Es bereitete Sakura einige Probleme, mit ihrem Bruder mitzuhalten. Ihre mindere Größe war bei ihrer Mission im Allgemeinen ein Vorteil, doch auch die Nachteile fielen ins Gewicht. Keiji und seine Männer machten um einiges größere Schritte, als sie es mit ihren kurzen Beinen vermöge. Bald sollten sie die Lichtung erreicht haben, so hoffte sie zumindest. Würde sie aufgrund ihrer körperlichen Gegebenheiten dieses Spektakel verpassen, könnte sich die junge Samurai dies wohl nie verzeihen.
Ziel der Gruppe war ein heiliger Schrein, in dem das Schwert einer Legende stecken solle, sein Name war Arashi, auch die Bezeichnungen Schwert des Windes und Auge des Sturms tauchten in den verschiedenen Erzählungen auf. Es solle unglaubliche Kräfte besitzen, solange der Krieger es für einen guten Zweck einsetzen würde. Auch wenn Sakura bezweifelte, dass es den Männer gelänge sich des Schwertes zu bemächtigen, brannte sie doch darauf, das sagenumwobene Schwert mit eigenen Augen zu sehen. Wahrscheinlich würden es Juwelen zieren und im Licht des Vollmondes funkeln, der über ihren Köpfen den sternenklaren Himmel erleuchtete.
Der Anführer der Männer wusste nicht, dass ihm seine kleine Schwester auf dem Fuß folgte, schließlich hatte er ihr eindringlich verboten, ihn auf diese Reise zu begleiten. Sie war durchaus eine begabte Nachwuchssamurai, doch diese Mission war viel zu gefährlich. Sie würden nicht die einzigen sein, die die Chance ergreifen wollen würden. Laut der Legende um Arashi konnte man diese magische Waffe nur an einem bestimmten Zeitpunkt in seinen Besitz bringen. Die erste Vollmondnacht des Frühlings im ersten Jahre der Schlange des neuen Zykluses war gekommen und somit auch ihre Gelegenheit den Schrein aufzusuchen.
Sakura klebten die langen, brünetten Haare im schweißnassen Nacken. Das Tempo der ihr vorangehenden Gruppe verlangsamte sich, so dass sie aufatmen konnte. Die Strecke war um einiges länger, als das Mädchen gedachte hatte und so fiel es ihr schwer dem Gemurmel der Männer zu lauschen. Zu laut schlug ihr Herz gegen ihre Brust und zu sehr schrie ihr Körper nach Sauerstoff. Doch sie erkannte, dass nicht nur freudige Nachrichten unter den Männern ausgetauscht wurden, so dass sie ihren Weg fernab des gefestigten Pfades verlegte und durch das Geäst schlich.
Mit den Augen immer auf das vor ihr liegende Geschehen blickend, konnte sie, im Schutze der Bäume, zur Gruppe aufschließen und der Anblick löste ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend aus. Auch, wenn sie nicht viel von der Lichtung sah, die sich ihnen am Ende des Weges öffnete, so konnte sie doch Blicke auf Männer erhaschen, die nicht zu Keijis Männern gehörten und ohne Zweifel nicht friedlich gesinnt waren.
Ohne Erfolg versuchte sie den Schrein in ihr Blickfeld bekommen, doch so sehr sie ihren Kopf reckte, die Personen vor ihr, waren noch immer um einiges größer als sie. So griff sie keuchend nach einem Ast um sich hinaufzuziehen, wobei sie einen Vogel aufscheuchte, der seinen Abflug von lautem Krächzen begleiten ließ. Panisch presste sich Sakura gegen den Stamm, doch nur vereinzelt sahen Männer in die Richtung des Baumes, ohne dem Geschehen viel Beachtung zu schenken. Das große Schauspiel dieser Nacht lag schließlich vor ihnen, und es würde bald beginnen, da waren sich alle anwesenden Menschen sicher.
Sakura war der Blick zum Schwert nun geöffnet und ihr Herz setzte für einen Schlaf aus. Die Aura Arashis war beängstigend und anziehend zugleich. Der geschwungene Griff schien durchsichtig, als wäre er aus Glas und funkelte mit den Sternen um die Wette. Er mündete in eine Klinge, die schon aus der Ferne die Luft zu schneiden schien und im Schein der Fackeln gespenstisch leuchtete. Japanische Schriftzeichen waren, gesäumt von Kirschblüten, auf der Breitseite eingraviert. Meiyo. Tokui. Zen. Ehre. Stolz. Güte.
Dies waren auch die Eigenschaften, die den Krieger beschrieben, der dieses Schwert geführt hatte, um sein Dorf zu retten und sich seiner Stärke bewusst wurde. Doch es lag nicht in seinem Willen, dass die Macht dieses Schwert missbraucht wurde und so verschloss er es mit einem Siegel in den Schrein dieser Lichtung und nur ein Samurai, in dessen reinen Herzen ehrenhafte Absichten schlummerten, solle fähig sein, Arashi zu bezwingen.
War ein solcher Krieger unter diesen Männern? Oder würden sie sich ihrer rohen Kraft bedienen, die Klinge aus dem Schrein zu befreien? Still und stetig plätscherte ein Bach hinter dem Gegenstand der Begierde, als wüsste er die Antworten auf all jene Fragen. Sakura riss sich von dem Anblick des Meisterwerkes los und betrachtete den Schauplatz genauer. Die Lichtung, auf der sie sich befanden, wurde auf einer Seite durch einen Berghang und gegenüberliegend von einem rauschenden Fluss gesäumt. Nur zwei Wege teilten den umliegenden, dichten Wald. An beiden Eingängen wartete eine Gruppe Männer nur darauf, dass jemand den ersten Schritt machte. Besorgt sah Sakura zu ihrem Bruder, dessen rechte Hand kampfbereit um seinen Schwertgriff lag und sich seine Kiefermuskulatur anspannte.
Eine dritte Gruppe hatte Stellung am Schrein bezogen und gestikulierten provokativ, als wären sie sich gewiss, dass sie siegreich aus dieser Schlacht gehen würde. Durch die Schneide Arashis? Wieso hatte noch niemand das Schwert an sich genommen? Stimmte die Legende also, dass nur ein Mann voller Güte sich der Waffe bemächtigen konnte? Sakuras Blick schweifte wieder zu Keiji. War ihr Bruder ein solcher Mann? Seufzend schloss sie die Augen. Er war keinesfalls ein böser Mensch, doch war sein Herz wirklich rein?
Plötzlich verstummte das Gemurmel, alle Stimmen, die über den nächsten Schritt diskutiert hatten, die von Angst und Kampfeslust motiviert waren. Das Mädchen schreckte auf und sie sah die Quelle dieser plötzlichen Verstummung: Ein Mann war hervorgetreten und hob die Arme, um die volle Aufmerksamkeit zu erlangen. Als würde die Lichtung einen tiefen Atemzug nehmen, wartete alles nur auf seine Stimme, die im nächsten Moment ertönte. „Hört mich an, ehrvolle Samurai! Wir alle haben uns wegen des gleichen Zieles hier versammelt. Doch es ist zu eurem Besten, wenn ihre eure kläglichen, zum Scheitern verurteilte Versuche, gegen uns siegreich hervorzugehen, unterlasst. Wenn ihr unserer Bitte nachgeht und diese Lichtung verlasst, werden wir euch verschonen. Solltet ihr es dennoch wagen, uns anzugreifen, so wird euch die Macht Arashis zu Boden ringen!“, seine Worte erfüllten die Luft und ihnen folgten eine Atmosphäre, die nur schwer zu deuten war. Hatte er mit dieser Rede eine nur noch blutigere Schlacht heraufbeschworen?
Langsam schritt er zum Schrein und seine Männer grinsten siegessicher. Er streckte seine Hand nach dem Griffe Arashis aus, doch noch bevor seine Fingerspitzen ihr Ziel erreichten, durchschnitt ein Pfeil die Luft und noch bevor jemand realisierte was geschah, fiel der Mann mit einem gurgelnden Schrei zu Boden.
Sakura presste die Hände gegen ihren Mund, um nicht aufzuschreien. Sie hatte schon zweifellos sterbende Männer gesehen, hatte sie doch manchen kleinen Gefechten beigewohnt. Doch der Tod dieses Mannes, dessen Hals ein Pfeil durchbohrt hatte, schockierte sie. So hinterrücks agierten üblicherweise nur die Assassinen aus den Erzählungen. „Bogenschützen...solche Schweine“, knurrte Kaito, ein Samurai der Truppe Keijis, der sich damit den Stimmen anderer Männer anschloss. Kampfschreie aller Gruppen ertönten und die Krieger stürmten aufeinander zu. Schwerthiebe wurden pariert, Klingen in Körpern versenkt und Schreie hallten durch die sonst so friedvolle Lichtung. Die Luft war geschwängert vom Geruch von Schweiß und Blut.
Während die Schlacht tobte, versuchten immer wieder Männer verzweifelt, sich Arashi zu bemächtigen, doch selbst wenn es ihnen gelang, den Schwertgriff zu erreichen, bevor sie durch einen Pfeil durchbohrt wurden, so schafften sie es nicht, die Waffe aus ihrem Gefängnis zu befreien. Selbst aus dieser Entfernung sah Sakura die erstaunten Blicke dieser Männer, die mit dem Zweifel an ihrer eigenen Stärke tot zu Boden fielen.
Der Ausgang der Schlacht schien klar zu sein, eine Handvoll Bogenschützen entschieden über Sieg und Niederlage. In Sakuras Augen waren diese Männer nichts weiter als feige Männer, die sich nicht trauten, der Gefahr zu stellen. Sie ertrug den Anblick dieses einseitigen Kampfes nicht, die Männer ihres Bruders waren bereits dezimiert. Mit einem Satz sprang sie vom Baum und rannte durch das Dickicht, den Schrein immer vor Augen. Als sie sich in horizontaler Entfernung zu ihrem Ziel befand, schoss sie aus dem Schutze der Blätter hervor. Noch hatte sie kein Aufsehen erregt, waren selbst die listigen Bogenschützen mit zielen beschäftigt.
Deren Bögen verließ wieder eine Salve Pfeile, just in dem Moment, in dem sie nur noch eine geringe Distanz von dem Schrein entfernt war. Entfernt von dem verfluchten Schwert, das sein Unglück auf diese ganzen Männer verbreitete. Ihre Intention war klar: Sie wollte es um jeden Preis zerstören, und wenn sie ihr Leben opfern musste. Niemals würde sie es sich verzeihen, wenn sie beim Tode ihrer Kameraden tatlos zuschauen würde.
Im Augenwinkel sah sie wie die Schützen die nächsten Pfeile spannten und sie wusste, auf wen sie zielten. Wie im Training, dachte Sakura und atmete, so langsam es ihr während des Laufens möglich war, ein und bereitete sich auf den bevorstehenden Pfeilhagel vor. Zu ihrem Glück, waren die Bogenschützen nicht auf einen taktischen Angriff trainiert. So trafen sie die Kämpfer, wenn sie aufeinander einhieben, doch flogen die Pfeile alle zu einem Punkt. Mit wenigen, akrobatisch anmutenden Sprüngen schaffte sie es auszuweichen und ergriff den Schwertgriff, bevor sich die Sehnen das nächste Mal entspannen konnten. Ihr Herz setzte aus, als sie das Schwert in ihrer Hand sah.
Fassungslos starrte sie auf das Schwert, dass sie mühelos aus dem Stein gezogen hatte. Diesem Beispiel folgte die restlichen Männer, die dieser surreale Anblick ebenfalls aus der Bahn warf. „SAKURA“, schrie Keiji über das Schlachtfeld, doch noch bevor sie in das besorgte, blutbefleckte Gesicht ihres Bruders schauen konnte, durchbohrte ein Pfeil ihren Brustkorb. Doch sie verspürte keinen Schmerz, ein anderes Gefühl flammte in ihr auf, stärker als alle Empfindungen dieser Welt: Kampfgeist.
Mit unmenschlicher Geschwindigkeit sprintete sie auf die Bogenschützen zu und spaltete die Körper der Männer, die ihren Zorn auf sich gezogen hatten. Sie überließ ihre Bewegungen ganz dem Willen des Schwertes und wirkte so wie eine grazile, aufblühende Blüte auf dem Schlachtfeld, obwohl sich die Farbe ihrer Kleidung mit der des Blutes mischte. Die Vernunft ihrer Angreifer setzte beim Anblick des legendären Schwertes aus und so versuchten sie, gegen jedwede Vernunft, das Mädchen zu stürzen und sich der Waffe anzueignen. Diesen, von der Gier getriebenen, Schwerthieben wich sie mühelos aus, um selbst mit Arashi Treffer zu landen.
Mit einem markerschütternden Kampfschrei stürzte sie sich auf ihre nächsten Opfer, mit Bewegungen die vermuten ließen, sie würde vom Wind getragen. Es schien, als wäre Hachiman, Gott des Krieges, reinkarniert worden und würde durch dieses Mädchen der Schlacht ein Ende bereiten. Jeder Herausforderer fiel nach einem schnellen, bestimmten Hieb leblos zu Boden. Doch, auch wenn kein Mann mehr ihrer Klinge zum Opfern fallen wollte, war dieser Kampf noch nicht vorbei. Ein Kämpfer hatte den Bogens eines toten Schützen ergriffen und noch bevor sich die Sehne entspannte, griff Sakura nach dem Schwert einer der Leichen unter ihren Füßen und zerteilte damit den Pfeil in der Luft während sie auf den Mann zuraste. Mit einem Sprung zweiteilte sie den Krieger mit der Klinge Arashis.
Nach diesem letzten Hieb dieser Nacht, fiel die Kriegerin kraftlos zu Boden, den Schwertgriff fest mit ihrer Hand umklammert. Der erste, der zu ihrer Seite geeilt war, war Keiji. „Sakura, was tust du hier?“, ertönte seine verzweifelte Stimme. Panisch versuchte er seine Schwester wieder aufzurichten, doch sie fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus, dass sich dem Wind beugte. Er starrte mit Tränen in den Augen auf den Pfeil in ihrer Brust. Er hatte ihr Herz verfehlt, doch trotzdem floß das Blut in Strömen ihren Oberkörper hinab. Auch, wenn das Blut ihrer Gegner an ihr klebte, so wusste Keiji, dass auch ein großer Teil davon ihr eigenes war. Ein zu großer Teil. Doch trotzdem hatte er Hoffnungen. Hoffnungen, dass er seine kleine Schwester retten könnte.
Diesen wurde ein jähes Ende bereitet, denn das Wort „Gift“ drang an seinen Verstand und eine Hand legte sich auf seine Schulter. Blut stieg Sakuras Kehle hinauf, doch ihr Körper schien nicht einmal mehr genug Kraft zu haben, um sich diesem zu entledigen. „Diese Hunde waren nicht nur feige und töteten uns aus der Ferne, sollten wir ihre Pfeile überleben, wollten sie gewiss sein, dass wir nicht entkommen würden“, die gebrochene Stimme von Keijis Kameraden hallte über die Lichtung, die von verwundeten Männern bevölkert wurde, welche voller Sorge und Trauer auf ihre Retterin schauten.
„Ich habe versagt“, Sakuras Stimme war nur noch ein Hauch. Mit zitternden Armen sammelte sie die letzte Kraft in ihren Adern, um das blutgetränkte Schwert ihrem Bruder entgegenzuhalten. Dabei fiel ihr verblassender Blick auf das letzte Zeichen, dass am Spitze der Klinge eingraviert war. Yuuki. Mut.
Die folgenden Geschehnisse ließen die restlichen Männer, die sich noch lebend auf der Lichtung befanden, erstarren. Das Leben der jungen Samurai wich nicht klanglos aus ihr Arashi leuchtete auf und zerfiel in einen Stoß von Kirschblüten. Auch der Körper der Auserwählten und die der gefallenen Krieger zerstoben in Kirschblüten und wehten zusammen im Wind über die Lichtung. In den Händen Keijis formte sich ein Amethyst, der von silbernen Kirschblüten umrahmt wurde. Auf der Rückseite des Amuletts war Sakuras Kanji eingraviert.
So wie die zahllosen Kirschblüten über die Lichtung wehten, so flossen die Tränen der Männer ihre Wangen hinab. Das Rauschen des Flusses mischte sich mit den Klagerufen der Männer und Keiji drückte in seiner endlosen Trauer das Amulett an sein Herz.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2015
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