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Tu es für mich

„Ein Konstruktor erstellt eine neue Instanz der Klasse. Ohne Parameter heißt er Standardkonstruktor. Mit der Angabe von Parametern kann man beispielsweise nötige Initialisierungen vornehmen, die private Elementvariablen umfassen können ...“

Professor Waigel war heute wieder mal richtig gut drauf, denn er freute sich sichtlich über seine von sich gegebenen Weisheiten. Mich ließ dies alles ein bisschen kalt, denn mein Interesse für das heutige Thema befand sich unter ferner liefen. Eine blöde Vorlesung über objektorientierte Programmierung. Leider eine Pflichtvorlesung, bei der man Prüfung schreiben musste. Wie lange die Vorlesung wohl noch dauern würde? Zwar hing im Saal eine Wanduhr, aber da ich ganz außen saß, sah ich schräg auf die Zeiger, was es nicht einfach macht, die Uhrzeit zu erkennen.

„Karl“ flüsterte ich meinem Nachbarn zu. „Wie spät ist es?“

„Halb eins“ antwortete dieser nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Also würde die Vorlesung noch eine halbe Stunde dauern. Sollte ich den Rest auch noch ertragen oder lieber vorzeitig austreten? Ach das konnte ich gerade noch aushalten ohne vom Stuhl zu kippen. Zudem, wo es sich laut Waigel um ein „wichtiges Themengebiet“ handelte. Das bedeutete beim Waigel soviel wie „da kommt eine Aufgabe in der Prüfung dran“. Gähnend schaute ich dem Prof zu, der sich vor Begeisterung wieder verbal einen runterholte. Wie man bei dieser trockenen Thematik nur so fröhlich sein kann – für mich ein Rätsel.

Er faselte noch allerhand über Konstruktoren, ihre korrekte Verwendung und deren Gegenstück: die Destruktoren, ehe der sich auf die Zwölf zustrebende große Zeiger auf Karls Uhr das Ende der Ausführungen unseres Professors symbolisierten.

Auf den Gängen herrschte wie gewohnt ein einziges Gedränge. Das hat man nun mal davon, wenn man in der größten bayrischen Stadt studiert. Die TU München zählt mit über 20.000 eingeschriebenen Studenten zu den größten Unis in ganz Deutschland. Entsprechend voll sind normalerweise auch die Hörsäle, was mich eher stört, denn man muss schon recht frühzeitig vor dem regulären Beginn der Veranstaltung erscheinen, um sich noch einen halbwegs guten Platz zu sichern. Nicht zu weit vorn, aber auch nicht zu weit hinten. Goldenes Mittelmaß eben. Die so von mir definierten Optimalplätze erfreuten sich allerdings einer ungewöhnlich hohen Beliebtheit.

Soeben rempelte mich jemand an, der es ganz eilig hatte, zum Ausgang zu kommen. „Pass doch auf, du Arsch!“ rief ich ihm wütend hinterher. Der spinnt doch! Rennt da durch die Gänge als gäbe es in der Mensa Freibier. Doch der rüde Rempler drehte sich nicht einmal nach mir um. Allmählich wälzte sich die Studentenmenge am Ernst Ludwig-Saal vorbei, der zu den größten der Uni gehört. Über einen Seitentrakt gelangte ich etwas schneller zum Nordausgang, wo selbst zu Stoßzeiten kein so starkes Gedränge herrschte. Mit schnellen Schritten steuerte ich auf das Studentenwohnheim (kurz Stuwo) zu, wo ich von Montag bis Donnerstag wohnte. Am Donnerstag Nachmittag fuhr ich regelmäßig zu meinen Eltern zurück ins Berchtesgadener Land um dort das Wochenende in heimatlichen Gefilden zu verbringen. Da ich montags zudem erst gegen Mittag meine erste Vorlesung hatte, konnte ich somit vier Tage daheim schlafen. Dass die Miete für mein Zimmer im Stuwo also eigentlich nur zu drei Siebteln genutzt wurde, erkennt nicht nur ein BWL’er. Es rechnete sich jedoch immer noch, denn beim Pendeln würde ich über 2 Stunden pro einfacher Fahrt brauchen: 20 Minuten mit der S-Bahn bis zum Bahnhof, knapp eineinhalb Stunden mit dem Zug bis Traunstein. Von dort per Bus oder anderem Gefährt noch mal eine viertel Stunde bis zu meinem Dorf. Macht zusammen 2 Stunden, 5 Minuten reine Reisezeit zuzüglich 15 Minuten Wartezeit auf Zug beziehungsweise Bus. Eine sehr stressige Angelegenheit also, falls man das jeden Tag zweimal durchmachen muss.

Soeben schloss ich die Wohnungstür auf, als mir bereits der markante Fischgeruch in die Nase geriet. In der Küche stand Werner, der dienstags für das Zubereiten des Mittagessens zuständig war. Mit 1,92 m Körperlänge übertraf er mich um exakt einen CD-Durchmesser. Seine langen Haare hatte er sich wie ein Klingone zusammengebunden und genau das war auch eine seiner großen Leidenschaften: Star Trek. Er kannte jede Folge aller fünf Serien und hatte auf seinem PC eine riesige Sammlung von Original Star Trek-Zitaten als MP3-Dateien. Genau wie ich studierte er Informatik – mit dem Unterschied, dass er sich bereits im 9. Semester befand, während ich noch im 7. herum gurkte.

„Servus Werner“ begrüßte ich ihn. „Ich habe schon an der Tür gerochen, was es heute gibt.“

Grinsend machte der „Koch“ den Herd aus. „Wir lüften später alles durch ... aber jetzt gibt es erst mal happa-happa.“

„Wo ist denn Toni?“ bemerkte ich die leere Eckbank in der Küche, wo sonst immer unser Mathematikstudent Platz nahm.

„Der ist grad auf dem Klo. Der kommt gleich. Toni!“

Vom Gang her kam ein Poltern und eine Tür ging auf, eilige Schritte näherten sich. „Ja vielleicht habe ich scheißen müssen!“

Ein athletisch gebauter Kerl trat herein, dessen kurze Haare auf einen Sportler hindeuten, was auch der Realität entsprach. Toni spielte seit vielen Jahren Handball in einer Juniorenmannschaft. Auf Grund seiner sportlichen Tätigkeit brach er sein BWL-Studium nach nur zwei Semestern ab um nach Sport zu wechseln. Er setzte sich mir gegenüber und gleich darauf servierte Werner das Essen. Wir hatten uns abgesprochen, als Toni im letzten Semester zu uns in die Wohnung gekommen war, wie wir das mit dem Essen machen wollten. Anfangs plädierte ich noch dafür, dass sich jeder selbst versorgt, doch als wir dann am ersten Tag zur Mittagszeit zu dritt in der Küche um den Herd standen, weil wir uns alle etwas machen wollten, einigten wir uns darauf, dass wir reihum einen von uns zum Koch ernannten. Dienstags sowie donnerstags war Werner für das gemeinsame Essen zuständig, denn er konnte von uns dreien am besten kochen. Toni musste am Montag ran und ich am Mittwoch, weil sich das zeitlich für uns beide am Besten gestaltete.

Zudem hatten wir abgemacht, dass immer derjenige nicht spülen musste, der das Essen zubereitet hatte. Das nennt man doch perfekte Arbeitsteilung und das in einer reinen Männer-WG! Morgens machte sich jeder selbst sein Frühstück, da wir meistens zu unterschiedlichen Zeiten aufstanden. Toni hatte beispielsweise fast ausschließlich Nachmittagsvorlesungen, so dass er immer recht lang zu schlafen pflegte. Während man ihn abends recht häufig antraf – er brachte häufig auch Kumpane oder Kollegen mit zu einem abendlichen Umtrunk – zog sich Werner meist in seine Bude zurück um dort per Netzwerk Spiele zu zocken.

Manchmal hatte ich dabei auch schon mitgemacht, genauso wie ich gelegentlich auch Tonis Privatfeiern aufsuchte. Eigentlich wunderte es mich auf Grund seines Studiumsschwerpunktes ein wenig, dass er ständig einen vollen Kasten Bier „als Notreserve für durstige Freunde“ in seinem Zimmer aufbehielt, aber er steckte die Sauforgien immer recht gut weg – ganz im Gegenteil zu mir. Das ist der Vorzug der Sportlerleber. Aus diesem Grund hielt ich mich bis auf wenige Ausnahmen auch ein wenig vom

Alkohol zurück. Ein, zwei Bier trank ich mal, zu mehr jedoch ließ ich mich in den allermeisten Fällen nicht verleiten.

An diesem Dienstag rief mich am späten Nachmittag ein alter Freund aus der Abiturzeit an, um mir mitzuteilen, dass bei ihm am kommenden Samstag eine kleine Faschings-Feier stattfände. Musik, Mädels, Speis und Trank inbegriffen. Wie üblich eben.

Da ich die von Ulf organisierten Feste noch gut in Erinnerung hatte, sagte ich natürlich zu. „Wer kommt denn alles?“ erkundigte ich mich neugierig.

„Flo, Martin, die Katja, ferner ein paar Mädels aus meinem Studiengang, die du noch nicht kennst ...“

„Na dann lasse ich mich mal überraschen. Was ist mit’m Seppi?“

„Der hat abgesagt. Der wird am Wochenende in Hamburg auf einer Kunstausstellung sein.“

Seppi ist ein gemeinsamer Freund aus der Schulzeit, den seine künstlerische Begabung auf eine Kunsthochschule für Malerei verschlagen hatte.

„Aber nicht auf seiner eigenen?!?“ scherzte ich, denn Seppi musste man zu dessen eigenem Verdruss bisher noch zu den brotlosen Künstlern zählen. „Gut, dann sehen wir uns am Freitag Abend. Machs gut!“

 

*

 

Der Samstag rückte schnell näher, so dass ich kaum mehr dazu kam, mir ein ausgefallenes Kostüm auszudenken. Aus diesem Grund kramte ich den bewährten Sheriff-Stern hervor, den ich mir an meine Jeansjacke steckte. Wo ist denn der Westernhut? Der muss irgendwo im Keller sein ... nach einer viertel Stunde Suchen fand ich ihn schließlich in einer Tüte. Passte mir noch immer wunderbar. Fehlte noch das Halfter für die beiden Colts,

dann konnte es losgehen. Da Ulf in Traunstein wohnte und ich nicht in dem Aufzug radeln wollte, nahm ich das Auto. Zwar versuchte ich auf kleineren Strecken bevorzugt mit dem Rad zu fahren, aber manchmal siegte die Bequemlichkeit.

Nach zehn Minuten Fahrt erreichte ich die Straße, wo Ulf wohnte. Wie ich an den Nummernschildern der abgestellten Autos erkannte, waren Martin sowie Katja bereits hier. Eventuell konnte auch Flo schon hier sein, denn er fuhr stets mit dem Rad. Zudem sprach seine Pünktlichkeit dafür. Gemächlich öffnete ich das hölzerne Gartentor um zum hell beleuchteten Haus zu gehen. Die Haustür stand einen Spalt offen, so dass ich gleich eintrat. Gedämpfte Musik schallte mir bereits auf dem Gang entgegen, entfernte Stimmen zeugten von der Anwesenheit mehrerer Leute. Im Wohnzimmer fand ich Ulf, Katja und Martin vor, die verteilt in den Sesseln hockten, die Getränke in den Händen haltend oder auf dem Tisch abgestellt.

„Servus Leute“ begrüßte ich meine Freunde. „Was geht ab?“

„Hey Günter, nimm dir gleich ein Bier“ empfing mich der als Pirat kostümierte Gastgeber mit seiner unverwechselbaren Art. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er in einem richtigen „Säufer-Studiengang“ geraten war. Na ja gut, die Holztechniker sind ja bekannt dafür, dass sie ordentlich was vertragen. Nachdem ich mir ein Bier aus dem in einer Ecke stehenden Kasten geholt hatte, stieß Martin, der einen Arztmantel trug sowie ein Abhörgerät um den Hals, mit mir an. „Prost!“

„Als was bist du heute verkleidet? Hals-, Nasen-, Ohrenarzt?“

„Nein, Gynäkologe – Dr. Martin Wiehen, der Arzt, vor dem sich die Frauen ausziehen.“ Grinsend gestikulierte er mit den Händen eindeutige Figuren in die Luft. Kichernd schlug ich ihm auf die Schulter. Er hatte seinen Humor nicht verloren. Ihn kannte ich ebenso wie Ulf aus der langjährigen Zeit am Gymnasium in Traunstein. Neun Jahre lang hatten wir dort in derselben Klasse verbracht. Freilich hatten wir in der Kollegstufe teilweise natürlich andere Kurse gewählt, aber im Großen und Ganzen hingen wir praktisch ständig gemeinsam herum. Das hatte uns auch den Spitznamen „kleine Mafia“ eingebracht, weil wir drei unzertrennlich waren. Sowohl während dem Unterricht, wo wir uns direkt nebeneinander setzten zum geselligen Unterhalten, Stadt-Land-Fluß spielen, Pläne schmieden zum Stören des Unterrichts als auch im Pausenhof, wo wir stets unseren „Stamm“baum aufsuchten um dort herumzulungern.

Jetzt, wo jeder von uns woanders studierte, trafen wir uns verständlicherweise nicht mehr so häufig, aber dennoch verband uns eine über die Jahre gewachsene innige Freundschaft.

„Was macht denn die Sofie?“ wollte Martin von mir wissen. „Habt ihr euch wieder versöhnt?“

„Wir haben uns getrennt“ klärte ich ihn über den Verbleib meiner Ex-Freundin auf. Ein leidiges Kapitel in meiner jüngsten Vergangenheit, das nun endlich beendet war. Bei der Thematik fiel mir spontan ein Lied der Hiphop-Gruppe „Such a surge“ ein:

„Jetzt ist’s gut – ist gut jetzt, ich hab dich längst vergessen!“

Oh ja, ich hatte sie schon seit langem vergessen. Wie sehr hatte sich meine Einstellung zu ihr gewandelt, aber darüber wollte ich jetzt wirklich nicht weiter nachdenken. Stattdessen setzte ich mich neben ein edel aussehendes Burgfräulein, die mir freundlich zulächelte. Katja hatte sich heute Abend wieder mal mächtig in Schale geworfen. Ich hatte sie vor einigen Jahren über Ulf kennen gelernt, der sie wiederum vom Tanzkurs kannte. Sie konnte sich nahtlos in unsere „kleine Mafia“ integrieren und war gern gesehen, wenn wir irgendwohin gingen oder uns trafen. Beim Kickern beispielsweise spielte ich recht gern mit ihr zusammen gegen Ulf und Martin. Da mein Reaktionsvermögen überproportional ausgeprägt ist, gewannen wir meistens. Beim Billard sah die Sache schon anders aus: das lag mir nicht besonders. Schon die richtige Technik um den komischen Speer in die Hand zu nehmen, bereitete mir Kopfzerbrechen.

„Wie geht’s dir so im Studium?“ fragte mich Katja interessiert, denn wir hatten uns seit knapp zwei Wochen nicht mehr gesehen. Am letzten Wochenende war ich nämlich in Hamburg gewesen, um dort einen Kameraden aus der Bundeswehrzeit zu besuchen, der genau wie ich beim Gebirgsjägerbataillon in Reit im Winkl

stationiert gewesen war.

„Es geht voran“ schätzte ich die Lage realistisch ein. „Bis zu den Prüfungen ist ja noch ein bisschen Zeit. Das dürfte schon irgendwie laufen ... und wie steht’s bei dir so?“

„Na ja, ich habe momentan überhaupt keine Lust irgendwas zu tun. Schon gar nicht fürs Studium. Allgemeine Unlust sozusagen. Kein Bock auf irgendwas.“

„Das Phänomen ist mir ebenfalls bekannt“ schmunzelte ich. „Das geht mir schon seit mindestens 15 Jahren so. Ja, das ist vielleicht übertrieben, sagen wir seit zwölf?“

Katja trank einen Schluck aus ihrem Glas. Die hell gelbliche Flüssigkeit ließ mich auf Orangensaft schließen.

„Was gibt’s Neues von deiner Freundin?“

„Es ist aus“ erklärte ich sachlich, wobei ich beinahe einen Anflug von Freude in Katjas Antlitz zu sehen glaubte. Seit einiger Zeit schon bemerkte ich, dass sie etwas von mir wollte. Die Art, wie sie sich mir gegenüber verhielt, der Glanz ihrer Augen, wenn wir für eine Weile ungestört waren. Zugegeben: sie hatte eine attraktive Figur, lange, blonde Haare, grünliche Augen, eine sanfte, sinnliche Stimme und war nett, doch sie war für mich mehr wie eine Schwester. Sie war ein Teil meines inneren Freundeskreises, ein Teil der „kleinen Mafia“, keine als Partnerin in Frage kommende Frau. Noch hatte ich das ihr gegenüber nie direkt erwähnt. Vielleicht sollte ich es einmal tun. Allerdings wollte ich ihr nicht wehtun und das dann richtig zu formulieren ist nicht eben leicht.

„Das tut mir leid für dich“ sagte Katja mit betrübter Miene und legte ihre Hand beschützend auf meine. Nun war ich mir sicher, dass sie wirklich etwas für mich empfand. Das Schlimme daran war die Tatsache, dass ich sie zwar mochte, mir auf der anderen Seite jedoch nicht vorstellen konnte, dass jemals mehr daraus werden könnte. Wie gesagt: wir hatten sie in unsere Dreier-Freundschaft aufgenommen und sie war quasi der vierte Freund in der Runde geworden. Wohl bemerkt ein Freund, keine Freundin. Ihr andersartiges Geschlecht schien nicht mehr zu existieren. Sie war der vierte „Mann“ in der kleinen Mafia geworden.

Soeben kam von draußen Flo herein – als Elvis Presley verkleidet, was bei ihm absolut heiß aussah. Reihum begrüßte er die Anwesenden, ehe er ein gut imitiertes „Love me tender, love

me sweet ...“ anstimmte. Katja neben mir lachte herzhaft, weil dies sehr lustig klang. Flo konnte nicht besonders gut singen, was ihn aber nicht davon abhielt, uns sein „Können“ zu beweisen. Seufzend stand ich auf, um mir ein paar Fressalien vom Buffettisch zu holen.

„Der Kuchen ist übrigens von mir“ vernahm ich Katja plötzlich dicht an meiner Seite. „Schokoladen-Mandelkrokant.“

„Mhm“ machte ich nickend. Was Mandelkrokant ist, wusste ich zwar nicht, aber Schokolade allein tat es auch. Sogleich hievte ich mir ein großes Stück davon auf einen Teller. Mal überlegen, worauf hätte ich denn jetzt noch Lust? Genau – ein Gläschen Sekt. „Magst du auch?“ wandte ich mich um.

Katja schüttelte den Kopf. „Ich trinke den nur verdünnt mit Orangensaft, sonst bin ich um zehn Uhr schon angetrunken.“

Das musste aber ein recht einseitiges Mischverhältnis sein, so gelb wie das vorhin geleuchtet hatte. Vermutlich 9 zu 1 oder dergleichen. Frauen vertragen eben keinen Alkohol.

Kurz darauf saßen wir beide wieder auf dem Sofa, wo ich mir den Kuchen schmecken ließ, den ich nach dem ersten Bissen lobte, was die Bäckerin erfreute. Gleichzeitig frönte ich dem Sekt, der recht herb, aber dennoch edel, schmeckte.

„So, zur Abwechslung ein Schluck aus dem Fläschchen ...“ meinte ich nüchtern. Katja grinste amüsiert. „Hast du morgen Abend schon was vor?“

„Morgen Abend?“ überlegte ich laut. „Hmm, ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Was ist denn da besonderes?“

„Da kommt im Kino zum letzten Mal ‚Boat trip’. Das ist eine Komödie, die ich recht lustig fand. Hast du Lust?“

Einen Moment überlegte ich, wie ich mich entscheiden sollte. Wenn ich nur wüsste, ob das ein Versuch war, mir näher zu kommen oder ob es sich lediglich um eine gemeinsame Unternehmung handelte genau wie jene, die wir zusammen mit Ulf und Martin schon so oft gemacht hatten.

„Kommt sonst noch jemand mit?“ fragte ich vorsichtshalber.

„Nein, nicht dass ich wüsste. Muss noch jemand anderes mitkommen?!?“

„Nicht unbedingt. Ich meinte ja nur ... ok, von mir aus können wir da schon hingehen. Um wieviel Uhr beginnt der Film?“

„19 Uhr. Wo sollen wir uns treffen? Vor dem Kino?“

„Ja, das wird das Beste sein. Dann am besten um 18 Uhr 45.“

Ich brachte meinen Teller rüber in die Küche, wo ich ihn auf das Fensterbrett stellte, falls ich später noch Hunger hatte, was sehr wahrscheinlich war, denn die Feier würde wohl bis in die späten Morgenstunden dauern. So, jetzt noch schnell aufs Klo – dann war ich wieder einsatzbereit für ein neues Bier.

Eben als ich in den Gang hinaus trat, öffnete sich die Haustür und jemand kam herein. Schwarze, schulterlange Haare umrahmten ein blasses Gesicht, das ich heute zum ersten Mal sah. Blaue Augen leuchteten mich an, was durch den gleichfarbigen Lidschatten noch verstärkt wurde. Der schlanke Körper steckte in einem ledernen Gewand, das von den Oberschenkeln bis gerade etwas über die Brüste reichte. Bei meinem ersten flüchtigen Blick über die Gesamterscheinung übersah ich die ausgeprägten Sexualattribute natürlich nicht. Ein freundliches Lächeln umspielte die Züge des Mädchens, als sie mir die Hand reichte. „Hallo, ich bin die Anna.“

Das musste wohl eine von Ulfs erwähnten Studiumskolleginnen sein. Kaum zu glauben, dass sich so etwas ausgerechnet in Holztechnik eingeschrieben hatte. Das passte so gar nicht ins übliche Bild. „Servus, ich bin der Günter“ stellte ich mich vor, als ich ihre Hand schüttelte. „Du hast übrigens ein recht ungewöhnliches Kostüm. Ist das eine Gladiatorenkluft?“

„Nein“ erklärte sie mir milde lächelnd. „Ich bin Domina.“

„Fett. Aber nur heute und nicht beruflich?“ grinste ich verstohlen. Ehe sie antworten konnte, redete ich bereits weiter. „Komm rein und nimm dir ein Bier. Die Sorte habe übrigens ich besorgt. Besseres Bier gibt’s unter Garantie in ganz Bayern nicht.“

„Na dann nichts wie hinein ins Vergnügen.“

Ganz Kavalier wie ich war, ließ ich sie vorangehen. Nun gut, vielleicht auch aus einem anderen Grund. Ich konnte mir nämlich nicht verkneifen ihr auf den Hintern zu blicken. Wahrlich ein guter Grund nach Holztechnik zu wechseln, aber im 7. Semester Informatik blieb man halt bei dem Computerkram. Wer legt bei Tempo 200 auf der Autobahn schon den Rückwärtsgang ein?

In der nächsten halben Stunde füllte sich der Raum. Hinzu kamen noch ein halbes Dutzend Leute, darunter zwei weitere Kommilitoninnen von Ulf. Doch keine davon konnte mit Anna mithalten. Sie entsprachen durchwegs meinen Erwartungen, welche bei diesem Studienfach äußerst niedrig waren.

Als Anna mit einer Bierflasche in einem Ecksessel Platz nahm, gesellte ich mich wie beiläufig zu ihr. „Na? Alles klar?“

Sie nickte stumm und lächelte mich nur an. Ob sie wusste, dass ihre Augen mich total faszinierten? Schon als sie sich mir vorgestellt hatte, war ich in den Bann dieser blauen Augen geraten, der mich nicht mehr losließ. Wirklich interessant, wie ehrlich man doch zu sich selbst als auch zu anderen ist, wenn man etwas Alkohol intus hat. Wirklich erstaunlich.

„Was machst du eigentlich?“ riss sie mich aus meinen Gedanken. „Äh wie?“ erwiderte ich. „Ich trinke ein Bier?!“

„Nein, ich meinte, arbeitest du schon oder studierst du auch?“

„Ach so. Ja, ich bin im 7. Semester Informatik an der TU.“

„Gefällt es dir wenigstens?“

„Na ja, es hält sich in Grenzen. Einiges ist in Ordnung, manches jedoch richtig abartig, wirklich brauchen tue ich das Wenigste, aber das wird bei euch vermutlich genauso sein.“

„Ja“ schmunzelte Anna. „Das scheint in jedem Studiengang so zu sein. Irgendeinen Mist drücken sie einem immer rein.“

„Gefällt dir die Musik, die gerade läuft?“

H.P. Baxter von Scooter johlte gerade „Hyper, hyper“.

„Es geht so. Techno ist nicht so mein Ding.“

„Was hörst du für Musik?“

„Alles mögliche, hauptsächlich aber etwas ruhigere, emotionalere Sachen. Kommt ganz auf meine Stimmung an. Du?“

„Ich habe eigentlich einen recht dynamischen Geschmack: Rammstein ist sicher mein Favorit. Ansonsten Knorkator, R.E.M., Britney Spears, Scooter, Elvis Presley, Beatles, Beethoven, Wagner.”

„Das sind ja recht unterschiedliche Stilrichtungen“ stellte sie staunend fest. „Also mit Klassik habe ich eher weniger am Hut.“

Es entstand eine kleine Pause, die ich damit zu überbrücken versuchte, ein paar tiefe Schlucke Bier zu nehmen. Annas Blick schweifte über die Anwesenden. „Kennst du hier auf der Feier eigentlich viele Leute?“

„Ja, mit den meisten bin ich zur Schule gegangen oder wir haben uns sonst irgendwie kennen gelernt. Dich natürlich ausgenommen.“

Lächelnd erhob ich meine Bierflasche und wartete bis Anna angestossen hatte. Mit einem tiefen Schluck rann das bayrische Gold meine Kehle hinunter. Da musste ich unbedingt mal einen Physikstudenten fragen, ob es da eine Formel gab für Bier, das die Kehle hinunter rinnt.

„Wie bist du zu so einem hochtechnischen Studiengang wie Holztechnik gekommen?“

„Na ja, meinem Vater gehört eine Schreinerei und da ich mich schon immer für Technik interessiert habe, kam das eine zum anderen. Warum hast du denn Informatik gewählt?“

„Weil ich gern PC-Spiele mache und der Ansicht war, das ginge auch im Studium so weiter. Da scheine ich mich aber ein bisschen geirrt zu haben. Obwohl – privat spiele ich nach wie vor ziemlich viel.“ Soeben trank ich den letzten Schluck aus der Flasche. „Ich hole mir schnell ein neues Bier und komme gleich zurück. Nicht weglaufen!“

Schelmisch grinsend zog ich von dannen. Auf dem Weg zur Küche, wo der zweite Bierkasten stand, denn der erste war schon längst leer, traf ich auf Ulf, den ich kurz anhielt. „Kannst du mir einen Gefallen tun? Spiel in zehn Minuten oder so ANNA von Freundeskreis.“

„Habt ihr euch schon kennengelernt?“ grinste Ulf. „Ja, die Anna ist schon eine süße Maus. Ich arrangiere das für dich ...“

Kurz darauf fand ich mich wieder ins Wohnzimmer ein. Anna saß unverändert an ihrem Platz. Niemand anderes hatte es gewagt sie anzusprechen. So lobte ich mir das, wenn meine Platzhirschposition anerkannt wurde. „Wo sind wir stehengeblieben?“ nahm ich das Gespräch wieder auf.

„Beim Studium“ half mir Anna auf die Sprünge. „Aber ich würde sagen wir reden lieber von was anderem, denn ich habe für die Prüfungen noch gar nichts getan. Gefällt dir das Lied?“

Gerade dudelte „Heut’ ist mein Tag“ von Blümchen vor sich hin.

„Es hält sich in Grenzen“ bewertete ich knapp.

„Ich finde es einfach genial.“

Jäh sprang sie hoch und reichte mir die Hand. „Komm!“

Etwas verdutzt ergriff ich ihre rechte und folgte ihr zur als Tanzfläche dienenden leergeräumten Wohnzimmerecke. Wir hopsten eine Weile wie wild herum, was in leicht angetrunkenem Zustand richtig Spaß machte. Anna bewegte sich sehr elegant und demonstrierte exzellente Körperbeherrschung. Wie die ihren Leib wohl in anderen Situationen … wieder trafen mich die bezaubernden Augen meiner Tanzpartnerin, die alle meine Gedanken wegwischten. Nach einer weiteren flotten Nummer („No good“ von Prodigy) folgte „Hammerhart“ von „Absolute Beginner“.

„Is’ ja hammer-hammer-hart, da ist einiges am Start ...“ trällerte ich leise mit. „Ihr seid Zeuge, wie Denn Jo ’nen neuen Hit schreibt, Eisfeld die fetten Beats holt ausm Zip-Drive, Matt seine neuesten Technik-Tricks zeigt ...“

Erschöpft von der Springerei begaben wir uns wieder zum inzwischen frei gewordenen Sofa, wo wir uns niedersetzten.

„Du tanzt nicht schlecht“ stellte ich bewundernd fest.

„Ach ja, es geht schon. Hat’s dir gefallen?“

„Ja, war ganz nett. Müssen wir bei Gelegenheit wiederholen.“

Endlich hörte ich aus Richtung Stereoanlage vertraute Klänge: Ulf spielte endlich das von mir angeforderte Lied ab.

„Hey“ meinte ich lauschend. „Das Liedchen passt jetzt grad richtig gut.“

Räuspernd fügte ich in singendem Tonfall hinzu: „Du bist von hinten wie von vorne ANNA, du bist von hinten wie von vorne ANNA!“

„Immer wenn es regnet, muss ich an dich denken, wie wir uns begegnet sind und kann mich nicht ablenken, nass bis auf die Haut, ja so standst du da ...“ Anna kannte den Text.

„... ANNA!“ setzte ich den Text fort.

„Oh Mann“ grinste Anna. „Wir werden schon zwei so Kasperl sein.“

„Wieso? Ist doch lustig. Hast du Lust zum Kickern?“

„Das kann ich zwar nicht besonders gut, aber von mir aus können wir’s ja probieren."

„Gut, dann frag ich schnell Ulf und Martin, ob sie mitspielen. Dann machen wir einen flotten Vierer“ scherzte ich.

„Ihr zu dritt mit mir?“ lachte Anna, meinen sexistischen Witz  gekonnt aufgreifend. „Glaubst du nicht, dass da irgend jemand zu kurz kommen könnte?“

„Nö, drei Leute teilen sich drei Löcher – passt doch perfekt.“

Beinahe bereute ich meine vorschnelle Antwort, denn das macht der holden Weiblichkeit gegenüber keinen guten Eindruck, aber Anna schien ebenfalls nicht auf den Mund gefallen zu sein.

„Soso, welches Loch hättest du denn gerne?“

„Hmm“ überlegte ich. „Schauen wir mal.“

Grinsend erhob ich mich. „Ich frage die beiden schnell mal.“

Ulf fand ich im Gespräch mit Katja vor. Das passte mir jetzt nicht so sehr, denn wenn ich jetzt aufs Kickern zu sprechen kam, würde sich Katja sicher ausgegrenzt fühlen, falls ich nicht daran dachte, sie mitspielen zu lassen. Ich wollte nämlich unbedingt gegen meine beiden Freunde spielen und gemeinsam mit Anna gewinnen. Sei es nur um mein Selbstbewußtsein zu steigern.

Aus diesem Grund beschloss ich das Problem auf jemand anderen abzuwälzen. Martin traf ich am Buffet an, der sich gerade einen Berg belegter Brote auf seinen Teller auflud. „Na? Du hast aber Hunger“ meinte ich.

„Ja, ich habe auch schon seit heute Mittag nix mehr gegessen.“

„Hast du nachher Lust auf einen Kicker?“

„Jepp, sobald ich fertig bin, gebe ich dir Bescheid.“

„Gut, nimm Ulf mit, wenn du soweit bist.“

Damit hatte ich mich doch perfekt aus der Bredouille manövriert. Zufrieden setzte ich mich wieder neben Anna, die sich inzwischen ihr zweites Bier geholt hatte. „Prost!“

Eine viertel Stunde später kam Martin mit Ulf im Schlepptau bei uns vorbei wegen dem verabredeten Kickerspiel. Aus Platzgründen stand der Kickertisch im Keller, wo es ziemlich kühl war, aber uns wurde während dem Spiel schon warm. Aus taktischen Gründen übernahm ich die Verteidigung. Erfahrungsgemäß ist es beim Kickern einfacher ein Tor zu vereiteln als eines zu schießen. Wenn dann hinten ein Anfänger stand, dann hatte man schon so gut wie verloren.

Da Anna in der Tat nicht viel Übung hatte, taten wir uns mit dem Toreschießen anfangs recht schwer. Mit Distanzschüssen konnte ich jedoch das Spiel zu unseren Gunsten entscheiden. Auch das folgende Spiel gewannen wir trotz Seitentausch mit einem Vorsprung von vier Zählern. In Partie Nummer drei tauschten unsere Gegner die Plätze, wodurch sich vor meinem Tor viele trickreiche Szenen abspielten, denn Ulf war in der Offensive ein brillanter Techniker. Zweimal spielte er schräg aufs Tor, wobei der Ball von meinem Torwart gestoppt wurde, doch die Wucht reichte jeweils aus um über ihn zu hüpfen und dann ins Tor zu kullern. Aber er tat sich mit solchen Tricks auch leicht, denn er hatte den Heimvorteil (und sicher jede Menge geübt).

Nach drei Siegen wollte Anna unbedingt mal hinten spielen, woraufhin wir natürlich prompt mit drei Toren Rückstand verloren. Wenigstens beeinträchtigte das unseren Gesamtsieg nicht. Wir ließen den würdigen Verlierern den Vortritt auf der Treppe, ehe wir auch wieder hochgingen. „Wir zwei sind ein gutes Team“ sagte ich zu Anna, die bescheiden hinzufügte: „Solange du die Tore schießt ...“

Die Feier strebte allmählich dem Höhepunkt entgegen, was angesichts der Uhrzeit von viertel nach zwölf aber auch langsam Zeit wurde. Inzwischen hatte ich mein drittes Bier intus und langsam machte sich das deutlich bemerkbar, denn zwischendurch hatte ich ja auch ein paar Gläser Sekt getrunken. Zwar merkte man mir verbal nicht an, dass ich getrunken hatte, aber die Wirkung konnte ich natürlich schwerlich verhindern. Ausgelassen blödelte ich mit dem ebenfalls stark angetrunkenen Ulf herum, schäkerte mal mit der Katja und bevorzugt mit Anna, die mittlerweile auch recht lustig drauf zu sein schien.

„Wie lange bleibst du?“ fragte ich sie ohne Hintergedanken.

„Hmm, ich weiß noch nicht. Eigentlich wollte ich morgen – oder besser: heute – mal mein Matheskript durcharbeiten ... na ja, ich glaub ich bleib doch ein bisschen länger hier, denn dann bin ich heute Nachmittag zu müde für Mathe.“

Nach einer kurzen Pause fügte sie in bedauerndem Tonfall hinzu:

„Das täte mir aber sehr leid, wenn ich nichts machen kann ...“

„Die Taktik muss ich mir merken“ meinte ich heiter. „Na ja, ich werde jetzt erst mal austreten, weil sonst mach ich noch in die Hose. Das kommt dann nicht so gut.“

Auf dem Klo empfing mich eine kühle Stille, die nur vom gleichmäßigen Plätschern der Diffusion durch eine semi-permeable Membran gestört wurde. Lachend erinnerte ich mich an jene hochwissenschaftliche Ausdrucksweise fürs Pissen, die ich irgendwann in Biologie aufgeschnappt und mir gemerkt hatte. Was man nicht alles für einen Schmarren lernt …

Während dem Händewaschen dachte ich darüber nach, Anna irgendwohin einzuladen. Nur irgendwie fürchtete ich mich davor, abgewiesen zu werden. Ein einfaches „Nein“ konnte alle meine Hoffnungen zerstören. Dass diese Angst völlig normal ist, dessen war ich mir bewusst, doch nichts desto trotz war ich ein klein wenig aufgeregt. Ach, ich würde sie einfach fragen, ob sie ... hmm, ja, ob sie was tun wollte? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Eine Minute stand ich da, hörte gedämpfte Musik aus der Ferne und überlegte, was ich sie fragen sollte. Ob sie mit mir ins Kino gehen wollte? Obwohl das fast ein bisschen zu stümperhaft war. Ihre Telefonnummer? Dann konnte ich prüfen, ob sie mir überhaupt freundlich gesonnen war und mir dann im Fall der Fälle immer noch überlegen, wozu ich sie einladen wollte.

Endlich hatte ich genügend Mut gesammelt um wieder zurückzugehen. Da ich Anna nicht auf Anhieb sah, unterhielt ich mich noch eine Weile mit Martin über ein PC-Spiel, dass ich ihm letzte Woche kopiert hatte. So etwas ist natürlich ein Thema, über das Mann Stunden reden kann. Diesmal begnügte ich mich jedoch mit dem allernötigsten, denn mich hatte eine innere Unruhe ergriffen, die mich dazu trieb, nachzuschauen, wo sich Anna gerade aufhielt. In der Küche fand ich sie im Gespräch mit Katja vor.

„Na, ihr zwei“ setzte ich mich dazu. „Was geht bei euch so ab?“

„Nicht viel“ meinte Katja. „Wir unterhalten uns nur ein bissel.“

„Wir reden gerade darüber, dass Martin einen geilen Hintern hat“ erläuterte Anna todernst. Offenbar blickte ich ziemlich verdutzt drein, denn sie fing prustend zu lachen an. „Wir haben nur über Musik geredet – und über dich.“

„Über mich?“ wunderte ich mich.

„Ja, aber das war ein reines Frauengespräch.“

Die beiden warfen sich einen kurzen, viel sagenden Blick zu.

„Soso“ entgegnete ich unsicher, weil ich keine Ahnung hatte, was die hier besprochen hatten. Aus diesem Grund wechselte ich das Thema auf eines meiner Lieblingsgebiete. „Habt ihr Lust auf ein kleines, etwas ungewöhnlicheres Ratespiel feucht-fröhlicher Art mit der Thematik ‚Männer und Frauen’?“

Die Mädels hatten Bock, so dass ich unverzüglich fortfuhr:

„Wieviele Männer kann eine Frau gleichzeitig im Bett befriedigen?“

Katja schätzte drei und auch Anna vermutete dieselbe Anzahl.

„Falsch“ erklärte ich knapp. „Die richtige Zahl ist fünf.“

„Wieso fünf?“ fragte Anna verblüfft. Offenbar hatte sie sich an meinen Scherz bezüglich des flotten Vierers erinnert und ihr Einfallsreichtum reichte nicht weiter.

„Na denk mal scharf nach ...“ forderte ich sie auf.

„Na ja“ erörterte sie. „Oral, vaginal, anal ...“

„Manuell hast du vergessen“ half ich ihr auf die Sprünge. „Und das geht simultan. Weiter im Text:

Wieviele Frauen kann ein Mann gleichzeitig befriedigen?“

„Wenn er gut drauf ist eine und normalerweise keine einzige“ amüsierte sich Katja. „Mal im Ernst: ich würde sagen: zwei.“

Anna erhöhte auf vier, wobei sie die Qualität der Aktion in Frage stellte.

„Die richtige Lösung lautet in der Tat vier. Demzufolge sind Frauen in diesem Bereich flexibler. Nächste Frage:

wieviele Nachkommen kann eine Frau theoretisch maximal in ihrem Leben bekommen, wenn sie sich Mühe gibt?“

„40?“ schätzte Anna unsicher. „Wenn man davon ausgeht, dass die Pubertät mit 14 beginnt, die Fruchtbarkeit bis 50 anhält und ungefähr jedes knappe Jahr ein Kind kommt ...“

„Mir scheint das ist zuviel des Guten“ war sich Katja sicher. „Nicht mehr als 30 würde ich mal behaupten.“

„Ja, das kann man beides gelten lassen“ bemerkte ich. „Jetzt kommt die letzte Frage: wieviele Nachkommen kann ein Mann maximal in seinem Leben zeugen?“

„Ui, das sind viele. Mit künstlicher Befruchtung oder ohne?“

„Ohne. Sonst ist es doch langweilig.“

„Na ja, vielleicht 1000 oder so?“

„Das müssten schon mehr sein“ entgegnete Katja. „5000.“

„Beides falsch. Die Lösung liegt im oberen 5-stelligen Bereich.

Zur Erläuterung: jeder Mann kann pro Tag auf längere Zeit betrachtet theoretisch locker vier Mal hintereinander, macht 1450 pro Jahr. Die fruchtbare Phase beginnt ungefähr mit 14 bei einer Dauer von 60 Jahren, denn Männer sind bekanntlich bis zum Lebensende zeugungsfähig. Das wären dann folglich 87000 – rein rechnerisch.“

Einen Augenblick ließ ich die Zahl wirken, woraufhin Katja ihre Stimme erhob. „Was sagt uns das jetzt?“

„Ganz einfach“ fachsimpelte ich. „Angesichts des biologischen Hintergrundwissens, dass wir nun alle besitzen, komme ich zu der These, dass die Anwesenheit einer großen Anzahl von Männern gar nicht erforderlich ist um die Fortpflanzung der menschlichen Rasse zu erhalten. Daher fordere ich eine Umgestaltung der Gesellschaft in optimale biologische Verhältnisse. 87000 geteilt durch 40 ergibt ungefähr 2000, also sollen in der Gesellschaft der Zukunft auf einen Mann rund 2000 Frauen kommen. Nur so ist eine maximale Produktivität gewährleistet und kein Mann wird an eine einzige Frau verschwendet. Was haltet ihr davon?“

„Das würde dir vielleicht so passen“ meinte Katja. „Du kannst den Vorschlag ja mal einreichen. Vielleicht bekommst du dafür den Biologienobelpreis.“

Anna kicherte sich einen ab. „Ich befürchte das wird wohl doch nur ein Bundesverdienstkeks mit Schokoladenüberzug und Karameleinlage werden.“

Auch ich grinste nun bis über beide Ohren, bevor ich den beiden zuprostete. Wir unterhielten uns noch eine Weile über allerhand Themen, die mir auf Grund meines Bierkonsums sowie der geringen Wichtigkeit jedoch kurze Zeit später schon wieder entfallen sind. Eine andere Sache jedoch hatte ich nicht vergessen. Katja stand irgendwann mal auf um auf die Toilette zu gehen. Zuerst dachte ich schon, Anna würde mitgehen getreu dem ungeschriebenen Frauengesetz „Uriniere nur im Rudel“, doch zu meiner Freude blieb sie sitzen.

Endlich waren wir beide allein. Jetzt konnte ich sie ungezwungen fragen, was ich sie schon seit einer guten Stunde fragen wollte. (vielleicht sogar schon länger?)

„Anna?“ sprach ich sie an um ihre Aufmerksamkeit voll auf mich zu lenken. Der Platzhirsch braucht eben ungeteilte Zuwendung.

„Ja?“ – „Was hältst du davon, wenn wir mal zu zweit irgendwas unternehmen? Was weiß ich ... zum Beispiel ins Kino gehen, ein Kickerspiel, eine Wanderung, eine Radtour oder so.“

Einen Moment zögerte sie, was mich schon beinahe entmutigte, doch dann erwiderte sie: „Gern. Können wir schon mal machen. Soll ich dir meine Telefonnummer geben? Dann können wir in Abhängigkeit vom Wetter kurzfristig was einplanen.“

„Ja“ freute ich mich. „Ich habe nur grad nichts zum Schreiben da ... warte mal schnell ...“

Hastig stand ich auf um mir aus dem Nebenraum einen Stift sowie einen kleinen Zettel zu holen. Mir war ja bekannt, wo das im Hause Ulf Ehrenfeld aufbewahrt wurde.

„Diktier“ forderte ich Anna mit gezücktem Stift auf.

„08034 / 83267“ verriet sie mir. „Ab 16 Uhr bin ich meistens am ehesten zu erreichen, aber du kannst auch eher anrufen. Im schlechtesten Fall geht halt niemand ran.“

„Gut, dann meld ich mich einfach mal bei dir.“

Sieg! Ich hatte ihre Nummer! Nun gut, das konnte man lediglich als taktischen Vorteil sehen, die Schlacht hatte ich deswegen noch lange nicht gewonnen.

 

*

 

Wann ich die Feier verließ, kann ich im Nachhinein nicht genau sagen, aber ich war so ziemlich einer der letzten. Daher wachte ich am Sonntag erst relativ spät auf. Genauer gesagt um halb zwei. Aber das machte nichts, denn ich hatte eh nichts Besonderes vor. Halt – heute Abend stand mir noch eine Verabredung mit Katja bevor. Das wäre mir beinahe entfallen. Was sollte ich bis dahin machen? Anna anrufen? Obwohl, lieber nicht heute, wo ich so einen Brummschädel hatte. Besser erst morgen.

Den Nachmittag über verbrachte ich vor dem Fernseher sowie mit einem längeren Spaziergang am Chiemsee entlang. Dadurch wurde ich wieder einigermaßen klar im Kopf. Da die Zeit allmählich gekommen war, fuhr ich nach Traunstein zum Kino in der Seestraße, wo ich mich mit Katja verabredet hatte. Der Abend entwickelte sich recht nett, was hauptsächlich auf die witzige

Komödie zurückzuführen war. Der Titel „Boat trip“ klingt langweilig, doch die Handlung hatte es in sich: zwei urlaubswillige Männer auf Frauenschau machen eine Kreuzfahrt, die allerdings etwas anders verläuft als sie erwarten. Anstatt knackiger Mädels gibt es auf dem Luxuspassagierschiff nämlich nur Männer. Die Erstaunung ist natürlich groß, als die beiden erfahren, dass es sich um eine Schwulenkreuzfahrt handelt ...

Absolut genial, der Film. Nachher hockten wir uns noch ein bisschen zusammen, ehe sich unsere Wege trennten. Katja war sicher ein nettes Mädchen, aber was konnte es bedeuten, dass ich in ihrer Nähe nur freundschaftliche Gefühle verspürte? Auf der anderen Seite jedoch fühlte ich noch etwas anderes: Sehnsucht nach schwarzen Haaren, jenen zauberhaften blauen Augen, die mich mehr als einmal angelächelt hatten.

War das etwa die berüchtigte Liebe auf den ersten Blick, die es angeblich gar nicht gab? Sicher konnte ich das nicht sagen. Vielleicht handelte es sich nur um eine Art spontane Sympathie. Auf alle Fälle musste ich Anna unbedingt wiedersehen. Je eher desto besser. Nein, länger als bis morgen würde ich nicht warten, ehe ich sie anrief. Die Konkurrenz schläft nicht, wäre doch höchst unbefriedigend, wenn sie mir jemand anderes vor der Nase wegschnappte.

 

*

 

Am Montag Vormittag fuhr ich wie gewohnt mit dem Zug nach München. In meinem Abteil saß ein uniformierter Soldat, mit dem ich während der Fahrt ratschte. Er war auf einem Minensuchboot in der Ostsee stationiert. Was natürlich ein bisschen verwundert, denn was macht ein in Oberbayern lebender Bursche bei der Marine? Wäre der bei den Gebirgsjägern nicht besser aufgehoben? Aber dem Kameraden schien es auf dem Minensucher gut zu gefallen.

„Bis auf die engen Stuben ... na ja, ist halt auf Schiffen so.“

„Habt ihr schon mal längere Fahrten unternommen?“

„Klar, letzten Monat haben wir eine Ostseerundfahrt gemacht. Über Danzig, Stettin, Riga, Visby bis nach St. Petersburg. So was macht dann natürlich Laune, aber wir sind auch schon mal drei Wochen im Hafen vor Anker gelegen. Da ist dann halt Bereitschaftsdienst, du darfst das Deck schrubben oder irgendwelche Geräte untersuchen, ob die noch richtig funktionieren. ‚Instandsetzungskontrolle’ nennt sich das dann. Das ist ziemlich übel, weil sich da nichts tut.“

„Wie lange hast du noch?“

„Fünf Monate. Na ja, ich bereue es jedenfalls nicht, zur Marine gegangen zu sein. Da kommt man wenigstens ein bisschen herum.“

Eine verlockende Vorstellung alle Häfen der Ostsee abzuklappern mit jeweils ein oder zwei Tagen Aufenthalt ... das konnte ich mir natürlich mit Tauglichkeitsstufe 4 aus dem Kopf schlagen. Dafür hatte ich aber auch mein gewohntes Bett. In München Ost stieg ich aus. Der Soldat fuhr bis Hauptbahnhof, denn er musste einen Anschlußzug Richtung Kiel bekommen, wo sein Boot stationiert war. Ich hingegen musste meine S6 erwischen, damit ich noch rechtzeitig zur ersten Vorlesung in der Uni ankam.

Compilerbau - wie ich es hasste! Es half aber alles nichts, denn ich hatte die Prüfung bereits einmal versaut und wollte beim Zweitversuch auf jeden Fall bestehen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, verlief die Vorlesung langweilig wie immer und von dem, was der Prof erzählt hatte, hatte ich nur rund die Hälfte begriffen. Das war aber eh eine recht gute Quote. Noch vor einigen Wochen wusste ich nämlich überhaupt nicht, wovon der da vorne redet. So gesehen hatte ich erstaunliche Fortschritte gemacht, die mich um so stolzer machten, da viele Mitstudenten ein noch viel Ahnungsloseres Gesicht als ich machten.

Im Anschluß an diesen Vortrag stand eine Datenbankenvorlesung auf meinem Semesterplan – damit konnte ich leben, zumal der Stoff recht einprägsam war.

Im Wohnheim angekommen, tischte Toni gerade das Essen auf. Spaghetti mit Tomatensoße. Das gab es eigentlich meistens, wenn er kochte. Als ich ihn einmal darauf ansprach, ob er nicht mal etwas anderes machen könne, meinte er nur verlegen. „Ich kann sonst nicht recht viel mehr.“

Seitdem gab es montags immer Nudeln. Immerhin abwechselnd mal lange dünne, breite runde oder kleine mit hohler Innenseite. Werner saß bereits am Tisch, wo er mit der Abdeckplatte einer Diskette herumspielte, bis Toni endlich den Topf mit den Nudeln auf den Tisch stellte.

„Guten Appetit“ wünschte er, was wir erwiderten. „Habt ihr was dagegen, wenn heute Abend ein paar Kumpels von mir herkommen zwecks einer kleinen Vor-Prüfungsfeier?“

„Nö“ mampfte Werner. „Mach nur.“

Fragend sah mich Toni an. Bevor ich antwortete, schluckte ich erst noch hinunter. „Nein, ist schon in Ordnung.“

Nach dem Essen spülten Werner und ich gleich ab, während Toni noch am Tisch sitzen blieb um irgendeine seiner Sportzeitschriften zu lesen.

„Hast du eine Ahnung, wie ich unter VB.NET Felder von Klasseninstanzen in eine Datei schreiben und auch wieder lesen kann ohne dabei jedes Element einzeln ansprechen zu müssen?“ wollte ich unvermittelt von Werner wissen, denn dieser hatte schon mehr Erfahrung mit NET-Programmiersprachen als ich. Der Hintergrund war der, dass ich beim Schreiben eines Programms am Samstag eben dieses Problem angetroffen hatte, dessen Lösung mir der Blech-Hugo, der sich mein PC schimpfte, nicht vergönnte.

„Also du weißt sicher, dass man die Felder, Eigenschaften sowie Methoden einer Klasse über die GetType-Mitgliedsfunktion ermitteln kann?! Dann kennst du schon mal die Namen als auch die Daten der beteiligten Variablen. Das hilft dir aber nichts, weil du ja deren Werte brauchst. Am besten machst du das mit Serialisierung mit Bit-Strömen.“

„Das habe ich schon mal gehört. Zumindest unter C++. Das war doch die Geschichte mit dem ‚ar >> irgendwas’.“

„Ja genau. Unter VB.NET geht das auch so ähnlich; ist aber ein bisschen komplizierter. Schau mal in der Hilfe nach. Ich weiß jetzt auf Anhieb auch nicht, wie das funktioniert.“

Grinsend meldete sich Toni zu Wort.

„Das ist lustig, wenn man euch so reden hört. Ich verstehe nur Bahnhof von euerm Computerkram.“

„Das wundert mich jetzt nicht besonders“ meinte ich. „Du weißt nur, wie man den PC dazu benutzt um MP3s zu laden, aber das ist doch auch was Schönes.“

„He, Moment“ rief Toni entrüstet. „Wer lädt denn von uns immer über Nacht Filme runter?“

„Ja, in Ordnung. Das bin ich, aber die lade ich ja auch noch für ein paar Kumpels mit.“

„Da hast du doch erst neulich gejammert, dass du deine externe 250 GB-Platte übers Wochenende bei einem Freund lassen musstest, damit er in drei Nächten alles kopieren kann ...“

„So, ich hab jetzt wieder Vorlesung“ beendete ich das Gespräch nicht ohne vorher noch ein verschmitztes Grinsen aufzusetzen.

Der restliche Tag verlief mit einer entspannenden VB.NET Vorlesung recht gemütlich. Am Abend kam ich nach etwas joggen zurück ins Stuwo, wo ich mir sogleich das Telefon schnappte. Wo war noch mal der Zettel mit Annas Nummer? Der musste noch in meiner Jackentasche stecken ... genau, da war er.

Gewissenhaft tippte ich die Zahlen ein, worauf ein blechernes Tuten erklang. Beim dritten Läuten meldete sich jemand mit „Anna Obermeier?“

„Hallo Anna, ich bin’s – Günter“ gab ich mich zu erkennen.

„Oh hallo, schön dass du anrufst. Hattest du gestern auch so einen Kater wie ich?“ – „Wahrscheinlich sogar noch ein bisschen mehr. Heute geht’s aber schon wieder recht gut. Wollen wir uns am Freitag irgendwo treffen?“

„Ok, wann und wo?“

„Hmm“ machte ich nachdenklich. „Das kommt darauf an, was wir tun wollen. Wir könnten ja einfach so ein bisschen weggehen ...“

„Was hältst du davon, wenn wir einfach am Chiemsee spazieren gehen und danach schauen wir wozu wir noch Lust haben?“ schlug Anna vor.

„Gute Idee. Soll ich dich daheim abholen?“

„Ja. Sagen wir um 15 Uhr? Ich wohne im Friedrichsweg 7.“

„Alles klar, bis dann.“ – „Machs gut, bis Freitag.“

Die Weichen für meine wohl wichtigste Verabredung in meinem Leben waren gestellt. Zumindest war ich davon überzeugt. Was es bringen würde, sollte die Zukunft zeigen.

 

*

 

Die nächsten Tage vergingen mit zahlreichen Vorlesungen, zwei von Toni organisierten Saufgelagen sowie Netzwerkschlachten in Wolfenstein 3: Enemy Territory, die wir zu viert gegeneinander austrugen. Das machte einfach riesig Spaß, sich gegenseitig abzuknallen oder die zu erobernde Fahne vor der Nase wegzustibitzen. Die Euphorie versteht nur jemand, der es schon einmal gemacht hat. Jedenfalls war ich voller Vorfreude auf Freitag, als ich am Donnerstag Nachmittag in den Zug nach Traunstein stieg. Ein klein wenig aufgeregt war ich schon beim Gedanken Anna wiederzusehen. Aber ich wünschte mir jetzt nichts sehnlicher.

Zuhause angekommen gab es erst einmal Abendessen. Meine Mutter hatte beim Bäcker frische Semmeln besorgt, zu denen es Wurst, Salami, Leerdamer sowie Camembert gab. Die Teesorte war diesmal Grüner Tee. Mein Vater erkundigte sich wie fast jede Woche, was es neues im Studium gegeben hatte.

„Nichts Bestimmtes. Der Kessler hat noch schnell einen neuen Schwerpunkt hereingebracht. Der will jetzt auch noch die Kellerautomaten in der Prüfung schwerpunktmäßig drannehmen.“

„Kellerautomaten?“ schaute mich mein Papa verdutzt an. „Was ist das denn?“

„Das ist ein Automat, der im Keller steht – kleiner Scherz. Also so genau weiß ich das auch nicht, aber das sind Automaten, die Eingaben kellern, d.h. nach dem FIFO-Prinzip speichern. Was zuerst als Eingabe kommt, wird als erstes wieder abgebaut. Das besondere daran ist, glaube ich, dass man mehrere Start- beziehungsweise Endzustände haben kann und einem die Kellersymbole verraten können, ob der Automat endlich ist oder nicht. Vielleicht habe ich da aber auch was falsch verstanden ...“

„Hast du dich eigentlich schon auf die Prüfungen vorbereitet?“

Ich liebte diese Frage, die immer dann folgte, wenn eine meiner Erklärungen zum Stoff überhaupt nicht verstanden wurde.

„Ja, ich habe mir sowohl die Skripte in Compiler als auch in Automatentheorie durchgelesen. Das kann ich prinzipiell recht gut. Bei den Kellerautomaten muss man allerdings besonders gut aufpassen, wenn die Symbole im Keller …“

Ausführlich laberte ich irgendwelche zusammenhanglose Theorie herunter. Damit gab sich mein Papa zufrieden. Er arbeitete übrigens als Zahnarzt in einer Privatpraxis in Traunstein. Das mochte wohl der Grund sein, wieso ich vor Ärzten – speziell Zahnärzten – keine Angst hatte. Sie gehörten ja praktisch zur Familie. A propos Familie: mein großer Bruder, der 5 Jahre älter ist als ich, ist schon ausgezogen und wohnt jetzt in Passau. Nachdem wir das Abendessen beendet hatten, ging ich ins Wohnzimmer, denn dort lag die Fernsehzeitung. Was kam denn heute Abend? Wieder mal nur Käse ... na ja, wozu lädt man sich ständig Filme aus dem Netz? Also verkroch ich mich in meine „Computerkammer“, die unter dem Dach lag, wo sich inzwischen vier PCs angesammelt hatten.

Ein 286er mit 2 Komma nochwas MHz, ein 486er mit 66 MHz, ein Pentium II 350 sowie mein neuer Athlon 3200+, auf dem sich eine wahre Spielesammlung angesammelt hatte. Doch heute schaute ich mir nur einen in der vergangenen Woche aus dem Internet geladenen Kinofilm an. Um ihn beim Namen zu nennen: Terminator 3 mit Arnold Schwarzenegger. An manchen Stellen wusste ich zwar nicht, ob ich jetzt in Teil 2 oder 3 bin, was der Stimmung allerdings keinen Abbruch tat. Die Vorstellung, dass ein PC ein eigenes Bewußtsein ausprägt, hat für einen Informatiker wie mich nun mal etwas Mystisches. Wie in den beiden Vorgängerfilmen wird auch hier wieder allerhand zerdeppert, was ich johlend kommentierte.

(„Jaaa ... voll draufhalten!“, „Auf geht’s – mit der Panzerfaust!“)

Der Handlungsstrang entwickelte sich zudem in eine Richtung, die in mir brennendes Interesse an einer Fortsetzung aufkommen ließ. Trotzdem befürchtete ich, dass „Terminator 4 – Die Niederschlagung der Maschinenrebellion“ wohl nicht mehr erscheinen wird. Erstens wird Arnold Schwarzenegger in zehn Jahren langsam zu alt für so was und zweitens hat er wohl gar keine Zeit mehr dafür angesichts seiner politischen Verpflichtungen als Gouverneur eines US-Bundesstaates.

Immerhin war es denkbar, dass er in Kalifornien wiedergewählt wird oder sich in seiner Heimat in der Steiermark aufstellen lässt. Beim Arnie weiß man nie so genau ...

Jedenfalls hatte mir seine Conan-Reihe am besten gefallen, in der er als Schwertschwingender Recke durch die Landschaft zieht. Im Anschluß an den Film legte ich mich schlafen, doch ich blieb lange wach liegen. Mann, war ich nervös in Hinsicht auf morgen. Der Gedanke an Annas sanfte Stimme, ihre tollen Augen und den gemeinsamen Nachmittag ließ mich dann letztlich doch schläfrig werden. Süße Träume entführten mich in eine Welt, in der ich Familienvater war. Meine Ehefrau hatte zwar ein mir fremdes Gesicht, aber ihre Augen waren mit denen von Anna identisch.

Am nächsten Tag fuhr ich bereits um 14 Uhr 30 los, damit ich auch ja pünktlich bei Anna ankam. Zwar wusste ich in etwa, in welcher Ecke von Traunstein sie wohnte, aber ganz genau halt doch nicht. Deshalb rechnete ich zehn Minuten um die richtige Hausnummer sowie die Straße zu finden.

Um zehn von drei hatte ich das Haus dann gefunden. Es lag umsäumt von einer dichten Hecke in einer beschaulichen Wohngegend, wo jeder jeden kannte, wo Rasenmäher röhrten, Kreissägen quietschten und das Gartenfest der Nachbarn für regelmäßige schlaflose Nächte sorgte. Ich parkte den Passat meiner Eltern am Straßenrand um zur Haustür zu gehen, wo ich die Klingel drückte. Erst jetzt fiel mir auf, wie schnell mein Herz schlug. Ganz ruhig, schärfte ich mir ein. Als sich die Tür öffnete und mich eine etwa 45-jährige Frau – offensichtlich Annas Mutter – hereinbat, beruhigte ich mich jedoch schon wieder.

„Ich bin der Günter“ stellte ich mich vor, indem ich ihr die Hand gab, wie es sich für einen höflichen Mitteleuropäer gehörte.

„Hallo, du willst sicher zu Anna?!? Sie ist oben ...“

Sie führte mich durch den Gang bis zum Treppenhaus, wo sie stehenblieb. „Anna? Kommst du runter?“

„Ja, ich komme gleich“ vernahm ich von oben eine bekannte Stimme, die mein Herz höher schlagen ließ. Es folgten Schritte über einen Teppich, dann kam jemand die hölzerne Treppe herunter. Anna strahlte mich erfreut an, als sie mich sah.

„Servus Günter, du bist ja überpünktlich.“

„Ja, das hat sich so ergeben. Ich habe doch schneller hergefunden, als ich zuerst gedacht hatte. Können wir gleich los?“

„Ja, ich muss vorher nur noch kurz austreten.“

Kurz darauf verließen wir das Haus und wir stiegen in das Auto ein, das auf dem Parkplatz vor unserer Garage stand.

„Gehört der Wagen deinen Eltern?“ wollte Anna wissen.

„Klar“ erwiderte ich. „Ich bin Student wie du – nicht Krösus. Wo fahren wir jetzt hin?“

„Richtung Norden. Ich kenne da einen schönen Platz am See, wo man gut wandern kann. Ist gar nicht besonders weit von hier.“

Kaum zehn Minuten später erreichten wir einen kleinen Parkplatz, wo wir den Wagen abstellten. Ein Feldweg führte in unmittelbarer Nähe des Ufers durch ein kleines lauschiges Wäldchen. Eine Amsel zwitscherte irgendwo im Geäst ihr Lied. Ein lauer Wind raschelte leise mit den Blättern der Bäume.

„Erzähl mir was von dir“ forderte ich Anna auf.

„Was willst du hören?“

„Alles, wovon du denkst, dass es mich interessieren könnte.“

„Nun ja, also ich mag gern lang schlafen, lesen, Rad fahren, schwimmen, Musik hören, ausgehen, faulenzen, Einkaufen gehen, ins Kino gehen ...

Ich mag es nicht, wenn man mich anlügt und Habgier verabscheue ich total. Das wäre jetzt spontan das, was mir gerade einfällt.“

„Das ist doch schon mal was“ meinte ich. „Was bist du für ein Sternzeichen?“

„Krebs. Sag bloß du glaubst an Astrologie?“

„Nun ja, nicht wirklich, aber ein paar grundsätzliche Sachen interessieren mich halt. Manches stimmt nämlich sogar.“

„Was weißt du dann über uns Krebse?“

„Sehr emotional, zuverlässig, treu, brav, meistens zurückhaltend, in dieser Hinsicht manchmal jedoch auch sehr offen, denn sie versuchen ihre Schwäche dadurch zu verdecken, dass sie das genaue Gegenteil von dem zur Schau stellen, was sie eigentlich empfinden.“

„Emotional stimmt bei mir sicher“ erörterte Anna. „Zuverlässig sowie treu sicher auch, aber brav? Eine graue Maus bin ich sicher nicht. Das mit der überzogenen Offenheit, weil man in Wirklichkeit seine eigene Zurückhaltung verstecken will – wo hast du denn das gelesen?“

„Ja, ich behaupte gar nicht, dass das alles stimmt. Ich sage nur, was ich alles über das astrologische Sternzeichen Krebs erzählen kann.“

„Erzähl mir was von deinem Sternzeichen!“

„Ok: Steinböcke sind ehrlich, zuverlässig, manchmal eigenwillig, schnell beleidigt, ehrgeizig, rational, sachlich, nüchtern ...

Wie gesagt: das ist nur die graue Theorie, die nur selten in vollem Umfang in der Wirklichkeit zutrifft.“

Wir wanderten, uns unterhaltend, bis zu einer Bank, die direkt am Seeufer im Schatten einer Baumgruppe stand.

„Machen wir ein kleines Päuschen?“ schlug ich vor.

Anna hatte nichts dagegen. Etwas draußen auf dem Wasser schwammen ein Dutzend Stockenten, die charakteristisch quakend vorbeizogen. Zur rechten Hand im Schilf entdeckte ich ein Blesshuhn, das dort auf Nahrungssuche ging. Kleine Wellen strandeten am Ufer, hervorgerufen von einer leichten Brise. Wir genossen die Schönheit dieses Ortes, ehe wir den Rückweg antraten. Als wir das Auto erreicht hatten, einigten wir uns darauf, noch mal zu Anna nach Hause zu fahren. Dort angekommen kochte sie uns Schwarzen Tee und bot mir auch einen Erdbeerkuchen an, den wir auf der Terrasse verzehrten.

Dieselbige befand sich auf der Rückfront des Hauses und bot den Ausblick auf Blumenbeete, Büsche sowie die um das ganze Grundstück herumführende Hecke, welche ich bereits am Eingang bemerkt hatte.

Wir zwei saßen nebeneinander an einem rechteckigen Gartentisch, wo wir die Hausmauer im Rücken hatten, so dass wir direkt in den Garten blickten.

„Schmeckt’s?“ erkundigte sich Anna bei mir.

„Mhm“ brummte ich, weil ich gerade den Mund voll Kuchen hatte. Das tat der Verständlichkeit allerdings keinen Abbruch. Beim Teetrinken ratschten wir über die bevorstehenden Prüfungen, das schöne Wetter sowie über unseren detaillierteren Musikgeschmack.

„Dune finde ich total gut“ schwärmte Anna. „Allein schon ‚Hand in hand’ ist einfach genial. Die Sängerin hat wirklich eine tolle Stimme. Kennst du ‚Million miles from home’?"

„Ja, das habe ich schon mal gehört ...“

„Das gehört auch zu meinen absoluten Lieblingsliedern. Die Hauptmelodie in Verbindung mit dem ‚La lala lala lala’ ist grandios.“

„Hmm, ja, geht schon“ stufte ich die Güte des Liedes ein. „Mir sind etwas brachialere Gesänge lieber.“

„Ja, ja“ schmunzelte meine schöne Gesprächspartnerin. „Das macht dich vermutlich richtig an, wenn Sachen gesungen werden wie ‚Bück dich’, ‚Spiel mit mir’ oder ‚Rein raus’.“

„Ja genau“ machte ich ihren Scherz mit. „Du hast mich durchschaut! Immer, wenn ich mir ‚Rein raus’ anhöre, hole ich mir gleich danach auf dem Klo dreimal einen runter.“

„Ach du Armer!“ spielte Anna Mitleid. „Kümmert sich wieder niemand um deine sexuellen Bedürfnisse? Musst du alles selbst in die Hand nehmen?!?“

Mir war klar, warum sie an dieser Stelle ins Lachen kam. Schnell ein geringfügiger Themawechsel, der von einem Blick zum Himmel begleitet war: „Das Wetter ist schön heute, gell?“

„Ja, in der Tat. Aber es ist ja auch schon später Frühling.“

„Stimmt. Jedoch war es letztes Jahr um die Zeit wesentlich kühler. Da konnte man sich noch nicht raussitzen, so wie wir es gerade tun.“

Eine gewisse Zeit schauten wir schweigend einigen fleißigen Bienen zu, die unermüdlich von Blüte zu Blüte flogen um Pollen zu sammeln, bis Anna die Unterhaltung zurück auf das Thema Musik brachte.

„Hast du schon mal was von ‚Sportfreunde Stiller’ gehört?“

„Nicht dass ich wüsste ...“ grübelte ich. „Ist das ein Fußballverein?!“

„Nicht ganz. Die machen Pop. Soll ich dir was von denen vorspielen?“

„Meinetwegen.“ – „Gut, dann gehen wir am besten rein, denn da steht eine Stereo-Anlage herum.“

Im Wohnzimmer angelangt fischte Anna eine CD aus einem Fach um sie ins CD-Laufwerk der auf einem Regal eines großen Wohnzimmerschrankes stehenden Anlage einzulegen. Es begann mit einer rhythmischen Grundmelodie, die kurz darauf etwas abschwellte, als der Sänger den Text der 1. Strophe anstimmte:

„Wenn man so will, bist du das Ziel einer langen Reise,

die Perfektion der besten Art und Weise,

in stillen Momenten, leise.

Die Schaumkrone der Woge der Begeisterung,

bergauf – mein Antrieb und Schwung.“

Als nächstes folgte der Refrain:

„Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist und sichergehen, ob du denn dasselbe für mich fühlst, für mich fühlst.“

Als das Lied zu Ende war, stoppte Anna die Wiedergabe. „Wie findest du es?“

„Ist gar nicht mal schlecht“ verkündete ich. „Die CD kannst du mir bei Gelegenheit sogar mal leihen ...“

Nach etlichen weiteren Liedern verabschiedete ich mich, denn bei uns gab es daheim immer gegen 7 Uhr Abendessen und da wollte ich nicht zu spät kommen. Wir verabredeten uns für Sonntag Abend, wo wir in einen Club ausgehen wollten.

Es war ein schöner Tag gewesen. Zu schön um wahr zu sein. Normalerweise gab es solche Tage nur in Filmen oder Romanen.

 

*

 

Den Samstag über verbrachte ich mit intensivem Skriptstudium sowie diversen Übungen, die im Compiler-Bereich angesiedelt waren. Ätzend! Der einzige Lichtblick schien der morgige Tag zu sein. Doch erst mal durfte ich mich mit regulären Ausdrücken herumärgern. Diese Materie ist wirklich dermaßen trocken – da vergeht einem der Spaß bereits nach fünf Minuten oberflächlichem Drüberlesen. Das half leider nichts, denn wie gesagt musste ich die Prüfung unbedingt schaffen, weil es sich bereits um meinen Zweitversuch handelte.

Auch am folgenden Tag quälte ich mich mit der stinklangweiligen Thematik herum, was meine Motivation nicht gerade erhöhte. Der einzige Lichtblick war die Verabredung mit Anna. Alle Schwierigkeiten im Leben lassen sich wesentlich besser ertragen, wenn man etwas hat, worauf man sich freuen kann. Das Treffen mit Anna gehörte sicherlich dazu.

Am Abend schließlich klingelte es gegen 19 Uhr bei uns an der Haustür. Da ich bereits ahnte (besser: wusste), um wen es sich handelte, ging ich selbst an die Tür. „Grüß dich!“

Anna trug ein schmuckes Abendkleid, das in seinem dezenten hellblauen Farbton einen sehr guten Kontrast zu ihren dunklen Haaren erzeugte. „Können wir?“

„Ja, also ich bin fertig“ bestätigte ich und unsere Tour begann. Diesmal fuhren wir mit dem blauen Audi von Annas Eltern bis zu einem Vorort von Traunstein, wo wir in die „Villa“ gingen – einer recht bekannten Disko in der Gegend, wo hauptsächlich Techno/House gespielt wurde. Nachdem uns der muskulöse Türsteher durchgewunken hatte, denn wir beide sahen nun bestimmt nicht wie Schläger oder Asoziale aus, strebten wir gleich auf die Tanzfläche, wo wir im schillernden Licht der farbigen Strahler wie wild herumhopsten.

„I need you on the floor“ piepste die Computerstimme von Scooter, was durchaus nach meinem Geschmack war. Klar, manche Lieder an diesem Abend fand ich nicht so toll, aber hauptsächlich konnte man die Musikqualität als gut einstufen. Soeben umtanzte mich Anna auf Tuchfühlung, wodurch sich mehr als einmal eine beiläufige, intimere Berührung ergab. Außer Atem bat ich wenig später um ein Päuschen. „Bist du schon kaputt?“

„Nicht direkt, nur ein bisschen durstig.“ Also fanden wir uns am Tresen ein, wo ich ein Bier bestellte. Anna zog ein Glas Rotwein vor. „Aha – die Genießerin“ stellte ich fachmännisch fest.

„Aber nur als Einstieg“ fügte Anna hinzu. „Später trinke ich dann auch Bier, wie es sich für eine Bayerin gehört.“

Nach unserem kleinen Umtrunk zog mich Anna bei „Sounds like a melody“ wieder auf die Tanzfläche. Hopsend zuckten unsere Körper im Takt der wummernden Bässe. Die Musik trieb uns vorwärts durch das gesamte Diskoareal, so dass wir überall einmal zu stehen kamen. Plötzlich erkannte ich Sofie nur wenige Schritte weiter. Die hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Obwohl sie mich ruhig sehen sollte – zusammen mit meiner neuen Flamme. Anna beugte sich in kommunikativer Absicht zu meinem Ohr vor. „Kennst du die da drüben?“

Ihr war offensichtlich aufgefallen, dass ich das Mädchen seitlich hinter ihr eingehend gemustert hatte.

„Ja“ bestätigte ich. „Aber das ist keine besonders nette Bekanntschaft.“ Fragend blickte sie mich an.

„Dazu will ich mich jetzt nicht äußern. Ich erkläre dir später alles, wenn du es dann noch wissen willst.“

Anna gab sich damit zufrieden, so dass unserem weiteren Tanzvergnügen nichts mehr im Weg stand. Bei „DJ's, fans & freaks“ von Blank & Jones änderten wir unseren Tanzstil auf einen etwas intimeren Typ.

Na ja gut, was heißt hier „änderten wir“? Es ergab sich einfach von ganz allein. Lag vielleicht auch an der ausgelassenen Stimmung rings um uns herum. Zwischendrin holten wir uns noch je ein Bier, das wir in einer etwas ruhigeren Ecke genossen.

„Mir ist total warm“ wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

„Geht mir genauso. Die haben hier aber auch schlecht gelüftet.“

„Davon lassen wir uns doch nicht unterkriegen, oder?“

„Nö. Bist du noch fit für eine dritte Runde?“ fragte Anna.

„Logisch!“ erwiderte ich entschlossen. „Mit dir tanze ich die ganze Nacht durch, wenn du darauf bestehst.“

Anna nahm mich beim Wort, denn ihre Ausdauer schien durchaus noch reichlich vorhanden zu sein. Sie nahm mich eng an die Hüfte, was mich nach weiteren zwei Bier mehr als normal erregte. Beim Tanzen mit Katja etwa hatte ich nie etwas Vergleichbares empfunden. Nach einigen wechselhaften Liedern aus den Bereichen Techno-Trance, Acid, House, Gabber, Hardcore geschah es unvermittelt während „Reality“ von RMB: Anna küsste mich auf die Wange. Das überrumpelte mich etwas, da ich es wahrlich nicht gewohnt war, als erster geküsst zu werden, denn diese Rolle empfand ich als die meine. Da ich ihre Zärtlichkeit zwar erwidern, dabei aber nicht zu forsch wirken wollte, gab ich ihr ebenfalls nur einen flüchtigen Wangenkuss. Liebkosend kraulte Anna mein rechtes Ohr, ehe wir uns erneut primär auf die Musik konzentrierten. Allmählich machte sich bei mir der Drang zur Blasenerleichterung bemerkbar. Eigentlich hatte ich schon vor einer guten Stunde ein dringendes Bedürfnis gehabt, doch ich hatte mich bedingt durch die äußeren Umstände zusammenreissen müssen. Wenn die Tanzpartnerin richtig in Fahrt kommt, dann lässt man sie schließlich nicht allein.

„Du, ich muss mal“ rief ich Anna nun zu.

„Ist gut, ich warte hier auf dich – oder soll ich mitgehen?“

„Nein, ist nicht unbedingt erforderlich“ grinste ich. „Pinkeln kann ich noch ohne fremde Hilfe.“

Ich bahnte mir einen Weg durch die vielen Jugendlichen um zur Toilette zu gelangen. Mann, hatte ich einen Druck drauf!

Erleichtert ließ ich es, den Pimmel über der Kloschüssel haltend, einfach laufen. Das tat gut! Jetzt fehlte nur noch eine Nummer mit Anna, aber das es heute Abend dazu kommen würde – davon ging ich nicht aus. Als ich zurückkehrte, fand ich Anna von der Bar zurückkommend. Sie hielt in jeder Hand ein Bier. „Hier“ drückte sie mir eins in die Hand.

„Das ist aber das letzte heute Abend“ erklärte ich. „Sonst komme ich morgen gar nicht aus den Federn – sofern ich überhaupt noch nach Hause komme.“

„Ist doch völlig egal. Hauptsache wir amüsieren uns gut.“

Sie lachte fröhlich, woraufhin wir unsere Tanzexperimente fortsetzten. Inzwischen merkte ich den Konsum des Biers deutlich, denn beim Tanzen inmitten der Farbleuchter wurde mir mitunter teilweise etwas schummrig. Ganz zu schweigen von der größeren Schwierigkeit, den eigenen Körper unter Kontrolle zu halten. Mit etwas Aufpassen gelang es mir allerdings zu verhindern, dass ich jemand auf die Zehen latschte.

„Wie spät ist es jetzt eigentlich?“ erkundigte ich mich in einer kurzen Pause.

„Halb drei vorbei“ schaute Anna auf ihre Uhr.

„Hui, na dann sollten wir langsam wirklich gehen, weil sonst muss ich morgen in der Vorlesung schlafen ...“

Wir verließen die Disko um auf die Straße zu treten, wo uns ein im Vergleich zum heißen Innern ein kühler Lufthauch umwehte.

„Endlich wieder mal richtig durchschnaufen!“ sog ich die kalte Nachtluft tief in meine Lungen ein. Das ist doch etwas ganz anderes als stickige, mehrfach geatmete Diskoluft. Hinzu kam die Stille der Umgebung, die so unwirklich wirkte. Lag vermutlich daran, dass wir stundenlang im Getöse gestanden hatten. Die kühle Luft tat ein Übriges, eine ernüchternde Wirkung zu erzielen.

„Ähm, wie kommen wir jetzt eigentlich nach Hause?“ fragte ich perplex. Immerhin erinnerte ich mich daran, dass Anna quasi genauso viel wie ich getrunken hatte.

„Mit dem Auto natürlich“ lächelte Anna verschmitzt. „Um diese Zeit ist sowieso keine Polizei mehr unterwegs – außerdem fahre ich noch recht gut, wenn ich blau bin.“

„Was sagen da deine Eltern dazu?“

„Nichts. Ich hab sie nur gefragt, ob ich ihr Auto haben kann. Davon, dass ich auch etwas trinken will, habe ich ihnen nichts gesagt ...“

Da ich wenig Lust verspürte zu Fuß heimzulaufen, stieg ich natürlich ein. Dennoch war mir beim heimfahren etwas mulmig zumute.

Was wäre, wenn uns nun doch ein Polizeiwagen aufhielt?

Doch zu meiner Beruhigung fuhr Anna selbst auf der Landstraße nicht schneller als 50 und ihren Fahrstil konnte ich auch nicht bemängeln. Zudem nahm sie bevorzugt Nebenstraßen, wo um diese Zeit eh kein Verkehr mehr unterwegs ist. Normale Bürger sind mitten in der Nacht schließlich im Bett. Lediglich besoffene Studenten machen da noch die Straßen unsicher.

So erreichten wir ohne Zwischenfälle die Straße, wo ich wohnte.

„Wir sind da“ schaltete Anna den Motor aus.

„Es war ein sehr schöner Abend“ gab ich sitzen bleibend kund. „Sollten wir glatt öfter mal machen.“

Anna drehte sich zu mir herüber und streckte ihre Hand aus um mein Gesicht zu berühren. Ich küsste ihre Finger, ehe auch ich mich zur Seite beugte. Es passierte einfach – wir knutschten eine Weile herum, bis sich Anna irgendwann wieder aufrichtete.

Hätte sie das nicht getan, wäre es vermutlich heute passiert. So aber verabschiedeten wir uns und ich stieg aus. Ehe sie losfuhr, winkte ich ihr noch mal. Dann sperrte ich die Tür auf um möglichst leise in den ersten Stock zu gehen, damit mich meine Eltern nicht hörten. Mein Vater musste früh aus den Federn – wenn ich ihn jetzt aufweckte, dann durfte ich mir ordentlich etwas anhören. In Hinsicht auf die Harmonie der letzten Minuten würde das meine Gedankenwelt stören und mir meine schönen Träume versauen. Das wollte ich mir um keinen Preis verderben.

 

*

 

Die vier Tage in München verstrichen mit wenig Amüsement, dafür jedoch mit viel Lernen auf die baldigen Prüfungen. Mit Werner setzte ich mich jeden Abend zusammen, damit er mir noch einmal die wichtigsten Compiler-Dinge erklärte. Er konnte es gar nicht wirklich begreifen, dass ich damit dermaßen Verständlichkeitsschwierigkeiten hatte. Aber so ist das nun mal. Die Interessengebiete sind ungleich verteilt, was auch gut ist, denn sonst wollten alle Leute (wie ich) Spieleentwickler werden. Das wäre nicht so gut, weil dann würde jeder verhungern, denn niemand mehr würde Felder bepflanzen oder sonst wie für das Vorhandensein von Futter sorgen. Eine solche Zukunft würde mir sicherlich erspart bleiben, denn nach der aktuellen Marktsituation konnte man als Informatiker durchaus mit 40.000 Euro pro Jahr rechnen. Soviel brauchte ich nicht mal, denn aus Geld machte ich mir nichts. Dafür machte ich mir mehr aus Frauen. Momentan befand ich mich wieder mal in so einer Situation.

Vor allem nachts, wenn ich schlaflos im Bett lag, dachte ich an Anna. Was sie jetzt wohl gerade machte? Schlafen? Oder dachte sie auch an mich? Am Dienstag Abend klingelte bei uns in der WG das Telefon. Da ich annahm, es handle sich um einen Kumpel von Toni, ignorierte ich es einfach, denn ich wusste, dass er da war. Zu meiner Überraschung kam er jedoch in mein Zimmer. „Telefon für dich.“

Also ging ich hinaus auf den Gang um mir den Apparat zu schnappen. „Ja?“ meldete ich mich wie üblich.

„Grüß dich Günther, ich bin’s – Anna.“

„Hallo Anna, schön dass du anrufst. Wie geht’s dir?“

„Ach ja, es geht so. Ich plage mich schon seit einer Woche mit Werkstoffkunde herum. Das ist total langweilig, weswegen ich auch nur selten zur Vorlesung gegangen bin. Das rächt sich jetzt leider äußerst bitter.“

„Mir geht’s ähnlich. Wie ich verteilte Verarbeitung schaffen soll, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Da war ich nur ein paar Mal, weil’s mich überhaupt nicht interessiert hat.“

„Na dann kennst du das ja ohnehin“ meinte Anna. „Wenigstens habe ich ein paar Sachen schon hinter mir, weil ich es inzwischen schon gelernt habe, aber dennoch kommt es mir so vor, als täte ich viel zu wenig. Mir fehlt nur langsam die Zeit ... bei mir beginnen die Klausuren schon am nächsten Samstag.“

„Am Samstag?“ wunderte ich mich. „Ja, was geht denn?“

„Das ist bei uns nichts Ungewöhnliches. Wie ist das bei euch denn so?“

„Wir haben ganz normal am Wochenende frei. Klausuren sind montags bis freitags zwischen 8 und 16 Uhr. Unsere werten Herren Professoren haben eben keine Lust am Wochenende Klausurbeaufsichtigungen zu machen. Das kann ich verstehen.“

„Tja, da ist man bei uns ein bisschen flexibler eingestellt. Obwohl es letzten Endes völlig gleich ist, ob man am Donnerstag Prüfung schreibt oder am Samstag.“

„Klar, musst du heute noch viel machen?“

„Ich müsste, aber ich habe keine Lust mehr. Ich kann einfach nicht mehr und werde mich daher etwas am See entspannen. Wann wollen wir uns eigentlich diese Woche treffen?“

„Mir ist jeder Tag recht“ meinte ich. „Wie wäre es mit Donnerstag Nachmittag?“

„Ja, warum nicht. Vielleicht machen wir eine kleine Radtour? Das Wetter soll laut Wetterbericht anhalten. Das sollten wir ausnutzen.“

„Ok, dann treffen wir uns am besten bei mir. Ich bin ab etwa 14 Uhr daheim. Viel Spaß noch bei deinem Skript!“

„Werde ich sicher nicht haben, aber trotzdem danke. Machs gut.“

„Tschüss Anna ...“ legte ich auf.

Es hatte gut getan ihre Stimme zu vernehmen, was ausreichte, um mich für den restlichen Abend nicht hinter meinen Büchern verzweifeln zu lassen.

 

*

 

Am späten Mittwoch Nachmittag – es war beinahe schon wieder Abend – schloss ich meine Compilervorbereitungen ab. Doch das bedeutete nicht, dass ich nun nichts mehr zu tun hatte – Verteilte Verarbeitung war ebenfalls ein sehr komplexes Themengebiet, das mir außerdem gar nicht recht zusagte. Man kann sich wohl vorstellen, dass ich mich überhaupt nicht gestört fühlte, als Werner ins Zimmer kam. „Du Günther, hast du kurz Zeit für mich?“

„Ja, was gibt’s denn?“ – „Ich schaffe die 16. Mission in Stronghold nicht.“

Das war wieder mal typisch Werner. Während sich andere Leute auf die kurz bevorstehenden Prüfungen vorbereiteten, zockte er Spiele. Bisher schien seine lässige Taktik jedoch aufgegangen zu sein, denn sonst hätte er es nicht soweit geschafft. Obwohl, recht viel fleißiger war ich ja eigentlich auch nicht.

„Die 16. Mission?“ hakte ich nach. „Ich komme schnell mit rüber. Das kriegen wir schon in den Griff.“

Stronghold ist ein Echtzeitstrategiespiel, wo man eine Burg aufbauen und sich auch um die wirtschaftlichen Aspekte kümmern muss. In Werners Bude setzten wir uns vor den PC und ich sah mir die Karte genauer an. „Ach ja genau, das war die Mission. Da machst du am besten folgendes:

du prägst dir die Hauptangriffsrouten des Computers ein ...“

„Die kenne ich. Der kommt immer hier über den Hügel und greift dann da links beim großen Steintor an.“

„Ja, da sieht es in der Tat nicht besonders gut aus. Ich bau mal schnell links und rechts einen Turm dazu, falls die Steinvorräte ausreichen. Wo hast du deine Bogenschützen?“

„Ich habe nur Armbrustschützen.“

„Ok, das ist natürlich schlecht. So, ich bilde mal ein paar aus ... Währenddessen bau ich hier mal ein paar Pechfallen auf. Jetzt noch jeweils eine Brandstelle auf den Türmen und schon werden die Bogenschützen vor dem Schießen ihre Pfeile erst mal ins Feuer halten. Dann feuern die nämlich Brandpfeile und was passiert, wenn man damit auf größere Pechmengen ballert, das siehst du gleich ...“

Eine größere Anzahl feindlicher Pikeniere schritt gerade auf die mit Pech benetzte Fläche zu. Den Bogenschützen wies ich nun an, auf eben dieses Areal zu schießen, woraufhin sich ein wahres Flammenmeer ergoss. Dutzende von gegnerischen Pikenieren liefen brennend durch die Gegend.

„Ist ja der absolute Wahnsinn!“ kommentierte Werner begeistert.

„In der Tat. Weg ist der Feind. Viel Spaß noch!“

Man half doch gern, wenn man konnte.

 

*

 

Die Radtour mit Anna verlief ohne besondere Ereignisse. Wir fuhren im Uhrzeigersinn um den Chiemsee herum, was insgesamt 4 Stunden Fahrzeit beanspruchte. Die Distanz hatte immerhin doch an die 100 km betragen. Erschöpft kamen wir bei mir an, wo ich Anna natürlich noch hereinbat.

„Du bist also die Anna“ hieß sie mein Vater willkommen, der sie bislang noch nicht gesehen hatte, sich aber meine Schwärmerei hatte anhören müssen. „Studierst du auch?“

„Ja. Ich mache Holztechnik im 5. Semester.“

„Ein ungewöhnlich Studienfach für ein Mädchen. Da habt ihr sicher einen hohen Burschenquotient ... studierst du in Rosenheim? Das Holztechnikum dort ist bekanntlich eins der wenigen in ganz Deutschland.“

Ich ließ die beiden ratschen, denn ich hatte vergessen, eine neue Videokassette einzulegen, als ich gestern den Rekorder programmiert hatte, heute Nacht einen Film mit Jean-Claude Van Damme aufzuzeichnen. Erfahrungsgemäß würde ich es vergessen, eine Kassette einzuschieben, falls ich es nicht sofort erledigte. Als ich zurückkam, sprachen Anna und mein Vater gerade über die bevorstehenden Prüfungen. Ein tolles Thema, das ich sogleich abwürgte, indem ich Anna mit in mein Zimmer entführte. Da wir etwas zocken wollten – oder besser: ich wollte es – warf ich den PC an, der surrend auf Touren kam.

Nachdem Windoof endlich ausgerattert hatte, startete ich das Actionspiel Crimsonland, das man auch zu zweit spielen kann. In diesem Spiel sieht man die eigene Figur von oben und muss auf Aliens schießen. Dafür stehen unterschiedlichste Waffen wie Pistole, Schrotflinte, Sturmgewehr oder Plasmagewehr zur Verfügung. Mit der Zeit kommen immer mehr Feinde, so dass das Abknallen derselbigen richtig schwierig wird. Zu zweit machte das natürlich besonders viel Spaß, weil man sich gegenseitig die Waffen/Feindscharen teilte.

So vergnügten wir uns eine Weile, bis die Gegnerwellen uns einfach mit fortrissen. Der Schwierigkeitsgrad stieg eben exponentiell an, was das eigene Überleben nicht gerade erleichterte. Zur Abwechslung schauten wir uns noch meine Sammlung an Digitalbildern an, die ich im Verlauf der letzten Jahre gemacht hatte. Darunter auch viele Aufnahmen aus der Kollegstufenzeit.

Es wurde spät, als Anna heimfuhr. Machte aber nichts, denn sie hatte Freitags auch frei. Das ist praktisch das 1. Gebot des Studenten: freitags ist frei. 2. Gebot: falls am Freitag vorlesungsbedingt doch nicht frei sein sollte, dann nimmt man sich eben frei.

 

*

 

Die folgenden zwei Wochen wurden ziemlich anstrengend, denn ich hatte 7 Klausuren zu schreiben. In der ersten Woche standen drei Prüfungen auf dem Plan: Compiler am Dienstag, wo es mir zwar nur mittelmäßig gegangen war, aber gefühlsmäßig hatte ich es geschafft. Am Donnerstag dann Verteilte Verarbeitung – das musste ich wohl mit großer Wahrscheinlichkeit noch mal schreiben. Eine Aussicht, die mich sehr wurmte. Blieb zu guter letzt noch Rechnungswesen übrig, das ich in jedem Fall bestanden hatte. In der zweiten Woche fand am Montag OOP (Objektorientierte Programmierung) in VB.NET statt, das ich dank meiner Vorliebe für eben jene Programmiersprache allerdings recht gut meisterte. Überhaupt sind die Geschmäcker der Informatiker sehr verschieden. Während einige meiner Kommilitonen Java bevorzugten, schworen andere auf C++. Mein Herz hingegen gehörte VB.NET. Wer dabei an jene „Ur“-Sprache zurückdenkt, die vor ungefähr 15 Jahren zusammen mit dem Betriebssystem DOS ausgeliefert wurde, der sei eines besseren belehrt: VB.NET hat damit nicht mehr viel gemeinsam. Verschwunden ist aber auch die noch bis VB6 vorherrschende „Einfachheit“, die sich zum Hauptvorteil für die Verwendung jener Sprache gemausert hatte. Jedenfalls beherrschte ich die Thematik recht gut, was mir wohl zumindest eine „2“ (gut bestanden) einbringen sollte.

In meinem Wahlfach Unternehmensgründung ging es mir am Dienstag auch ziemlich gut, so dass ich mir keine weiteren Gedanken darüber machte. Weitaus schlechter hingegen war es mir am Tag danach in „Künstliche Intelligenz“ ergangen. Zum Großteil hatte ich die Fragen nach dem Prinzip „Intelligent raten und schätzen“ beantwortet. Die Thematik lag mir einfach nicht. Na ja gut, das war nicht so wichtig, denn es handelte sich dabei nur um einen Wahlfach-Schein, den ich auch anderweitig bekommen konnte. Ich musste nur eine bestimmte Anzahl nachweisen können.

Zu allem Übel fand am selben Tag noch eine zweite Klausur statt: BWL II. Doch da lief es bedeutend besser. Den Schein würde ich wohl sicher bekommen.

Da Anna in diesem Zeitraum ebenfalls Prüfungen hatte, sahen wir uns nur ein mal am Freitag Nachmittag, wo wir einen ausgiebigen Spaziergang machten um uns ein wenig vom Prüfungsstress zu entspannen.

Dafür begannen dann in der Woche drauf die Semesterferien. Nun ja, zumindest meine. Anna hatte am Dienstag sowie am Donnerstag noch Klausuren – dann war auch sie fertig. Um sie etwas für ihre verbleibenden Prüfungen zu motivieren, besuchte ich sie am Sonntag Abend noch kurz. Wie mir schien, war sie recht froh über mein Auftreten, denn ich traf sie im Wohnzimmer beim intensiven Skriptstudium an.

„Willst du was zu trinken? Tee?“ erkundigte sie sich gastfreundlich nach meinen Wünschen.

„Ja, wäre jetzt nicht schlecht. Am liebsten Fencheltee.“

„Kannst du vielleicht meinem Vater schnell bei einem PC Problem helfen? Der jammert schon den ganzen Tag, weil irgendwas nicht funktioniert ...“

„Klar kann ich das“ schmunzelte ich. „Ich nehme an, er ist oben?“

Inzwischen wusste ich nämlich, dass Annas Vater am Sonntag regelmäßig seine Flipperspiele machte, von denen er eine ganze Sammlung hatte, die er der Reihe nach spielte. Also erklomm ich die Treppe zum ersten Stock, wo ich nach links schwenkte, denn dort am Ende des Gangs befand sich das Arbeitszimmer von Annas Vater.

„Grüß Gott Herr Obermeier“ begrüßte ich den Anfang-Fünfziger, dessen ovale Nickelbrille mich an einen meiner Lehrer im Gymnasium erinnerte.

„Hallo Günther. Hat’s dir die Anna schon gesagt, dass ich ein Problem habe?! Also es ist folgendes: wenn ich da diese Excelmappe aufmache ... so, ja, jetzt siehst du es selbst – der stürzt einfach ab. Wie komme ich jetzt an die Daten heran?“

„Ach, das kann mit Ächsel natürlich schon mal vorkommen. Das Programm ist von Mircoschrott, das Betriebssystem auch – das ist einfach zuviel des Schlechten. Da würde ich auch abstürzen. Schon aus Prinzip. Wie wichtig sind denn die Daten?“

„Na ja, also das sind Ein- und Ausgabenbilanzen von 14 Jahren. Die sind ziemlich wichtig. Da muss ich eigentlich spätestens nächste Woche herankommen. Am besten sofort.“

„Kein Problem“ versicherte ich. „Ich bringe das nächste Mal OpenOffice mit – das ist umsonst und kann in der Regel selbst dann noch was lesen, wenn Excel einfach abstürzt. Das habe ich selbst schon im Test erlebt.“

„Das wäre großartig! Ach, ich hab da noch eine Frage: laut Windows Explorer hat Laufwerk C: eine Kapazität von 149 GB. Ich weiß aber, dass in dem PC eine 160 GB-Festplatte ist. Was ist denn mit dem Rest los?“

„Ganz einfach“ erklärte ich. „Für Windows ist 1 GB gleich 1024 mal 1024 mal 1024 Zeichen. Die Festplattenhersteller sehen das ein bisschen anders: die rechnen 1000 mal 1000 mal 1000. Tja, die 11 GB Differenz ist also lediglich auf Grund verschiedener

Definitionen der Einheit GigaByte zu erklären.“

„Dürfen die das so einfach?“ erregte sich Annas Vater. „Die können doch nicht einfach weniger Speicher als mehr ausgeben.“

„Das tun sie ja gar nicht. Die Vorsilbe Kilo bedeutet Tausend. Das beste Beispiel ist Kilometer oder Kilogramm. Die Vorsilbe Mega bedeutet Million und Giga heißt Milliarde. So betrachtet ist nur die Definition in der Informatik falsch, d.h. die Angabe unter Windows ist eigentlich Käse. Auf der anderen Seite werden am Computer nur Potenzen von 2 Zeichen abgespeichert, also im konkreten Beispiel etwa 1024 – und nicht 1000. Daher kommt das.“

„Interessant. Na dann habe ich schon wieder was dazu gelernt.“

Nachdem auch dieser Punkt geklärt war, ging ich wieder hinunter zu Anna, die den Tee inzwischen schon eingeschenkt hatte.

„Er ist noch ein bisschen heiß, also nicht zu gierig trinken.“

„Alles klar“ nahm ich zur Kenntnis, vorsichtig am Tassenrand nippend, damit ich mir nicht die Lippen verbrannte. „Wie geht’s dir so mit dem Lernen?“

„Ach ja, es geht schon. Langsam hab ich aber irgendwie keine Lust mehr. Ich mache schon seit drei Wochen nichts anderes mehr. Das ist total nervig.“

„Kann ich nachempfinden. Aber in ein paar Tagen hast du es auch hinter dir. Oder auch nicht, falls du eine Prüfung nicht bestanden hast, aber das kann dir jetzt im Moment auch gleich sein. Zuerst kommen schließlich die Semesterferien.“

„Die habe ich mir echt verdient! Soviel wie dieses Semester habe ich noch nie für das Studium gelernt. Echt voll ätzend. Gehen wir ein bisschen zum Musikhören hinauf in mein Zimmer?“

Ja. Mit diesem Vorschlag war ich durchaus einverstanden.

 

*

 

Am Freitag rief Anna gegen Mittag bei uns an. Glücklich darüber, dass uns jetzt endlich mehr gemeinsame Zeit offenstand, verabredete sie sich mit mir gegen 15 Uhr bei mir daheim. Da ich nach all den Lerneskapaden der letzten Zeit viel zu wenig zum Zocken gekommen war, hockte ich mich vor den Computer um wieder mal richtig zu spielen. Hauptsächlich Gangsters 2 sowie Starsky & Hutch. Machte immer aufs Neue Spaß, mit dem guten alten Ford Torino durch die Stadt zu brausen – den Bösewichtern hinterher. Da mich das Spiel ziemlich beanspruchte, überhörte ich natürlich das Klingeln. Machte aber nichts, denn meine Mutter befand sich ja im Haus. So kam es jedenfalls, dass plötzlich die Tür zu meinem Zimmer aufging und Anna hereinkam.

„Hey, ich habe dich gar nicht kommen hören.“

Sie setzte sich neben mich und ich fuhr noch schnell die Mission fertig, ehe ich das Spielchen beendete.

„Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug auf die Kampenwand?“ schlug Anna in ihrer Spontanität vor.

„Klein?“ entgegnete ich vorsichtig. „Die ist ziemlich hoch ...“

„Wir müssen ja nicht zu Fuß gehen – da gibt’s doch eine Seilbahn, die regelmäßig hinauffährt.“

Ich ließ mich dazu überreden trotz meines schlechten Gefühls. Schließlich war ich der Meinung, dass man einen Berg entweder zu Fuß erklimmen muss oder aber gar nicht. Zumindest hatte sich während meiner Bundeswehrzeit jene Ansicht verbreitet. Auf der anderen Seite war das natürlich Käse, denn wenn man nach Hamburg will, dann wird man wohl auch nicht zu Fuß dorthin gehen, sondern mit Bahn oder Auto fahren. Aber vielleicht sehen das die Gebirgsjäger eben doch ein bisschen anders. Jedenfalls fuhren wir mit dem Auto bis zum Fuß der schroffen Felsformation, wo wir parkten um uns an der Seilbahn anzustellen. Oben angekommen wanderten wir ein schönes Stück herum, was wir ausgiebig taten, denn die Strapazen des Aufstiegs waren uns immerhin erspart geblieben. Wir setzten uns in der Nähe des Gipfels auf einen flachen Felsen um die sagenhafte Aussicht zu genießen. Anna rückte eng an mich heran, ihre Hand ruhte auf meiner Schulter. Eine schöne Erfahrung, einfach hier zu setzen. Wir sprachen kein Wort, dachten aber wohl beide dasselbe. Nach der kurzen Pause wanderten wir noch ein Stück, ehe wir erneut die Seilbahn nahmen um nach unten zu fahren, von wo aus wir wieder zu mir fuhren.

„Jetzt trinken wir aber endlich auf die Semesterferien!“ entschied ich kurz nach unserer Rückkehr. „Wenn wir uns das nicht verdient haben, dann weiß ich es auch nicht. Magst du Bier oder lieber Wein?“

„Ist mir eigentlich gleichgültig. Ich nehme das, was du auch magst.“

„Gut, also Bier“ murmelte ich den Keller hinunter gehend, wo der Kasten mit dem Hellen der Rosenheimer Brauerei Flötzinger stand. Mit vier Flaschen kam ich zurück, denn mehr getraute ich mir nicht sicher zu tragen. „Ich würde vorschlagen, wir gehen am besten in mein Zimmer. Da stört uns niemand. Holst du vielleicht aus der Küche noch schnell zwei Biergläser?“

Aus der Flasche zu trinken war, zumindest beim Bier, eigentlich eine Sünde. Was ist noch schlimmer? Aus der Dose trinken ... Was ist am allerschlimmsten? Amerikanisches Bier trinken ... Oben in meinem Zimmer schenkte ich uns je eine Flasche ein, auf dass unsere kleine Feier beginnen konnte. „Prost! Damit die Gurgel nicht verrost’.“

Ausgelassen unterhielten wir uns über die zurückliegenden Prüfungen, die uns nun nicht mehr besonders schrecken konnten.

„Werkstoffkunde habe ich voraussichtlich nicht geschafft“ vermutete Anna. „Ach, was soll’s? Jetzt sind erst mal Semesterferien. Das ist doch das einzige, das zählt.“

Es dauerte nicht lange, bis auch unsere jeweils zweite Flasche leergetrunken war, so dass ich noch mal in den Keller musste zwecks Nachschub besorgen. Wir amüsierten uns großartig und bekamen nur nebenbei mit, dass meine Eltern ankündigten, ins Bett zu gehen. Anna und ich hingegen waren noch richtig munter, so dass wir später nach Abschließen unseres ausgiebigen Umtrunkes beschlossen noch einen kleinen Nachtspaziergang durchs Dorf zu machen.

Die Luft war angenehm warm, so dass uns nicht fröstelte. Eine mitternächtliche Stille umgab uns, in der jeder unserer Schritte ungewohnt weit hallte.

„Schau dir nur die vielen Sterne an“ schaute ich nach oben zum Himmel. „Dabei sehen wir die meisten Sterne nicht einmal, weil sie zu weit weg sind.“

„Faszinierend“ fand Anna schwärmerisch. „Ob irgendwo dort oben zwei Lebensformen genauso wie wir stehen, in den Himmel blicken und sich dieselbe Frage stellen?“

„Keine Ahnung. Ist mir auch relativ egal, solange die nicht herkommen, um dich mir wegzunehmen.“

Eine Weile standen wir einfach ohne ein Wort zu sagen auf dem gleichen Fleck, ehe ich als erster das Schweigen brach.

„Ein Freund von mir hat mich neulich gefragt, ob du meine Freundin bist. Was soll ich ihm antworten?“

„Ja!“ Glücklich strahlte mich Anna an und nahm mich küssend in den Arm zum Beweis, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen.

„Ach Anna“ sprach ich leise. „Ich bin so froh, dass wir uns getroffen haben.“

„Mir geht’s genauso. Das Schicksal hat uns zusammengebracht und nichts wird uns jetzt mehr auseinanderbringen.“

Ich hielt sie ganz fest an mich gedrückt als könne ich dadurch verhindern, dass wir uns jemals voneinander entfernten. Noch mal küsste ich sie und wir kuschelten uns ganz eng aneinander.

„Magst du heute bei mir übernachten?“ fragte ich sie einer spontanen Eingebung folgend. Sie schaute mich nur kurz an und sagte ein einziges Wort: „Ja.“

 

*

 

Die Semesterferien vergingen wie im Flug. Die gemeinsame Zeit mit Anna war sehr schön, doch immer zu kurz. Anfang Mai fuhren wir eine Woche in die Normandie um dort zusammen Urlaub zu machen. Da wir beide etwas Französisch konnten, kamen wir recht gut zurecht. Besonders beeindruckend fand ich die großen Bunkeranlagen an der Küste, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, als deutsche Truppen hier den Atlantikwall verteidigt hatten. Wir fuhren unter anderem auch durch Camembert – der Herkunftsstadt des gleichnamigen Käses – sowie Le Havre, der bedeutendsten Hafenstadt in der Region, wo wir auch etliche riesige Frachter zu Gesicht bekamen.

Bei unserer Rückfahrt nach Deutschland verbrachten wir noch mal einen Tag in Paris, der Stadt der Liebe. Wir besichtigten den Louvre, wo uns ein Japaner nach dem wohl bekanntesten Gemälde des Museums fragte: „Mona Lisa?“

Dabei konnte man sie gar nicht verfehlen, denn um sie herum scharte sich eigentlich ständig eine größere Menschenmenge. Das fand ich richtig amüsant, denn so toll ist das Bild gar nicht mal. Da gab es schon einige wesentlich aufreizendere. Beispielsweise eines von einer nackten Schönen, das ich sowohl künstlerisch als auch vom erotischen Standpunkt aus betrachtet einmalig fand.

Natürlich unterließ ich diesbezügliche Äußerungen im Beisein von Anna. Man weiß ja, wie Frauen in so einem Fall reagieren. Auch im Musée d'Orsay gab es interessante Kunstwerke zu besichtigen. Unter anderem eine Büste von Kardinal Richelieu sowie eine Nackt-Statue der Venus von Milet – einfach göttlich. Selbstverständlich ließen wir auch den Eiffelturm nicht aus, jenen 300 Meter hohen Turm aus 7300 Tonnen Stahl, der anlässlich der Pariser Weltausstellung im Jahr 1889 gebaut worden war. Auf vier Beinen stehend, vereinigt sich die Konstruktion zu einem spitz zulaufenden Turm. Es existieren drei Aussichtsplattformen, wobei auf der untersten zudem ein Restaurant untergebracht ist. Anna wollte unbedingt ganz hinauf, wozu sie mich aber erst überreden musste. Auf große Höhen konnte ich gut verzichten. Nicht dass ich Höhenangst hätte, nein, ich musste nur nicht unbedingt so weit oben stehen. Wer sehr hoch steigt, kann bekanntlich um so weiter nach unten fallen. Auf ihr Drängen hin („Ich mag aber nicht allein oben stehen ...“) gab ich schließlich nach. Der Ausblick war in der Tat toll, doch ehrlich gesagt bei weitem nicht so imponierend, wie diejenigen, die ich während meiner Bundeswehrzeit in den Alpen hatte. Städte fand ich vom optischen Standpunkt her noch nie schön. Der echte Bayer (so wie ich) bevorzugt die unberührte Natur. Die Preussen dagegen ... aber beenden wir hier den endlosen, verbalen Krieg zwischen Bayern und anderen Deutschen, die keine Bayern sind.

Nach dem Frankreich-Urlaub blieben uns noch mehrere Wochen übrig für gemeinsame Unternehmungen, die uns unter anderem nach Burghausen führten, wo wir uns die größte Burg Europas anschauten, nach Traunstein ins Alpamare Bad oder auch nach Herrenchiemsee auf die Residenz von König Ludwig II.

Kurz: wir verbrachten schöne Wochen, die erst am 1. Oktober enden sollten, denn an diesem Tag begannen für Anna wieder die Vorlesungen. Ich hatte zwar noch bis 13. Oktober frei, aber was half mir das, wenn ich ganz allein war? Nun gut, mittwochs hatte Anna keine Vorlesungen, aber an den anderen Tagen meistens auch nachmittags, so dass uns nicht mehr so viel zusammenhängende Zeit blieb.

Es sollte nicht lange dauern, ehe wir uns von Montag bis Donnerstag gar nicht mehr sahen, denn auch bei mir begann das neue Semester. Laut Regelstudienzeit mein letztes. Natürlich konnte ich länger studieren, wenn ich es wollte, doch eigentlich hatte ich nicht vor, mehr Zeit als nötig völlig mittellos zu leben. Es ist wohl allseits bekannt, dass Studenten finanziell nicht grad gut gestellt sind. Nun gut, meine Eltern unterstützten mich großzügig, aber ich wollte eben einfach mal auf eigenen Beinen stehen, eigenes Geld verdienen, eine eigene Existenz gründen.

Also versuchte ich, so gut es ging, mich auf die letzte Phase meines Studiums zu konzentrieren. Vor allem also auf meine Diplomarbeit. Mein Thema lautete

„Selbstregulierendes Marktkreislaufsmodell anhand eines Simulationsspiels“.

Wer sich darunter nichts vorstellen kann: es geht darum, auf algorithmischer Basis eine Marktwirtschaft darzustellen, wobei dies mit historischem Hintergrund in Form eines Spiels geschieht. Immerhin gedachte ich in die Spieleentwicklerszene einzusteigen. Da stellt das schon mal ein gutes Vorzeigeprojekt dar.

 

*

 

Die Monate verstrichen, in denen sich meine Diplomarbeit gut entwickelte. Auch privat lief es positiv: Anna und ich bildeten ein festes Paar – mit allen dazugehörigen Verpflichtungen. Das mit ihr schien wirklich etwas Ernstes zu sein, denn seit ich sie kannte, interessierten mich andere Frauen überhaupt nicht mehr. Während ich früher – als ich noch mit Sophie befreundet gewesen war – immer gern mal mit der einen oder anderen geflirtet hatte, ließ mich nun die Vorstellung daran völlig kalt.

Treue ist kein leerer Wahn, wie ich damals immer dachte – es ist eine unabdingbare Notwendigkeit.

Eines Abends, als wir gerade in Annas Zimmer auf dem Bett lagen, sprach sie etwas aus, was mir auch schon durch den Kopf gegangen war:

„Wir könnten uns eigentlich verloben ...“

„Ja“ griff ich den Vorschlag auf. „Von mir aus gern. Wann machen wir die Verlöbnisfeier?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht in zwei Wochen am Samstag Abend?“

„Gut“ murmelte ich leise, um anschließend an Annas Ohr zu knabbern. Sie drehte sich auf den Rücken herum und küsste mich leidenschaftlich. Meine Hand wanderte zu ihrer Hüfte, wo ich sie ausgiebig massierte. Dann berührte ich ihren Busen, der sich unter dem Stoff wohlig weich anfühlte. Anna begann nun ihrerseits an meiner Hose herumzufummeln. Ihre Hand glitt bis in meine Unterhose, wo sie mich zu streicheln anfing.

„Du machst mich wieder richtig geil“ murmelte ich nur, während ich atemlos ihre Bluse öffnete. Den BH hatte ich schnell entfernt, so dass der Blick auf die entblößten Brüste frei war. Mit beiden Händen umschloss ich sie mehrfach kreisend um anschließend mit der Zunge da weiterzumachen, wo meine Finger geendet hatten.

„Warte mal kurz ...“ drehte sich Anna herum und zog halb im Sitzen ihre Hose aus. Als nächstes half sie mir beim Ausziehen meiner Jeans ...

 

*

 

Unsere Verlobungsfeier fand am 17.1.2001 im Beisein von etwa vier Dutzend Freunden/Bekannten statt. Da man um diese Jahreszeit natürlich nicht draußen feiern konnte, hatten wir überlegt, wo wir ein so großes Haus hernehmen sollten, um alle eingeladenen Leute aufzunehmen. Mein Onkel hatte sich schließlich angeboten – er wohnte mit seiner Frau, also meiner Tante, in einem geräumigen Gutsherrenhaus nördlich von Reit im Winkl, wo genügend Platz für alle war. Unsere Eltern kümmerten sich um das Futter, während Anna und ich das Organisatorische in die Hand nahmen. Im Einzelnen also das Kontaktieren der Leute, das Transportieren der Sachen zu meinem Onkel und so fort.

Am besagten Tag war ich durchaus etwas aufgeregt – immerhin verspricht man sich nicht jeden Tag, sich später zu heiraten. Anna schien mir ebenfalls etwas nervös zu sein. Immerhin standen wir beide an diesem Abend im Mittelpunkt. Doch bereits nach einer halben Stunde war die Aufregung verflogen – die Anwesenheit all meiner Freunde hatte einen nicht unmaßgeblichen Anteil daran. Ulf, Martin, Flo, Seppi, selbst Katja war gekommen, bei der ich befürchtete, sie gehe nicht auf meine Verlobungsfeier, sofern sie nicht unmittelbaren Anteil daran hatte.

Offenbar hatte ich mich in diesem Punkt geirrt. Egal, jedenfalls freute ich mich über ihr Kommen. Flo brachte ein großes Paket mit, das in rotes Geschenkpapier eingewickelt war. Ich überließ Anna den Vorzug beim Auspacken – eine Großpackung Kondome mit Noppen. Weiß der Teufel, wozu die gut waren. Na ja, konnte man ja mal ausprobieren.

„Nicht das ihr nächstes Jahr schon zu dritt seid“ grinste Flo. Klar, von ihm hatte ich eigentlich gar nichts anderes erwartet. Da die anderen Präsente jedoch in gänzlich anderen Gefilden angesiedelt waren, hatte Flos Geschenk durchaus eine gewisse Klasse. Wir scherzten, lachten, amüsierten uns bis tief in die Nacht. Das Buffet schwand von Stunde zu Stunde und auch die Bierkästen leerten sich unaufhörlich. Um 4 Uhr morgens erklärten Anna und ich die Feier für beendet, woraufhin das kollektive Heimfahren begann. Wir beide fuhren mit Annas Eltern zu ihr, wo ich auch übernachtete.

Am nächsten Morgen – eigentlich war es schon nach Mittag – zeugte nur noch meine lebhafte Erinnerung vom letzten Abend. Ferner die Gewissheit, mit Anna verlobt zu sein. Dadurch hatten wir uns noch näher aneinander gebunden, als wir es nicht ohnehin schon taten. Wenn ich etwas wollte, dann mit ihr meine Zeit verbringen. Ihr zuliebe würde ich Sachen tun, die ich sonst wohl nicht täte. Ich hatte es ihr zwar nie wortwörtlich gesagt, aber ich war wahnsinnig in sie verliebt. Es gab jedoch keinen Grund ihr das zu sagen, denn sie musste es doch spüren. Wenn sie diese starke Emotionalität in mir nicht von allein fühlte – sie musste es einfach merken. Ich war mir auch ganz sicher, dass sie es spannte. Ich bekam ja auch mit, dass von ihr viel zurückkam.

Meine Diplomarbeit hatte ich wenige Tage später abgeschlossen, so dass ich das Semester eh als abgeschlossen bezeichnen konnte. Tatsächlich schnitt ich mein Studium recht passabel mit einem Schnitt von 2,3 ab. Das bedeutete in einer Branche, wo ständig Leute gesucht werden, die Freikarte für jede beliebige Position. Aus diesem Grund bewarb ich mich nur bei zwei Spielefirmen, eine in München, die andere in Salzburg. Zu meiner Bestürzung bekam ich nur zwei Absagen.

Die wussten wohl nicht, wen sie da abwiesen? Selbst Schuld! Dann gehe ich eben zur Konkurrenz. Aus diesem Grund schrieb ich drei weitere Bewerbungen. Eine Firma lehnte dankend ab, weil sie momentan keine neuen Mitarbeiter suchten, die zweite hätte nur eine Stelle als Konsolenprogrammierer frei, was mir natürlich widerstrebte.

Welcher PC-Programmierer will denn schon etwas für eine schnöde Konsole schreiben? Niemand ...

Alle guten Dinge sind bekanntlich drei: die dritte Bewerbung brachte mir ein Vorstellungsgespräch ein, das eigentlich recht gut für mich verlief. Trotz allem erhielt ich einige Wochen später nur die Nachricht, dass man sich für jemand anderen entschieden hatte. Herrlich! Wirklich herrlich.

Damit standen meine Chancen in der Spielebranche zu arbeiten momentan recht gering. Aus diesem Grund schrieb ich diverse kleinere Firmen in den Landkreisen Berchtesgaden sowie Rosenheim an, um wenigstens noch irgendeine Stelle zu bekommen, wenn es schon nicht mit meinen Wunschvorstellungen geklappt hatte.

Das erste Angebot, dass ich erhielt, war folgendes:

35000 Euro Jahresgehalt, 40 Stunden-Woche, Tätigkeit als Anwendungsprogrammierer im verwaltungstechnischen Bereich, Firmenname: Wericon, Ort: Rosenheim.

Nach dem für beide Seiten durchaus positiv verlaufenden Vorstellungsgespräch besprach ich die Angelegenheit erst mit Anna, ehe ich den Vertrag unterzeichnete. Wie sehr wünschte ich mich danach manchmal wieder zurück ins Studium!

8 Stunden pro Tag von Montag bis Freitag ist nun mal nicht jedermanns Sache. Meine war es zumindest nicht. Noch dazu, wo mich das Zeug nicht besonders interessierte: die Programmierung von Speditions-Abrechnungssystemen, diversen Elektronik-Herstellungssystemen und Co langweilte mich irgendwie. Zudem war ich abends oft ziemlich müde, so dass ich mit Anna nicht mehr recht viel anstellen konnte. Nach der Arbeit war ich für längere Radtouren einfach zu erschöpft. Wenigstens hatte ich nun endlich genügend Geld auf dem Konto, so dass ich mit Anna diskutierte, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Nach diversen Überlegungen fand sie die Idee nicht schlecht, zudem wir uns dann öfter sehen konnten, wenn wir die Wohnung in Rosenheim nahmen. Anna studierte ja noch ein Jahr, wenn alles glatt lief.

So kam es, dass ich mich bei diversen Maklern nach Wohnungen erkundigte, bis ich mir schließlich mehrere interessante notierte. Zusammen mit Anna besichtigte ich jede einzelne um mich anschließend mit ihr darüber zu beraten.

Wir entschieden uns letztendlich für eine 3-Zimmerwohnung im Außenbezirk, die man preislich einigermaßen angemessen bezeichnen konnte. Zudem lag sie etwa in der Mitte zwischen der FH und der Wericon. Dadurch hatte jeder nicht so weit bis nach Hause. Zudem konnten wir jeden Tag zusammen frühstücken.

Während wir morgens meistens zur selben Zeit die Wohnung verließen, kamen wir nachmittags recht unterschiedlich heim: meistens blieb ich länger aus, denn vor 16 Uhr machte ich selten Schluß. Das verhinderte die 40-Stundenwoche. Am Donnerstag hingegen hatte Anna bis 18:30 Uhr Vorlesung, so dass ich das Abendessen vorbereitete. Die einzigen beiden Tage, an denen wir mal längere Zeit beisammen sein konnten, waren Samstag/Sonntag. Nicht gerade viel, aber besser als nichts.

Wir genossen jedenfalls die Zeit, die uns zur Verfügung stand. Die Monate zogen ins Land, in denen ich zumeist müde von der Arbeit nach Hause kam, während Anna putzmunter wirkte, aber wir kamen klar. Als ihr Studium schließlich dem Ende entgegen strebte, überlegten wir, wie es weitergehen sollte. Anna würde in jedem Fall in der Schreinerei ihres Vaters arbeiten können, doch die befand sich in Traunstein. Entweder musste also sie regelmäßig dorthin pendeln oder aber – falls wir umzogen – ich musste nach Rosenheim fahren. Da wir beide wenig Lust auf einen Umzug verspürten, denn wir hatten uns hier schon richtig eingelebt, einigten wir uns darauf, vorerst hier zu bleiben.

In meinem Großmut bot ich Anna an, mit meinem eben erst gekauften blauen BMW5i zu fahren, was sie dankend annahm. Recht weit war meine Arbeitsstelle nämlich nicht von unserer Wohnung entfernt, so dass ich genauso gut zu Fuß gehen konnte. Ein kleiner Spaziergang am Morgen vertreibt zudem Kummer und Sorgen oder so ähnlich. Nun gut, zumindest die Müdigkeit.

 

*

 

Wiederum verstrichen einige Monate, in denen wir uns auf das neue Leben einstellten. Von Montag bis Donnerstag standen wir am Morgen um 7 Uhr 20 auf, um gemeinsam zu frühstücken, ehe wir uns einen schönen Tag wünschten, bevor wir uns auf der Straße trennten. Anna fuhr mit dem BMW nach rechts in die Perlauer-Straße, während ich nach links weiterging in Richtung auf die Wericon AG zu. Nach einem knapp zehnminütigen Fußmarsch begann für mich die etwa 9-stündige Arbeitszeit, die nur von einer halben Stunde Mittagspause gegen 12 Uhr 30 unterbrochen wurde. Gegen 17 Uhr 15 erreichte ich meist als erster unsere Wohnung. Anna brauchte meistens einige Minuten länger. Immerhin hatten wir unsere Rückkehr eh schon ziemlich optimiert, so dass niemand all zu lange allein daheim blieb.

Am Freitag hingegen schöpfte ich mein in den restlichen Tagen der Woche angesammeltes Gleitzeitguthaben aus, damit ich eher gehen konnte. In der Regel bereits zwischen 12 oder 13 Uhr. Meistens kochten wir dann gemeinsam etwas, denn Anna blieb freitags ganz zu Hause. Sie pflegte am Vormittag meist zu Putzen bzw. Wäsche zu waschen.

Da wir uns inzwischen schon seit fast 3 Jahren kannten und beinahe ebenso lang miteinander befreundet waren, reifte in uns der Wunsch, bald zu heiraten. Für mich gab es da nicht viel zu überdenken. Wir teilten schon jetzt alles im Leben: die Wohnung, unser Geld, das Bett. Warum sollten wir nicht noch einen Schritt weitergehen und damit auch offiziell unsere tiefe Zusammengehörigkeit nach außen demonstrieren?

Die ersten, die von unserer Entscheidung erfuhren, waren natürlich unsere Eltern. Während mein Vater die Neuigkeit recht ruhig aufnahm, wurde meine Mutter sichtlich aufgeregt. Wenn der einzige Sohn heiratet, dann ist das für Mütter irgendwie schon etwas Besonderes. Nun gut, für mich ja auch.

Wir setzten den Zeitpunkt auf den nächsten Monat fest, genauer: auf den 22. Mai. Die Temperatur dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach so angenehm sein, um ein Fest unter freiem Himmel zu veranstalten. Aus diesem Grund entschieden wir uns für das Haus von Annas Eltern, weil das den größeren Garten hatte. Anna kümmerte sich um die Einladungen, während ich die Termine bezüglich der kirchlichen Trauung regelte.

An unseren großen Tag begann alles sehr einfühlsam:

Anna küsste mich sanft wach, woraufhin ich sie zu mir herüberzog um intensiver mit ihr herumzuknutschen.

„Heute ist einer der wichtigsten Tage in unserem Leben“ flüsterte sie mir zu. „Heute wird die Ewigkeit zwischen uns besiegelt.“

Ich selbst sah das Ganze nicht gar so romantisch, hütete mich aber davor, etwas Gegenteiliges zu erwähnen. Das heute ein wichtiger Tag war, dessen war ich mir jedoch wohl bewusst. Es stellte den Versuch dar, durch eine rituelle Zeremonie die ewige Vereinigung zwischen Mann und Frau auf Erden zu schaffen. Natürlich funktionierte das nicht, doch den Glauben daran, den gibt es schon seit Tausenden von Jahren. Bereits im antiken Rom hatte es schon die Ehe als kleinste Einheit des Imperiums gegeben – wenngleich die Rollenverteilung von Mann bzw. Frau dort noch korrekt verteilt wurde: der Mann hatte das Sagen und die Frau musste sich bedingungslos unterordnen. Na ja, ganz so streng ist man ja auch wieder nicht. Ich bildete mir ein, Anna eh relativ gleichberechtigt zu behandeln. Manchmal verwöhnte ich sie vielleicht sogar ein bisschen zu viel, aber das machte mir nichts aus.

Da wir in der Kirche einen Termin um 11 Uhr hatten, trödelten wir beide gar nicht länger herum, sondern standen auf. Wegen mir hätten wir nicht unbedingt in einer Kirche heiraten müssen, aber Anna hatte sich das gewünscht. Was tat man nicht alles ...

Etwas nervös wurde ich schon, als wir die Treppen zum Kircheneingang empor schritten. Erst recht, als ich dann die Pforte öffnete. Unsere Gäste saßen bereits alle drinnen auf den Bänken. Mit gehörigem Muffensausen schlenderte ich nach vorn bis zur ersten Stufe des Altars, wo der Pfarrer wartete. Ein ungewohntes Gefühl, all die Blicke der Anwesenden auf sich zu spüren. Erinnerte mich ein bisschen an die Referate während dem Studium. Doch Annas Gegenwart trug dazu bei, dass ich mich nicht so allein fühlte. Sie sah im weißen Kleid wirklich hinreißend aus. Dagegen wirkte ich eher biedern. Na ja, machte nichts. Einen Schönheitswettbewerb wollte ich keinen gewinnen. Nach einer Kunstpause folgte die Ansprache des Pfarrers, die in den bekannten Sätzen gipfelte:

„Anna Obermeier, wollen Sie den hier Anwesenden zu ihrem Ehemann nehmen, ihn lieben, achten und respektieren, bis das der Tod euch scheidet?“ – „Ja, ich will.“

„Günter Holzer, wollen Sie die hier Anwesende zu ihrer Ehefrau nehmen, sie lieben, achten und respektieren, bis das der Tod euch scheidet?“ – „Ja, ich will.“

„Dann seid ihr nun Mann und Frau.“

 

*

 

Die Hochzeitsfeier dauerte den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinein. Es begann mit dem Mittagessen bestehend aus Nudelsuppe, gefolgt von der Hauptspeise: Schweinefleisch, Sauerkraut und Knödel. Dazu gab es Weißwein, Rotwein, Bier oder Mineralwasser. Nach dem Essen spielte eine kleine Musikgruppe bestehend aus Bekannten meiner Eltern, die uns mit Maultrommel, Waschbrett, Mundharmonika sowie Ziehharmonika ein heimatliches Ständchen gaben. Nach dieser echt-bayrischen kulturellen Unterhaltung nahmen Anna und ich uns die Zeit um mal mit jedem unserer Gäste ausführlich zu sprechen. Einige davon kannte ich natürlich nicht, denn bei ihnen handelte es sich um Bekanntschaften von Anna.

Nachdem wir uns gerade mit einem sympathischen jungen Mann unterhalten hatten, klärte mich Anna auf, dass das ihr erster Freund gewesen war.

„Aha?!?“ machte ich verblüfft. Den Burschen hatte ich gar nicht dergestalt eingeschätzt als dass er Annas Typ wäre. So konnte man sich täuschen. Aber mit dem heutigen Tag war wohl klargestellt, dass nur ich allein der Platzhirsch in Annas Leben sein konnte. Genauso wie nur sie mein Reh sein konnte.

Am Nachmittag gab es Kuchen sowie Tee, ehe wir ein wenig tanzten. Außer Anna und mir machte zwar keiner mit, aber es machte dennoch Spaß. Speziell für den Abend gab es noch Brotplatten belegt mit Schinken, Käse & Co, die recht zügig weggingen. Im Laufe der Nacht löste sich die Gesellschaft nach und nach auf, wobei die Verabschiedung manchmal recht lange dauerte. Beispielsweise hatte sich Ulf ziemlich vollaufen lassen und redete allerhand wirres Zeug. Seine Freundin Tanja, die mit ihm hergefahren war, fuhr ihn heim. Allein hätte er es nämlich nicht mehr besonders weit geschafft. Flo hatte den ganzen Abend über seine Witze erzählt und war regelrecht heiser geworden, was seine Gesprächigkeit etwas drosselte.

Als außer unseren Eltern nur noch fünf Leute anwesend waren, verkündete ich das Ende der Feier. Ich und meine frischgebackene Ehefrau verabschiedeten uns von unseren Eltern um anschließend zurück nach Rosenheim in unsere Wohnung zu fahren. Kaum hatte ich den Wagen geparkt, schwärmte Anna schon von der bevorstehenden Nacht, als sei es unsere allererste.

„Also im Mittelalter war die Hochzeitsnacht ja noch etwas ganz Besonderes“ wusste ich zu erwähnen. „Damals hieß es ja ‚kein Sex vor der Ehe’ oder irgend so einen Scheiß. Das hat sich Gott sei Dank etwas geändert.“

„Aber das ändert doch nichts daran, dass es eine ganz besondere Nacht ist?!“

„Hmm, kommt darauf an. Wenn du jetzt darauf anspielst, dass dir ab heute eine Hälfte des Bettes gehört.“ Grinsend klopfte ich mir auf die Schenkel. Anna überging den Scherz um stattdessen detaillierter auszuführen, was sie in Bezug auf die Bedeutung dieser Nacht dachte.

„Unsere Hochzeitsnacht muss was richtig Ausgefallenes werden, denn es ist ja die erste Nacht, in der uns beide jedermann als Einheit akzeptiert. Verstehst du, was ich meine?

Und damit du merkst, dass dir jetzt wirklich was Besonderes bevorsteht, flüstere ich dir gleich ein paar meiner Ideen ins Ohr betreffend der Frage, was ich jetzt mit dir machen werde ...“

 

*

 

Unsere Flitterwochen führten uns über Prag, Danzig, Warschau, Rom, Athen, Kreta, Madrid, Washington, Miami bis nach Hawaii. Vor allem letzteres faszinierte mich total. Hohe Wellen, Sonnenschein, endlose Sandstrände, dichter Wald im Landesinneren, Hawaiihemden – kurz: hier konnte man es längere Zeit aushalten. Zu erwähnen ist natürlich, dass wir in einem recht teuren 4-Sterne-Hotel untergekommen waren: dem Ilikai Waikiki Hotel, das ich aus der aus den 70er Jahren entstandenen Krimiserie „Hawaii 5-0“ kannte.

Doch auch die längsten Flitterwochen sind einmal vorbei – so will es das Gesetz der Zeit. Nach vier Wochen kamen wir zurück ins gewohnte Rosenheim und alles lief wieder so wie immer:

ich ging von Montag bis Freitag arbeiten, Anna von Montag bis Donnerstag. Glückliche Tage verstrichen, Wochen, Monate, schließlich zwei Jahre. Eigentlich hätte man meinen können, mein Leben liefe nun nach Schema F:

wir bekamen Kinder, kümmerten uns 20 Jahre um deren Erziehung, arbeiteten dann noch einmal 20 oder 25 Jahre um anschließend in Pension zu gehen, falls die Rente bis dahin nicht abgeschafft wurde. Doch es sollte alles ganz anders kommen.

Es begann an einem Dienstag, den 8. Juli. Ein gewöhnlicher Werktag, an dem ich gerade über dem Code eines Projekts saß, das sich mit der Lohnbuchhaltung eines Versandhandels beschäftigte. An diesem Vormittag hatte ich die Datenanbindung implementiert und war nun dabei, diese ausgiebig zu testen, als jemand ins Zimmer trat.

„Herr Holzer, würden Sie kurz in mein Büro kommen?“

Mein Chef schaute mich ernst an, nachdem er in mein Arbeitszimmer gekommen war. Sein Anzug saß wie immer korrekt, die gestreifte Krawatte drückte Eleganz aus.

„Ja, ich komme gleich“ nickte ich.

Nach dem Speichern meines aktuellen Projekts, das erwartungsgemäß nicht ohne viel Festplattenrattern geschah, schaltete ich den Monitor aus, um anschließend auf den Gang hinaus zu gehen bis an dessen Ende, wo das Zimmer meines Chefs lokalisiert war. Mal hören, was er wichtiges zu sagen hatte.

Vermutlich wollte er die Besprechung eines Programmteils durchziehen, den es noch gar nicht gab. Es war eine seine Angewohnheiten, abstrakt über noch nicht vorliegenden Code zu diskutieren, während ihn der bereits fertige nicht besonders zu interessieren schien, sofern dieser weit genug entwickelt war, damit ich mich mit seinen neuen Abstraktionshierarchien befassen konnte. Am Anfang hatte mich das noch etwas irritiert, doch man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Diesmal jedoch schien mir das Thema der Unterredung ein anderes zu sein.

„Nehmen Sie bitte Platz“ wies Herr Lohsenkamp auf den Drehsessel vor seinem Schreibtisch. Nachdem ich mich gesetzt hatte, begann er zu sprechen.

„Wie Sie sicher wissen, sieht die Auftragslage der Firma momentan nicht so besonders gut aus. Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen an irgendeiner Stelle Kosten einzusparen. Ihnen ist sicher klar, dass Ihr Gehalt bei uns zu den höchsten gehört. Deshalb habe ich mich entschieden, Sie mit Wirkung ab 1. August zu entlassen, damit Sie das aktuelle Projekt noch fertig machen können. Mir ist das nicht leicht gefallen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie mit ihrer Qualifikation bald anderweitig eine neue Arbeitsstelle finden werden.“

Etwas sprachlos hatte ich den Inhalt der Worte vernommen. Das gab es doch gar nicht – der warf mich einfach raus! Mich, der jahrelang die Profite erwirtschaftet hatte, derentwegen die Firma ihr Überleben verdankte. Zerknirscht führte ich noch eine viertelstündige Diskussion über Hintergründe, Auftragslage, Gehaltsvorstellungen, ehe ich mich zurück in mein Zimmer trollte. An konzentrierte Arbeit war nun nicht mehr zu denken, so dass ich an diesem Tag nicht mehr viel zusammenbrachte.

Demotiviert kam ich zu Hause an, wobei ich meiner Frau vorerst nichts von den Neuigkeiten erzählte. Das konnte bis nach dem Abendessen warten. Sich von so einer Sache den Appetit verderben lassen – nein, nicht mit mir.

„Anna, ich muss mit dir reden“ begann ich danach im Wohnzimmer. „Heute hat mich mein Chef zu sich gebeten und mir verraten, dass ich nur noch diesen Monat kommen muss.“

„Das heißt er hat dich rausgeschmissen?!“ folgerte Anna goldrichtig. „Wieso das denn?“

„Na ja, du kennst ja die momentane Situation: die Firmen entlassen ständig Leute, weil ‚Kosten’ eingespart werden sollen. Denen sind die Gewinne zu niedrig. Was weiß ich ... ist mir auch egal. Jedenfalls wollte ich nur, dass du darüber Bescheid weißt.“

„Klar. Du wirst schon bald eine bessere Stelle finden, da bin ich mir sicher. Jetzt reden wir nicht mehr darüber, sondern entspannen uns ein wenig.“

 

*

 

Doch trotz all meiner Bemühungen fand ich keine Arbeitsstelle. Zwar hatte ich wirklich kein schlechtes Arbeitszeugnis vorzuweisen, doch die Bereitschaft jemanden neu einzustellen, schien momentan eher niedrig zu sein. So kam es, dass ich ab August 2002 vorübergehend außerplanmäßige Ferien hatte. Da ich keine Lust verspürte, arbeitslos herumzusitzen, trachtete ich meinen langjährigen Wunsch der eigenen Spielefirma in die Tat umzusetzen. Dazu mietete ich ein Büro mit sechs Arbeitszimmern in einem Gewerbeviertel am Rand von Rosenheim. Geeignete Mitarbeiter fand ich recht schnell per Zeitungsannonce. Binnen zwei Wochen zählte meine Firma sechs Leute. Zwei Grafiker, zwei Programmierer, einer, der sich um die Klänge kümmerte sowie mich, der alles koordinierte. Natürlich verschmolzen die verschiedenen Aufgabenbereiche teilweise, denn ein Grafiker programmiert mitunter auch ziemlich viel genauso wie sich ein „Programmierer“ ebenfalls unter Umständen in grafische Angelegenheiten einarbeiten muss. Die Entwicklung unseres ersten PC-Computerspiels ging recht zügig vonstatten. Das Spielprinzip sah folgendermaßen aus:

man leitete ein Hotel, in dem man im Kampagnenmodus beispielsweise bestimmte Ziele erreichen musste wie eine Mindestanzahl an Übernachtungen oder eine definierte Gewinnhöhe. Daneben gab es noch den freien Spielmodus, wo man einfach frei Schnauze in ganz Europa Hotels eröffnete mit dem Ziel, zur größten Hotelkette des Kontinents zu avancieren.

Dank der in den vergangenen Jahren angesparten Geldsummen aus meinen Gehältern sowie zusätzlicher Beteiligungen meiner Frau konnte ich die Kosten für die Entwicklung des Spiels für immerhin 6 Monate decken. Als dieser Zeitraum vorüber war, hatte sich unser gemeinsames Ehekonto derb gelichtet. Das Spiel sah zwar schon recht ordentlich aus, konnte man jedoch noch nicht als verkaufsfähig deklarieren. Aus diesem Grund suchte ich eine Bank auf zwecks Auftreibung weiterer liquider Mittel zur Finanzierung des Spieleprojekts. Nach längeren Verhandlungen

erreichte ich einen Kredit von 150.000 Euro, der immerhin weitere 7 Monate Entwicklungszeit überbrücken half. Dafür musste ich als Sicherheit das Patent für das Spiel hinterlegen. Doch das störte mich wenig. Nach einem Jahr sowie 2 Monaten Programmierzeit war unser „Hotelmanager“ fertig. Das restliche Geld steckte ich in den Vertrieb sowie in eine kleine Werbeanzeige in einer bekannten Spielezeitschrift.

Während das Spiel gepresst wurde, um anschließend verkauft zu werden, programmierten wir intern schon weiter am Nachfolger „Hotelmanager 2“, der nach meinen Berechnungen bereits in gut 5 Monaten auf den Markt kommen konnte. Auf diese Art würde ich nämlich einfacher zu Geld geraten als mit einem komplett neuen Spiel. Doch zu meiner Bestürzung bekam das Spiel beim Test in drei unabhängigen PC-Zeitschriften jeweils nur 55, 64 bzw. 49 Punkte, was bestenfalls laues Mittelmaß darstellt.

„Schlampige Grafik“ musste ich in einem Testbericht lesen, „niedliche Umsetzung mit chaotischer Steuerung“ in einem anderen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, stimmte mich der Absatzbericht für das erste Monat überhaupt nicht zufrieden: ganze 539 Exemplare waren für 35 Euro über den Ladentisch gewandert. Pro Stück flossen davon knapp 15 Euro

direkt an mich, der Rest wurde von Vertriebs- sowie Werbekosten aufgezehrt. Nicht gerade großartig als Einstieg. Auch der zweite Verkaufsmonat machte Grund zur Besorgnis: 312 verkaufte Stück. Im Folgemonat flaute die Nachfrage mit 71 Spielen schließlich gänzlich ab. Statt dem von mir erwarteten Absatz von mindestens 10000 hatten wir nicht mal die 1000er-Grenze erreicht. Das schlimme daran war, dass das Geld nun erneut knapp wurde. Erneut musste ich zur Bank, wo man anlässlich des schlechten wirtschaftlichen Erfolgs des Spiels (sowie des noch nicht zurückgezahlten ersten Kredits) recht engstirnig wurde. Erst nach längerem Hin und Her gelang es mir das benötigte Darlehen zu bekommen: mit einer Hypothek auf das Haus meiner Eltern, die dazu ihr Einverständnis gegeben hatten. Mir gehörte nämlich nur ein Teil davon. Im Grundbuch eingetragen war mein Vater. Jedenfalls gab mir die Bank noch mal 150.000 Euro, mit denen die Vollendung des 2. Spiels kein Problem mehr sein sollte.

Um nicht erneut eine herbe Enttäuschung zu erleben, investierte ich weitere Zeit in die Optimierung des Spielprinzips, so dass statt der anfangs geplanten 5 Monate für Teil 2 satte 9 wurden. Die Verbesserungen am Spiel konnten sich nun allerdings sehen lassen: 3D-Grafiken vom Feinsten, erweiterte Spielmodi mit eigenem Editor um die Einstellungen am Spieldesign zu verändern und ein ausgetüftelter Mehrspielermodus per Netzwerk und Internet. Zudem hatte ich noch kräftig an der Komplexitätsschraube gedreht, um dem Spieler noch mehr zu bieten als im ersten Teil. Ferner schaltete ich in vier Zeitschriften eine große Werbeanzeige mit schönen, farbigen Bildern von unserem tollen Spiel in Kombination mit einem eingängigen Spruch darunter. Das würde sicher seine Wirkung nicht verfehlen.

Anfang Juli 2004 kam „Hotelmanager 2“ in den Handel. Diesmal war ich mit den Testberichten der Spielezeitschriften schon eher zufrieden: 78, 82, 86 waren die Wertungen der drei größten Zeitschriften in Deutschland. Also zumindest ein „gut“. Die Verkaufszahlen waren ebenfalls weitaus besser als beim letzten mal. In den ersten Monaten: 4205, 3258, 2124 – doch dann kam ein massiver Einbruch, weil eine Konkurrenzfirma ein ähnliches Spiel auf den Markt brachte, das laut Testbericht „leichter zugänglich als das schwere Hotelmanager 2“ ist.

Magere 195 Stück konnten nur noch verkauft werden. Mittlerweile waren allerdings wieder neue Kosten in Höhe von rund 67.500 Euro für die Bezahlung meiner 5 Mitarbeiter entstanden, mit denen ich momentan an einem völlig neuen Spiel arbeitete. 9782-mal „Hotelmanager 2“ füllte das Firmenkonto lediglich mit 193.683 Euro. Damit stand ich noch immer mit ungefähr 170.000 in den roten Zahlen.

Nun gut, noch hatte ich 130.000 liquide Mittel zur Verfügung, die wohl noch für die Abschließung des aktuellen Action-Spiels reichen würden.

Doch wenn nicht bald das große Geld hereinkam, steckte ich in ernsten Schwierigkeiten. Der erste Kredit der Bank würde nämlich in 9 Monaten fällig werden. Es kam wie es kommen musste:

das in aller Eile auf den Markt geworfene Spiel „Alien Eraser“ floppte, was darin resultierte, dass ich Konkurs anmelden musste. Betreten eröffnete ich Anna das finanzielle Aus der Firma.

„Wir kriegen das schon wieder irgendwie auf die Reihe“ war sie sich sicher. „Wieviele Schulden haben wir denn?“

„Eine gute Frage. Ich schätze mindestens 250.000 nach Teilrückzahlung der letzten Reserven sowie Herauslösung der existierenden Rückstellungen.“

„Eine viertel Million“ murmelte meine Ehefrau betroffen. „Ziemlich viel Geld. Wie sollen wir das auf die Schnelle herbekommen?“

„Woher soll ich das denn wissen? Da müssten wir schon eine Bank überfallen.“

„Eigentlich keine schlechte Idee ...“

„Wie bitte?“ hakte ich nach, weil ich nicht recht verstand.

„Dein Vorschlag eine Bank zu überfallen ist eigentlich nicht schlecht, meinte ich“ erklärte mir Anna. „Das würde unsere Geldsorgen mit einem mal lösen. Ganz abgesehen davon hat das doch was tiefsinniges, eine Bank zu beklauen, bei der wir ja Schulden haben.“

„Das stimmt schon, aber ich habe wenig Lust in den Knast zu gehen. Da muss uns wohl was anderes einfallen.“

„Mitnichten“ widersprach sie mir beharrlich. „Das mit der Bank habe ich ernst gemeint. Überleg doch selbst mal – was können wir denn verlieren? Uns gehört doch schon fast nichts mehr. Diese Wohnung hier haben wir nur gemietet. Auf dem Haus deiner Eltern liegt eine Hypothek über 150.000 Euro und wir beide haben noch mal 100.000 aufzubringen, die in knapp einem viertel Jahr zurückbezahlt werden sollen – wieso hast du da eigentlich so eine kurze Laufzeit vereinbart? Na ja, ist ja egal. Jedenfalls haben wir nicht besonders viele Chancen. Oder siehst du das anders?“

Schnaufend zuckte ich mit den Schultern.

„Im Prinzip hast du Recht, aber wir können doch trotzdem nicht einfach ...“

„Natürlich können wir. Willst du denn nicht, dass unsere Kinder in einem Haus auf dem Land mit großem Garten erwachsen werden? Es geht um unsere Zukunft, Günter. Wie sollen wir uns denn ernähren, wenn du keine Arbeit bekommst und wir gleichzeitig noch die Zinsen für das Darlehen sowie die Tilgung zurückzahlen sollen?“

„Wir werden schon irgendeinen ehrlichen Weg finden.“

„Ach ja? Was, wenn nicht? Du hast mir noch nie gesagt, dass du mich liebst. Auf derartige Bekenntnisse lege ich gar nicht mal so viel Wert, sofern deine Taten eine eindeutige Sprache sprechen. Aber momentan weiß ich nicht so recht, wie ich dein Zögern bewerten soll. Was bist du eigentlich alles bereit für mich zu tun?“

Hellhörig blickte ich auf. „Für dich würde ich alles tun – das weißt du doch! Aber was hat das jetzt damit zu tun?“

„Ganz einfach: bist du auch bereit Straftaten mit mir zu begehen, wenn ich dich darum bitte, weil es uns dadurch besser geht? Bist du bereit für mich ein Risiko einzugehen, dass uns beiden große Unannehmlichkeiten bringen könnte, falls die Sache schief geht? Tust du mir zuliebe etwas, was du sonst nicht tun würdest?“

Meine Antwort dauerte nicht lange. „Ja. Ja – ich bin bereit. Was schwebt dir konkret vor?“

„Wir sollten uns erst in aller Ruhe überlegen, was für uns am sichersten ist. Stichwort: Risikominimierung bei größtmöglichem Gewinn für uns. Bei einer Bank scheint mir das Risiko einfach zu groß zu sein. Zumindest wenn wir einfach hineinstürmen und wie in den Krimis ‚Hände hoch’ schreien. Da müssten wir dann einen Einbruch machen, um das Risiko auf ein akzeptables Niveau zu senken. Leider fehlt uns da die nötige Erfahrung in bestimmten technischen Bereichen wie Elektronik um die Alarmanlagen außer Betrieb zu setzen. Aus diesem bedauerlichen Grund müssen wir darauf wohl ebenfalls verzichten. Mir fällt sicher noch was anderes ein ...“

Staunend lauschte ich ihren Ausführungen.

„Ich habe gar nicht gewusst, dass ich Bonnie als Ehefrau habe“ meinte ich bewundernd angesichts ihrer messerscharfen Kombinationen auf kriminellem Gebiet.

„Tja, du weißt vieles nicht“ flunkerte Anna. „Mein größtes Geheimnis jedoch kennst du schon lange: ich bin verrückt nach dir.“

 

*

 

In den nächsten Tagen unterhielten wir uns noch mehrmals über „alternative“ Möglichkeiten um schnell an Geld zu kommen. Irgendwie reizte mich der Gedanke ein bisschen so wie Bonnie und Clyde zu sein. Hinzu kam die Bereitschaft für Anna alles zu tun – das war wohl der Hauptgrund, wieso ich mitzumachen gedachte. Anna hatte inzwischen einen anderen Einfall gehabt: eine Erpressung. Mehr oder weniger risikolos bis auf den Zeitpunkt der Geldübergabe und normalerweise recht ergiebig, wenn man die richtigen Leute erpresste.

„Wen willst du denn womit erpressen?“ fragte ich Anna, weil ich spontan keinen Plan hatte, was ihr vorschwante.

„Nun ja, also ich denke mal eine Entführung mit Lösegeldforderung kommt nicht in Frage – eher eine anonyme Forderung an irgendwen, weil sonst was passiert. Mir fällt da grad was ein: in einem Monat beginnt doch wieder das Herbstfest auf der Rosenheimer Loretto-Wiese. Wie wär’s, wenn wir von denen Geld erpressen?“

„Hmm“ überlegte ich. „Rentabel wäre das sicher. Nur womit sollen wir drohen?“

„Damit, dass in einem Bierzelt eine Bombe hochgeht. Was meinst du wie schlecht das für den Umsatz sein könnte?“

„Wir haben aber keine Bombe. Ganz abgesehen davon können wir uns kaum eine selber bauen. Das wird also nichts.“

„Erstens genügt am Anfang ja nur die Drohung, dass wir eine haben. Das wissen die anderen doch nicht, dass wir noch über keine verfügen. Außerdem kann man die Dinger ganz leicht selbst bauen. Du bist doch Informatiker. Dann musst du halt im Internet suchen, wo du da Bau-Anleitungen findest. Die gibt es doch ganz sicher irgendwo.“

Damit hatte sie nicht Unrecht. So erinnerte ich mich beispielsweise an eine Datei namens „Terroris.doc“, die mir einmal zufällig in die Hände gekommen war, in der detailliert beschrieben wurde, wie man Nitroglyzerin, Dynamit oder auch eine Kanone herstellt.

„Stimmt“ gab ich ihr daher Recht. „Falls die wirklich nicht zahlen sollten, können wir anfangs ja nur mal eine Rauchbombe in die Luft gehen lassen – zur Abschreckung. Es muss ja nicht unbedingt sein, dass jemand zu Schaden kommt.“

„Natürlich nicht. Bleibt noch die Frage zu klären, in welcher Form wir die Forderung stellen. Per Telefon? Per Brief? Aber wen kontaktieren wir da?“

„Das ist einfach: per anonym abgegebenen Brief, den wir direkt in den Briefkasten einer der beiden Brauereien einwerfen, die ihr Bier auf der ‚Wiesn’ verkaufen. Da müssen wir natürlich extrem aufpassen, dass ja keine Spuren auf dem Papier sind. Stichwort: den müssen wir mit Handschuhen sowie in Druckschrift verfassen. Am besten kaufen wir uns neues Papier, wo garantiert keine Spuren drauf sind, die zu uns führen.“

„Das hört sich gut an“ lobte Anna. „Das machen wir so. Was meinst du wieviel Geld wir da wohl verlangen können?“

„Wenn man davon ausgeht, dass in den 16 Tagen des Herbstfests rund 800 000 Besucher kommen, die wohl jeweils mindestens 10 Euro ausgeben, dann kommt da ganz schön was zusammen. Zugegeben: 8 Millionen Umsatz bedeuten nicht, dass wir annähernd so viel verlangen können, obwohl der Gewinn sicher nicht niedrig sein dürfte. Du weißt ja selbst wieviel das Bier da kostet. Ich hab gelesen die Maß soll dieses Jahr 5,90 Euro kosten. Davon sind mindestens 4 Euro Reingewinn, d.h. wir können da durchaus in den Millionenbereich vorstoßen. Also ich weiß nicht genau, wie sich die Einnahmen verteilen. Ich würde schätzen 60 Prozent Bier, der Rest Essen und Fahrgeschäfte, wo der Gewinn natürlich weitaus geringer sein dürfte.

60 Prozent mal 8 Millionen ergibt 4,8 Millionen Umsatz durch Bier, wobei die Gewinnquote wie bereits gesagt locker bei 70 Prozent liegt. Das wiederum bedeutet einen Ertrag von rund 3,3 Millionen nur durch Bier. Zusammen mit dem Rest ergibt das sicher einen Gesamtgewinn von 3,8 Millionen. Zu hoch sollten wir mit unserer Forderung allerdings nicht gehen, weil die sonst keine Lust zum Zahlen haben. Die müssen schon auch noch ein Geschäft machen.“

„Versteht sich von selbst. Was hältst du von einer runden Million? Das ist eh nur ein Viertel des Gesamtgewinns und dafür, dass nichts passiert, was den Umsatz vielleicht dauerhaft drücken könnte, ist das doch ein faires Geschäft.“

„Ja, eine Million sollte schon drin sein. Wie stellst du dir die Übergabe des Geldes vor?“

„Am besten an einem öffentlichen Platz, wo man im Vorfeld nicht so auffällt und schnell untertauchen kann. Zum Beispiel in der Fußgängerzone.“

„Das finde ich nicht gut“ brummte ich missmutig. „Woran wollen wir denn da erkennen, ob unter den Passanten nicht ein halbes Dutzend Zivilpolizisten stecken, die nur darauf warten, dass wir den Geldkoffer berühren?“

„Eventuell könnte man einen Fluchtweg wählen, auf den die gar nicht kommen. Über die Kanalisation! Dazu müssten wir den Geldboten nur irgendwohin bestellen, wo ein Gullideckel in der Nähe ist. Einer von uns öffnet dann den Deckel, schnappt sich den Koffer um sofort wieder in der Unterwelt zu verschwinden.“

„Das hört sich nett an, aber was ist, wenn der Gullideckel nicht schnell genug aufgeht oder klemmt?“

„Das kann man doch vorher überprüfen. Am besten in der Nacht, wo es keinem auffällt. Weitere Bedenken?“

„Ja: wer sagt dir denn, dass die Polizisten nicht einfach hinterherklettern. Außerdem ist das nicht gerade angenehm da unten durch den Dreck zu waten. Noch dazu wenn man keinen Plan der Gänge hat. Das erscheint mir alles etwas zu riskant. Irgendwann muss man ja auch wieder nach oben und da stehen dann vielleicht schon ein paar Bullen rum – nein, danke. Von unten erkennt man ferner gar nicht, wo man überhaupt heraus steigt.“

Anna kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Vielleicht müssen wir uns doch eine andere Methode ausdenken. In einem Krimi habe ich mal gesehen, dass ein Geldkoffer aus einem fahrenden Zug geworfen wurde, wo dann schon die Erpresser gewartet haben. Was hältst du davon?“

„Raffiniert. Aber dann müssten wir den Boten zum Bahnhof lotsen um ihn in einen Zug einsteigen zu lassen. Außerdem: was ist, wenn der nicht genau in dem Moment den Koffer zum Abteilfenster hinauswirft, sobald wir das verlangen? Falls da nur eine halbe Minute Zeit dazwischen liegt – weil der beispielsweise

das Fenster nicht aufbekommt oder weil er den Koffer nicht auf Anhieb durch die Öffnung drücken kann – dürfen wir einen Kilometer in der Gegend herumlatschen um alles abzusuchen.“

„Das ist garantiert nicht so weit, wenn man das ein wenig koordiniert.“

„Rechne es dir doch selbst aus: falls der Abwurf eine halbe Minute zu spät erfolgt, was durchaus wahrscheinlich ist, dann fährt der Zug bei einem Tempo von 100 km/h inzwischen 100 geteilt durch 60 geteilt durch 2, also ungefähr ... einen Kilometer. Da habe ich dann echt keinen Bock die ganze Strecke abzulaufen. Zumal der Koffer vielleicht eher von der Polizei entdeckt wird.“

Anna legte den Kopf schief. „Gut, wir lassen uns da was anderes einfallen.“

 

*

 

Erneut verging eine Woche, in der sich nichts Positives tat. Meine eiligst vor einem Monat versandten Bewerbungsschreiben hatten allesamt nicht zum Ziel geführt. Kein Schwein wollte mich einstellen. Das machte mir die Entscheidung natürlich leicht an unserem Plan mit der Erpressung festzuhalten.

Anna hatte mir das erste Schreiben diktiert, indem wir unsere Forderung stellten. Der genaue Inhalt lautete wie folgt:

„Wir verlangen eine Million Euro, zahlbar in kleinen, gebrauchten, nicht nummerierten oder in sonstiger Weise gekennzeichneten Scheinen. Die Summe ist innerhalb von zwei Wochen kollektiv aufzutreiben. Am besten wenden Sie sich dabei auch an die anderen Aussteller, die ebenfalls ihren Teil dazu beitragen sollen. Im weiteren Verlauf werden wir aber ausschließlich mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Falls Sie den geforderten Betrag zahlen wollen, inserieren sie am Donnerstag, den 19.8. in der Süddeutschen Zeitung in den Kleinanzeigen mit dem Betreff

‚Opel Omega, BJ 1993, 245000 km, VB 3100’.

Geben Sie zudem noch eine Handy-Nummer an, unter der wir Sie erreichen können. Wir melden uns zu gegebener Zeit wieder mit neuen Anweisungen – insbesondere mit den Daten bezüglich des genauen Übergabeortes.

gezeichnet

Der schwarze Falke“

Eigentlich hätte ich mit „Bonnie & Clyde“ unterschreiben sollen, doch ich überredete Anna dazu, das nicht zu tun, denn das gab der Polizei einen Anhaltspunkt auf die Täter. Den mussten wir denen doch nicht frei Haus geben. Daher also der ominöse Name.

Heute war Mittwoch, der 11. August 2004. Die Post würde wohl nicht länger als zwei Tage dauern, bis der Brief ankam, selbst wenn wir ihn erst heute Abend einwarfen. Der Beginn des diesjährigen Herbstfestes würde am Samstag, den 28. August stattfinden. Also eine angemessene Frist zur Beschaffung des Geldes. Sofern der gute Wille dazu ebenfalls vorhanden war. Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, den Brief persönlich in den Briefkasten der Brauerei zu werfen, doch dann entschied ich, ihn doch lieber der Post anzuvertrauen. Am Ende sah mich sonst vor der Brauerei irgendjemand, der mich dann durch einen dummen Zufall später beschreiben konnte oder was weiß ich.

Daher klebte ich sorgfältig eine frische Briefmarke auf den Umschlag, der ebenfalls neu gekauft war. All das verrichtete ich nach wie vor mit Handschuhen, damit keine Fingerabdrücke zurückblieben. Die Absender-Adresse hatte ich frei erfunden.

„Ich bin in fünf Minuten wieder da“ verabschiedete ich mich von Anna, denn ich wollte den Brief in den Postkasten gleich um die Ecke einwerfen. Da niemand wissen konnte, dass es sich um einen Erpresserbrief handelte, würde alles seinen geregelten Weg gehen und im Nachhinein würde auch keiner in der Lage sein, festzustellen, wo er eingeworfen worden war.

Seelenruhig spazierte ich mit den behandschuhten Händen in den Jackentaschen los zum Postkasten, den ich nach einigen Minuten flottem Marsch erreichte. Während ich mit der einen Hand den Einwurfschlitz öffnete, warf ich mit der anderen den Umschlag ein. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Kaum zehn Minuten später stand ich wieder in unserer Wohnung, wo ich auf dem Gang die Jacke auf einen Kleiderbügel hängte.

„Hast du ihn eingeworfen?“ empfing mich Anna an der Tür zum Wohnzimmer mit fragendem Ausdruck.

„Natürlich. Was denkst denn du, was ich getan habe?!?“

Lächelnd nahm sie mich in den Arm. „Es hätte ja theoretisch sein können, dass du im letzten Moment Hemmungen bekommen hast.“

„Niemals. Ich habe dir gesagt, ich bin dabei und mach auch solange mit, bis wir das Geld in Händen halten. Ich tu es für uns.“

 

*

 

„Das war sehr gut, dass Sie mich gleich benachrichtigt haben, Frau Görlitzer" erklärte Harald Siegreicher, der Verwaltungsmanager der Flohringer Brauerei. Seine Sekretärin hatte ihm gerade einen Brief von einem gewissen Fischers Fritze ins Büro gebracht, der angeblich im Fischteichweg 1f in Fischingen wohnte. Bis zu diesem Punkt konnte man noch an einen harmlosen Scherz denken, doch der Inhalt des so scherzhaft aussehenden Umschlags enthielt einen Brief mit einer brisanten Nachricht. Sorgfältig las sich Harald Siegreicher das Schreiben ein zweites mal durch, ehe er den Firmenchef Anton Flohringer in dessen Büro aufsuchte.

„Was gibt es denn?“ wunderte sich dieser über das jähe Erscheinen seines Verwaltungsmanagers.

„Das sollten Sie sich mal durchlesen ...“ legte dieser ein zusammengefaltetes Stück Papier auf den Schreibtisch.

Nach dem Durchlesen nahm sich der Seniorchef die Brille von der Nase um sie auf den Tisch zu legen.

„Das ist eine Epressung“ stellte er sachlich fest. „Können wir das ernst nehmen oder ist das nur wieder ein Scherzkeks?“

„Schwer zu sagen“ meinte Siegreicher mit den Schultern zuckend. „Zumindest zeugt der Schreibstil von eiskalter Entschlossenheit. Es kann durchaus sein, dass das nicht nur irgend ein verhinderter Witzbold ist. Ich rate dringend zur Verständigung der Polizei.“

„Uns wird schon gar nichts anderes übrig bleiben. Das Herbstfest beginnt in zwei Wochen. Nicht auszudenken, wenn es da einen terroristischen Anschlag geben würde ...“

„Das sehe ich genauso. Soll ich mich um die Sache kümmern?“

„Nein, das erledige ich selbst“ erklärte der Seniorchef.

Ruhig fischte er das Rosenheimer Telefonbuch aus einem Regal, um die Nummer der Polizeidienststelle herauszusuchen ...

 

*

 

Während wir auf die Zeitungs-Anzeige in der kommenden Woche warteten, heckten Anna und ich bereits Pläne für einen perfekten Übergabevorgang aus.

„Eventuell könnte es sich auszahlen, wenn wir zwei oder noch besser drei separate Übergaben machen“ schlug Anna vor. „Dadurch teilt sich nämlich das Risiko auf, dass bei der ersten Übergabe etwas geschieht. Falls – wovon ich ausgehe – die Polizei eingeschaltet wird, werden die sicher nicht so blöd sein, ausgerechnet bei der ersten von mehreren Übergaben zuzuschlagen. Die wissen ohnehin, dass wir mehrere sind, d.h. falls sie einen von uns bei der Übergabe schnappen, dann werden sie vermutlich versuchen ihn zu verfolgen, bis er sie zu den anderen führt. Diese Chance ist um so größer, je sicherer die Erpresser sind, d.h. nach zwei erfolgreichen Teil-Übergaben werden sie es erst beim dritten mal versuchen, dem Geldabholer zu folgen. Womöglich kommt dann aber keiner mehr, weil wir mit zwei Dritteln der Beute auch schon zufrieden sind.“

„Mir leuchtet das nicht so ganz ein. Wer sagt dir denn, dass die wirklich die ersten male nichts unternehmen? Was ist, wenn sie gleich beim ersten mal zuschlagen und einen von uns festnehmen? Was dann?“

„Das wäre schlecht, weil es nicht kompatibel mit meinem Plan ist. Aber überlege doch selbst mal: macht es Sinn, jemand zu schnappen, den man sich später ohnehin einverleiben kann – zusammen mit einigen anderen der Bande?“

„Ich weiß nicht so recht“ war ich mir unsicher. „Ich bin kein Polizist, daher denke ich auch nicht so wie einer. Jedoch stimme ich zu, dass das Risiko wohl geringer sein dürfte, wenn es mehrere Übergaben gibt. Auf der anderen Seite bekommen wir auch weniger und haben dasselbe Risiko gleich mehrmals.“

„Jetzt denk nicht schon wieder so pessimistisch. Das klappt schon. Am besten machen wir vier Übergaben, denn dann kann man die Summe außerdem besser teilen. Falls es dreimal klappt, können wir uns immer noch überlegen, ob wir auf die vierte Rate verzichten. 750 Tausend Euro sind immerhin nicht schlecht.“

„Also ich wäre wohl mit großer Wahrscheinlichkeit damit zufrieden. Wo machen wir dann die Übergaben? Die sollten wir immer an einem anderen Ort abhalten – allein schon um zu vermeiden, dass sich die Bullerei dort einnistet.“

„Versteht sich von selbst. Sag mal, dein Freund Ulf – der hat doch mal einen Taucherkurs gemacht, oder?“

„Ja, warum?“ wunderte ich mich über diese Frage.

„Weil mir da grad was einfällt. Kannst du seine Ausrüstung vielleicht mal ein paar Tage ausleihen?“

„Klar gibt er mir die. Ich weiß nur nicht, was du damit willst.“

Ein Schmunzeln glitt um Annas zarten Mund.

„Du kennst doch die Inn-Brücke am Schloßberg – wenn wir dort die Übergabe abhalten und dem Kurier sagen, er soll den Koffer in den Inn schmeißen, was meinst du, wie blöd die Bullerei schaut, wenn ein Taucher mit dem Koffer verschwindet?“

„Eine gute Idee. Wenn wir es zudem am Abend machen, hilft die Dunkelheit zusätzlich beim Heraussteigen aus dem Wasser. Wenn man sich einfach vom Strom treiben lässt, legt man locker drei, vier Kilometer zurück, ohne dass die Bullen wissen, auf welcher Fluss-Seite sie überhaupt suchen sollen. Natürlich werden sie bevorzugt flussabwärts suchen, aber die andere Seite werden die wohl auch nicht vernachlässigen. Die einzige Gefahr besteht in einem Peilsender in dem Koffer. Das kann man vom Wasser aus wohl kaum feststellen.“

„Das stimmt, macht aber nichts, denn wozu gibt es hundertprozentig isolierende Koffer? Zufälligerweise habe ich mir letzte Woche einen solchen gekauft. Laut Hersteller hält der selbst Röntgenstrahlung zuverlässig ab, d.h. die Funkwellen eines Peilsenders kommen erst recht nicht durch. Den nimmst du einfach mit ins Wasser und legst den Geld-Koffer einfach rein, ehe du abtauchst. Wasserdicht ist der nämlich obendrein. Ferner nimmst du dir noch Steine oder sonstige schwere Gegenstände mit, damit du den Koffer unter Wasser nehmen kannst.“

„Das hört sich in der Tat gut an. Nur irgendwann müssen wir ihn wohl öffnen, was dazu führt, dass die einen Kontakt zu uns empfangen ... aber zu diesem Zeitpunkt sind wir eh aus der Gefahrenzone. Außerdem werden wir wohl nicht recht lange brauchen für das Umladen des Inhalts. Dann kann uns ganz egal sein, ob im Koffer irgendwo ein Sender versteckt ist oder nicht.“

„Jepp“ bestätigte Anna siegessicher. „Womit das Geld uns gehört.“

„Die erste Rate“ korrigierte ich.

Am Donnerstag schließlich kaufte ich an einem Kiosk eine Ausgabe der Süddeutschen, die ich daheim zusammen mit Anna gewissenhaft durchstöberte.

„Hier steht es!“ deutete sie mit dem Finger auf eine Anzeige auf der linken, unteren Hälfte. Tatsächlich – der von uns geforderte Text stand hier schwarz auf weiß gedruckt. Das hieß, man wollte zahlen. Dann schien es nun Zeit für Schritt 2 zu sein.

Erneut diktierte mir Anna den Text für unser zweites Schreiben, das ich wieder akribisch in Handschuhen verfasste.

„Wir erwarten das Geld in vier gleichen Teilen jeweils im Abstand von drei Tagen. Begeben Sie sich zur Zahlung der ersten Rate am 27.8. um 18 Uhr in die Wirtschaft ‚Alter Hirsch’ in der Innstraße. Stecken Sie das Geld in einen stabilen Kunststoffkoffer mit grauer Farbe. Der Geldbote soll zudem das Handy mitnehmen, dessen Nummer Sie uns in der Anzeige mitgeteilt haben. Weitere Anweisungen erfolgen direkt vor Ort. Sollte unsere Forderung nicht erfüllt werden, so wird sich am Eröffnungstag beim Umzug zur Lorettowiese ein bedauerlicher Zwischenfall ereignen, der sich sehr nachteilig auf den weiteren Herbstfestverlauf auswirken wird. Sofern sich auch das nicht positiv auf die weitere Zahlungsmoral auslöst, zwingen Sie uns, zu noch härteren Mitteln zu greifen.

gezeichnet

Der schwarze Falke“

Ein genialer Plan. Wohl dem, der eine intelligente Ehefrau hat. Nach dem Einwerfen des Briefes schmusten wir auf dem Sofa liegend. Gerade als ich ihren Hals abbusselte, kicherte sie. „Das kitzelt. Aber mach ruhig weiter, das ist schön.“

Als sie wie ein kleines Mädchen aufquietschte, kitzelte ich sie mit beiden Händen und wir tollten herum wie kleine Kinder.

 

*

 

Gut vorbereitet fuhren Anna und ich am späten Nachmittag des 27. August zu der Stelle am Innufer, wo ich am Abend an Land gehen würde, sobald sich das Geld in unserem Besitz befand. Den genauen Platz suchten wir gemeinsam aus. Er lag etwa fünf Kilometer nördlich der Innbrücke auf der rechten Seite, optisch durch zahlreiche am Ufer stehende Laubbäume getarnt. Ein geparktes Auto würde hier wohl kaum sonderlich auffallen. Zudem lag der Ort fernab von Häusern, so dass wir kaum von abendlichen Beobachtern gestört werden würden. Höchstens von einem Liebespaar, aber die würden als Zeugen wohl ausscheiden, weil sie wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt sein würden.

Im Kofferraum lagen der Neoprenanzug sowie die Sauerstofflasche, die ich mir vor ein paar Tagen bei Ulf ausgeliehen hatte, der gar nicht weiter nachgefragt hatte, was ich damit wollte. Um so besser. Gestern hatte ich im Simssee einen Probetauchversuch unternommen sowie getestet, ob das mit dem Koffer von Anna auch wirklich funktionierte.

Obwohl es mir ein bisschen schwer gefallen war, den Koffer unter Wasser zu halten, klappte es. Heute hatte ich zudem ein paar Steine als Gewicht an den Koffer gebunden, damit der Auftrieb geringer wurde, was die Beförderbarkeit unter Wasser deutlich verbesserte. Nachdem ich mir die Stelle eingeprägt hatte, wo ich am Abend ans Ufer kommen sollte, fuhren wir flussaufwärts bis etwa vier Kilometer südlich der Innbrücke. Anna parkte den BMW in einem kleinen Feldweg in Ufernähe. Noch einmal sprachen wir im Auto sitzend alle Kleinigkeiten des Plans durch.

„Also, ich tauche von hier bis zur Brücke, wo ich mich solange bei den Pfeilern verstecke, bis der Geldkoffer ins Wasser fällt. Dann schnappe ich ihn mir und packe ihn in den großen Koffer. Anschließend tauche ich ab und lasse mich treiben, um bei der Stelle, von der wir gerade kommen, an Land zu gehen. Dort wartest du bereits mit dem Auto und wir fahren in einem Bogen Richtung Norden nach Hause“ fasste ich noch mal alles im Schnelldurchlauf zusammen.

„Genau“ bestätigte Anna. „Während du unter der Brücke wartest, rufe ich in der Wirtschaft an, wo wir den Geldboten hinbestellt haben und dirigiere ihn zum Mittelteil der Innbrücke, wo er den Koffer auf der rechten Seite in den Fluss werfen soll. Dadurch bekommst du nämlich die beste Chance, den Koffer abzufangen, weil er dann direkt auf dich zu schwimmt. Sobald das erfolgt ist, verlasse ich meinen Posten, um zum Treffpunkt zu fahren. Wir sollten noch besprechen, was wir machen, falls was schief geht.“

„Wenn der Geldbote nicht kommt?“

„Beispielsweise. In diesem speziellen Fall verlässt du einfach um 19 Uhr 20 deine Warteposition und kommst zum verabredeten Ort. Dort hole ich dich dann ab. Wenn der Bote hingegen den Koffer nicht wie verlangt rechts in den Inn wirft, sondern links, dann musst du eben zur Not hinterherschwimmen. Allerdings könnte dann das Einpacken des Geldkoffers in den wasserfesten ein bisschen schwieriger werden ... aber das schaffst du schon. Dir droht eh keine Gefahr, denn auf dich schießen wird man nicht und erkennen tut dich dank Taucherbrille, Neoprenanzug sowie Atemmaske eh niemand. Falls unser Fluchtwagen wider Erwarten einen technischen Defekt hat, dann verstecken wir den Koffer mit dem Geld einfach im an den Fluß angrenzenden Wald, um ihn später abzuholen. Mal überlegen ... was anderes kann eigentlich gar nicht passieren. Oder fällt dir noch was ein?“

„Nö“ verneinte ich knapp. „Dann ziehe ich mir mal den Taucheranzug über.“

Nach der vorherigen Kontrolle, ob sich auch wirklich niemand in der Nähe aufhielt, zog ich mich aus und anschließend den Neoprenanzug an, die große Sauerstofflasche auf den Rücken sowie das Atemgerät über den Mund. Fertig.

Anna winkte mir noch mal, ehe sie den Motor anwarf um zum Schloßberg zu fahren, wo eine Telefonzelle stand, von der aus sie im Gasthaus anrufen würde. Per Handy war das einfach zu riskant, denn das kann man bekanntlich wesentlich einfacher orten. Schön blöd, wer vom Mobiltelefon aus eine Erpressung macht.

Mit dem Kunststoff-Koffer in der Hand watschelte ich in meinen Flossen zum Flussufer um dort ins Wasser zu steigen, das sich recht kalt anfühlte. Hätte ich gar nicht gedacht, dass der Inn im frühen Herbst so kalt ist. Nun gut, normalerweise badet man in ihm auch nicht. Langsam schritt ich tiefer hinein, wo eine stärker werdende Strömung an meinen Füßen zerrte. Den Koffer unter Wasser drückend, tauchte ich ganz unter. Man sah auf Grund des aufgewühlten Wassers kaum etwas. In einer dermaßen trüben Brühe hatte ich auch noch nie gebadet. Musste an der Staustufe liegen, die kaum einen Kilometer weiter stromaufwärts lag. Die wirbelte offenbar dermaßen viel Schlamm auf, was auch die braune Farbe begründen könnte.

Da ich unter Wasser ziemlich wenig davon mitbekam, wie weit die Innbrücke entfernt war, musste ich regelmäßig kurz auftauchen um die verbleibende Distanz zu überprüfen. Das erste Hindernis stellte eine steinerne Brücke dar, über die nur Züge fahren. Ich versuchte möglichst in der Mitte der Rinne zu bleiben, damit ich nicht versehentlich gegen einen der Pfeiler prallte.

Es dauerte noch etliche Minuten, ehe ich die große Innbrücke vor mir hatte. Trotz der fortgeschrittenen Tageszeit herrschte noch reichlich Verkehr. Schnell gelangte ich zum linken Pfeiler des mittleren Brückenstücks, in dessen Kehrwasser ich mich auf die Lauer legte. Von hier aus konnte man mich weder von den beiden Dämmen aus sehen geschweige denn von der Brücke selbst. Optimale Vorbedingungen. Meine wasserdichte Casio-Armbanduhr zeigte 18:47 Uhr an. Jetzt hieß es abwarten. Halb am Pfeiler lehnend schwamm ich im Wasser, was nicht gerade als besonders angenehm zu bezeichnen war. Arschkalt, das Wasser.

Hinzu kam der Umstand, dass ich überhaupt nicht wusste, was über mir abging. Ob der Geldbote schon im Wirtshaus saß?

Hoffentlich – ich verspürte wenig Lust hier eine Ewigkeit zu warten. Jetzt bereute ich es, einen so großen zeitlichen Reservespielraum einkalkuliert zu haben. Ich hätte genauso gut erst zehn Minuten später ins Wasser steigen können. Aber für einen sechsstelligen Geldbetrag kann man es wohl auch mal auf sich nehmen, eine gewisse Zeit im Wasser zu treiben. Abermals blickte ich auf meine Uhr. 18 Uhr 51. Die Zeit verging wie im Schneckentempo.

 

*

 

Anton Flohringer starrte missmutig auf den geöffneten Koffer auf seinem Schreibtisch. Darin lagen 250.000 Euro, die er ein paar Tage zuvor in Form von 10-, 20- sowie 50-Euroscheinen in der Rosenheimer Sparkasse abgeholt hatte. Dort unterhielt die Brauerei nämlich ihr Geschäftskonto.

Die Kriminalpolizei hatte sowohl den ersten als auch den zweiten Brief der Erpresser untersuchen lassen, jedoch keine Spuren sicherstellen können. Keine Fingerabdrücke, kein Hinweis auf die Herkunft des Papiers, keine Rückschlüsse auf den Absender.

Auch die installierte Telefonüberwachung hatte nichts gebracht, denn es hatte bislang ja keinen Anruf gegeben – nur die beiden anonymen Schreiben.

Ein Techniker der Kripo hatte in den Boden des Koffers mit der ersten Rate einen Peilsender eingebaut, um eine Ortung zu ermöglichen. Vielleicht konnte man auf diese Art etwas erreichen. Falls nicht, musste man 250 Riesen als „außergewöhnlichen Verlust“ abschreiben. Na ja, immerhin hatte er es geschafft, mit dem Inhaber von Moorbräu eine Abmachung zu treffen: er stellte das Geld für die ersten beiden Raten – Moorbräu die anderen beiden Raten.

Obwohl die Polizei angeboten hatte, einen Beamten in Zivil als Geldboten zu stellen, ließ es sich Anton Flohringer nicht nehmen, selbst zu gehen.

„Wenn ich schon mein eigenes Geld hergeben muss, dann will ich es zumindest eigenhändig tun.“

Aus diesem Grund begab er sich am geforderten Tag gegen 18 Uhr 45 in das Wirtshaus ‚Alter Hirsch’, wo er sich an einen Ecktisch setzte. Mit dabei vier Polizisten in Zivil, von denen zwei im Lokal hockten, während die anderen beiden draußen in einem unauffälligen Wagen ganz in der Nähe warteten.

Ferner noch einmal zwei in einem Auto mit Funkantenne, die den Peilsender anpeilen konnte. Zudem horchten sie dank eines kleinen Mikrofons mit, dass man dem Brauereichef an der Brust fixiert hatte. Auf diese Art war die Polizei immer im Bilde, was als nächstes geschehen würde.

Anton Flohringer hatte schon vieles miterlebt. Er hatte die Brauerei vor fast 30 Jahren von seinem Vater übernommen, manche Schwierigkeiten überwunden als auch Erfolge gefeiert. Das alljährliche Herbstfest brachte ordentlich Kohle in die Kasse, trotz der Tatsache, dass es Konkurrenz durch das besagte Moorbräu gab, mit denen man sich aber auf friedliche Koexistenz geeinigt hatte. Es war in der Stadt genügend Platz für zwei Brauereien. Anton Flohringers Sohn arbeitete sich gerade in den Betrieb ein, was einiges an Wirbel verursachte, denn er gedachte die Brauerei „umzugestalten“, d.h. rentabler zu machen, wie er es selbst nannte. Für derartige Bestrebungen hatte der alte Flohringer kein Verständnis. Warum ein Konzept ändern, das seit zig Jahren problemlos funktionierte? Die jungen Spunde von den Hochschulen glaubten, dass sie alles besser wussten, nur weil sie BWL studiert hatten. Dieser Gegensatz zwischen altem Beständigkeitsstreben und modernem Umgestaltungsdrang war seit Jahren die einzige Sorge Anton Flohringers.

Nie zuvor hatte man versucht ihn zu erpressen. Einmal hatte es zwar bereits vor einigen Jahren ein Erpresserschreiben gegeben, doch die Sache war ohne Lösegeldforderung im Sand verlaufen. Offensichtlich ein schlechter Scherz von jemand, der es nicht ernst gemeint hatte. Vermutlich zuviel Bier gesoffen.

Nüchtern lachte er auf. Das passte wie die Faust aufs Auge. Um sich etwas abzulenken, bestellte er sich beim Kellner ein Bier – natürlich nicht ohne sich vorher nach der Herkunft des Bieres zu erkundigen. Da es aus seiner eigenen Brauerei stammte, hatte er keine Bedenken. Das Hopfenwasser der Konkurrenz musste man schließlich nicht auch noch unterstützen. Nachdenkend gestand er sich ein, noch nie in seinem Leben ein Bier der Konkurrenzbrauerei probiert zu haben. Sein Vater hatte ihm immer eingeflößt, sich nicht von der Konkurrenz beeinflussen zu lassen. Diesem Motto war er immer treu geblieben. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierglas. Wir machen schon ein tolles Bier, konnte er sich eingestehen. Aber zum Bier trinken war er eigentlich nicht hierher gekommen. Nervös schaute er immer wieder mal auf die Uhr. Um 19 Uhr sollte die Übergabe stattfinden. Das war es in wenigen Minuten.

Wie mochte die Sache wohl ablaufen? Kam etwa gar ein Mann in die Wirtschaft, der ihn direkt aufforderte, den Koffer zu übergeben? Obwohl ... so schlicht konnte das wohl kaum ablaufen. In den Krimis im Fernsehen lief das meistens viel raffinierter ab.

Das Glas auf dem Tisch leerte sich, so dass der Seniorchef von Flohringer überlegte, sich noch eine zweite Halbe zu bestellen, als plötzlich der Kellner an seinen Tisch trat. „Sie werden am Telefon verlangt.“

Etwas verwunderte folgte er dem Kellner bis zu einem Telefon im Nebenraum, wo er sich schlicht mit „Ja?“ meldete.

„Haben Sie den Koffer mit dem Geld?“ fragte eine künstlich verzerrte Stimme.

„Ja.“ – „Haben Sie auch wie verlangt das Mobiltelefon mitgenommen?“

„Ja.“ – „Gut, dann gehen Sie jetzt Richtung Schloßberg und warten genau in der Mitte der Innbrücke. Haben Sie verstanden?“

„Ja, ich gehe auf die Innbrücke und warte dort.“

Schon hatte der andere aufgelegt. Anton Flohringer zahlte sein Bier um wie ihm geheißen worden war, das Wirthaus Richtung Osten zu verlassen. Die Innbrücke befand sich lediglich einige hundert Meter weiter, so dass er nicht weit gehen musste.

Schon nach wenigen Minuten stand er zentral auf der Brücke.

Weiß der Henker, in welcher Form die Übergabe nun stattfinden würde. Eben als er sich gründlich nach allen Seiten hin umgesehen hatte, klingelte das Funktelefon.

„Ja?“ meldete er sich in Erwartung derselben Stimme wie vorher. Er sollte sich nicht getäuscht haben.

„Hören Sie genau zu – Sie überqueren jetzt die Straße und werfen den Koffer in den Fluss. Danach gehen Sie schnurstracks nach Hause. Wir beobachten Sie, also machen Sie nichts anderes, als was ich gerade sagte. Haben Sie alles verstanden?“

„Ja ... aber wenn ich den Koffer in den Fluss werfe, wie ...“

„Das lassen Sie ruhig unsere Sorge sein“ unterbrach ihn die blecherne Stimme. Weg war die Verbindung.

Wie aufgefordert überquerte er die Straße, was um diese Uhrzeit trotz dreispuriger Fahrbahn ganz gut ging, denn der Berufsverkehr hatte sich schon längst gelegt.

„Ich werfe jetzt den Koffer über die Brüstung“ flüsterte er in das Mikrofon, damit die Polizei Bescheid wusste.

Er hob den Koffer über das Geländer und ließ los. Mit einem lauten Platscher fiel der Behälter ins dunkle Wasser. Vermutlich würden die den Koffer mit einem Boot weiter flussabwärts herausfischen. Na ja, das konnte ihm egal sein. Damit musste sich die Polizei auseinandersetzen. Er hielt sich an die Anweisung und fuhr nach Hause in seine Villa am Stadtrand.

 

*

 

Einige Minuten nach 19 Uhr geschah es endlich: mit einem klar vernehmbaren Klatschen landete ein Gegenstand im Wasser, der mir entgegen trieb. Sofort löste ich mich vom Brückenpfosten um das dunkle Etwas aufzuhalten. Es handelte sich um einen grauen Koffer aus Kunststoff, wie ich im fahlen Mondlicht erkennen konnte. Im Schutze des Kehrwassers des Pfeilers verstaute ich ihn im größeren Aluminiumkoffer und vergewisserte mich noch mal davon, dass dieser auch korrekt geschlossen war. Gewaschelte Geldscheine haben nun mal keinen besonders großen Wert.

Erst dann tauchte ich ab, den Koffer mit seinem wertvollen Inhalt fest an mich gepresst. Die Gewichtsteine knallten gegen meinen Leib, doch wurden sie im Wasser abgebremst, wodurch ich wohl keine blauen Flecken zu befürchten hatte. Selbst wenn – das Schmerzensgeld würde angemessen genug sein, das in Kauf zu nehmen. Die Strömung trieb mich ohne große Kraftanstrengung voran, doch ich paddelte wie ein Wahnsinniger, weil ich möglichst schnell hier weg wollte. Am Ende rasten gerade in diesem Augenblick schon hunderte von Polizisten los um die beiden Flußufer zu sichern. Rund fünf Minuten blieb ich unter Wasser, ehe ich mich zum ersten Mal getraute, kurz aufzutauchen zwecks allgemeiner Orientierung.

Die Innbrücke hinter mir erkannte ich bereits nicht mehr, denn sie lag entweder dunkel im fortschreitenden Nachteinbruch oder aber sie befand sich bereits außerhalb meines Sichtfeldes. Spielte im Detail keine Rolle. Dafür erkannte ich einige hundert Meter voraus jene eigentümliche Baumgruppenanordnung, die ich mir heute Nachmittag eingeprägt hatte:

hier war die Stelle, wo ich aus dem Wasser steigen musste. Gegen die Strömung ankämpfend, paddelte ich zum Ufer. Prustend stapfte ich mit den Flossen ans Land, wo ich auch schon unseren BMW zwischen einigen Bäumen stehen sah. Die Wagentür öffnete sich und Anna stieg aus. „Und?“

„Ich habe den Koffer“ meinte ich nur und hielt ihn triumphierend hoch, die Schnüre mit den Gewichtsteinen aufknöpfend um sie mitsamt ihrer schweren Fracht in den Fluß hinein zu werfen.

„250 000 Euro – ich kann es noch gar nicht fassen“ rief Anna fasziniert, den Koffer wie das achte Weltwunder betrachtend. So schnell es mir gelang, zog ich den Neoprenanzug aus, den ich mitsamt der Sauerstofflasche zurück in den Kofferraum legte. Den Koffer stellte ich auf die Fußmatte des Beifahrers. Nur mit Badehose setzte ich mich auf die Rückbank, auf der mehrere ausgebreitete Handtücher lagen. Damit frottierte ich mich ab, während meine Frau das Auto startete um loszufahren.

140 PS katapultierten den Wagen voran, der eine Höchstgeschwindigkeit von 220 km/h aufweisen konnte.

„Menschenskind – es hat geklappt“ freute sich Anna, vor Begeisterung jubelnd. „Wo sollen wir jetzt hinfahren zum Koffer öffnen? Nach Hause?“

„Keine Ahnung“ bibberte ich, denn mir war vom langen im Wasser stehen sowie schwimmen kalt geworden. „Wasserburg wäre gut, denn da haben wir genügend Zeit um den Inhalt zu prüfen. Außerdem liegt das genau im Norden. Falls die Polizei wirklich einen Sender im Koffer hat – wovon ich ausgehe – dann bekommen die höchstens ein Signal aus Wasserburg. Das liegt ein schönes Stück von unserem Wohnort entfernt, also passt es doch. Wahrscheinlich vermuten die Bullen dann, der Täter stammt aus der Ecke oder aber er flüchtet nach Norden. Das kann uns nur von Vorteil sein.“

„Da hast du Recht. Gut, auf nach Wasserburg.“

Halb im Sitzen, halb im Liegen trocknete ich mich ab um anschließend meine Klamotten anzuziehen, damit ich mich nicht verkühlte. Zu gern hätte ich vorab einen Blick in den Koffer riskiert, aber das konnte ich mir gerade noch verkneifen.

„Was machen wir, wenn da nur Papierstreifen drin sind?“ befürchtete ich das Schlimmste. „Oder wenn beim Aufmachen des Koffers eine Farbbombe hochgeht?“

„Das wird nicht passieren“ beruhigte mich Anna. „Vertrau mir einfach. So blöd können die gar nicht sein uns linken zu wollen. Falls doch, müssen sie das nächste Mal das Doppelte zahlen. Sozusagen als kleine Strafe. Dieses Risiko gehen die nicht ein.“

Die Fahrt nach Wasserburg dauerte etwa eine halbe Stunde, ehe wir endlich auf einem Parkplatz anhielten.

„Jetzt bin ich aber mal gespannt“ meinte ich erwartungsvoll mit dem Koffer auf den Knien. Bevor ich ihn aufmachte, holte ich mir aus dem Handschuhfach das, worauf die Bezeichnung hindeutet, dass dort gelagert wird. Auf dem inneren Koffer wollte ich nämlich keine Abdrücke hinterlassen, denn wir würden ihn achtlos wegwerfen. Zu groß erachtete ich das Risiko, dass wir einen vielleicht darin versteckten Sender nicht fanden und die Polizei auf einmal vor unserer Wohnung stand, nur weil wir zu geizig waren, um einen Koffer wegzuwerfen.

Aufgeregt öffnete ich die Scharniere und holte den grauen Aktenkoffer heraus, der sogar fast trocken war. Ein großer Moment – ich machte ihn auf und mein Blick fiel auf fein nebeneinander gebündelte Geldscheine.

Auch Anna schien sprachlos zu sein. „Wahnsinn!“

Unser Plan hatte geklappt! Freudig fiel mir Anna um den Hals um mich immer wieder zu küssen. „Ich habe dir doch gesagt, da kann gar nichts schief gehen.“

„Trotzdem sollten wir jetzt die Bündel umfüllen – pass auch auf, dass nicht eins davon innen hohl ist. Das habe ich mal in einem Western gesehen, dass ein Priester immer mit einer Bibel herum gelaufen ist, die innen hohl war. Da war dann ein kleiner Revolver drin. So was will ich in unserem Fall nicht mit einem Sender erleben.“

Trotz meiner Bedenken waren alle Scheine echt.

Nach dem Umfüllen in unseren Koffer entledigten wir uns des anderen, indem ich die Autotür aufmachte und ihn einfach nach draußen an den Straßenrand stellte. So einfach ging das.

„Ab nach Hause“ rief ich vergnügt, während ich die nutzlos gewordenen Handschuhe abstreifte. Jetzt waren wir reich!

 

*

 

Daheim angekommen verstauten wir das Geld erst mal in unserem Schlafzimmerschrank, ehe wir mit einer Flasche Rotwein auf unseren Reichtum tranken.

Nun gut, von den 250 Riesen hatten wir beide kaum etwas, denn das würde wohl zum Großteil für die Rückzahlung des Bankkredits draufgehen, aber uns standen ja noch drei weitere solcher „Lieferungen“ bevor. Freilich nicht frei Haus, aber bei solchen Beträgen holt man sich die Päckchen doch gern selbst ab.

Fröhlich prosteten wir uns zu, bis die Flasche leer auf dem Tisch stand.

„Mal eine Frage nebenbei: wie kriegen wir das Bargeld denn auf unser Konto, damit wir es der Bank zurückzahlen können?“ stellte ich eine nicht unberechtigte Frage in den Raum.

„Hmm“ machte Anna. „Am besten tarnen wir das einfach. Wir geben das einfach als Gewinne aus deiner selbstständigen Verkäufer-Tätigkeit von Softwareprodukten aus. Dann fragt auch niemand nach, wenn wir es bar einzahlen. Natürlich nicht bei derselben Bank, wo wir den Kredit bekommen haben. Wir haben doch sowohl bei der Sparda als auch bei der Raiffeisenbank ein Konto. Da zahlen wir einfach jeweils rund 40000 Euro in mehreren Vorgängen ein. Obwohl ... mir kommt grad eine viel bessere Idee: wir fahren lieber nach Lichtenstein, wo wir bei einer dortigen Bank ein neues Konto eröffnen, auf das wir den gesamten Betrag einzahlen. Dann überweisen wir das Geld nach Deutschland und ‚Schwupps’ ist es auf unserem Konto. Mir ist zu Ohren gekommen, dass es die Bänker in Lichtenstein wie

diejenigen in der Schweiz einen Dreck kümmert, woher das Geld stammt. Die sind froh, wenn sie neue Kunden dazugewinnen.“

„Ja, dann machen wir das eben über Lichtenstein. Am besten fahren wir gleich morgen dorthin um das so schnell wie möglich zu erledigen. Recht viel Zeit bleibt uns eh nicht mehr bis zur zweiten Übergabe. Da müssen wir spätestens morgen eh noch mal ein Schreiben mit den Details verfassen.“

„Das hat Zeit bis morgen Vormittag“ zügelte Anna meine Eile. „Weißt du, was wir jetzt machen könnten?“

„Das Geld zählen?“ schlug ich ahnungslos vor.

Anna schüttelte den Kopf, ehe sie mir das halbleere Weinglas aus der Hand nahm und mich mit beiden Armen an der Hüfte umfasste. Anschließend drückte sie ihre Lippen küssend auf meinen Hals. Feucht spürte ich ihre sanfte Zunge auf meiner Haut, die eine feuchte Spur hinterließ.

Wenn ich etwas an Frauen schätzte, dann war es genau das:

die Kombination aus Erotik und Abenteuerlust im alltäglichen Leben. Na ja gut, was heißt „Abenteuerlust“? Im Grunde verstand ich darunter die Bereitschaft zu ungewöhnlichem Handeln in Verbindung mit Unkonventionalität. In Anna hatte ich darin die Personifizierung meines Traumbildes gefunden. Ich hatte daher meine moralischen Hemmungen schnell abgebaut, an der von ihr vorgeschlagenen Erpressung teilzuhaben. Ich tat es für sie, als Demonstration meiner grenzenlosen Liebe zu ihr. Gibt es einen besseren Beweis als das Risiko einzugehen, für immer voneinander getrennt zu werden, wenn man aufflog?

 

*

 

Wie von Anna prophezeit, liefen die Formalitäten in der Lichtensteiner Bank, die wir am Folgetag aufsuchten, recht lässig ab. Geld hin, Kontobuch her, ein freundliches Händeschütteln – schon war diese Sache erfolgreich abgeschlossen, so dass wir uns bald wieder auf den Heimweg machen konnten. Ansonsten gab es in dieser kaum als „Staat“ zu bezeichnenden Region eh nichts zu sehen. Ganz abgesehen davon, waren wir auch nicht zum Urlaub hierher gekommen, sondern um unsere Geldanlagen vollkommen zu machen. Wohl bemerkt alles an der deutschen Steuer vorbei, denn das hatte mir an dem Vorschlag nicht gefallen, die viertel Million Euro als Einnahmen meiner Spielefirma zu deklarieren: dann würde sich das Finanzamt nämlich freuen und uns um die sauer verdiente Lösegeldsumme prellen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: wir hätten ein deutsches Unternehmen erpresst und der deutsche Staat profitiert davon! Das geht natürlich nicht. Auf diese Weise blieben die Moneten ausschließlich in unserem Besitz.

Gegen 14 Uhr kamen wir vergnügt daheim an, wo wir sogleich über die in zwei Tagen anstehende zweite Übergabe diskutierten.

Die Idee mit dem Zug konnte ich Anna nicht austreiben.

„Das ist einfach genial“ erklärte sie. „Dadurch wissen die von der Polizei nämlich nicht, wo die Übergabe stattfindet. Das bedeutet, es hilft ihnen nichts, wenn sie Leute im Zug sitzen haben – die brauchen wenigstens auf einer Seite noch einen Streifenwagen, der natürlich auch nicht immer in unmittelbarer Gleisnähe fahren kann. Das ist unser Vorteil: während die noch versuchen den Ort herauszufinden, wo der Koffer aus dem Zug geflogen ist, sind wir bereits dorthin unterwegs um ihn uns zu schnappen.

Wenn man das aufeinander abstimmt, dann dauert die Aktion höchstens eine Minute. Wir machen das am besten so: ich suche mir irgendwo in Gleisnähe eine Telefonzelle, wo ich den Geldboten anrufe, sobald der Zug vorbeifährt. Du stehst etwa zwei Kilometer weiter neben dem Gleis in Deckung und ich versuche das zeitlich so hinzubekommen, dass dir der Koffer quasi vor die Füße fällt. Deine Aufgabe ist es dann, möglichst schnell den Inhalt umzufüllen und das Weite zu suchen. Das wäre alles.“

„Im Prinzip ist die Idee nicht schlecht ...“ druckste ich herum. „Aber ich sehe durchaus die Gefahr, dass aus der ‚Minute’ eventuell eine viertel Stunde werden könnte. Nämlich dann, wenn ich einen halben Kilometer latschen muss, den Koffer nicht gleich finde oder aber das Umfüllen zu lange dauert.

Ferner: woher willst du wissen, welcher Zug der richtige ist?“

„Das ist doch ganz leicht: so viele Züge fahren nicht zur selben Uhrzeit in dieselbe Richtung. Außerdem kann ich einen Güterzug durchaus von einem ICE oder einem IC unterscheiden. Das ist das geringste Problem. Mein Opa war Lokomotivführer und hat mir viel erzählt. An der Front jeder Lok steht zum Beispiel die Loknummer, mit der man einiges anfangen kann. Das ist überhaupt kein Problem. Die Sache mit dem Auffinden des Koffers ist nicht nur etwas, was dich behindert – es behindert auch die Polizei. Dann suchen wir uns eben einen Streckenabschnitt aus, der mit dem Auto nur schlecht zu erreichen ist, weil er weit abseits von Straßen liegt. Das stellt dann einen Vorteil für uns dar, denn du sitzt eh schon dort irgendwo in der Gegend und zu Fuß schaffst du das auch besser.“

„Das hört sich gar nicht mal schlecht an. Auf der Strecke von Rosenheim nach München gibt es doch mal einen größeren Wald, durch den der Zug fährt. Das wäre doch eine ideale Stelle für unser Anliegen.“

„Allerdings. Ich hole gleich mal den Fahrplan, damit wir uns einen Zug aussuchen können ...“

Sie ging kurz nach nebenan und kehrte mit dem besagten Plan zurück.

„Also“ blätterte sie die richtige Seite auf. „Um 17 Uhr 34 fährt ein Regionalexpress in Rosenheim los. Der kommt ungefähr um 18 Uhr an dem Wald vorbei. Dann postiere ich mich am besten am letzten Bahnhof vor dieser Stelle, damit ich den Geldboten anrufen kann. Oder wäre es vielleicht besser, wenn ich auch mit dem Zug mitfahre? Dann könnte ich vom Zugtelefon aus anrufen ... das wäre natürlich genial.

Obwohl ... nein, das Risiko, das ich entdeckt werde, ist zu hoch.“

„In der Tat. Da könntest du dem Typen genauso gut gleich persönlich sagen, er soll den Koffer rausschmeißen. Wir sollten jetzt übrigens noch den nächsten Brief an die Brauerei verfassen, damit die das rechtzeitig zugestellt bekommen. Du kennst doch die Post – die sind manchmal nicht die schnellsten. Meistens dann, wenn es etwas Wichtiges ist. Das ist Murphys Gesetz.“

„Ja, ich weiß, was du meinst. Aber ich glaube das liegt eher daran, dass man negative Ereignisse dieser Art mit einer wesentlich höheren Gewichtung sieht und die positiven Vorkommnisse daher unterzugehen scheinen.“

„Glaubst du?“ konnte sie mich nicht ganz überzeugen.

„Ja, aber das spielt jetzt auch keine Rolle. Darüber können wir diskutieren, wenn wir die Kohle haben. Dann diktier ich dir am besten wieder den Wortlaut ...

‚Die erste Übergabe erfüllte unsere Erwartungen. In Hinsicht auf die nun kommende, zweite, hoffen wir, dass alles ebenso reibungslos verläuft. Was passiert, falls dies nicht der Fall sein sollte, dürfte Ihnen hinlänglich bekannt sein. Zur am 30.8. stattfinden Übergabe der zweiten Rate erscheinen Sie um spätestens 17 Uhr 10 am Rosenheimer Bahnhof, wo sie sich eine Fahrkarte nach München kaufen. Hierzu steigen Sie in den RE31033, der um 17:34 Uhr abfährt. Weiteres erfahren Sie mittels Mobiltelefon.

gez.

Schwarzer Falke’“

 

Somit hätten wir das auch geschafft. Gemeinsam fuhren wir an einem Postkasten vorbei, wo wir den Brief einwarfen. Im Anschluß daran besuchten wir den Bahnhof von Grafing, denn hier musste der Zug durchkommen. Eine günstig stehende Telefonzelle mit Blick auf die Gleise konnten wir zwar nicht finden, aber sie befand sich in unmittelbarer Nähe. Bei normalem

Schritt-Tempo in exakt eineinhalb Minuten zu erreichen.

Anna sollte sich nämlich dicht an den Gleisen postieren um die Ankunft des Regionalexpresses abzuwarten. Sobald er weiterfuhr, bestand ihre Aufgabe darin, in normaler Geschwindigkeit zur Telefonzelle zu schlendern, von wo aus sie den Geldboten kontaktieren würde. Das hatte den Vorteil, dass etwaige im Zug mitfahrende Polizisten nicht am Grafinger Bahnhof aussteigen würden, weil sie vielleicht wegen des plötzlichen Anrufes vermuteten, eine Kontaktperson der Erpresser befinde sich direkt am Bahnhof. Die zeitliche Verzögerung des Anrufs würde einen solchen Verdacht gar nicht erst aufkommen lassen. Freilich war das schon fast pedantisch, aber besser vorgesorgt als nachgesorgt.

Um die Entfernung des Bahnhofs zum Wald herauszufinden, fuhren wir ein Stück weiter. Grob geschätzt lag der Forst fünf Kilometer Luftlinie entfernt. Bei anzunehmendem Tempo von 100 km/h, die wir anhand der Fahrplanzeiten in Verbindung mit beschleunigungsbedingter Verzögerung berechneten, würde der Zug folglich rund 3 Minuten benötigen. Es würde also zeitlich am besten passen, wenn Anna in der Telefonzelle angekommen noch eine Minute nach Abfahrt des Zuges wartete, ehe sie telefonierte.

Damit war sichergestellt, dass der Koffer wirklich mitten im Wald aus dem Abteilfenster flog – sofern der Geldbote mitspielte, vorausgesetzt. Befriedigt kehrten wir nach Hause zurück, wo wir uns noch einen schönen Fernsehabend machten. Ein Krimi mit üblicher Rollenverteilung: die Polizei ermittelte und die Bösewichter wurden am Ende geschnappt. Das würde Anna und mir sicher nicht passieren.

 

*

 

Am Sonntag führten wir erneut eine Diskussion über unseren Plan. Mir war über Nacht nämlich eingefallen, dass man das zeitlich besser koordinieren konnte, sofern Anna mich anrief, sobald der Zug den Bahnhof verließ. Sobald ich ihn daraufhin kommen sah, sollte Anna den Boten anrufen und ich wusste, dass der Abwurf kurz bevor stand. Zudem konnte ich mich dann in eine Richtung konzentrieren und musste nicht – im schlechtesten Fall – zwei Seiten absuchen, eben weil mir nicht genau bekannt war, wann denn nun der Abwurf erfolgte. Vor meiner aktuellen Position oder nachher.

Das sah auch meine Gefährtin ein, so dass wir es wie besprochen umänderten. Uns zwei konnte wahrlich niemand gefährlich werden. Gemeinsam waren wir unschlagbar.

Im Wohnzimmer sitzend schauten wir uns einen Reiseprospekt von Kalifornien an, den ich tags zuvor in einem Reisebüro in der Stadt mitgenommen hatte. Dort mussten wir unbedingt mal Urlaub machen, sobald die Angelegenheit hier vorüber war. Strand, Sonne, surfen, Beach Boys, die Straßen von San Francisco (Krimiserie), endlose Hauptstraßen, palmengesäumte Promenaden ... Hotels mit fünf Sternen.

Uns konnte es ja egal sein, dass dort momentan Arnold Schwarzenegger das Amt des Gouverneurs innehielt. Als Bürger wäre mir das sicher nicht egal, aber als Tourist spielte das keine bedeutende Rolle.

Abends besprachen wir noch mal in Ruhe die Details unseres Plans, den wir nicht mehr weiter verbessern konnten. Aus unserer Sicht betrachtet schien er perfekt zu sein.

Nach einer gemütlichen Nacht faulenzten wir am anderen Tag ziemlich lange, so dass wir kaum etwas Produktives zustande brachten. Machte allerdings nichts, denn Geld „verdienen“ würden wir heute noch mehr als genug. Frühzeitig um 16 Uhr brachen wir auf, damit wir noch genügend Freiraum hatten. Schließlich musste ich ein schönes Stück zu Fuß in den Wald gehen sowie eine gute Position ausfindig machen, wo ich den Zug frühzeitig sehen konnte, auf der anderen Seite aber selbst nicht auffiel. Anna hatte es da ein wenig leichter, denn sie wusste aus dem Fahrplan, wo der betreffende Zug anhielt und konnte sich danach richten.

Um mir eine all zu lange Wanderung zu ersparen, fuhr mich Anna bis zum Rand des Waldes, wo ein kleiner Fußweg für Wanderer in den Forst hineinführte. Ich küsste meine Ehefrau zum Abschied und sie wünschte mir Hals- und Beinbruch, ehe sie umdrehte um zurück zum Bahnhof zu fahren. Sie würde mich exakt an dieser Stelle abholen kommen, sobald ich den Geldkoffer abgefangen hatte. Verträumt sah ich dem blauen BMW noch nach, bis er aus meinem Sichtbereich verschwunden war. Nun war ich auf mich allein gestellt. Um zu den Schienen zu gelangen, musste ich dem Feldweg in den Wald hinein folgen. Hierfür hatte ich allerdings reichlich Zeit übrig, so dass ich mir in aller Ruhe in den Sichtschutz einer Baumgruppe am äußersten Waldrand begab, die etliche Meter von den Gleisen entfernt stand und optimale Tarnung bot.

Aus taktischen Erwägungen hatte ich diese Stelle gewählt. Erstens sah ich den entgegenkommenden Zug auf diese Art schneller und zweitens war dadurch die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass ich allzu weit in den Wald hinein gehen musste, wenn ich den Koffer suchte.

Der kleine Pfad, auf dem ich hierher gekommen war, mündete etwa zweihundert Meter hinter mir, den ich auch auf dem Rückweg nehmen wollte. Mir erschien die Gefahr zu groß, blindlings durch den Forst zu laufen.

Da ich wenig Lust verspürte, die ganze Zeit herumzustehen, setzte ich mich in den weichen, bemoosten Waldboden. Den Aluminiumkoffer hatte ich ebenfalls mitgenommen, da es wohl nicht verkehrt sein konnte, das Geld gleich umzuladen. Schon aus Sicherheitsgründen bezüglich eines Senders. Der Polizei traute ich alles zu. Nun gut, wir wussten nicht sicher, ob sie die Brauerei überhaupt eingeschaltet hatte, aber wir gingen stark davon aus. Welcher Unternehmer würde die im Falle einer Erpressung nicht kontaktieren? Höchstens einer, der entweder ein berechtigtes Interesse daran hatte, das davon nichts bekannt wurde, etwa aus Prestigegründen oder weil er selbst Dreck am Stecken hatte. Diese beiden Gründe schieden in unserem Fall aber mit Sicherheit aus.

Gegen 17 Uhr 20 brauste von rechts (also aus Richtung München kommend) ein Güterzug vorbei, der fast ausschließlich mit Tankwaggons bestückt war. Der sich entfernende Zug hallte noch lang als Echo im Forst nach. Ein erstaunliches akustisches Phänomen. Interessant, was einem alles so auffällt, wenn einem langweilig ist. Eine viertel Stunde später folgte ein IC, der in dieselbe Richtung fuhr.

Wie spät war es denn jetzt? Ein Blick auf die Uhr ... 17 Uhr 38.

Der betreffende Zug musste also inzwischen in Rosenheim abgefahren sein. Mal schauen, wann ich den Anruf von Anna erhalten würde. Hoffentlich dauerte das nicht mehr all zu lange. Zur Ablenkung strich ich mit der Hand über die Moosfläche um mich herum. Weich. Fühlte sich richtig kuschelig an. A propos kuschelig – wenn dies alles hier vorbei war, würde ich mit Anna in Urlaub fahren. Nach Kalifornien.

Das Land der Träume ... mit viel Geld im Gepäck würde es das für uns sein. Endlich piepte mein Mobiltelefon in meiner Tasche. „Ja?“ spazierte ich ein paar Schritte auf das Gleis zu, damit ich den Zug so frühzeitig wie möglich kommen sah.

„Der Zug ist gerade abgefahren. In spätestens einer Minute dürftest du ihn in der Ferne erkennen. Ist ansonsten alles in Ordnung bei dir?“

„Klar. Ein bisschen Muffensausen habe ich schon, aber das ist vielleicht grad der Reiz daran. Hast du beim Halt des Zuges irgendwas Verdächtiges bemerkt?“

„Nein. Was sollte mir denn aufgefallen sein?! Polizisten habe ich keine gesehen, aber die wären dann auch ziemlich schlecht ...“

„Ich meine ja nur. Vielleicht ist dir was komisch vorgekommen oder was weiß ich. Jedenfalls nehme ich stark an, dass da in dem Zug mehrere Zivilpolizisten sitzen ... du, ich sehe den Zug. Bis später!“

Ich legte auf, damit Anna ihren Anruf tätigen konnte. Hoffentlich dauerte das nicht zu lange, damit der Koffer bald aus dem Abteil

flog und ich nicht mehr eine Ewigkeit die Gleise ablaufen musste.

Um nicht gesehen zu werden, verzog ich mich wieder in den Schutz der Baumgruppe, in der ich mich niederkauerte.

Die Lokomotive brauste mit einem – von meinem Standpunkt aus gesehen – Affenzahn vorbei und entfernte sich rasch. Hastig kam ich aus meiner Deckung hervor um die Strecke abzulaufen. Irgendwo hier musste der Koffer liegen ... sofern alles glatt gelaufen war. Gehetzt rannte ich auf dem rechten der beiden Schienenstränge entlang, wobei ich beide Seiten absuchte, weil ich nicht wusste, in welche Richtung der Koffer liegen würde. Nach etlichen Minuten entdeckte ich einen Gegenstand am Rand, dem ich mich rasch näherte. Zweifelsohne ein Koffer. Als ich an der Stelle angekommen war, öffnete ich ihn – er war gefüllt mit gebündelten Scheinen. Schnell warf ich sie in unseren eigenen Koffer um im Laufschritt zum Fußweg zu rennen, der zurück zur Straße führte, wo Anna wohl schon auf mich wartete. Völlig außer Atem erreichte ich den Waldrand, von wo aus mir auch schon unser blauer BMW auffiel. Mit schnellen Schritten überwand ich die restliche Distanz und öffnete die Beifahrertür.

„Schnell weg hier“ keuchte ich.

Es dauerte eine Weile bis mein Atem wieder normal ging. Diesmal fuhren wir direkt nach Hause, wo wir uns erneut die Mühe machten, das Geld abzuzählen. Man hatte uns wiederum nicht betrogen. Fröhlich öffneten wir wieder eine Flasche Wein, denn dieser grandiose Abschluß des Tages musste gebührend gefeiert werden.

 

*

 

Hauptkommissar Kreuzer stemmte die Fäuste in die Hüften. Schon wieder waren ihm sowie seinen Leuten die Erpresser entwischt. Wer konnte auch damit rechnen, dass so etwas geschehen würde? Klar, er hatte durchaus angenommen, dass die Übergabe eventuell gar nicht im Zug selbst stattfinden könnte, sondern quasi „daneben“. Aus diesem Grund hatte er extra einen Streifenwagen beauftragt dem Zug zu folgen, so gut dies eben ging. Leider führte keine Straße direkt an den Gleisen entlang, sondern man näherte sich ihnen lediglich bis auf eine gewisse Entfernung. Die drei Männer im Zug selbst hatten nicht viel unternehmen können, als die Aufforderung an den Geldboten per Telefon kam, den Koffer mit dem Geld aus dem Fenster zu werfen.

Die eiligst von der Sache unterrichteten Beamten im Streifenwagen brauchten zwar nur wenige Minuten bis zu der besagten Stelle, fanden dort jedoch keinerlei Spuren mehr. Damit war die zweite Chance vertan, den Erpressern auf die Schliche zu kommen. Doch das nächste mal würde sich das Blatt wenden ...

Grimmig fuhr Kreuzer unverrichteter Dinge zur Polizeidienststelle zurück. Nein, bei der nächsten Übergabe würde er sich etwas ganz Raffiniertes einfallen lassen. Noch einmal sollten diese Kerle nicht ungeschoren davon kommen!

 

*

 

Am Tag danach lagen wir gerade noch zu zweit im Bett, weil wir zu faul zum Aufstehen waren, als mich Anna anredete. „Fällt dir was ein, wie wir die dritte Rate in Empfang nehmen sollen?“

„Die soll man einfach auf unser Konto überweisen“ brummte ich müde. Erst nach einiger Zeit konnte mich Anna mit zärtlichen Küssen dazu „überreden“ aufzustehen. Seit jeher war ich ein Morgenmuffel, was mich jedoch nicht weiter störte.

Beim Frühstück gab es nur ein Gesprächsthema: die Übergabe in zwei Tagen. Eigentlich war ich noch zu müde um mich jetzt darüber zu unterhalten, aber falls die Aktion zeitlich wie geplant steigen sollte, dann mussten wir heute noch den Erpresserbrief abschicken. Freilich brauchten wir dann auch noch konkrete Daten, die wir übermitteln konnten. Insbesondere also den genauen Übergabeort.

„Wie wäre es mit dem Stadtpark?“ fiel mir spontan ein.

„Aus welchem speziellen Grund?“ hakte meine liebe Ehefrau gleich nach.

„Nun ja, also erstens weil der recht zentral gelegen ist und gute Möglichkeiten zum Abhauen bietet. Schräg gegenüber ist gleich der Karstadt – da kann man jeden Verfolger problemlos abschütteln. Erst recht, wenn man vorgesorgt hat.“

„Ach du meinst, einer von uns wartet in der Toilette im Karstadt mit unauffälligen Klamotten in der Tüte, die der andere dann anzieht um anschließend die Flucht durchzuführen?“

„Ja, so in etwa stellte ich mir das vor.“

„Der Haken ist bloß der, ob man überhaupt so weit kommt. Eventuell macht die Polizei einen Ring um den Park, durch den man dann nicht so einfach hindurch schlüpfen kann.“

„Das ist richtig. Deshalb dachte ich auch an ein kleines Ablenkungsmanöver. Wir drücken einfach einem Passanten einen Schein in die Hand mit der Bitte, uns einen Koffer abzuholen. Falls der geschnappt wird, macht es nichts und falls nicht, dann sind wir gleich im Karstadt drin, weil wir davor warten.“

„Nicht wir - du!“ korrigierte Anna.

„Wieso muss eigentlich ständig ich das Geld holen?“ fragte ich unwillig, weil ich ein bisschen Muffensausen hatte.

„Weil du schneller laufen kannst als ich. Außerdem sind deine Möglichkeiten einer Verhaftung zu entgehen reichhaltiger als meine. Wer von uns beiden hat denn zwei Jahre lang Judo gemacht? Wer war bei der Bundeswehr?“

„Das stimmt schon, aber ... gut, dann mache ich es halt diesmal auch noch. Wie schmuggeln wir den Geldkoffer eigentlich aus der Toilette raus, nachdem ich mich umgezogen habe?“

„Entweder nehmen wir ihn mit und hoffen, dass wir durchkommen oder wir lassen ihn einfach über Nacht im Kaufhaus. Das wäre überhaupt eine gute Idee. Die Polizei wird sicher die ganze Gegend abriegeln und vor allem nach einem Mann mit Koffer Ausschau halten. Ein Paar hingegen wird denen sicher nicht weiter auffallen.“

„Gute Idee“ lobte ich. „Wo willst du den Koffer verstecken? Etwa neben dem Waschbecken in der Toilette?“

„Nicht unbedingt. Eher in der Lederabteilung bei den Koffern ...“

„Dann empfiehlt es sich wohl wieder unseren eigenen Alu-Koffer mitzunehmen. Falls das vom Format geht, stecken wir den Geldkoffer einfach da rein und deponieren ihn zwischen den anderen Koffern im Kaufhaus. Dann müssen wir am Tag drauf nur möglichst früh erscheinen um ihn wieder mitzunehmen.“

„Allerdings. Nicht dass noch jemand unseren Koffer kaufen will“ witzelte Anna. "Sehr gut, dann schreiben wir am besten gleich das Brieflein an die geduldigen ‚Geldgeber’ von der Brauerei.“

Sinngemäß forderten wir den Geldboten auf, am Donnerstag, den 2. September in den Salingarten zu kommen, wo er um 19 Uhr 30 den Koffer vor dem dortigen Kultur- und Kongresszentrum, wo beispielsweise Veranstaltungen wie Theaterstücke stattfanden, ablegen sollte. Daraufhin hatte er sich zu entfernen.

Den Brief gab meine bessere Hälfte noch am selben Tag auf, während ich schon mal mit der Zubereitung des Mittagessens begann.

 

*

 

Die Sekretärin von Harald Siegreicher kam am frühen Vormittag in sein Büro um ihm wie immer die persönlich adressierte Post zu bringen.

„Es ist wieder ein Brief von unserem Fischers Fritze dabei ...“ erwähnte sie nebenbei. Ihr Vorgesetzter schaltete seinen Bildschirm aus um sich sofort dem auf den Tisch gelegten Brief zu widmen.

„Informieren Sie bitte den Herrn von der Polizei, Frau Dörflein.“

Bei mittlerweile schon zwei Übergaben hatte die Polizei zwar nicht besonders viel erreicht, aber aller guten Dinge sind im Volksmund drei. Ihm persönlich war es eh egal, ob man die Typen fasste oder nicht. Er wusste nur über eins Bescheid: wenn es keine Komplikationen auf dem Herbstfest gab, dann würde die Brauerei einen Gewinn von knapp 2 Millionen einfahren. Was zählten da schon die lumpigen 500.000, mit der man sich am Lösegeld beteiligte? Nun gut, besonders gut sah das in der Bilanz nicht aus, aber immer noch besser als ein massiver Absatzeinbruch auf Grund eines Sprengstoffanschlags. Solange er sein Gehalt bekam, war ihm aber selbst das gleichgültig. Die Hauptsache ist doch, das Konto stimmt, was schert es einen denn, wer in die Luft fliegt oder nicht? Jeder muss doch mal sterben …

Soeben trat der Herr von der Polizei herein, der sich nach seiner Erklärung bezüglich des neu eingetroffenen Erpresserbriefes, eingehend mit dem Schriftstück befasste, das Siegreicher auf Anweisung der Polizei nicht geöffnet hatte um keine etwaige vorhandenen Spuren zu zerstören.

Aufmerksam las Hauptkommissar Kreuzer, der Handschuhe trug, die Zeilen durch. Diesmal sollte das Geld im Stadtpark übergeben werden. Zumindest sah es ganz danach aus, denn er las auch die Aufforderung, den Koffer vor dem KuKo (Kultur- und Kongresszentrum) abzulegen. Das konnte nur heißen, dass man keinerlei weitere Spielchen zu veranstalten plante.

Offenbar waren sich die Erpresser inzwischen recht sicher, dass die Polizei nicht eingeschaltet worden war und sie nichts zu befürchten hatten, weil die Brauerei zahlen wollte (und es auch tat). Jedenfalls schien ihm die Gelegenheit gekommen zu sein, die Kerle endlich einzusacken. Er steckte den Brief für die Laboruntersuchung in eine Tüte in seine Jackentasche, bevor er das Gebäude verließ um persönlich bei der Spurensicherung vorbeizuschauen.

 

*

 

Nachdem wir uns am Mittwoch Nachmittag gründlich im Karstadt umgeschaut hatten, konkretisierten wir die Durchführung unseres Plans:

um 19 Uhr 25 würde ich in Verkleidung mit angeklebtem Vollbart aus dem Fasching, mit tief ins Gesicht gezogenen Hut sowie einem grauen Regenmantel einen Passanten ansprechen, ob er mir einen Gefallen tun konnte. Falls er mir den Koffer abholen würde, dann bekäme er von mir 100 Euro. Für den Fall, dass er darauf einging und seine Aufgabe erfüllte, stand ich mit dem Koffer bereits direkt vor einer Säule des Karstadt-Gebäudes.

Als nächstes würde ich in den Karstadt hinein rennen und über das Treppenhaus bis in den dritten Stock gelangen, wo ich sofort das WC aufsuchen würde, um mich umzuziehen, während Anna den Koffer umpackte und in der Abteilung direkt vor der Tür unter den Koffern versteckte.

Anschließend würden wir zusammen oder einzeln unauffällig das Kaufhaus verlassen. Lieber einzeln, weil uns dann im schlimmsten aller Fälle niemand beweisen konnte, dass der andere mitgemacht hatte.

In Gedanken nahm ich mir noch vor, meine Glock 17, die ich mir während meiner Studentenzeit bei einem Kurzurlaub in Tschechien illegal gekauft hatte, mitzunehmen. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gefühl – konnte nicht schaden, wenn ich zusätzlich auf die Kraft der 9mm-Pistole vertraute. Zumindest würde ich mich wesentlich besser fühlen, denn falls etwas schief gehen sollte, konnte ich uns adäquat verteidigen.

 

Am Donnerstag schließlich zogen wir in der genannten Maskerade los um mit dem Auto in die Nähe der Fußgängerzone zu fahren, denn dort gab es ein großes Parkhaus. Kostete auch nicht besonders viel, den Wagen eine Stunde stehen zu lassen. Länger würden wir wohl kaum brauchen. Danach marschierten wir durch die Fußgängerzone. Der Karstadt ist da nämlich gleich in der Nähe, genauer gesagt am südlichen Ende. Vor dem Kaufhaus, das nach dem Umbau vor einigen Jahren viel von seinem „Betonbunker“-Image verloren hatte, trennte sich Anna von mir.

Meine Uhr zeigte 19:16 Uhr an. Demnach blieb sogar noch ein bisschen Zeit um die Gegend zu sondieren. Wie ein harmloser Passant spazierte ich die Straße entlang, die sich unmittelbar an die Seite des Parks anschmiegte. Interesse heuchelnd blieb ich wiederholt vor diesem oder jenem Schaufenster stehen um mich unauffällig ein wenig umzuschauen. Sah ganz normal aus.

Das gefiel mir überhaupt nicht. Irgendwo musste doch hier die Bullerei stecken. Soviel Glück konnten wir doch gar nicht haben, dass man wegen uns die Polizei nicht verständigt hatte.

Nach einer Runde bis zum Sporthaus Karstadt drehte ich um, wobei ich diesmal jedoch den Weg auf der anderen Straßenseite wählte. Auf diese Art sah ich besser, wer sich so alles im Park herumtrieb. Außer einer herumlungernden Gruppe Penner, die friedlich ihr Bier zusammen tranken, fiel mir niemand besonders auf. Ein älterer Herr machte einen kleinen Spaziergang, ein Ehepaar stand Arm in Arm vor den zur Schau gestellten Bronze-Statuen – obwohl ich mir in diesem Moment gar nicht sicher war, ob sie wirklich aus Bronze bestanden. Jedenfalls waren es irgendwelche Kunstwerke aus einem Gussmaterial, die da herum standen.

Unbemerkt gelangte ich zurück zum Eingang des Karstadt, wo ich mich neben eine der tragenden Säulen stellte.

Langsam aber sicher wurde es Zeit jemanden anzuquatschen.

Ein Jüngling mit 3-Tage-Bart kam mir gerade recht. Der sah so aus, als würde er Geld brauchen.

„Entschuldigung“ trat ich vor ihn hin. „Wollen Sie sich 100 Euro für einen kleinen Gefallen verdienen?“

„100 Euro? Wofür?“ zierte er sich, wobei er mich schräg ansah.

Offenbar witterte er, dass irgendwas im Busch war.

„Also das ist so“ erklärte ich umständlich. „Meine Frau ist der Ansicht, ich würde sie mit einer Arbeitskollegin von mir betrügen. Das stimmt zwar, aber ich will jedoch nicht, dass sie dahinter kommt. Heute Abend habe ich mich mit meiner Geliebten im Park verabredet, weil sie mir noch mein Geburtstagsgeschenk geben wollte. Sie hat nämlich ein paar Klamotten für mich gekauft, die ... aber das tut jetzt nichts zur Sache. Jedenfalls wollte sie mir die zusammen mit meinen Hausschlüsseln geben, weil ich die bei ihr vergessen habe. Vor fünf Minuten jedoch hat sie mich auf dem Mobiltelefon angerufen, denn sie hat festgestellt, dass meine Frau sie verfolgt.

Jetzt wäre es natürlich schlecht, wenn meine Frau mich mit ihr zusammen sieht. Aus diesem Grund haben wir vereinbart, dass sie den Koffer mit meinem Zeug direkt vor dem KuKo abstellt. Soweit so gut. Allerdings traue ich meiner Frau zu, dass sie wartet, wer den Koffer mitnimmt. Stichwort: mich sollte sie dort lieber nicht sehen. Das ist genau das, was sie für mich tun sollen:

bringen Sie mir den Koffer hierher. Das ist alles. Das ist mir wie gesagt 100 Euro wert. Sie müssen mich verstehen: wenn sich meine Frau von mir scheiden lässt – unser Ehevertrag ist nicht zu meinen Gunsten ausgelegt.“

Ein verständiges Grinsen glitt über das Gesicht des Fremden.

„Na, da helfe ich doch gern. Wo steht der Koffer noch mal?“

„Schräg gegenüber am Ende des Parks direkt neben dem Eingang des KuKo. Zumindest hat mir das meine Geliebte so am Telefon gesagt.“

„Alles klar. Halten Sie schon mal den 100er bereit.“

Als er im Park verschwunden war, zog ich mich circa hundert Meter seitwärts Richtung Sparkasse zurück. Auf diese Art hatte ich den Eingang vom Karstadt noch gut im Blick, musste aber auf der anderen Seite nicht mit einer Überraschung rechnen. Beispielsweise, wenn die Polizei den gutwilligen Kofferkurier verhaftete und er ihnen den Mann zeigen wollte, der ihn dazu beauftragt hatte, den Koffer zu holen. Wenn ich ihn mit Koffer zurückkommen sah, dann wusste ich, dass alles in Ordnung war und würde eiligst zu ihm hinrennen um den Tausch „100er gegen

Koffer mit 250.000“ vorzunehmen. Natürlich konnte ich mir selbst dann nicht hundertprozentig sicher sein, dass es keine Falle war. Soviel Kaltblütigkeit, dass man den Burschen nach seiner Verhaftung ohne langes Trara mit dem Koffer herumlaufen ließ, traute ich der Polizei jedenfalls nicht zu.

Sofern der Typ nicht länger als fünf Minuten brauchte um mit dem Koffer zurückzukehren, konnte ich davon ausgehen, kein allzu großes Risiko einzugehen. Freilich musste ich damit rechnen, dass ganz in der Nähe einige Polizisten in Zivil die Szene observierten, doch bis auf Tuchfühlung konnten die eigentlich noch gar nicht heran sein. Das würde ausreichen, um mir einen Vorsprung zu gewähren, der groß genug war.

Nervös fixierte ich meine Uhr um abwechselnd die fortschreitenden Sekunden bzw. die Straße zu beobachten. Wo blieb der Kerl nur? Soeben waren die 5 Minuten voll. Wenn er jetzt nicht bald kam, musste offenbar etwas passiert sein. Schon befürchtete ich, die Aktion vorzeitig abbrechen zu müssen, doch dann entdeckte ich den 3-Tage-Bart-Jüngling über die Straße eilen. Geschwind setzte ich mich in Bewegung.

„Da hat mich einer nach dem Weg gefragt“ entschuldigte ich mein plötzliches Verschwinden. „Der hat nicht kapiert, wo die Sparkasse ist, deshalb musste ich es ihm genauer zeigen.“

Aus meiner Jackentasche holte ich den bereits parat gehaltenen 100 Euro-Schein hervor, den ich dem Burschen gab. Er übergab mir daraufhin den Koffer und wünschte mir noch viel Spaß oder so ähnlich. Jetzt durfte ich aber keine Zeit mehr verlieren.

Im Laufschritt tigerte ich in den Karstadt hinein, schlängelte mich durch einige alte Omas hindurch, die selbst um dreiviertel acht noch Konsumgeil waren, vorbei an den Süssigkeiten über die Rolltreppe in den ersten Stock, wo ich hastig über die Schulter nach hinten schaute. Irgend jemand lief mir da hinterher – für soviel hatte der kurze Blick gereicht. Das spornte mich weiter an, so dass ich noch einen draufsetzte.

Aus dem Gedächtnis fand ich die schnellste Strecke zum Treppenhaus, dass ich schwer atmend hochdackelte, wobei ich drei Stufen auf einmal nahm und dennoch den Eindruck hatte, kaum vom Fleck zu kommen.

Tür auf, rein in den dritten Stock, um die Ecke, da steht schon Anna – schnell den Koffer hingestellt, ihr die Tüte abgenommen, Tür auf und rein ins WC. In der erstbesten Toilettenkabine sperrte ich mich ein um mich anschließend umzuziehen. Also den Regenmantel aus, Bart ab, ebenso den Hut und stattdessen eine helle Jeansjacke angezogen, schwarze Sonnenbrille lässig über die Stirn geklemmt sowie den Rest in die Tüte gestaut, die ich in die Hand nahm, als ich das WC verließ. Mit einer Karstadt-Tüte würde ich sicher nicht sonderlich auffallen. Mein Herz schlug ziemlich schnell, als ich mich dazu zwang, ohne Eile durchs Kaufhaus zu schlendern. Wahllos ergriff ich eine Lederhandtasche sowie einen Geldbeutel, den ich an der Kasse bezahlte. Nur nicht auffallen. Zwei vorbeilaufende Männer beachtete ich gar nicht, aber mein Herz schlug höher, denn ich ahnte, dass es sich bei ihnen um Polizeibeamte handelte. Meine Karstadttüte gut sichtbar in der Hand haltend, blieb ich stehen um einen Lederkoffer zu begutachten. Vorsichtig ließ ich meinen Blick schweifen. Mein Instinkt sollte mich nicht getäuscht haben. Die beiden Männer machten in der Tat den Eindruck, als würden sie jemanden suchen. Wenn die wüssten, dass sie bis auf dreißig Zentimeter an mich herangekommen waren …

Anschließend begab ich mich zielstrebig zur Rolltreppe, mit der ich bis ins Erdgeschoß fuhr. Als ich draußen auf der Straße stand, fiel mir ein Stein vom Herzen. Mit etwas schnellerem Schritt-Tempo steuerte ich das Parkhaus an, wo unser BMW stand.

Zu meiner Beruhigung saß Anna bereits wartend im Wagen.

Erleichtert stieg ich ein, wo wir uns erst mal innig küssten.

„Wie ist es bei dir gelaufen?“ fragte ich sie neugierig.

„Problemlos. Ich habe den Geld-Koffer in unseren Alu-Koffer gesteckt und einfach irgendwo unter die anderen Lederkoffer dazwischen geschoben. Dann bin ich hinausgegangen, wobei mir ein paar Männer aufgefallen sind, die sich suchend umgeschaut haben. Vermutlich Polizisten in Zivil. Die haben dich wohl nicht gefunden. Solche Versager!“

Lächelnd strich sie mir übers Gesicht.

„Wir sind eben zu genial für die“ bemerkte ich beifällig, ehe ich lässig Gas gab.

 

*

 

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker bereits um 7 Uhr 20. Unwillig bemerkte ich, wie Anna aus dem Bett aufstieg. Mir war klar, was sie vorhatte. Trotzdem missfiel mir, dass sie ausgerechnet jetzt schon hatte aufstehen müssen. An wen sollte ich mich denn jetzt kuscheln, wenn sie nicht mehr neben mir lag? Sie hatte mir am Vorabend erörtert, dass sie heute Morgen allein zum Karstadt fahren wollte, um das Geld zu holen.

Jetzt war ich direkt dankbar darüber, denn ich war ziemlich müde und schlief kurz darauf noch mal ein.

Gegen 10 Uhr erwachte ich schließlich endgültig. Mein erster Blick fiel auf Anna. Sie hatte sich offensichtlich erneut zu mir ins Bett hergelegt, nachdem sie wieder zurückgekommen war. Vor dem Schrank stand – unser Aluminiumkoffer.

Als ich unwillkürlich meinen Arm bewegte, öffnete Anna die Augen. „Guten Morgen.“

Offensichtlich hatte sie gar nicht mehr geschlafen, sondern nur noch etwas neben mir gedöst. Nun ja, wenn ich eben eine viertel Million abgeholt hätte, dann könnte ich vermutlich auch nicht mehr schlafen.

„Hast du den Koffer schon aufgemacht?“ fragte ich sie.

„Ja. Dazu bin ich extra nach Kiefersfelden hinuntergefahren. Dort habe ich auch den Lederkoffer weggeworfen. Wer weiß ... vielleicht sucht augenblicklich grad ein Streifenwagen nach dem genauen Peilort.“ Sie lachte leise.

„Wo hast du den Koffer denn hingetan?“ wunderte ich mich.

„Ich habe ihn in den Inn geworfen.“

Da konnte die Polizei in der Tat lange suchen.

„Gehen wir heute Mittag mal richtig essen?“ schlug ich vor. „Geld haben wir momentan wohl genug. Außerdem haben wir uns das mal verdient.“

„Können wir gern machen. Zum Italiener? Oder lieber bayrisch?“

„Letzteres. Ich habe spontan Lust auf Jägerschnitzel mit Spätzle und Schwammerl (Pilze).“

Also fuhren wir in die Stadt zu einem Wirtshaus namens „Beim Schos“. Das ist auf gut bayrisch der Georg oder Schorsch.

In der guten, alten, bayrischen Bauernwirtschaft gab es alles an kulturellen einheimischen Genüssen, die man sich vorstellen kann. Leberkäse, Weißwürste, Schweinswürste, Wollwüste und was es sonst noch alles an Würsten gibt.

Darüber hinaus stimmten die Portionen als auch die Preise, die im Vergleich zur Qualität anderer Gaststätten im unteren Bereich angesiedelt waren.

Aber es gibt immer wieder Leute, die gern etwas mehr zahlen. Vielleicht sind sich manche auch zu fein, in einer ordinären bayrischen Wirtschaft zu speisen. Wäre natürlich auch möglich. Nach einem deftigen Mittagsmahl tranken wir noch ein zweites Bier, ehe wir auf Annas Wunsch hin zu einem Spaziergang hinaus zum Simssee fuhren. Dieser gestreckte, ungefähr 4 Kilometer lange sowie in der Mitte etwa 1,5 Kilometer breite See liegt kaum eine viertel Stunde außerhalb von Rosenheim.

Wir parkten den Wagen auf einem kleinen Parkplatz bei Baierbach, wo es in der Regel nicht ganz so voll wie auf der Gegenseite war, wo stets Hochbetrieb herrschte.

Nun ja, zumindest hatte ich das noch irgendwie so aus meiner Kindheit in Erinnerung. Heute wurlte es zumindest ganz schön, wie in einem Ameisenhaufen. Konnte uns jedoch nicht weiter stören, denn wir bogen eh in einen kleinen Wanderweg ein, dessen von Schilf gesäumtem Verlauf wir folgten.

„Weißt du, warum ich unbedingt hierher fahren wollte?“ fragte mich Anna mit einem kurzen Seitenblick.

„Weil es hier schön zum Wandern ist?“ vermutete ich.

„Das auch. In erster Linie aber, weil das hier ein guter Platz für die letzte Übergabe ist.“ – „Aha?!?“

„Ich erkläre dir meinen Plan daheim in allen Details. Zuvor muss ich mir das aber noch mal ganz genau durch den Kopf gehen lassen. Genießen wir folglich erst mal das schöne Wetter.“

Zwar neigte sich der Sommer langsam seinem verdienten Ende entgegen, doch noch immer konnte man die Temperatur als angenehm bezeichnen. Bald würde die Jahreszeit der Stürme losgehen – der windige Herbst. Nur gut, dass wir zu diesem Zeitpunkt wohl Urlaub in Kalifornien machen würden. Dann konnte uns das nasse Wetter kreuzweise.

Als wir zu Hause ankamen, telefonierte ich gleich mit dem Reisebüro, aus dem ich den Prospekt bekommen hatte und bestellte zwei Flugkarten auf meinen Namen respektive den meiner Frau sowie einen Mietwagen ab Flughafen San Francisco, denn ohne Auto ist man in den USA bekanntlich ziemlich aufgeschmissen. Bei den enormen Entfernungen, die es da zu überbrücken galt, kam man zu Fuß nicht sehr weit. Ferner wollte ich es mir nicht nehmen lassen, einmal mit Karacho über die buckeligen Straßen der Stadt zu donnern, so dass man nach einem Sprung wieder mit einem Rumpeln aufsetzte – das erinnerte mich doch gleich an diverse Krimiserien, die in der von spanischen Missionaren gegründeten Stadt spielten. Ursprünglich hieß der Ort nämlich „San Francisco di Asis“ in Anspielung auf den Heiligen Franz von Assisi. So änderten sich die Zeiten, denn heutzutage gab es in der nach dem christlichen Heiligen benannten Stadt Drogenhandel und ein Rotlichtviertel.

Konnte uns natürlich egal sein, weil wir damit sicher nicht in Berührung geraten würden. Wir wollten uns lediglich erholen.

Der Mann am Telefon versprach bis Mittwoch, den 8. September alles in die Wege leiten zu können. Unser Flug ging um 11 Uhr 20 vom Flughafen München Erding.

Anna telefonierte ebenfalls kurz, wobei ich nicht mitbekam, worüber sie sprach, weil ich im Wohnzimmer saß. Einige Minuten später kam sie zu mir herein um sich neben mich auf das Sofa zu setzen. „Ich habe uns grad für diesen Sonntag ein Motorboot gemietet. Ab 10 Uhr steht es uns voll getankt zur Verfügung.“

„Lass mich raten – am Simssee?!“

„Richtig. Ich habe mir für die letzte Übergabe folgendes ausgedacht: wir dirigieren den Geldboten bis zum Steg in Ecking, wo wir dann mit dem Motorboot vorbeifahren, uns den Koffer krallen und anschließend auf die andere Seite übersetzen. Dort steigen wir aus, in unseren BMW ein und schwupp di wupp sind wir weg. Ehe die Polizei mitbekommt, wo wir hin sind, haben wir uns schon längst verdünnisiert. Du weißt ja selbst, wie lang man selbst mit dem Auto braucht um von Ecking nach Baierbach zu kommen. Wesentlich länger als wir per Boot.“

„Genial“ kommentierte ich. „Ein Motorboot können die außerdem so schnell auch nicht auftreiben, weil in Ecking nur Segelboote vor Anker liegen. Das wird der krönende Abschluß unserer Erfolgsserie!“

„Ich habe es dir doch gleich gesagt: zu zweit sind wir nicht zu schlagen.“

Zärtlich kuschelte sie sich an mich, was ich mit liebkosenden Berührungen quittierte.

 

*

 

Aus nachvollziehbaren Gründen konnten wir die ursprünglich schriftliche Übermittlung mit der Angabe des Zeitpunkts bzw. des Ortes nicht durchziehen, da heute Freitag war und am Wochenende wohl niemand in der Brauerei sein würde. Selbst wenn, half es uns nichts, denn die Postzustellung würde im besten Fall sicherlich mindestens bis Montag dauern. Aus diesem Grund entschlossen wir uns die Daten telefonisch durchzugeben.

Natürlich ging das von zu Hause aus nicht. Nun gut, „gehen“ im Sinne von funktionieren würde es technisch betrachtet natürlich schon, aber wieviel Zeit wir dann hatten, ehe uns eine Fangschaltung lokalisieren konnte – das wusste ich nicht so genau. Deshalb begab ich mich am frühen Nachmittag in eine öffentliche Telefonzelle am Bahnhof, um die Brauerei anzurufen.

Als sich tatsächlich jemand meldete, las ich den Brief vor, den ich als Gedächtnisstütze mitgenommen hatte. Darin verlangte ich also, dass der Geldbote am Sonntag Nachmittag um 15 Uhr nach Neukirchen kommen sollte, wo er sich vor der Kirche bis auf weiteres bereithalten musste.

Neukirchen ist eine kleine Siedlung auf der östlichen Seite des Simssees auf einem Hügel gelegen.

Bei meiner Durchsage gab ich mir Mühe meine Stimme möglichst stark zu verstellen. Immerhin nahmen die Brüder dieses Gespräch wohl auf. Aus diesem Grund wiederholte ich die Nachricht auch nicht, sondern hängte einfach ein. Zwar hatte der Gesprächspartner noch etwas fragen wollen, aber das kannte man ja aus diversen Krimis, in denen die Polizei auf diese Art Zeit schinden will. Nicht mit mir. Anschließend machte ich mich aus dem Staub, nachdem ich den Hörer abermals sauber abgewischt hatte. Ich wollte schließlich keine Abdrücke hinterlassen. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass die halbe Minute ausgereicht hatte, um den Ursprungsort des Anrufs festzustellen, aber falls doch, war es besser, wenn die Polizei hier nichts vorfand, was auf mich hindeutete. Freilich, in den letzten Jahrzehnten hatte die Polizei ordentlich dazu gelernt. Die Entschlüsselung der DNS etwa stellte für uns eine Gefahr da, denn wenn mir nur ein einziges Haar in der Telefonzelle auf den Boden gefallen wäre, könnte man beweisen, dass ich mich darin aufgehalten hatte.

Zumindest, wenn man es mit einem anderen meiner Haare verglich. Bei einem durchschnittlichen Haarverlust pro Tag von hundert bis zweihundert war die Wahrscheinlichkeit aber recht gering, dass das gerade jetzt geschehen war. Außerdem würde man dann auch noch Haare von anderen Leuten finden – nämlich von denen, die vor mir telefoniert hatten. Das ist der Vorteil einer öffentlichen Telefonzelle: eben weil sie öffentlich ist, sind Spuren äußerst schnell verschwunden oder aber sie sind durch so viele neue verfälscht, dass man kaum in Gefahr gerät, dadurch aufzufliegen.

Kaum zehn Minuten später fand ich mich wieder in unserem Wohnzimmer ein. Jetzt mussten wir nur noch die Details des Plans durchsprechen, dann war die Sache erledigt und wir um insgesamt eine Million Euro reicher.

Wir diskutierten erneut den Motorbootplan durch, an dem wir keine Schwachstellen ableiten konnten. Der Plan war gut, sofern wir den kleinen Vorsprung nutzten, den wir hatten. Unser größter Vorteil war die längliche Form des Sees. Wir mussten nur die Breite bewältigen, während die Polizei einen wesentlich längeren Anfahrtsweg hatte. Wenn wir mit unserem Wagen im rechten Winkel vom See wegfuhren, dann konnte die Polizei nur zu spät kommen. Sie würden lediglich ein zurückgelassenes Motorboot finden, auf dem sie zwar reichlich Fingerabdrücke finden würden, doch diese gehörten allesamt dem Vormieter des Bootes.

„Ohne dich bin ich nichts“ flüsterte ich meiner Anna ins Ohr. „Mit dir hingegen beherrsche ich die Welt. Schade, dass wir nicht in der Antike auf die Welt gekommen sind. Wenn ich Cäsar gewesen wäre und du Kleopatra, dann hätten wir wahrlich das gesamte Europa vereint.“

„Nur Europa?“ entgegnete Anna. „Die ganze Welt würde uns zu Füßen liegen. Selbst im Qin-Reich würde man unsere Macht fürchten, unsere Herrlichkeit aber preisen. Wenn wir trommelten, dann würde die Erde ins Wanken geraten. Aber das tut sie doch auch, wenn wir Anna und Günter sind, oder?“

„Damit hast du natürlich Recht, mein Häschen.“

Sie legte ein Bein um meine Hüfte und setzte sich halb auf mich. Mit den Händen massierte sie meine Brust, ihre Augen blickten mich durchdringend an. „Bereust du es jetzt, dass wir die Million erpresst haben?“

„Nein, ich bereue gar nichts. Ich würde noch viel mehr wagen, wenn ich nur bei dir sein kann.“

„Mir geht es genauso“ bekannte Anna. „Vielleicht ist das gerade das Kennzeichen der echten Liebe: man ist für den anderen alles bereit zu tun, egal worum es sich handelt.“

Sie beendete die Massage und lächelte geheimnisvoll.

„Aber es gibt auch noch andere Mittel, Zuneigung zu zeigen.“

Ich begriff sofort, worauf sie anspielte. Es war mir eine Freude.

 

*

 

Am Freitag Nachmittag besuchten wir meine Eltern, denen wir erzählten, dass wir den Kredit bald zurückzahlen konnten, weil meine Firma momentan gut lief. Natürlich eine Notlüge, denn wir wollten sie nicht zu Mitwissern unserer Erpressung machen. Wir blieben zum Tee, wobei wir uns über allerhand Themen unterhielten wie die nächsten Wahlen, die fadenscheinige „Forstreform“ der schmalspurigen bayrischen Regierung, die den Begriff „Reform“ nicht verdiente, da der aus dem Französischen entlehnte Begriff „reformer“ soviel bedeutet wie „verbessern“, sowie unsere aktuellen Urlaubspläne.

„Nach Kalifornien wollt ihr also fliegen. Das kenne ich nur aus ‚Die Straßen von San Francisco’.“ bemerkte meine Mutter. „Ist da zur Zeit nicht dieser Schwarzenegger Gouverneur?“

„Stimmt“ bestätigte ich. „Der passt eh besser zu den Amis als nach Österreich. Man kann also sagen, dass er dort drüben gut aufgehoben ist. Obwohl ich gern Terminator 4 mit ihm gesehen hätte ... aber vielleicht schafft er das nebenher.“

„Recht viel besser sind wir mit unserem Medienkanzler aber auch nicht dran“ schaltete sich mein Vater ein. „Das einzige, was der macht, ist, sich in teuren Autos mit Zigarre filmen lassen und Schwachsinn reden. Aber ehrlich gesagt bin ich heilfroh, dass wenigstens die fette Wildsau endlich weg ist. Die mussten wir lang genug ertragen.“

„Die fette Wildsau?“ wunderte sich Anna über den Begriff.

Grinsend erklärte ich ihr, dass das die liebevolle Bezeichnung für einen ehemaligen deutschen Kanzler war, die meinem Vater gelegentlich entglitt, wenn er sich über die Politik ärgerte.

„Früher konnte man wenigstens noch guten Gewissens SPD wählen“ fuhr er fort. „Aber heutzutage bereue ich das schon fast.“

Tja, so ist das Leben. Nachher ist man immer klüger, doch meistens meint man bereits vorher klug genug zu sein. Politik ist eben ein weites Feld, ein Land ohne Ufer.

Gegen Abend verließen wir mein Elternhaus um zum Abendessen zum Italiener zu fahren. Mit jeweils einer Pizza Quattro Stagioni sowie einer Flasche Wein rundeten wir den Abend ab.

 

*

 

„Wo ist der erste Treffpunkt?“ fragte Hauptkommissar Kreuzer nach. „In Neukirchen vor der Kirche? Das Dorf kenne ich, weil ich da mal zur Schule gegangen bin. Das kommt mir äußerst spanisch vor. Mal überlegen ... Neukirchen liegt auf einem Hügel. Das ist doch zum Absetzen nicht sehr optimal. Fazit: die Übergabe findet irgendwo anders statt. Was ist da in der Umgebung noch so alles?“

„Riedering, ein kleines Moor, der Simssee“ zählte sein Kollege bereitwillig auf.

„Der Simssee!“ rief Kreuzer erfreut aus. „Das ist es! Das Stichwort ‚Wasser’ erinnert mich an die allererste Übergabe. Vermutlich kommt erneut eine Tauchernummer. Ich wette sogar, die wollen das irgendwo am See durchziehen. Nur wo?“

„Da gibt es ziemlich viele Möglichkeiten: Ecking, Pietzing, Baierbach, ferner diverse private Badeplätze. Außerdem gibt es trotz des Schilfgürtels einige Stellen, wo man sowohl von Land als auch von See aus leicht hinkommt.“

„Hmm, ja, na dann müssen wir eben auf jeder Seite des Sees eine Zivilstreife postieren. Dann sind wir flexibel, egal wo die Übergabe nun stattfindet.“

„Bei einem Umfang von fast zehn Kilometern könnte uns da aber trotzdem jemand durch die Maschen schlüpfen.“

„Möglich ist grundsätzlich alles. Aber ich glaube, wenn wir die Hauptrouten blockieren, dann kommt keine Maus durch das Netz hindurch.“

„Wäre es vielleicht von Vorteil, wenn wir die Unterstützung eines Helikopters ordern?“

„Das bezweifle ich, weil das wohl zu auffällig wäre. Das merken die Erpresser doch sofort, denn so ein Fluggerät ist nicht gerade leise. Ferner kann ein Hubschrauber keinen Taucher verfolgen. Was soll das bitte bringen? Nein, wir müssen das wie ein Löwenrudel machen: auf die Lauer legen und schrittweise an die Beute annähern. Sobald sie uns nicht mehr entkommen kann: Zuschlagen!“

„Wie sieht das genau aus? Das mit dem Zuschlagen?“

„Ganz einfach: egal wo die Übergabe nun genau verläuft – der Taucher wird wohl in unmittelbarer Nähe des Übergabeortes aus dem Wasser kommen, denn der kann schwerlich ein paar Kilometer im See herumtauchen. Das dauert zu lange. Ich ziehe daher vier Möglichkeiten in Betracht:

Die Übergabe erfolgt irgendwo

1. an der schmalen Nordseite

2. am rechten Längsufer

3. an der Südseite

4. am linken Längsufer.

Ganz egal wo es nun auch immer ist – wir können damit rechnen, dass für den Taucher die zwei jeweils benachbarten Abschnitte wohl ausscheiden werden. Das bedeutet für uns, dass die heißeste Stelle immer direkt gegenüber der Stelle ist, wo die Übergabe stattfindet. Das ist Psychologie: wenn jemand flieht, dann versucht er binnen kürzester Zeit möglichst viel Raum zwischen sich und seinen Verfolger zu bekommen. Das wiederum gelingt nur mit einer geraden Linie.

Wenn der Kerl natürlich entsprechend kaltblütig ist, wird er eventuell einen Bogen machen, doch dieser ist sicher nicht sehr stark gekrümmt. Das heißt, wir konzentrieren uns primär einfach auf die Stelle auf der anderen Seite des Sees sowie sekundär auf etwa fünfhundert Meter in jeder Richtung seitlich davon. Zur Verteilung der Männer: jeweils eine motorisierte Streife kommt wie gesagt auf jede Seeseite, damit wir flexibel sind.

Zusätzlich postieren wir an jeder Querseite drei Zivilbeamte mit Motorrädern. Die können dann nämlich auch auf den kleineren Fußwegen operieren. Sobald uns dann der Ort der Übergabe mitgeteilt wird, beordern wir die sofort zu den beiden Flanken der wahrscheinlichen Austrittstelle des Tauchers. Der kann uns dann gar nicht mehr entkommen. Irgendwann muss der ja wohl an Land gehen, wenn er nicht erfrieren will.“

 

*

 

Der 5. September begann mit anhaltendem Regen, der erst gegen Mittag einer warm hernieder strahlenden Sonne Platz machte. Binnen weniger Stunden sah man von den zur Mittagszeit noch zahlreich vorhandenen Pfützen nichts mehr.

Die Sonne hatte sich nun ihren festen Platz am Himmel gesichert. Vereinzelte Wolken klarten schnell auf, so dass man weitere Schauer kaum befürchten musste. Aus diesem Grund kamen wir auch ohne Regenzeug recht trocken zum Simssee.

Um 15 Uhr telefonierten wir von einer Telefonzelle in Stephanskirchen – das ist ein Dorf zwischen Rosenheim sowie dem Simssee, was taktisch also gut lag – mit dem Geldboten, wobei wir ihm auftrugen, über die Ortschaft Ecking zum Seewirt, einer Gaststätte direkt am Seeufer, zu fahren, wo er einen Zettel mit weiteren Anweisungen unter einem Stein neben dem Kajakclubhaus finden würde.

Dafür gaben wir ihm großzügige 10 Minuten Zeit. Man ist ja kein Unmensch. In der Zwischenzeit fuhren Anna und ich nach Baierbach – das befindet sich vom Seewirt aus betrachtet genau gegenüber auf der anderen Seeseite. Unser Motorboot lag wie versprochen am Steg. Weißer Lack schimmerte im hellen Sonnenlicht. Chrom glänzte, Kunststoff strahlte. Ein stolzes Schiff. Geschätzte sechs Meter lang mit einem fetten Yamaha Außenborder, der momentan hochgekippt stand.

„Auf geht’s“ steckte ich den Zündschlüssel ins Schloß und warf den Motor an. Dröhnend meldete sich die Maschine zu Wort. „Wie spät ist es?“

Anna blickte kurz auf die Uhr. „Spät genug. Inzwischen sollte der Bote angekommen sein und sich auf die Suche nach unserer Botschaft machen.“

„Na dann mal los“ drückte ich den Gashebel nach vorn. Einige 100 PS schoben das Boot kraftvoll vorwärts. Eine weiße Gischtwolke bildete sich hinter dem Heck, der Bug hob sich etwas in die Höhe. Das kleine Schiff flog regelrecht über das Wasser – Mann war das eine Kraft!

Anna warf mir eine Skimaske zu, denn wir wollten auf der anderen Uferseite natürlich nicht unmaskiert gesehen werden.

Innerhalb einer knappen Minute hatten wir den See überquert und seitlich vor uns lag bereits der Steg von Ecking. Dort stand ein Herr mittleren Alters mit einem schwarzen Koffer in der Hand. Ja, unser Kollege mit dem Geld hatte unseren Zettel offensichtlich gefunden. Darauf stand nämlich, dass er sich unverzüglich auf den Steg begeben sollte.

Mit einem Ruck tourte ich den Motor herunter, bis wir auf Sprungnähe am Steg angelangt waren.

„Werfen Sie den Koffer herüber!“ forderte ich den Mann auf, der den Koffer mit Schwung zu mir beförderte. Anna gab währenddessen bereits Gas und drehte das Lenkrad herum, woraufhin der Bug gen Baierbach wies. Der Mann auf dem Steg blieb noch eine Weile untätig stehen, wobei er sich zusehends verkleinerte. Etwa in der Mitte des Sees zogen wir die Masken aus, weil wir uns jetzt weit außerhalb der Sichtweite befanden. Selbst mit einem Fernglas könnte man uns jetzt nicht mehr erkennen. Nun gut, erkennen schon, aber identifizieren ganz sicher nicht. Während ich mich wieder um die Steuerung kümmerte, packte Anna das Geld des schwarzen Koffers in unseren mitgebrachten „peilsendersicheren“ Koffer, obwohl diese Eigenschaft in diesem Fall eigentlich unwesentlich sein konnte, da die Zeit auf dem Boot ausreichte, das Geld von dem einen Behälter in den anderen umzupacken. Am Ufer angekommen ließen wir das Boot achtlos stehen um zum Parkplatz zu rennen, wo wir erst mal aufatmeten.

Geschafft! Den Geldkoffer in den Kofferraum schleudernd, stiegen wir ein. Mit gemächlichem Tempo um keinen Verdacht zu erregen, fuhren wir ein schönes Stück geradeaus, in gerader Linie vom Simssee weg. Über den Schloßberg kehrten wir von Norden kommend zurück nach Rosenheim. In guter Laune betraten wir unsere Wohnung. Die letzte Übergabe hatten wir soeben erfolgreich beendet. In unserem Schlafzimmerschrank hatten sich 750.000 Euro angehäuft. Damit hatten wir vorerst ausgesorgt. Ich umarmte Anna und trug sie zu unserem Bett, wo ich sie auf die Matratze warf.

 

*

 

„Da sind sie“ deutete Sepp Müller auf zwei Gestalten, die vom Strand herauf gerannt kamen. Sein Kollege Hannes Oberleiter, der hinter dem Steuer saß, nickte nur. „Ich habe sie schon gesehen. Ein Mann und eine Frau.“

Ihm war auch der Koffer nicht entgangen, den der hoch gewachsene Mann in der rechten Hand trug. Seine zierlichere Begleiterin hielt sich zu seiner linken Seite. Gerade näherten sie sich einem blauen BMW, in den sie einstiegen.

„RO-V 507“ notierte sich Sepp Müller. „Jetzt haben wir sie.“

„Es sei denn, der Wagen ist gestohlen“ widersprach Hannes Oberleiter, der den Zivil-Audi startete, um dem verdächtigen BMW in angemessenem Abstand zu folgen.

Mittlerweile war der Funkspruch mit dem Kennzeichen hinausgegangen, so dass bald feststehen würde, wer der Halter des Wagens war. Der verfolgte Wagen nahm die Straße über Stephanskirchen sowie den Schloßberg hinein ins Zentrum von Rosenheim, vorbei am Hallenbad bis in den Außenbezirk, wo der BMW schließlich stehenblieb.

Die beiden Insassen stiegen aus und schlenderten auf den Eingang eines mehrstöckigen Wohnhauses zu, in dem sie verschwanden. Die routinierten Polizisten wussten, was jetzt zu tun war: die Informationen der Zentrale abwarten bezüglich des Wagenhalters. Ein Piepsen des Sprechgeräts verkündete, dass die Verwaltungsbeamtin den Namen ermittelt hatte: Günter Gruber.

Sepp Müller spazierte zu dem Wohnhaus hinüber, wo er die Liste der Namensschilder durchging. Maier, Lensen, Gruber? Gruber!

„Bingo – das ist unser Mann“ kombinierte er.

 

*

 

„Wir sind reich!“ hielt ich Anna glücklich in den Armen. „Wir haben es geschafft!“

Anna schmiegte sich an mich, mein Gesicht mit Küssen überdeckend. „Wollen wir eine Flasche Sekt aufmachen? Zur Feier des Tages?“

„Von mir aus gern“ bestätigte ich. „Eigentlich müssten wir jetzt Champagner saufen, aber erstens mag ich den nicht, zweitens haben wir keinen zu Hause.“

„Champagner trinken doch eh nur Bonzen. An dem Gesöff ist eh nichts dran. Was gibt es denn besseres als bayrisches Bier?“

„Warum willst du dann Sekt trinken?“

„Ich hole Bier“ beendete sie die Diskussion. Mit zwei Flaschen kehrte sie zurück und wir stießen auf unseren Erfolg an.

„Was machen wir mit dem vielen Geld?“ wollte Anna wissen.

„Wir könnten es in der Schweiz oder wieder in Lichtenstein langfristig anlegen und von den Zinsen leben. 750 Tausend bringen wohl mindestens 3 Prozent ... macht im Jahr 22500. Ist nicht wirklich viel, aber damit kommt man wohl ganz passabel über die Runden, wenn man etwas sparsam damit umgeht. Erst recht, wenn wir noch Nebeneinnahmen durch meine Spiele-Firma oder sonst wo her bekommen. Alternativ können wir natürlich auch in Saus in Braus leben, bis das Geld verbraucht ist. Bei 3000 Euro im Monat kommen wir ... rund 20 Jahre aus. Ist doch nicht schlecht, oder?“

„Ja, passt. Aber erst machen wir Urlaub, ehe wir entscheiden, was wir konkret mit dem restlichen Geld anfangen.“

„Ach Anna, ich bin so froh, dass alles glatt gelaufen ist. Ich könnte mir nicht vorstellen, jahrelang von dir getrennt zu sein, wenn uns die Polizei geschnappt hätte. Unter 6 Jahren wären wir da wohl kaum weggekommen. Zweitausend Tage und eben so viele Nächte ohne dich könnte ich nicht ertragen.“

„Lass uns nicht weiter drüber reden. Es ist vorbei. Du musst keine Angst mehr haben, denn uns kann niemand etwas nachweisen. Die lauern doch jetzt darauf, dass wir uns zum Kassieren der vierten Rate melden. Doch da können sie so lange warten bis sie schwarz werden.“

Wegen der fortgeschrittenen Nachmittagsstunde kochten wir uns eine Kanne grünen Tee, den wir in geruhsamer Atmosphäre im Wohnzimmer tranken.

„Günter“ flüsterte Anna an meine Schulter gelehnt.

„Hmm?“ brummte ich als Antwort.

„Ich will ein Kind von dir.“

„Können wir uns das leisten?“

„Wenn nicht jetzt – wann denn dann?“

„Meinetwegen können wir heute Abend schon damit anfangen deinen Wunsch zu erfüllen. Dann machen wir es bis auf weiteres eben generell ‚ohne’. Ist mir eh lieber.“

Sanft streichelte Anna meinen Bauch, was ich mit ausgiebigem Haarekraulen erwiderte. Ich liebte es, ihr geschmeidiges Haar mit den Fingern zu berühren und die Strähnen entlang zu streichen.

„Ich gehe mal kurz rüber und hole uns Kekse“ verkündete ich.

Irgendwie verspürte ich ein Gelüst auf etwas Süßes.

Kaum hatte ich die Keksschachtel aus dem Küchenschrank herausgenommen, als mein Blick zufällig zum Fenster schwenkte. Draußen sah ich zwei, drei Polizeiautos, die vor dem Haus geparkt standen. Was war denn da los? Ein Unfall?

Neugierig stellte ich mich ans Fenster um etwas genauer hinauszuspähen. Bestürzt erkannte ich, dass zwei Beamte auf unseren Hauseingang zuliefen.

Verdammte Scheiße! Das konnte eigentlich nur eins bedeuten: man war uns irgendwie auf die Schliche gekommen. Nein, das konnte ich nicht glauben.

So perfekt wie wir die Erpressung organisiert hatten – diesen Punkt konnte ich einfach nicht in Betracht ziehen. Auf der anderen Seite – was wollte die Polizei dann bei uns?

Im Haus wohnten außer uns noch eine Oma gehobenen Alters, eine junge Familie mit zwei Kindern, ein Künstler, der fast nie zu Hause war sowie ein älteres Ehepaar, das sich sehr ruhig verhielt. Wegen einer trivialen Ruhestörung kam man wohl nicht vorbei.

Da ich mir nicht eingestehen wollte, dass die Polizei wirklich wegen uns hier war, vertraute ich blind auf die Taktik „Toter Mann“, d.h. ich gedachte einfach so zu tun, als sei niemand hier.

Wieder zurück im Wohnzimmer informierte ich meine Frau über die unerfreulichen Neuigkeiten.

Erschrocken starrte sie mich an. „Was machen wir jetzt?“

„Nichts. Es besteht immerhin noch die Chance, dass die gar nicht zu uns wollen. Was weiß ich ... vielleicht liegt die alte Lensen tot in ihrer Wohnung und  irgendein Verwandter oder sonst wer hat die Polizei verständigt um sich da Zugang zu verschaffen, weil sie nicht aufgemacht hat. Du weißt selbst wie alt die ist.

Falls ich mich irre, also bei uns geklingelt wird, dann öffnen wir einfach nicht. Die verziehen sich dann schon wieder.“

Nervös ließ ich mich aufs Sofa nieder, doch die romantische Atmosphäre von vor einigen Minuten schien unwiederbringlich verloren. Die Stille lag hörbar im Raum, bis ein Klingeln an der Tür die Ruhe zerriss. Entsetzt starrte mich Anna an. Ich fühlte, dass ich jetzt etwas tun musste. Sie erwartete es regelrecht von mir.

Aufgeregt begab ich mich zur Tür, wo ich erst mal durch den Türspion lugte. Draußen standen zwei uniformierte Polizisten – die wollten tatsächlich zu uns!

Leise schlich ich mich wieder ins Wohnzimmer zurück, wo ich meine Glock aus einer Schublade herausholte. „Polizei“ erklärte ich, obwohl das eigentlich unnötig gewesen wäre.

Starr vor Aufregung blickte ich in Annas Augen, die sich vor Furcht geweitet hatten. „Sie haben uns“ murmelte sie erregt.

„Ruhig Blut“ beschwichtigte ich sie. „Die gehen schon wieder, wenn wir nicht aufmachen. Ohne Hausdurchsuchungsbefehl dürfen die nicht gewaltsam eindringen.“

Selbstbewusst streichelte ich über Annas Arm. Die würden uns schon nicht kriegen. Bange Sekunden verstrichen. Plötzlich wummerte ein harter Stoß gegen die Tür.

Die Schweinehunde versuchten die Tür aufzubrechen!

„Schnell, rüber ins Schlafzimmer“ rief ich Anna zu und wir zogen uns nach nebenan zurück, weil dort unter anderem das Geld lag, das es zu beschützen galt.

Ganz zu Schweigen von der besseren strategischen Lage. Die Wohnungstür knarrte bedrohlich unter einem weiteren Rammstoß, als ich die Schlafzimmertür hinter uns zuwarf sowie von innen absperrte.

„Wenn du eine Idee hast, wie wir hier aus dem Schlamassel herauskommen können, dann raus damit“ wandte ich mich an Anna, weil ich ehrlich gesagt nicht mehr weiter wusste.

Diese schüttelte nur verzweifelt den Kopf.

„Es gibt keinen Ausweg weg – wir sind hier im 2. Stock, aus dem Fenster springen geht schlecht, zumindest nicht ohne Knochenbrüche. Einen anderen Fluchtweg haben wir nicht, da wir nicht ins Treppenhaus kommen. Wenn wir nur ein Seil hätten, dann könnten wir fliehen – aber wir haben keines.

Entweder wir lassen uns verhaften, oder wir schießen uns einen Weg frei, was bei drei Streifenwagenbesatzungen wohl schwer werden könnte, oder ...“

„Oder was?“ konnte ich ihr nicht folgen.

„... oder wir stellen sicher, dass uns niemand jemals mehr voneinander trennen kann.“

„Wie willst du das denn erreichen?“

„Durch eine Tat, die uns beide über den Tod hinaus verbindet. Los – erschieß mich!“ forderte sie mich auf.

„Wie bitte? Du willst, dass ich dich töte?“

„Ja, ich will nicht von dir getrennt sein!“

Unruhig rang ich nach Luft. „Aber wenn du tot bist, dann sind wir doch auch getrennt!“

„Der Tod wird uns vereinen, er ist unser Verbündeter.“

„So eine verdammte Scheiße!“ brachte ich die Situation auf den Punkt. „Wie stellst du dir das vor? Du weißt genau, dass ich dir nichts antun könnte. Verdammt, ich liebe dich!“

„Günter!“ beschwor sie mich. „Wenn du mich wirklich liebst, dann kannst du mir diesen letzten Wunsch nicht abschlagen. Ich will mit dir die Ewigkeit verbringen. Uns trennt nur noch ein schmaler Grat – das Ende unseres Lebens wird uns auf der anderen Seite zusammenführen. Wir werden uns nie mehr fern sein.“

„Das klingt himmlisch“ gab ich zu. „Aber warum müssen wir uns dafür töten?“

„Weil es keine andere Möglichkeit gibt. Wenn wir uns verhaften lassen, dann kommen wir jahrelang ins Gefängnis – garantiert nicht ins selbe, weil du sicher weißt, dass da Geschlechtertrennung herrscht.

Ist das etwa, was du willst? Also ich nicht!“

„Natürlich will ich das nicht ... oh mein Gott – vor einer halben Stunde rede ich noch davon und jetzt könnte es tatsächlich Wirklichkeit werden. Nein, ich will definitiv nicht ins Gefängnis. Freiheitsentzug ist schon schlimm genug, mit dir zusammen erträglich – ohne dich hingegen die Hölle.“

„Eben. Darum lass uns bitte tun, was wir tun müssen.“

Ein Krachen aus Richtung Gang ließ mich aufhorchen. Offenbar hatte man unsere Wohnungstür inzwischen aufgebrochen.

„Die Zeit läuft uns davon“ redete Anna auf mich ein. „Komm, wenn du immer bei mir sein willst.“

Sie streckte mir ihre Hand entgegen, die ich langsam ergriff. Anna hatte Recht, es gab keinen anderen Ausweg. Ohne sie konnte ich nicht sein. Wenn zu leben bedeutete, ohne sie zu sein, dann wünschte ich mir lieber den Tod.

Die Pistole in meiner Hand fühlte sich wie heißes Eisen an, doch ich gab mir Mühe die Nerven zu behalten. Die Vorstellung damit Anna zu erschießen, jagte mir Angst ein. Ich hätte wohl kein Problem damit, einen Polizisten zu töten, falls er versuchte, Anna und mich aufzuhalten, doch bei ihr war das etwas anderes. Sie war einfach die Frau, die ich abgöttisch liebte.

Sie war meine Welt, mein Universum. Das kann man doch nicht einfach zerstören.

Auf einmal drückte jemand die Türklinke von außen herunter.

Natürlich ging die Tür nicht auf, da ich sie ja abgesperrt hatte.

Dafür vernahm ich mehrere gedämpfte Stimmen.

Die Zeit lief uns in der Tat davon.

Wir mussten uns sofort entscheiden, was wir tun wollten.

Mit zitternder Hand zielte ich auf Annas Kopf.

„Ich schaffe das nicht“ rief ich verzweifelt. „Verdammt, ich kann es einfach nicht!“

Anna führte meine Hand zu ihrer Brust, bis sie die Mündung der Pistole mit ihrem Körper umschlossen hatte.

Noch einmal suchte ich in Gedanken nach einem anderen Ausweg. Konnten wir die Polizisten nicht mit Geld bestechen, dass sie uns laufen ließen? Oder wenn wir alles abstritten? Aber wie sollten wir dann die halbe Million im Schlafzimmerschrank erklären? Nein, es gab keinen Ausweg mehr.

„Ich will nicht, dass du Schmerzen hast“ rief ich.

„Ganz ruhig“ ermahnte mich Anna. „Gleich haben wir es überstanden. Ein direkter Schuß ins Herz ist die beste Fahrkarte ins Jenseits. Ich werde nichts spüren. Bevor die Kugel zur Ruhe kommt, werde ich schon tot sein.“

Sie lächelte mit dergleichen Liebenswürdigkeit wie damals auf der Feier bei Ulf, wo wir uns kennen gelernt hatten. Dann küsste sie mich ein letztes Mal, wobei sie mich mit ihren herrlich blauen Augen tief ansah. Ihrem Zauber entging ich nicht. Wir gehörten zusammen, nicht einmal der Tod konnte unserer Einheit etwas anhaben, das wurde mir in diesen Sekunden klar.

Ich spürte noch einen Moment ihre weiche Zunge, bis ich fühlte, wie sie meinen Abzugsfinger durchdrückte. Mit einem lauten Knall, der mich aus meiner Apathie aufschreckte, geriet meine Welt ins Wanken. Zuckend erschlaffte Annas Körper in meinem Arm, ihre Zunge war plötzlich völlig leblos, ihr Speichel schmeckte wie das Gift einer Kobra.

Ihre Augen blickten nicht mehr mich an, sondern starrten irgendwohin ins Leere, durch mich hindurch.

Langsam ließ ich ihren Körper auf den Boden niedersinken.

Meine Göttin weilte nicht mehr unter den Lebenden.

An meiner rechten Hand klebte rotes Blut, das nicht von mir stammte. Eine große Wunde in ihrem Leib zeugte von der Wucht des Geschosses. Aus dem Flur erklangen mehrere Rufe, die ich zwar vernahm, aber nicht verstand. Die Welt hatte sich von einem Moment auf den anderen verändert. Ich fühlte mich schrecklich einsam, der leblose Körper von Anna zu meinen Füßen tat ein Übriges, mich innerlich schier zu zerreißen. Ihre Augen zeigten zwar zur Zimmerdecke, aber ich konnte so etwas wie Genugtuung in ihrem Ausdruck erkennen. Sie hätte es ohne mich ebenso wenig ausgehalten wie ich ohne sie.

Die Geräusche vom Gang wurden lauter. Etwas polterte gegen die Tür. Viel Zeit blieb mir wohl nicht mehr, würde ich aber auch nicht brauchen.

Traumatisiert hielt ich mir die Pistole an die Schläfe.

Jetzt musste ich im wahrsten Sinne des Wortes nur mehr einen Finger krümmen, ehe ich Anna wiedersehen würde. Auf der anderen Seite, wenn es sie überhaupt gab, wovon ich jedoch überzeugt war. Es musste sie einfach geben. In dieser Welt würde ich sie zumindest mit Sicherheit nicht mehr antreffen. Im Himmel oder was immer kommen mochte, hatte ich zumindest die Chance, sie wiederzusehen.

„Ich tue es für dich, Anna“ murmelte ich leise. „Damit wir wieder zusammen sein können.“

Einen Moment zögerte ich abzudrücken, doch das Krachen an der Tür zerstreute jeden letzten Zweifel. Aber ich hätte auch so gewusst, dass ich abgedrückt hätte.

Ohne Anna hatte das Leben nämlich sowieso keinen Sinn mehr.

 

 

 

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Werk widme ich einem ganz bestimmten Mädchen.

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