Ich lernte Jeordie, meine wohl erste große Liebe, in der Schule kennen. Damals war ich mit meinen Eltern von San Diego nach Los Angeles gezogen, und ich hatte es nicht leicht.
Ich musste an eine öffentliche Schule wechseln, wo jeder mir in den Arsch treten wollte, weil ich von einer Privatschule war. Um Prügelattacken zu entgehen, drückte ich mich in der Pause an einem der Zäune herum, die die Schule umgaben und beobachtete die anderen, während sie mich mieden.
Plötzlich baute sich ein dunkler Schatten vor mir auf und ich zuckte zusammen. Jeordie raubte mir vom ersten Moment an den Atem. Er war groß, hatte genau die richtige Größe für mich, denn er war nur einen Kopf größer als ich und ich konnte bequem den Kopf an seine Brust lehnen, während seine Arme mich umfangen hielten.
Sandfarbendes Haar fiel ihm lässig in die Augen, es war ein wenig ausgebleicht von der Sonne. Seine Augen waren groß und grün, und ein eigentümliches Funkeln lag in ihnen. Ich konnte durch sein T-Shirt sehen, dass er durchtrainiert war, und die Haut, die sich über seine Armmuskeln spannten, waren ganz leicht gebräunt. Er schenkte mir sein typisches Lächeln, bei dem sich immer kleine Grübchen in seinen Mundwinkeln bildeten und ich verliebte mich sofort in dieses Lächeln.
Belustigt sah er auf mich hinab und hielt mir die Hand hin.
"Ich bin Jeordie. Du bist neu, hab ich Recht?"
Perplex und auch ein wenig atemlos, ergriff ich seine Hand. Man sollte wohl meinen, er würde mir fast die Hand zerquetschen, weil er der Typ dafür zu sein schien, aber der Händedruck war sanft, und hatte etwas beinahe liebevolles an sich.
"Ich bin Wraith. Ja, ich bin aus San Diego hierher gezogen."
Verständnissvoll nickte er und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Bevor einer von uns noch ein Wort herausbrachte, läutete die Schulglocke.
"He, Wraith, willst du heute nachmittag zu mir kommen? Hab eh nichts vor."
Verwirrt nickte ich, und merkte mir seine Adresse.
Seitem waren wir Freunde. Ich verbrachte jede freie Minute des Tages mit ihm und merkte, wie ich mich jede Minute mehr in ihn verliebte. Sagen tat ich es ihm nicht, dafür war ich zu ängstlich.
Doch eines Abends lud er mich dazu ein, ein wenig mit ihm und dem Auto seiner Eltern durch die Gegend zu fahren. Jeordie konnte gut fahren, auch wenn wir ein wenig angetrunken waren. Lachend hetzte er den Wagen einen steilen Weg hinauf und hielt auf einem der Hügel, die außerhalb von L.A. lagen. Kichernd fielen wir beinahe aus dem alten Mercedes und taumelten an den Rand der Böschung. Angeheiter und ein wenig atemlos ließ ich mich in das spärliche Gras fallen und blickte in den klaren Sternenhimmel hinauf.
Jeordie legte sich so dicht neben mich, dass sein Haar an meiner Wange kitzelte. Mein Herz schlug Saltos, und ich hoffte, er merkte es nicht.
Nach einer Weile drehte er den Kopf und hauchte mir seinen warmen Atem auf die Wange. Eine Gänsehaut überlief mich und ich verlor mich beinahe in seinen Augen. In dem Grün waren winzige goldene Punkte zu erkennen.
"Darf ich etwas ausprobieren?", fragte Jeordie und senkte die Stimme zu einem Flüstern. Ich brachte kein vernünftiges Wort zustande, also nickte ich nur.
Ganz vorsichtig beugte er sich ein wenig nach vorne, die Augen halb geschlossen. Zögerlich, als würde er so etwas zum ersten Mal machen, küsste er mich vorsichtig auf den Mund. Sekundenlang konnte ich mich nicht bewegen, aber dann fiel die Starre von mir ab, und ich erwiderte den Kuss heftiger, als mir lieb war.
Mit einem heiserem Knurren in der Kehle schlang Jeordie die Arme um mich und drückte mich in den weichen Boden.
Schließlich ließen wir von einander ab und blickten uns verschämt und ein wenig peinlich berührt an.
"Du küsst gut", murmelte Jeordie. Seine Lippe war aufgerißen, und ich fühlte mcih ein wenig schuldig.
Seit diesem Abend waren wir zusammen. Er war meine erste Liebe, und ich liebte ihn mehr als mein Leben. Ihm schien es genauso zu gehen.
Ein ganzes Jahr nach unserem kennenlernen machten wir unseren Abschluss und zogen zusammen in eine kleine Wohnung. Alles schien gut, wir stritten kaum, und wenn ging es nur darum, wann Jeordie immer nach Hause kam.
Doch eines Abends kam ich zu spät. Ich hatte im Stau gestanden, und wollte heute mal das Kochen übernehmen. Atemlos schloss ich die Wohnungstür auf und lief direkt in die Küche durch. Während ich die braune Einkaufstüte auf die Anrichte stellte, rief ich: "Jeordie! Ich bin wieder da! Der Verkehr ist grauenhaft, das glaubst du kaum." Niemand antwortete, und ich ging ins Wohnzimmer.
Alles war dunkel, keiner war da. Im Schlafzimmer war er auch nicht, aber es lief sein Lieblingssong.
Nervös ging ich zur offenen Terassentür und trat ins Freie. Es roch nach Gras, Autoabgasen und Zitronen. Im dunklen Gras lag eine weiße Gestalt, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es schien zu ahnen, was jetzt kommen würde.
Unaufhaltsam setzten meine Füße sich in Bewegung, brachten mich zu dem Grauen hin. Vor mir lag Jeordie, zusammengerollt und reglos. Mein Kopf war leer, als ich neben ihm auf die Knie fiel.
Vorsichtig schüttelte ich ihn, doch er rührte sich nicht. Tränen liefen über meine Wangen, als ich ihn umdrehte und auf meinen Schoß zog. Seine grünen, seine wundervoll grünen Augen schauten blicklos in den Himmel und ich begann zu zittern. Weinend verbarg ich mein Gesicht an seiner Brust.
Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, bis zwei starke Hände mich am Oberarm packten und auf die Füße zogen. Schreiend schlug ich um mich, wollte nur wieder zu meinem Jeordie.
Die Hände drückten mich auf eine Liege und etwas stach in meinen Arm. Jaulend und weinend wehrte ich mich, bis eine bleiernde Müdigkeit von mit Besitz ergriff und ich in die unendliche Schwärze fiel.
Aufwachen tat ich im Krankenhaus. Ich brauchte ein paar Minuten, um zu verstehen was geschehen war. Und als ich endlich verstand, dass Jeordie tot war, und nie wieder zurückkommen würde, spürte ich einen Schmerz, der unerträglich war, mich von innen zu zerreißen schien und gegen den ich nicht ankam. In meiner Verzweilfung schrie ich meinen Schmerz so lange hinaus, bis Krankenschwestern und Ärzte in mein Zimmer stürmten und mich ruhig stellten. Drei Wochen dauerte es, bis ich nicht mehr schrie, und die Ärzte mich entließen. Ich hatte Jeordies Beerdigung verpasst, und ohne ihn fühlte ich mich so leer.
Bis heute habe ich nie verkaftet, was er getan hat. Mittlerweile zieren zehn Selbstmordversuche meine Akte. Fünf davon an Jeordies Grab, zwei an der Stelle, an der wir uns das erste Mal geküsst hatten und drei weitere an der Stelle, an der er gestorben war.
Wenn euch jemand sagt, dass Zeit alle Wunden heilt, seid euch sicher: er lügt euch dreckig ins Gesicht.
Der Schmerz ist allgegenwärtig, und ich bin unfähig irgendwas zu tun. Ich gehe nicht arbeiten, ich gehe nicht studieren, nichts. Der Schmerz behindert mich darin und hält mich vom Leben ab. Es gibt keinen, den ich haben will. Nur ihn, mit seinen grünen Augen, dem unwiederstehlichen Lächeln, dem sandfarbendem Haar. Manchmal wache ich nachts noch auf und glaube, dass er noch da ist, und wenn ich merke, dass das Bett neben mir leer ist, kommt dieser Schmerz wieder zurück.
Niemand wird ihn ersetzen können, niemand wird jemals an seine Stelle treten. Und jede Minute meines Lebens, bei jedem verdammten Atemzug, den ich noch machen muss, frage ich mich:
Warum hast du das getan?
Texte: Mephisto Manson
Bildmaterialien: magickalgraphics.com
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
In Erinnerung an Jeordie.