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Fremde im Schnee

Fremde im Schnee

Der Tag begann schon regelrecht Scheiße und bis dahin änderte nichts meine Meinung, dass dieser Tag als der Schlimmste und Frustrierende in meine Top 10 Liste eingehen würde.

Es war ein Freitag im Dezember und die Kälte kroch durch alle Ritzen meiner Fenster und Wände. Ich lebte in einer alten Wohnung am Rande eines Dorfes in der Nähe des Dorfflusses. Da das Haus in dem ich lebte schon recht alt und zusammenbröckelnd war, wartete ich täglich darauf, dass mir das Dach auf den Kopf fiel.

Mein Wecker funktionierte seit gestern nicht mehr richtig und als ich erwachte, war es bereits gegen 10 Uhr. Ich nahm den Wecker in meine Hand und da begann er plötzlich zu klingeln. Ich schmiss ihn kurzerhand aus Frust und Schock gegen den Schrank. Mein Schrank dankte es mir mit einem Knarzen und einer zersplitterten Spiegeltür. Ich fluchte, öffnete besagte Spiegeltür, um mir eine Unterhose und Socken herauszunehmen und ich muss wohl immer noch gefrustet gewesen sein, denn ich schloss die Tür zu heftig. Das Resultat waren Glassplitter, die mir vor die Füße fielen. Super, ein vermiester Morgen reichte nicht, jetzt hatte ich mir auch noch 7 Jahre Pech aufgehalst. Die Rate meiner Flüche nahm an diesem Tage drastisch zu, dies musste ich mir leider eingestehen.

Ich angelte mein Handy aus meiner Jeans, welche ich danach hastig überstreifte. Als ich auf das Display sah, leuchteten mir eine Menge entgangener Anrufe entgegen. Von meinem Chef, meinen Arbeitskollegen und – OH – von meiner Mutter! Was rief mich meine Mutter an? Ich wunderte mich einen Augenblick, dann überlegte ich, ob ich die Gefahr wagen sollte und meinen Chef anrufen sollte. Ich entschied, dass es keinen Unterschied machte, ob er mich persönlich oder telefonisch rauswarf, doch da ich an diesem Freitag nichts Besseres zu tun hatte, wollte ich wenigstens wie ein Sieger untergehen. Hörte ich mir selber eigentlich manchmal beim Denken zu? Anscheinend nicht!

Ich schnappte mir einen grauen Pulli und eilte mit meinem Autoschlüssel im Mund hinaus, während ich den Pulli anzog und anschließend meine Jacke überwarf. Ich ließ das Auto sich per Fernöffner aufschließen, sprang hinein und wählte schnell die Nummer meiner Mutter. Gerade, als das Auto ansprang, ging sie ran.

„Hi, Mom, was gibt`s?“

„Markus, bist du schon auf der Arbeit?“

„Wo soll ich sonst sein?“

„Deine Arbeitskollegen haben mich angerufen, ob du krank seist oder einen Unfall hattest.“ – Wie bitte? Woher hatten die bitte die Nummer meiner Mutter?

„Wie kommen die darauf, dass gerade du wüsstest, was mit mir abgeht?“

„Wahrscheinlich überschätzen sie die Bande eines 33 Jährigen Singles zu seiner Mutter.“ – Sie klang übrigens angenervt, da sie mich nicht besonders gern anrief. Obwohl sie allgemein nie gerne mit mir kommunizierte, ob über mediale Mittel noch persönlich. Wahrscheinlich war sie gerade auf irgendeiner Schönheitsfarm und versuchte, ihr Alter aufzuwerten, was meiner Meinung nach stets nach hinten losging.

„Das stimmt wohl.“

„Ich schlage vor, dass du dir endlich mal eine Ehefrau oder wenigstens eine feste Freundin zulegst, welche die nervigen Anrufe deiner Arbeitgeber sicherlich mit Freuden annimmt. Und sollte sie dies nicht tun, kann ich es ihr nicht verübeln.“

„Wie stets bist du meinen Gedanken auf der Spur, liebste Mutter. Aber so anregend das Gespräch über mein Problem mit festen Bindungen mit meiner Erzeugerin auch sein mag, muss ich mich jetzt leider Wichtigeren Angelegenheiten zuwenden.“

„Sohn, wie wäre es mal, wenn du ganz entscheidend etwas an deiner Einstellung ändern würdest?“

„Wie interessant, danke. Aber nein, danke.“

Meine Mutter seufzte theatralisch in den Hörer, um umstehenden anzuzeigen, dass all ihre guten Vorsätze mich richtig zu erziehen an mir verschwendet waren. Schade, dass niemand wusste, dass ich nicht allein daran schuld war. Wir verabschiedeten uns und ich legte hastig auf, warf das Handy auf den Beifahrersitz mit einem Schaudern, welcher mich stets überkam, nachdem ich mit meiner Mutter telefoniert hatte. Ich fuhr vom Parkplatz vor meiner Wohnung herunter und reihte mich in den Verkehr ein. Da ich sowieso schon zu spät war, entschied ich einen Abstecher zur nächsten Bäckerei zu machen und mir eine Quarktasche und einen Kaffee zu holen.

Da anscheinend nicht nur ich heute verschlafen hatte, sondern die halbe Stadt, waren die Straßen voller Menschen und Autos. Vor der Bäckerei stapelten sich die parkenden Autos schon fast und ich stieg aus und schlängelte mich durch die Metallmassen. In der Bäckerei selber wartete ich geschlagene 15 Minuten, bis ich dran kam. Zuerst überlegte ich, ob ich nicht lieber doch wieder ginge und mein Frühstück auf Mittag verschieben sollte, aber Verdammt! Ich wollte doch nur meinen wohlverdienten Morgenkaffee!

Als ich an der Theke stand, schien auch die Verkäuferin meine zutiefst missgünstige Aura zu spüren, denn sie wich einen Zentimeter zurück, lächelte verkrampft und fragte sofort, ob ich einen Kaffee haben wolle. Ich sagte, ja. Danach zählte die Dame mir 10 verschiedene Sorten von Kaffee auf und anschließend 20 verschiedene Geschmacksrichtungen. Ich stand verdattert da und mein Mund trocknete langsam aus, denn mein Mund stand offen. Ich spürte diesen lästigen Nerv unter meinem rechten Auge zucken. Er hatte sich in meinem angespannten, gestressten Gesicht wieder eingeklemmt. Großartig.

„Verdammt noch mal! Sehe ich wie ein 4 Jähriges Kind aus, das sich über Erdbeergeschmack im Kaffee oder Kakao freuen würde? Glauben Sie etwa, ich hätte auch nur eine Minute meines kostbaren Daseins Zeit, darüber nachzudenken, ob ich eher Vanille oder Schoko in meinem Latte Macchiato haben will? Ich will einen schwarzen Kaffee, sonst nichts!“

„Auch keine Milch oder Zucker?“

„Nein! Schwarz und bitter wie meine Seele!“

Die Verkäuferin duckte sich fast hinter ihrem Tresen und den Becher mit dem Kaffee reichte sie mir mit zitternder Hand. Ich knallte ein paar Münzen vor ihr hin, drehte mich schwungvoll um und schritt hinaus. Eigentlich mochte ich sehr wohl Milch und Zucker in meinem Kaffee, aber heute Morgen war sowieso alles im Arsch, also durfte mein Kaffee da keine Ausnahme machen.

Ich setzte mich in mein Auto, stellte den Becher in einen Behälter bei der Armatur und fuhr langsam hinaus. Gerade wollte ich geradeaus fahren, als eine junge Frau sich meinem Auto in den Weg stellte. Ich bremste dermaßen abrupt, dass der Becher aus der Halterung gerissen wurde und seinen Inhalt zur Hälfte über meinen Oberkörper und zur anderen Hälfte über den Beifahrersitz verspritzte. Mein Handy bekam dabei die meiste Ladung ab. Ich fluchte und rieb meinem Kopf, welcher unsanft nach vorne geschleudert worden war. Ich schaute auf, da war die junge Frau verschwunden und eben in jenem Moment öffnete sich meine Beifahrertür. Ich starrte verdattert auf den ungebetenen Gast.

Es war die junge Frau, deren langes, rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden war, doch einige der Haare hatten sich irgendwie gelöst und wirbelten ungebändigt um ihr herzförmiges Gesicht. Ihr geruschelter Pony stand zu allen Richtungen ab und reichte ihn über die Augenbrauen. In ihren Ohrläppchen steckten türkisfarbene Rosenstecker und ihre hellblauen Augen blickten mir direkt und unerschrocken in meine Augen. Sie trug eine zerschlissene Jeans und Wildlederstiefel. Ihr schwarzer Pulli hatte große Maschen und schien nicht besonders wärmend zu sein. Um ihrem Hals war ein Knielanger Schal mit grünem karierten Muster geschlungen.

„Hey? Alles okay? Tut mi leid wegen eben, aber du musst mir helfen!“ – Ihr Stimme war hoch, aber nicht schrill. Eher wie das Zwitschern vieler Sperlinge.

„Ich muss gar nichts, außer schnellstens zur Arbeit zu kommen!“

„Zur Arbeit?“ – Ihre Augenbrauen hoben sich beängstigend. „Ich wusste nicht, dass es Menschen gibt, die so spät zur Arbeit fahren.“

„Anscheinend doch. Und im Übrigen solltest du doch auch dahin, oder nicht?“

Sie lachte. „Ich bin bei der Arbeit. Du musst dem Auto hinterherfahren.“ – Sie zeigte auf einen blauen Opel älteren Baujahrs. Ich vermutete vom Anfang der 90er.

„Wieso sollte ich?“

„Bitte! Es ist wichtig! Du hilfst mir damit!“

„Verdammt! Wenn ich meinen Job wegen dir verlieren, dann…“

„Du bist echt lustig! Und jetzt hör auf, dich zu beschweren und fahr dem Auto so schnell wie möglich hinterher!“ – Sie lachte schon wieder.

Ich trat das Gaspedal durch und fuhr dem Auto hinterher. Dieses fuhr auf die Autobahn und ich fuhr so schnell wie möglich hinter ihn her. Die junge Frau neben mir jubelte und feuerte mich an, schneller zu fahren. Das blaue Auto fuhr ebenfalls immer schneller, also hatte es wohl seine Verfolger bemerkt. Ich war so konzentriert damit beschäftigt, den anderen Autos auszuweichen und das blaue Auto nicht zu verlieren, das ich ganz vergaß, dass ich eigentlich zur Arbeit musste. Ich bewegte mich gerade in die entgegengesetzte Richtung. Außerdem hatte es angefangen, stark zu schneien und ich sah wegen des Schneegestöbers kaum die Fahrbahn. Wenn man es genau nahm, dann war mein Fahrverhalten absolut unverantwortlich und selbstmörderisch noch dazu. Doch diese junge Frau mit ihrer hellen Vogelstimme schien mit ihrem Feuer meine gedrückte Stimmung anzuspornen und das Fahren verpasste mir einen Adrenalinstoß. Ich vergaß alles um mich herum, außer der Fahrbahn und der Frau neben mir.

Bald darauf fuhr der blaue Wagen ab und ich folgte ihm immer noch. Doch als das Auto auf einem Parkplatz zu einer großen Filialstelle eines Getränkeherstellers parkte und ein verängstigter, dicklicher Mann ausstieg, hielt ich verdattert an. Der Mann rannte unbeholfen durch das Schneetreiben und rette sich mit wehendem Mantel und an sich gedrückter Aktentasche in das Gebäude.

„Was hat das zu bedeuten? Soll ich in das Gebäude gehen und ihn herausholen?“

„Wozu?“ – Nun war sie verdattert.

„Na, er hat doch etwas ausgefressen, oder nicht?“

„Wie kommst du darauf?“

„Wie ich…? Hallo?! Du hast mir gesagt, ich solle ihm folgen!“ – Ich wurde schon wieder sauer.

„Das stimmt, aber ich habe mit keinem Wort erwähnt, dass er etwas ausgefressen hat. Ich wollte, dass du wieder gute Laune bekommst.“

„Ist dir wirklich herrlich gelungen!“ – Ich schnauzte sie fast an.

„Naja, ja. Ich meine, hast du auf der Autobahn eben nicht vergessen, wieso du überhaupt diese Sache machst? Dass du verschlafen hast und der Tag schlecht war? Jetzt kannst du tief durchatmen, lachen und hast einen Grund, wieso du zu spät kommst.“

Ich lauschte, dann fragte ich langsam: „Woher weißt du, dass ich verpennt habe?“

Sie lächelte nur, öffnete die Tür und ein Schwall kalte Luft drang ins beheizte Auto zusammen mit vielen Schneeflocken. Sie stieg aus, blickte immer noch lächelnd zurück, der Wind zerzauste ihr Haar noch mehr, warf die Enden ihres Ellenlangen Schals hin und her. Sie beugte sich hinab, um mich ansehen zu können und sagte:

„Heute ist der Morgen vor Weihnachten. Ich konnte doch nicht zulassen, dass du diesen Tag mit deiner schlechten Laune erlebst. Ich will, dass alle an diesem Tag glücklich und entspannt sein können, weil sie sich doch immer so stressen. Wer wäre ich denn, wenn ich den Menschen nicht die Freude am Schnee und an dieser Jahreszeit brächte.“

Damit schloss sie die Tür und ging davon. Ich versuchte, zu sehen, wo sie hinging, doch ihre Gestalt verlor sich im Schneegestöber. Ich war mir nicht sicher, ob sie ein gewöhnlicher Mensch war, denn ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass ich der personifizierten Jahreszeit Winter begegnet war. Wenn dem so war, dann war sie ganz anders, als wie man sich den Winter so vorstellt.

Ich schüttelte meinen Kopf und lachte.

Am Ende war es egal ob menschlich oder nicht: Sie hatte mir meinen Tag gerettet und jeden Morgen, wenn mein Tag wieder mies zu werden beginnt, denke ich an dieses Erlebnis und es heitert mich auf. Obgleich der Strafzettel ein heftiges Loch in mein Erspartes riss…

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Tag der Veröffentlichung: 29.08.2013

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