwie machte ihm im Moment selbst computern keinen besonderen Spaß. DVS in der darauffolgenden Stunde zwar auch nicht, aber was soll man machen? Niedergeschlagen kam er zu Hause an und wollte gerade zu Mittag essen, als das Telefon klingelte.

„Grüß dich Heinrich“, meldete sich Lenas Vater mit rauher Stimme. „Lena ist vor einer halben Stunde gestorben.“

Diese Nachricht traf Heinrich wie ein Schlag mit der Keule.

„Das ... das kann doch nicht ... nicht wahr sein!“, stotterte Heinrich verzweifelt. Binnen einer halben Sekunde brach für ihn eine Welt zusammen.

„Sie hat die Operation nicht überstanden“, erklärte Lenas Vater tonlos.

„Ich muß sofort zu ihr“, entschied Heinrich den Tränen nahe. Mit zitternden Händen startete er den Passat und brauste in Richtung Krankenhaus davon. Das konnte einfach nicht der Realität entsprechen.. Es musste sich um ein Mißverständnis handeln. Vielleicht waren die Namensschilder vertauscht worden oder eine andere Lena Gruber war gestorben. Natürlich war dies nicht sonderlich wahrscheinlich, aber Heinrich krallte sich in diesem Moment an diesen Gedanken fest. Er wollte die grauenhafte Wahrheit einfach nicht wahrhaben. Den Wagen ließ er in der Nähe des Haupteingangs irgendwo im Halteverbot stehen. Wie von der Tarantel gestochen jagte er ins Innere des Gebäudes. Nach etwas Suchen fand er schließlich eine Krankenschwester, die ihn allerdings erst nach eindringlichem Betteln zu Lena führte. Sie lag auf einer Art Bahre neben vielen weiteren parallel dazu angeordneten, auf denen ebenfalls Menschen lagen. Das besondere daran war, dass alle einen Zettel am großen Zeh hatten und mit einer Art grünen Folie bis über den Kopf zugedeckt waren. Heinrich nahm all seinen Mut zusammen und zog die Folie ein Stück zurück, so dass er Lenas Gesicht sehen konnte. Sie war tot, soviel erkannte er mit einem Blick. Tränen standen ihm in den Augen, als er sich über sie beugte um sie ein letztes Mal zu küssen. Doch ihre Lippen waren bereits kalt und leblos. Am ganzen Körper zitternd stand Heinrich eine Weile einfach nur da. Warum nur hatte es ausgerechnet Lena erwischen müssen? Warum nur? Wenn er sie doch nur nicht an diesem Tag angerufen hätte, dann wäre sie nicht weggefahren und auch nicht mit dem LKW zusammengestoßen. Schockiert wandte sich Heinrich ab. Was sollte er jetzt nur machen? Er wusste es nicht. Apathisch wankte er durch die Gänge des Krankenhauses in Richtung Ausgang. Draußen atmete er tief durch, doch die frische Luft brannte in seinen Lungen wie Feuer. Das Lenkrad des Passats fest umklammernd preschte Heinrich aufs gerade wohl durch die Straßen. Er wusste wirklich nicht, was er jetzt machen sollte. Lena war tot. Damit hatte das Leben für ihn seinen Sinn verloren. Nie wieder würde er ihre wohltuende Nähe spüren können geschweige denn mit ihr etwas unternehmen. Er hätte auf alles in der Welt verzichten können, nur auf Lena nicht. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er kreuz und quer in der Stadt herum. In der Nähe einer Bar, in die er früher gelegentlich mit Freunden gegangen war, parkte er den Wagen. Zu Fuß marschierte er zu dieser besagten Bar, wo er sich ein Bier bestellte, dann noch eins und ein weiteres. Das linderte seinen Schmerz ein wenig und hüllte seine Gefühlswelt wie in Watte ein. Natürlich war es keine Lösung des Problems, aber momentan tat das nicht schlecht. Die Bar war zu dieser Uhrzeit nicht mal halbvoll. Wer war denn auch schon nachmittags beim Saufen? Kaum einer. Aber das sollte ihm nur recht sein. So hatte er wenigstens seine Ruhe – sprich einen eigenen Tisch, an dem er nicht gestört wurde. Angetrunken verließ Heinrich die Bar nach einer knappen Stunde. Obwohl er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war, setzte er sich wieder ans Steuer des Passats. Na ja, was heißt obwohl? Richtiger müsste es heißen: eben darum. Fahren konnte er ja schließlich gerade noch. Angesichts seines Promillestandes fuhr er auch ziemlich gut, sprich geradlinig. Eine Zeitlang kreuzte er wirr durch die Straßen, dann entschied er sich aufs Land zu fahren. Vielleicht fand er dort eher eine Lösung für seinen Zustand. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Blick schweifte hin und her, bis er schließlich in der Ferne die wolkenumhangenen Gipfel der Alpen streifte. Genau, dahin würde er fahren. Binnen einer knappen viertel Stunde hatte er den Fuß eines Berges erreicht, der auf der einen Seite steil abfiel, von der anderen Seite jedoch leicht zu erklimmen war. Heinrich stieg aus, schloß den Wagen ab und trottete los. Bewegung ist ohnehin gesünder als herumhocken, wenn man besoffen ist, weil sich der Alkohol im Blut dann nämlich besser verteilt. Während des Aufstiegs dachte er an all die schönen Momente, die er mit Lena erlebt hatte. War schon eine schöne Zeit gewesen. Aber jetzt war sie vorbei und er konnte sie nicht mehr zurückholen. Nie wieder. Zumindest nicht in diesem Leben, aber das war für ihn ohnehin schon vorbei. In Gedanken versunken marschierte er weiter. Langsam aber sicher ließ die Wirkung des Biers nach, was aber nur dazu führte, dass Heinrich noch schwermütiger wurde als er ohnedies schon war. Kurz vor dem Gipfel blieb er kurz stehen, um ins Tal hinunter zu sehen. Alles wirkte friedlich, doch Heinrich wusste es besser. Der Schein trügt nunmal öfter als man denkt. Die Welt blieb nicht stehen, obwohl Lena tot war. Das kam ihm wie blanker Hohn vor. Verbittert setzte er seinen Marsch fort. Als er den Gipfel erreicht hatte, begann es langsam zu dämmern. Kein Wunder, es war ja auch schon kurz nach 16 Uhr. Heinrich trottete zuerst eine Weile auf und ab, doch dann hatte er das Bedürfnis, näher an den Abgrund heran zu treten. Da piff es ganz schön tief runter. Hundert Meter waren das mindestens, dann kam eine Art Vorplateau. Wie lange es wohl dauert, bis man unten ankommt, wenn man da runter springt, überlegte Heinrich. Wie war das gleich wieder? Beschleunigung g = 9,81 Meter pro Sekunde im Quadrat. Also in der ersten Sekunde gerundet 10 Meter, in der zweiten 20 Meter, in der dritten 30 und so fort. Dann dauert es folglich vier Sekunden ... eigentlich nicht lang ... ein schneller Tod sozusagen ... tja, so ein freier Fall ist lange Zeit absolut ungefährlich – bis auf den Schluß. Heinrich atmete tief ein und seufzte.

„Leeeeeeenaaaaaaaaa!“ schrie er so laut er konnte den Abgrund hinunter. Gelegentlich tut lautes Brüllen einfach gut, das beruhigt die Seele der gequälten Kreatur. Heinrich trat einen Schritt vor bis an den Rand des Abgrunds. Er streckte seine Hände seitlich aus, schloß die Augen und dachte an Lenas Gesicht. „Ich komme zu dir“, murmelte er leise und ließ sich nach vorne fallen ...

ENDE

Impressum

Bildmaterialien: Eigene Photographie
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags und des Rundfunkvortrags, auch einzelner Abschnitte.

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