Cover

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„Willkommen in meinem Schloss. Treten Sie unverzagt herein

und lassen Sie etwas von dem Glück hier,

das Sie mit sich bringen.

Ich bin Dracula…“

 

Aus: Bram Stoker’s Dracula (1992), Columbia Pictures

Kapitel 1

„Verdammt!“

Verzweifelt schlug ich auf das Lenkrad, doch weder die Anwendung von Gewalt noch der Fluch brachten das Auto wieder zum Laufen.

Der Regen prasselte laut auf das Dach und der Wind zerrte wüten an den hohen Bäumen, die die schmale Straße säumten. Donner grollte in den Bergen und ein Blitz zuckte über den schwarzen Himmel. Mit einem zittrigen Flackern verabschiedeten sich nun auch die Scheinwerfer und ich saß im Dunkeln.

„Okay. Jetzt dreh nicht durch“, wisperte ich und zog die Handbremse an.

Mit klammen Fingern nestelte ich mein Handy aus meiner Hosentasche. Das Gerät teilte mir mit einem schuldbewussten Piepsen mit, dass ich kein Netz hatte.

Da war ich also. In tiefster Nacht auf einer kleinen Straße in den Karpaten, ohne eine Möglichkeit, Hilfe zu holen, und wartete darauf, dass eine anderes Auto um die Kurve schoss und in mein Heck bretterte.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Hier würde kein anderes Auto vorbei kommen. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Ich kramte eine Straßenkarte aus dem Handschuhfach und versuchte im Licht des Handydisplays meine Position auszumachen. Nach fünf Minuten war ich mir fast sicher, dass wenn ich nach links über die Böschung kletterte eine Abkürzung zur Hauptstraße finden würde, anstatt eine Stunde lang den Weg zurückzulaufen, den ich gekommen war.

Fest entschlossen, nicht die ganze Nacht im langsam auskühlenden Auto zu sitzen, dessen Dach jederzeit durch herabstürzende Äste eingedruckt werde könnte, holte ich meine Jacke vom Rücksitz und stieg aus.

Der kalte Wind fuhr mir durch die Haare und ich erschauerte. Noch bevor ich die Straße verlassen hatte, war ich bis auf die Knochen durchnässt. Ich beugte mich mit meinem Handy über die Karte und begann die Böschung hochzusteigen. Das nasse Laub und die lose Erde rutschten unter meinen Füßen weg und mehrmals fiel ich in den Dreck. Schließlich kapitulierte ich und steckte die Karte und das Handy ein, um die Hände frei zu haben, um mich an niedrigen Ästen festzuhalten.

Nach fünf Minuten stand ich keuchend oben und versuchte durch den Regen das Geräusch von fahrenden Autos auszumachen. Irgendwo hier musste die große Straße sein.

Über mir hörte ich ein bedrohliches Knacken. Mit einer dunklen Vorahnung wandte ich den Blick nach oben. Ein schwarzer Gegenstand fiel mir entgegen und mit einem Schrei warf ich mich zur Seite, doch es war zu spät. Der Ast traf mich hart an der Schulter und ich verlor das Gleichgewicht und fiel. Mich selbst überschlagend fiel ich den Hang auf der anderen Seite wieder hinunter, wobei Büsche und kleine Bäume meinen Sturz unsanft bremsten. Zweige rissen an meiner Kleidung ich bekam Erde in den Mund.

Stöhnend kam ich in der Senke zum Liegen. Mein ganzer Körper schmerzte und mir war schwindlig. Hustend und spuckend versuchte ich wieder zu Atem zu kommen, doch mein Herz raste unentwegt. Vorsichtig tastete ich meinen Körper ab, doch es schien nichts gebrochen zu sein. Etwas anderes bereitete mir aber viel größere Sorgen. Mein Handy befand sich nicht mehr in meiner Jackentasche. Panisch kämpfte ich mich hoch und kroch auf allen Vieren wieder in die Richtung aus der ich gekommen war, doch in der Dunkelheit war es unmöglich irgendetwas zu erkennen. In diesem Dickicht hätte ich es wahrscheinlich nicht einmal bei Tag gefunden.

„Verdammt“, wiederholte ich, dieses Mal jedoch Schmerz verzerrt.

Ich sah mich um und versuchte mich zu orientieren, doch alle Bäume sahen gleich aus. In welche Richtung musste ich jetzt? Ich war mir nicht einmal mehr sicher, wo mein Auto stand. Warum zur Hölle war ich überhaupt ausgestiegen? Es war doch absolut hirnrissig mitten in der Nacht während einem Unwetter einfach in einem Wald auszusteigen und auf eigene Faust loszugehen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Hier gab es sicher Wölfe und andere wilde Tiere, die ich mit dem Krach, den ich veranstaltet hatte, sicher auf mich aufmerksam gemacht hatte.

Ich zwang mich ruhig zu atmen. Anstatt in Panik auszubrechen, sollte ich lieber den Zigeuner verfluchen, der mir diese Schrottkarre verkauft hatte. War doch klar gewesen, dass sie liegenblieb, sobald ich zu weit entfernt war, um wieder zu ihm zurückzukehren.

Obwohl es nutzlos war, sollte ich zum Auto zurück. Ich hatte keine Ahnung wo die Hauptstraße genau lag und im Wagen war schließlich mein ganzes Gepäck. Doch als ich es endlich über die Böschung geschafft hatte, war da kein Auto. Ich musste den falschen Hang genommen haben, denn die Straße, die hier verlief, war fiel mehr ein Feldweg.

Der Regen schlug auf mich nieder, während ich unentschlossen da stand. Meine Eingeweide waren verkrampft, dennoch gelang es mir die Angst niederzukämpfen. Noch war alles in Ordnung. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und sicher würden auch andere Menschen auftauchen. Ich war ja nicht im absoluten Hinterland von Rumänien. Nur in den Karpaten in Transsilvanien. Der Heimat von Graf Dracula und allen anderen Monstern der Dunkelheit.

Okay, ich hatte Angst. Aber das war kein Grund aufzugeben. Zitternd zerrte ich die aufgeweichte Karte aus meiner Jackentasche, doch in der Dunkelheit war es unmöglich irgendetwas zu sehen. Ich konnte kaum den Weg unter meinen Füßen ausmachen.

Dafür sah ich etwas anderes. Etwas glänzte im Gebüsch. Etwas reflektierte das kaum vorhandene Licht und es war nicht allein. Da waren mehrere Punkte, die in der Luft schwebten und näher kamen.

Ein weiterer Blitz erhellte die Nacht und ich schrie auf, als ich für einen Augenblick kürzer als eine Sekunde, die abgemagerten, zotteligen Wölfe sah, die vor mir auf dem Weg standen. Wie Dämonen lechzten sie mir entgegen, bereit zur Jagd.

Ich wirbelte herum und rannte. Sofort wurde mir klar, dass das das Dümmste war, was ich in dieser Situation machen konnte. Sie waren schneller als ich und sie waren zu fünft, und dadurch dass ich meinen Instinkten nachgab, reizte ich sie nur noch mehr. Doch es war mir egal. Ich rannte um mein Leben, schneller als ich je zuvor gerannt war.

Die Kutsche erschien wie aus dem Nichts. Schreiend und voller Adrenalin hechtete ich vor den schwarzen Rössern zur Seite, deren nasses Feld im Schein zweier kleiner Laternen auf dem Kutschbock erleuchtet wurde. Die Kutsche rollte noch einige Meter weiter, dann verstummte das Hufgetrappel und die Tür schwang auf.

Ein Mann stieg aus. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der bis zum Boden reichte und einen Hut. Im Licht der Laternen war er kaum mehr als ein Schatten, der sich von der Nacht abhob. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, doch ich spürte seinen Blick.

„Hilfe“, presste ich atemlos hervor, ohne daran zu denken, dass der Mann mich vielleicht gar nicht verstehen konnte. „Wölfe! Hilfe! Bitte.“

Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand um mir aufzuhelfen.

„Kommen Sie. Ich bringe Sie in Sicherheit“, sagte der Mann auf Deutsch mit einem leichten rumänischen Akzent und zog mich hoch.

Als ich vor den Pferden aus dem Weg gesprungen war, hatte ich mir den Fuß verdreht und er schmerzte höllisch, doch der Mann stützte mich und half mir in die altmodische Kutsche zu steigen. Er rief dem Kutscher etwas auf Rumänisch zu, dann setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung.

„Aber da sind die Wölfe“, war das erste was ich herausbrachte, als ich nicht mehr nur hysterisch nach Luft schnappte.

„Meine Kutsche greifen sie nicht an“, sagte der Mann.

„Oh“, machte ich.

Mein Herz raste immer noch wie verrückt und obwohl ich wusste, wie viel Glück ich gehabt hatte, wollte meine Angst nicht verschwinden. Nervös sah ich aus den Fenstern der Kutsche, doch außer den Schatten der vorbeihuschenden Bäume konnte ich nichts erkennen. Ich fühlte mich wie in der Falle, weil ich selbst nicht mehr weglaufen konnte.

„Seien Sie ruhig“, meinte der Mann plötzlich und legte eine Hand auf meine Schulter. „Es wird Ihnen nichts geschehen.“

Ich zuckte unter der Berührung zusammen, doch er verstärkte den Druck seiner Hand und langsam beruhigte sich mein Puls. Ich musste nicht mehr weglaufen. Es war alles gut.

Der kleine Raum wurde von einer an der Decke schwingenden Laterne erhellt. Doch das Gesicht des Mannes erkannte ich erst, als er seinen Hut abnahm. Er war jung, doch seine Züge waren hart und kühl. Im Lichteinfall wirkten seine Wangenknochen spitz und die Wangen hohl. Sein Kiefer war markant und seine Stirn hoch. Er hatte tief schwarzes Haar, bleiche Haut und seine Augen waren stählern und beinahe farblos grau. Er wirkte wie ein Porträt seiner Selbst, auf dem alles was am Modell nicht perfekt gewesen war, ausgemerzt worden war. Zeitlos und kalt. Und wunderschön.

„Wenn Sie erlauben, stelle ich mich vor. Mein Name ist Darian Ionescu. Ich bewohne ein Anwesen hier in der Nähe.“

Seine Stimme war tief und ruhig und trotz des Akzents war sein Deutsch fehlerfrei. Einen Moment lang starrte ich ihn nur an, dann riss ich mich los.

„Ich bin Mina Schiller. Mein Auto ist liegengeblieben. Ich habe versucht eine Abkürzung zur Hauptstraße zu finden.“

„Das war …“

„… dumm, ich weiß“, gab ich zu und lächelte schuldbewusst.

„Ich wollte sagen gefährlich.“

„Ja. Das auch.“

Er schwieg einen Augenblick.

„Sie sind Deutsche.“

Es war keine Frage, aber ich nickte trotzdem.

„Was machen Sie hier? Das ist nicht gerade eine Urlaubsgegend.“

„Das ist eine lange Geschichte. Sagen wir, ich wollte das Land kennenlernen.“

Er musterte mich mit einem undurchdringlichen Blick und ich schob noch hinter her: „Danke, dass Sie mich gerettet haben.“

Er nickte leicht.

Die Kutsche bog um eine Kurve und ich hörte Kies unter den Rädern knirschen.

„Ich lade Sie ein, die Nacht hier zu verbringen. Morgen werde ich sehen, wie ich Ihnen mit Ihrem Auto helfen kann.“

„Danke. Das ist wirklich nett“, sagte ich und schluckte.

Wäre er nicht gewesen, wäre ich jetzt Wolfsfutter.

Die Kutsche hielt an und Darian beugte sich über mich, um die Tür zu öffnen. Als der Wind hereinfuhr lief mir ein Schauer über den Rücken und erst jetzt fiel mir auf, wie durchgefroren ich war. Ich schlang meine Arme um mich und wartete, bis Darian ausgestiegen war. Wieder hielt er mir seine Hand hin, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, und ich ergriff sie zögerlich bevor ich ausstieg.

Ich konnte das ganze Ausmaß des Gebäudes, auf das wir zugingen, in der Dunkelheit nicht erkennen, doch die Silhouette, die vor mir aufragte, machte den Eindruck eines kleinen Schlosses.

Durch eine kleine Seitentür betraten wie einen dunklen Flur und gelangten durch ihn in eine Küche. Eine Frau mittleren Alters in einer weißen Schürze kam auf uns zugeeilt und begann aufgeregt auf Rumänisch zu sprechen.

„Ioana“, unterbrach Darian sie ohne die Stimme zu erheben und sie verstummte augenblicklich.

Er sagte etwas auf Rumänisch und sie nickte eifrig.

„Sind Sie verletzt, Fräulein?“, fragte sie mit einem starken Akzent.

„Ich glaube, ich habe mir den Fuß verstaucht.“

„Hier, nehmen Sie Platz“, sagte sie eifrig und drückte mich auf eine Bank aus dunklem Holz.

Dann kniete sie sich vor mir hin und ich sog scharf Luft ein, als sie mir vorsichtig meinen Schuh auszog. Bereits jetzt war der Knöchel stark angeschwollen. Ich beugte mich vor, um meine Hose hochzuziehen.

„Aber Sie bluten ja!“, rief Ioana aus und zog die Hose weiter hoch, wobei sie eine tiefe Schramme auf meinem Schienbein freilegte.

Ich verzog das Gesicht und wandte den Blick ab. Dabei sah ich zu Darian hoch, der sich halb weggedreht hatte und den Herd anstarrte, als wolle er ihn massakrieren. Überraschend runzelte ich die Stirn. Doch bevor ich fragen konnte, was ihn so verärgerte, ergriff er bereits das Wort.

„Meine Haushälterin Ioana wird sich um Sie kümmern. Ich ziehe mich jetzt zurück. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

„Danke. Gute Nacht“, sagte ich verblüfft und sah ihm nach, als er die Küche verließ.

„Hat er etwas?“, fragte ich Ioana mit gedämpfter Stimme, als er weg war.

„Nein, nein. Ist alles in Ordnung“, antwortete sie etwas zu schnell und hielt den Blick gesenkt.

Stille legte sich über uns, während sie mein Bein verarztete.

„Ich bin übrigens Mina“, sagte ich nach einer Weile.

„Ein schöner Name. Woher kommen Sie?“

„Aus Marklingen. Das ist ein kleines Dorf in Süddeutschland.“

„Ja? Ich komme auch aus einem Dorf. Es liegt nicht weit weg vom Schloss.“

„Wie heißt es?“

„Bantuit.“

Ich überlegte einen Moment, doch ich konnte mich nicht erinnern auf der Karte einen Ort mit diesem Namen gesehen zu haben. Aber wahrscheinlich war es einfach nur zu klein um eingezeichnet zu sein.

„Waren Ihre Vorfahren Deutsche?“, fragte ich, um das Gespräch am Laufen zu halten.

Ioana lächelte mich überrascht an.

„Ich weiß, dass man an den großen Schulen hier Deutsch lernt, weil die Siebenbürger Sachsen hier gesiedelt haben. Aber in kleinen Dörfern hätte ich das nicht erwartet“, erklärte ich.

„Meine Großmutter war Deutsche, sie hat mich Sprache gelehrt.“

Sie steckte den Verband fest und stand auf.

„Wollen Sie essen, Fräulein?“

„Nein danke, etwas zu trinken und ein Bett ist alles was ich gerade will.“

Sie lächelte und goss mir ein Glas Wasser ein. Ich trank es in einem Zug leer, dann stand ich vorsichtig auf, ohne meinen verletzten Fuß zu belasten.

Ioana führte mich eine schmale Wendeltreppe hinauf. Ich nahm an, dass es sich um den Dienstbotengang handelte, da die Decke niedrig war und es keine Fenster gab.

„Sie sind im blauen Zimmer“, erklärte sie mir, als sollte mir das etwas sagen.

Wir traten durch eine Tür auf einen größeren Flur, der mit dickem, dunkelrotem Teppich ausgelegt war und dessen Wände mit Gemälden geschmückt waren, die eine vergangene Zeit zeigten. Durch eine Tür aus dunklem Holz betraten wir ein kleines Zimmer. Die Wände waren in einem hellen Blau gestrichen und die Möbel waren weiß, bis auf das große Himmelbett, dessen Samtvorhänge dunkelblau waren. Derselbe Stoff verdeckte ein Fenster und der Boden war aus dunklem Parkett. An der Wand gegenüber dem Bett hing ein Gemälde, das sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der Hintergrund war wie eine schwarze Gewitterwolke aus der ein düsterer Mann in einem schwarzen Talar hervortrat. Er war nur vom Gürtel aufwärts abgebildet und er hatte die Hände vor einer Bibel vor seiner Brust verschränkt. Als ich näher herantrat entdeckte ich einen Rosenkranz, der sich zwischen seinen Fingern wand.

„Wer ist das?“, fragte ich fasziniert.

Ich konnte meinen Blick nicht von dem düster dreinblickenden Mann wenden. Er übte eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich mi absolut nicht erklären konnte.

„Ein früherer Graf der Familie Ionescu. Er lebte vor zweihundert Jahren“, sagte Ioana etwas kurz angebunden und ich drehte mich um.

„Herr Ionescu ist ein Graf?“, folgerte ich überrascht aus ihren Worten.

Ihr Blick hellte sich auf und sie nickte eifrig.

„Heute gehört der Familie nur noch das Anwesen, die Gegend des Dorfes und ein kleiner Teil vom Wald. Viel Land ging verloren, doch der Titel nicht“, sagte sie stolz, als wäre es ihr eigener Verdienst.

Aus ihrem Verhalten leitete ich ab, dass sie Darian sehr mochte und er ein guter Mensch sein musste. Ich fand das sehr beruhigend, immerhin war ich im Haus eines Fremden, über den ich nichts wusste.

„Gehen Sie jetzt ruhen“, sagte Ioana und schenkte mir ein letztes Lächeln. „Der Strom geht nicht wegen Sturm, ich lasse Ihnen Kerze da.“

Sie stellte den altmodischen Kerzenhalter, den sie aus der Küche mitgebracht hatte, auf dem Nachttisch ab.

„Danke“, erwiderte ich schnell, bevor sie den Raum verließ.

Als ich allein war, atmete ich tief durch. Was für eine Nacht. Ich wäre fast gestorben und war von einem mysteriösen Fremden gerettet worden, der mitten in der Nacht mit einer Kutsche über Waldwege fuhr. Wenn sein Name Dracula gewesen wäre, hätte es mich nicht gewundert.

Kopfschüttelnd machte ich mich daran, meine nassen verdreckten Kleider auszuziehen. Als ich die Vorhänge des Bettes zurückschlug, entdeckte ich ein langes weißes Nachthemd, das auf der Bettdecke lag. Ob Darian es dort für mich hingelegt hatte? Ioanas Größe war es jedenfalls nicht, und ich fragte mich, ob es seiner Frau gehörte. Falls er eine Frau hatte.

Ich war viel zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen und kaum hatte mein Kopf das Kissen berührt, klappen meine Augen zu und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Mina Schillers Tagebuch

 

  1. Oktober/zuhause. Abends.

Ich kann es nicht fassen. Ich fasse es nicht. Drei Jahre Beziehung, drei Jahre gemeines Leben und dann das. Ich bin so wütend, dass ich nicht mal weinen kann. Man schenkt jemandem sein Herz und sein Vertrauen, man baut eine gemeinsame Zukunft auf und dann ist vom einen auf den anderen Tag alles vorbei. Weil er ein besseres Angebot bekommen hat. Was war ich denn für ihn?! Ein zeitliches Arrangement, solange alles andere gepasst hat? Eine Bequemlichkeit? Wenigstens weiß ich jetzt, was er für mich ist. Ein Arsch. Eine Platzverschwendung, die dankbarer Weise aus meinem Leben getreten ist.

 

  1. Oktober/zuhause. Nachts.

Eigentlich bin ich selbst schuld. Ich habe meine Träume für ihn aufgegeben und erwartet, dass er das auch für mich tut. Das war dumm. Noch immer bin ich wütend, aber ich kann klarer denken. Er hat recht, entweder jetzt leben oder gleich alt werden. Wenn er das kann, kann ich das schon lange.

 

  1. Oktober/im Flugzeug. Morgens.

Es ist so weit. Ich kann es gar nicht fassen! Aber dieses Mal auf eine positive Art. Aber ich werde alles von vorne berichten.

Schon immer wollte ich dieses Land besuchen. Anfangs vielleicht nur aus dem kindlichen Wunsch, die Heimat von Graf Dracula zu sehen, aber später kamen weitere Gründe dazu. Die Geschichte, die Mythologie, ich will das alles selbst sehen. Für meinen  Beruf und mich wird es eine Bereicherung sein. Außerdem will ich eine Zeit lang alleine und selbstständig sein. Ich denke, diese Auszeit vom Leben habe ich mir verdient.

Jedenfalls habe ich alle Brücken abgebrochen und mir kurzerhand einen Flug nach Sibiu gebucht und bin jetzt auf dem Weg dorthin. Sibiu ist eine Stadt in Siebenbürgen. Der rumänische Name dieser Region des Landes ist Transsilvanien. Ich will die großen Städte dort besuchen, die schwarze Kirche in Brasov sehen, das Schloss Bran in Sighisoara besichtigen und über das Land fahren, die Karpaten und das Volk kennenlernen. Und was für ein Glück ich mit meinem Redakteur habe! Natürlich wird mir die Reise nicht bezuschusst, weil ich ja eigentlich eine Auszeit genommen habe, aber er wird mir die Artikel, die ich über meine Erlebnisse schreibe, abkaufen und drucken. Ich hoffe, dass ich damit und mit meinen Ersparnissen mehrere Monate in Rumänien bleiben kann.

Hier oben, tausende Meter über der Erdoberfläche, fühle ich mich zum ersten Mal seitdem Michael schlussgemacht hat, richtig frei. Es ist, als hätte ich eine schwere Last in Deutschland zurückgelassen und würde mich in ein neues Leben aufmachen.

Ja, ich verstehe, warum er das Jobangebot angenommen hat. Das schmälert nicht  meine Wut auf ihn oder den Schmerz des Vertrauensbruchs und den Verlust … Und obwohl er ein herzloses Arschloch ist, verstehe ich, warum er weg wollte. Aber ich will jetzt nicht mehr an ihn denken. In den letzten Jahren habe ich viel zu viele Gedanken an ihn verschwendet. Jetzt bin ich dran.

Kapitel 2

 

Die Aufregungen der Nacht ließen mich weit in den Tag hinein schlafen. Am Nachmittag war die Sonne über das Schloss gewandert und sandte ihre Strahlen durch das kleine Erkerfenster des Zimmers. Mir war angenehm warm und das Federbett schmiegte sich an mich, sodass ich nur sehr langsam und wiederwillig aus meinem Schlaf auftauchte. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo ich mich befand. Langsam drängten sich die Erinnerungen an die letzte Nacht auf und ich kniff reflexartig die Augen zusammen. Das hielt die Bilder aber nicht zurück. Wie hatte ich nur so dumm sein können aus dem Auto auszusteigen? Kein vernünftiger Mensch würde so etwas tun.

Ich streckte mich müde und bewegte dabei ausversehen meinen Fuß. Ein stechender Schmerz erinnerte mich an die Verletzung  und ich setzte mich vorsichtig auf. Ich schlug die Bettdecke zurück und inspizierte den Verband, den Ioana mir angelegt hatte. Er saß immer noch gut, obwohl mein Knöchel sich nicht mehr ganz so geschwollen anfühlte.

Langsam stand ich auf, wobei ich mich an einem der Bettpfosten festhielt, und stellte fest, dass ich zumindest auf eine humpelnde Weise gehen konnte. Auf der weißen Bauernkommode lag frische Kleidung und das, was ich gestern angehabt hatte, war verschwunden. Ich musste wirklich tief geschlafen haben, wenn ich nicht einmal gemerkt hatte, wie jemand ins Zimmer kam.

Bei der Kleidung handelte es sich um Unterwäsche, eine Strumpfhose und ein bodenlanges graues Wollkleid. Es hatte die gleiche Größe wie das Nachthemd und wieder drängte sich der Gedanke an eine Gräfin auf, die bisher noch niemand erwähnt hatte. Ich zog mich an und schlüpfte in die Filzpantoffeln, die ebenfalls bei dem Kleiderstapel gelegen hatten und trat leise auf den Flur hinaus, wobei ich mich an der Wand abstützte um meinen Fuß zu entlasten.

Die schmale Tür, die direkt zur Küche führte und die Ioana mich in der vergangenen Nacht hinauf geführt hatte, war verschlossen und so wählte ich die breite Treppe, die wie der Flur mit dunkelrotem Teppich ausgelegt war. Sie bog zwei Mal nach links um die Ecke und öffnete sich in einen weiteren Flur, der dem oberen glich. Am Ende des Ganges stand eine Tür halb offen und ich hörte leise Geräusche von dort. Da ich keinen anderen Anhaltspunkt hatte, wo ich meinen Gastgeber finden konnte, folgte ich diesem. Mich weiter an der Wand abstützend humpelte ich den Gang entlang und drückte dann vorsichtig die schwere Eichentür weiter auf.

Dahinter befand sich ein kleiner Salon. Die Wände waren Holz vertäfelt und massive Regale, die mit in Leder gebundenen Büchern, kleinen Büsten und derlei Dingen gefüllt waren, reihten sich an der Wand neben der Tür entlang. An der Decke hing ein Kristallkronleuchter, in dem jede zweite Kerze durch eine elektrische Lampe ausgetauscht worden war. An der Wand links waren zwei hohe, schmale Fenster und zwischen ihnen war ein großer Kamin in die Wand eingelassen. Im Halbkreis zu diesem Kamin gerichtet standen zwei altmodische Sofas mit Samtbezug und eine Chaise longue mit einem ausgeblichenen Paisley Muster. An der Wand mir gegenüber stand ein alter Sekretärtisch auf dem einige Papiere lagen.

Als ich in den Raum eintrat und mich nach rechts wandte, erblickte ich ein imposantes Gemälde, auf dem ein gutaussehender Mann im Frack, den ich als Darian wiedererkannte, und eine wunderschöne Frau mit dunklem langen Haar und einem smaragdgrünen, bodenlangen Kleid abgebildet waren. Sie hielt ein Baby in den Armen und obwohl die Geste herzlich war, wirkte sie seltsam kühl und teilnahmslos.

Unter dem Gemälde fand ich den Verursacher der Geräusche, die ich gehört hatte. Ein kleiner Junge, die gealterte Version seines Abbilds auf dem Gemälde, saß auf dem Boden und spielte mit kleinen Figuren, wobei er leise vor sich hin murmelte. Er saß mit dem Rücken zu mir und schien mich noch nicht bemerkt zu haben. Der Junge strahlte eine solche Ruhe und Unschuld aus, dass ich unwillkürlich lächeln musste und mich entspannte.

„Hallo“, sagte ich freundlich, um ihn nicht zu erschrecken.

Er drehte sich um und sah mich interessiert an. Sein dunkles Haar, das dem seiner Mutter auf dem Gemälde glich, und die leuchtenden braunen Augen hoben sich stark von seiner fast weißen Haut ab.

„Buna“, wiederholte ich die Begrüßung auf Rumänisch und wartete auf eine Reaktion.

„Hallo“, sagte der Junge schließlich schüchtern in nahezu Akzent freien Deutsch. „Ich bin Liviu.“

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Liviu“, meinte ich und kam näher. „Ich bin Mina.“

Liviu nickte, als würde ihm diese Information ausreichen und wandte sich wieder seinem Spielzeug zu.

„Ist das deine Mutter auf dem Bild?“, fragte ich und Liviu hob kurz den Kopf, als wäre er sich nicht sicher und müsste seine Annahme überprüfen.

„Ja“, sagte er dann. „Aber sie ist grade nicht da.“

Ich nickte langsam.

„Und dein Vater? Ist der da?“

„Nein.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn. Warum ließen die Eltern den Jungen allein im Haus? Er konnte kaum älter als fünf sein und sollte nicht unbeaufsichtigt gelassen werden. Dann viel mir wieder ein, dass die Ionescus eine sehr reiche Familie sein mussten – immerhin lebten sie in einem Schloss. Vielleicht hatten sie also nicht nur eine Haushälterin, sondern auch ein Kindermädchen.

„Ist denn ein Kindermädchen hier?“, fragte ich, nachdem ich mit meinem Gedankengang zu dieser Schlussfolgerung gekommen war, aber Liviu schüttelte zu meiner Überraschung den Kopf.

„Sie ist letzte Woche weg gegangen. Bist du mein neues Kindermädchen?“, wollte er wissen und ich war über den offenen, hoffnungsvollen Tonfall überrascht.

„Nein, ich bin …“ Kurz überlegte ich, wie ich meine Situation darstellen sollte. „Ich bin auf der Durchreise. Aber mein Auto ist kaputt gegangen und dein Vater war so nett mich mitzunehmen.“

„Ach so.“

In diesem Moment kam Ioana in den Salon und strahlte mich herzlich an.

„Ich habe Stimme gehört und mir gedacht, Sie sind wach. Wollen Sie essen?“

„Äh ja, das wäre nett“, sagte ich verlegen.

„Warten Sie hier, ich bringe!“

Ich holte Luft, um meine Hilfe anzubieten, doch da war sie schon durch die Tür gewuselt. Stirnrunzelnd strich ich mir durchs Haar, und während der Bewegung fiel mir erst ein, wie durcheinander es sein musste. Grob fuhr ich mit meinen Fingern durch die blonden Locken, gab den Versuch sie zu bändigen, aber schnell auf. Wenn Ioana wieder kam musste ich sie nach einem Badezimmer fragen.

„Was spielst du denn?“, fragte ich Liviu und setzte mich neben ihn auf den Boden.

 

Mein neuer Freund und ich waren völlig in die Welt der Ritter und Burgen vertieft, als Ioana mit einem Silbertablett zurückkam. Darauf befanden sich eine Platte mit Sandwiches und zwei Gläser Milch.

Sie stellte das Tablett auf einen Beistelltisch neben der Chaise longue und sagte etwas auf Rumänisch zu Liviu. Der Junge lachte vergnügt. Ich stand auf und ging zu Ioana, bevor sie den Raum wieder verlassen konnte.

„Haben Sie gut geschlafen? Waren sehr müde“, sagte sie leicht besorgt. „Wie geht es dem Fuß?“

„Ja, danke, das wird schon wieder. Ist Herr Ionescu nicht zuhause?“

„Nein, er kehrt erst zum Abendessen zurück. Gibt es in zwei Stunden, deshalb nur Sandwich. Ist in Ordnung?“

„Ja, vielen Dank“, sagte ich. „Könnte ich vielleicht einmal telefonieren?“

Sie sah mich leicht irritiert an, als würde sie das Wort nicht verstehen und ich seufzte leise.

„Ist schon gut. Danke trotzdem.“

Sie lächelte wieder und legte eine Hand auf meinen Arm.

„Wenn es nicht stört, könnten Sie vielleicht ein bisschen bei Junge bleiben? Ich habe noch Wäsche und kochen und ich versuche Auge überall zu haben, aber ist nicht leicht.“

„Nein, natürlich nicht, ich bleibe gern hier.“

„Sehr liebenswürdig, Fräulein, ich danke“, sagte sie strahlend und rauschte schon wieder davon.

„Mina, komm spielen!“, rief Liviu und hielt mich so davon ab, sie zurückzuhalten.

„Ja, ich komme“, sagte ich, nahm das Tablett und trug es durch den Raum zu dem Jungen.

Der Abend rückte näher und während die Sonne langsam hinter die Berge kroch und den Raum in orangenes Licht tauchte, schlug die Standuhr neben dem Sekretär leise, wie ein entfernter Glockenturm.

Ich erschrak nicht durch sein Eintreten, denn ich bemerkte es nicht. Mehr durch Zufall entdeckte ich die dunkle Silhouette an der Tür, als ich aufstand, um das Licht anzuschalten, als die Sonne gänzlich verschwunden war.

Ich zuckte erschrocken zusammen und fasste mir reflexartig an die Brust, um mein Herz daran zu hindern, aus ihr heraus zu springen.

„Sie haben mich erschreckt“, sagte ich und lachte nervös.

Jetzt sah auch Liviu auf und ein begeistertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Papa“, rief er und sprang auf und seinen Vater zu umarmen.

Nachdem er seinen Sohn begrüßt hatte, schickte er ihn zu Ioana, damit er ihr half den Tisch zu decken. Im nächsten Moment war ich allein mit ihm. Erst jetzt trat er aus dem Schatten ins Zimmer und ich konnte ihn vollständig sehen. Er trug einen altmodischen Anzug du hielt ein paar Papiere in der Hand.

„Haben Sie gut geschlafen, Mina?“, fragte er und ging zum Sekretär hinüber.

„Ja“, sagte ich und beobachtete, wie er die Papiere in ein Fach legte, es abschloss und den Schlüssel abzog, um ihn in seine Anzugtasche zu stecken.

„Ich muss mich entschuldigen, dass ich nicht da war, als Sie aufgewacht sind, aber ich hatte geschäftlich zu tun.“

„Ja, natürlich. Ich wollte Ihnen noch einmal danken, dass Sie mich gerettet haben, Herr Ionescu. Was für ein Zufall, dass Sie genau in diesem Moment dort vorbei gekommen sind.“

Er musterte mich, ohne eine Reaktion auf meine Worte zu zeigen.

„Nennen Sie mich bitte Darian“, sagte er schließlich und trat zu mir, um mir erneut die Hand zu reichen.

Ein elektrischer Impuls zuckte meinen Arm hinauf und sandte einen Schauer über meinen Rücken, als wir uns berührten. Ich erstarrte, bis er mich wieder losließ und einen Schritt zurück trat.

„Also, Darian“, setzte ich an und räusperte mich. „Ich wollte fragen, ob ich vielleicht Ihr Telefon benutzen könnte? Mein Auto muss abgeschleppt werden und ich sollte mich vielleicht in Deutschland melden.“

„Ich muss Sie leider enttäuschen, wir haben hier weder Telefone noch Internet. Es ist schon ein Wunder, dass Stromleitungen hier her verlegt wurden.“

„Oh“, machte ich überrascht.

Ich hatte ganz vergessen wo ich war. Aber natürlich machte es Sinn, dass sich keine Telefongesellschaft die Mühe machte, jedes der vielen kleinen Dörfer, die in den Karpaten lagen, an ihr Netz anzuschließen.

„Aber wenn Sie mir später auf einer Karte zeigen, wo das Auto steht, werde ich morgen ein paar Leute aus dem Dorf schicken, um es zu holen. Es gibt auch einen Mechaniker, der es Ihnen reparieren kann.“

„Sehr gut“, sagte ich erleichtert. „Ich hoffe nur, dass noch alles drin ist. Als ich ausgestiegen bin, habe ich weder an Geld noch an meinen Ausweis gedacht. Und ohne das weiß ich nicht, wie ich hier wieder wegkommen soll.“

„Wir finden eine Lösung.“

Mit einer Handbewegung bedeutete er mir, ihm zu folgen und wir traten auf den Flur.

„Sie haben noch nicht erzählt, was Sie in Rumänien machen.“

„Naja, ich denke, man könnte es als Recherchereise bezeichnen. Ich bin Journalistin und schreibe eigentlich für eine große Zeitung, aber ich habe mich schon immer für die Geschichte und die Kultur dieses Landes interessiert. Hergekommen bin ich aus persönlichem Interesse, aber seit ich hier bin hat mein Redakteur mir einen Verlag vermittelt, für den ich ein Sachbuch schreiben soll, deshalb ist es jetzt Arbeit.“

„Sie müssen einen netten Redakteur haben, wenn er Ihnen so eine Auszeit gewährt und Ihnen dann auch noch ein Jobangebot vermittelt.“

„Ja, er ist toll. Wir sind befreundet. Aber ich hatte auch private Gründe für diese Auszeit.“

Er hakte nicht weiter nach, wofür ich sehr dankbar war und da betraten wir auch schon das Esszimmer. Es erschien lächerlich groß, für die wenigen Personen, die hier zu speisen pflegten. Die untere Hälfte der Wände war mit schwarzem Holz vertäfelt und auch das Glas in den hohen, schmalen Fenstern wirkte schwarz. Der Tisch, den man viel eher als Tafel bezeichnen musste, war auch schwarz, sowie die Stühle, deren Lehnen hoch wie bei Thronen war. Liviu saß bereits an einem Ende der Längsseite vor seinem Teller und wartete begierig auf das Essen. Darian setzte sich an das Kopfende und ich nahm Liviu gegenüber Platz.

Es gab Lammkeule mit Kartoffelbrei und Rotkohl. Alles schmeckte vorzüglich, doch das Essen lief sehr still ab. Liviu und sein Vater schienen voll und ganz in Gedanken vertieft und ich konnte nicht umhin, sie dabei zu beobachten. Sie hatten beide dieselbe bleiche Haut, doch Livius Gesichtszüge waren unverkennbar die der Frau auf dem Gemälde. Erneut fragte ich mich, wo sie war, doch irgendetwas hielt mich davon ab, nach ihr zu fragen.

Nach dem Essen holte Ioana Liviu ab, um ihn ins Bett zu bringen, und Darian bat mich auf einen Tee in die Bibliothek. Diese enthielt noch mehr Bücher, als der Raum, in dem ich zuvor gewesen war, und hatte zwei Ohrenbackensessel vor dem Kamin zu bieten. In diesen saßen wir nun, vor uns eine Karte ausgebreitet, und versuchten die Position meines Autos zu ermitteln.

„Ich glaube, ich bin hier von der Hauptstraße abgebogen und dann diesem Weg gefolgt. Es könnte diese Kurve sein, hinter der der Wagen liegengeblieben ist. Oder diese hier vielleicht …“

„Das ist unwahrscheinlich. Es würde bedeuten, dass Sie stundenlang durch den Regen gelaufen sind, denn wir haben uns hier getroffen.“

Er deutete auf eine völlig andere Stelle der Karte und ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Aber … ich bin dort von der Hauptstraße runter gefahren. Dann gibt es doch keine andere Möglichkeit.“

„Sind Sie sich sicher, dass es nicht erst hier war?“

„Naja. Das würde zumindest erklären, warum ich mich so verschätzt habe, als ich ausgestiegen bin. Aber ich könnte schwören …“

Eine Viertelstunde später hatten wir das Gebiet zumindest eingegrenzt und Darian versprach, am nächsten Tag Leute zu schicken, um es zu suchen.

„Ich kann auch mitgehen. Vielleicht erkenne ich die Stelle wieder.“

„Unwahrscheinlich. Es war Nacht und nehmen Sie es nicht persönlich, aber für Fremde sieht meist jeder Baum gleich aus.“

Ich gab ihm Recht und irgendwie war ich auch froh, dass ich nicht zurück musste. Der Gedanke an den Wald und die Ungeheuer, die in ihm hausten, stellte mir die Nackenhaare auf.

Ich trank meinen Tee aus und lehnte mich zurück. Gedankenverloren starrte ich ins Feuer und wurde mir erst nach einigen Minuten Darians Blick bewusst.

„Welchen Mythos sagten Sie behandelt Ihr Sachbuch?“, fragte er unvermittelt.

Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich antwortete, denn ich konnte mich nicht erinnern, dass Wort Mythos verwendet zu haben.

„Es geht um Vampire“, sagte ich mit einem entschuldigenden Lächeln. „Historisch orientiert. Wie der Mythos entstanden ist und seine Entwicklung und die Faszination damit. Warum fragen Sie?“

„Ich denke, ich habe ein paar Bücher, die Sie interessieren könnten. Sie sind teilweise sehr alt, aber sie würden Ihnen sicher helfen. Und ich kann Ihnen versprechen, dass Sie die in keiner öffentlichen Bibliothek finden werden.“

Er stand auf und trat an ein Regal.

„Besonders diese hier kann ich Ihnen empfehlen. Sie können sie sich morgen gerne ansehen.“

„Das wäre sehr nett, ich danke Ihnen“, sagte ich überrascht und trat neben ihn. „Ist das etwa eine Originalausgabe von Dracula?“

„Besser. Sie enthält Aufzeichnungen von Bram Stoker selbst, die er bei seiner Recherche gemacht hat.“

„Wow“, machte ich leise und fuhr mit den Fingerspitzen über den Lederrücken des Buches.

Ich musterte die Bücher eine Weile dann trat ich vom Regal zurück und drehte mich zu Darian um, der ans Fenster getreten war.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

Er drehte sich zu mir um.

„Wo ist Ihre Frau?“

Sein Blick veränderte sich, doch er sah mich unverwandt an.

„Sie ist tot.“

Ich holte überrascht Luft.

„Das tut mir leid, Liviu hat vorhin etwas gesagt und da hatte ich angenommen, dass sie nur … nicht hier ist.“

„Nein, hier ist sie nicht“, sagte er langsam.

Einen Moment standen wir da und die Zeit schien sich zu dehnen wie Honigfäden, die immer dünner werden und dann reißen.

„Ich muss Sie jetzt verlassen, Mina. Wenn Sie in der Nacht Geräusche hören, haben Sie keine Angst. Es ist nur das Haus. Fast alles hier ist aus altem Holz.“

Ich wusste nicht wirklich was ich darauf sagen sollte und er ließ mir keine Zeit, eine passende Antwort zu finden.

„Schlafen Sie gut“, sagte er und verließ den Raum.

„Gute Nacht“, erwiderte ich, doch er war schon verschwunden.

Kaptiel 3

 

Da ich fast den ganzen Tag geschlafen hatte war ich hellwach, als ich mich ins Bett legte. Meine Augen wollten einfach nicht zufallen und nach einer Weile beschloss ich, noch einmal in die Bibliothek zurückzukehren, um mir ein Buch zu holen. Da es auf dem Flur stockdunkel war und ich kein Licht einschalten wollte, zündete ich die Kerze an, die Ioana in der Nacht zuvor hier gelassen hatte und machte mich auf den Weg.

 

 

 

Mina Schillers Tagebuch (auf losem Papier)

 

  1. November/Schloss Ionescu. Kurz nach Mitternacht.

Mein Herz rast und meine Kehle ist zugeschnürt. Meine Hand zittert und verwischt die Tinte. Ich bekomme kaum Luft und der einzig mögliche Weg nicht laut zu schreien, ist das eben erlebte niederzuschreiben.

Ich konnte nicht schlafen und ging in die Bibliothek hinunter um mir eine Lektüre zu holen. Die Stufen knarrten unter meinen Füßen und ich erinnere mich nicht, dass sie das heute Nachmittag auch taten. Barfuß und nur in das weiße, lange Nachthemd gehüllt, fühlte ich mich selbst wie ein Geist. Die Bibliothek lag still da, jemand hatte das Feuer gelöscht, nachdem ich sie verlassen hatte. Die flackernde Kerze warf lange, tanzende Schatten an die Wand. Ich ging zu dem Regal, dass Darian mir zuvor gezeigt hatte und meine Augen wanderten über die Buchrücken, während ich einen passenden Titel suchte. Da hörte ich es. Ein Knarren. Ein Knarren von Holz, das zuvor unbelastet war und dann belastet wird. Dann noch ein Knarren. Jemand war auf der Treppe und quälte sich langsam die Stufen hinab. Ich wandte den Blick zur Tür, die ich angelehnt gelassen hatte und die mir nun die Sicht versperrte. Ich spürte mein Herz in meiner Brust schlagen und zählte die Schläge. Nach dem vierten Schlag war es draußen still. Ich konnte vor Anspannung kaum atmen und die Luft war wie elektrisiert. Es ist mir unerklärlich wie ich es schaffte, mich zu bewegen. Wie eine Marionette ging ich auf die Tür zu. Ich sah meine eigene Hand, die sich vor meinen Augen hob und auf den Türgriff legte. Die Tür schwang auf.

Ich musste den Drang mich zu Boden zu werfen und mich wie ein kleines Kind zusammen zu kauern nicht unterdrücken, denn das Entsetzen entzog mir jegliche Kontrolle über meinen Körper. Eine Gestalt, bleich wie Knochen, schimmernd wie fluoreszierendes Licht, mit dem Kopf nach vorn gebeugt, sodass die langen schwarzen Haare wie ein Vorhang über ihr Gesicht fielen, stand vor mir. Die irrationale Angst, sie könnte den Kopf heben und mir ihr Gesicht zeigen, das ich längst kannte, legte sich wie ein Ölfilm auf meine Haut und blieb dort kleben. Ein Windhauch, der auf dem fensterlosen Gang nicht hätte existieren dürfen, fuhr durch die Gestalt hindurch, wirbelte sie nach vorn wie ein totes Blatt. Sie schoss durch mich hindurch und verbrannte mich mit ihrer eisigen Kälte. Endlich fiel die Lähmung von mir ab und ohne mich umzusehen rannte ich nach oben, zurück in mein Zimmer, wo ich nun auf dem Boden kauere und glaube meinen Verstand zu verlieren.

Ich weiß, dass ich so eben nicht den Geist von Darians Frau gesehen habe. Ich weiß, dass das was eben geschehen ist, nicht mehr als eine Halluzination gewesen sein kann. Und dennoch ist die Angst real und die Bilder klar in meiner Erinnerung. Ich weiß nicht, wie ich bis zum Morgengrauen überleben soll, denn erst wenn ich wieder Sonnenlicht sehe, kann ich mich sicher fühlen.

(Kapitel 3)

 

Mein Erwachen war langsam. Zuerst spürte ich den harten Boden unter mir, dann das Bett in meinem Rücken. Ich hatte die Decke halb herunter gezogen und über mich gelegt. Jetzt war ich so darin verheddert, dass es einen Augenblick dauerte, bis ich mich frei gekämpft hatte. Durch das Fenster schien die Sonne, gedämpft durch die Wolkendecke. Ich streckte mich und versuchte die Steifheit aus meinen Schultern zu vertreiben. Zufällig, wie eine versehentliche Berührung mit einem Passanten auf der Straße, traf mein Blick die losen Papierseiten, die auf dem Boden verstreut lagen. Die schwarzen Buchstaben darauf wirkten wie Ameisen, die in einem unerkennbaren Muster über das Papier krabbelten. Ich bückte mich, sammelte die Blätter ein und faltete sie in der Mitte, ohne sie noch einmal anzusehen. Nach einem Versteck suchend sah ich mich im Zimmer um und schob sie schließlich hinter den Rahmen des Gemäldes des alten Grafen. Was mir gestern noch so real vorgekommen war, fühlte sich jetzt eindeutig nach einem Traum an. Ich konnte mich nicht erinnern gestern nochmal nach unten gegangen zu sein. Und das was ich dort gesehen hatte, konnte in keinem Szenario etwas anderes als ein Traum sein.

Ich zog mich an und ging nach unten. Im Esszimmer saß Liviu am Tisch und aß etwas, das stark nach Haferbrei aussah.

„Guten Morgen“, sagte ich lächelnd und er hob strahlend den Kopf.

„Hallo Mina. Hast du gut geschlafen?“

Ich nickte und nahm mir ein Brötchen.

„Wo ist dein Vater?“

„Er ist gegangen, um dein Auto zu suchen.“

„Hm“, machte ich.

Ich wollte nicht mehr sagen, denn es erschien mir unhöflich meine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, dass ich meiner Abreise einen Schritt näher kam.

„Was machst du heute?“, fragte Liviu um wieder meine Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Ich denke, ich werde die Zeit nutzen und etwas recherchieren. Dein Vater hat mir ein paar Bücher gezeigt, die für meine Arbeit sehr hilfreich sein könnten.“

Der Junge senkte etwas geknickt den Blick. Ich schob schuldbewusst meine Unterlippe vor.

„Aber ich werde sicher nicht den ganzen Tag in der Bibliothek sitzen. Wie wäre es, wenn du mir nachher ein bisschen die Gegend zeigst?“

„Ja! Das mache ich gerne“, rief er vergnügt und ich schmunzelte über die helle Freude in seinen Augen.

Nach dem Frühstück ging Liviu in den Salon, wo ich ihn gestern gefunden hatte. Es schien sein Spielzimmer zu sein. Ich machte mich zur Bibliothek auf. Die Holzscheite im Kamin brannten schon trotz der frühen Stunde. Ich trat an das Regal, das Darian mir gestern gezeigt hatte und zog wahllos ein Buch heraus. Durch meine Unachtsamkeit glitt das Buch daneben ebenfalls heraus und fiel zu Boden. Seufzend bückte ich mich um es aufzuheben und erstarrte in der Bewegung.

Zu meinen Füßen neben dem Buch lag eine Kerze. Das ehemals flüssige Wachs an der Spitze hatte eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet und zwei Handbreit weiter lag die Halterung, aus der die Kerze sich gelöst hatte. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich hier um meine Kerze handelte. Ich ließ mich langsam auf die Knie sinken und kratzte das getrocknete Wachs vom Boden. Ein Knarren der Dielen ließ mich aufspringen und herumfahren, doch es war nur Ioana.

„Oh, Sie haben Kerze fallen lassen? Ist nicht schlimm, ich mache das“, sagte sie unbeschwert und trat ein.

Ich zwang mich kontrolliert zu atmen und wartete bis mein Herzschlag sich beruhig hatte.

„Es tut mir leid, ich …“, setzte ich an, doch sie winkte ab.

„Ich bringe sie wieder in Ihr Zimmer, ja? Brauchen Sie noch etwas?“

„Nein. Doch, Moment!“

Ioana blieb in der Tür stehen und drehte sich noch einmal um. Für einen Wimpernschlag flammte die Silhouette der Frau mit den langen schwarzen Haaren auf.

„War gestern Nacht noch eine andere Frau hier? Außer Ihnen und mir?“

Ioana runzelte leicht die Stirn. Für einen Augenblick war die Unbeschwertheit war aus ihren Augen verschwunden.

„Nein. Warum fragen Sie?“

„Ich dachte nur … Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.“

Ioana lachte und schüttelte den Kopf.

„In einem alten Haus sieht jeder Schatten aus wie ein Gespenst. Besonders in diesem Land.“

Sie zwinkerte mir zu und schloss die Tür hinter sich.

Ich verschränkte die Arme und ließ meinen Blick durch die Bibliothek schweifen. Das, was ich letzte Nacht gesehen hatte, war definitiv kein Schatten gewesen. Falls ich es denn gesehen hatte.

Kapitel 4

 

Der Vorfall der Nacht war schnell vergesse. Darians Bücher forderten meine volle Aufmerksamkeit. Bald war ich vollkommen in eine Sammlung von Berichten von Menschen, die nach dem Tod des schrecklichen Vlad III einen Mann von seiner Gestalt gesichtet hatten.

Ich lehnte mich zurück und kritzelte gedankenverloren auf meinen Notizen herum. Schloss Bran und Sighisoara waren gar nicht so weit entfernt von hier. Sobald ich mein Auto wieder hatte, könnte ich mir die Heimat des Mannes ansehen, der als Inspiration für den ersten berühmten Vampir der Geschichte gedient hatte. Mein Blick wanderte zum Regal. Wenn ich heute oder morgen aufbrechen würde, hätte ich keine Chance auch nur die Hälfte der Bücher hier anzusehen. Nirgendwo in ganz Transsylvanien würde ich so eine Ansammlung von historischen Berichten finden. Aber ich konnte Darians Gastfreundschaft auch nicht überstrapazieren.

„Mina?“

Mein Blick zuckte zur Tür. Liviu stand mit dem Kopf an den Rahmen gelehnt da und sah mich a.

„Gehen wir jetzt?“

„Wie spät ist es denn?“, fragte ich und stand auf.

„Halb zwölf.“

„Tatsächlich? Na dann sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen, damit wir zum Mittagessen wieder zurück sind.“

Ich fand Ioana in der Küche, wo ich sie fragte, ob es in Ordnung wäre, wenn ich mit Liviu spazieren gehen würde. Sie stimmte freudestrahlend zu und lieh mir sogar ihren Mantel.

Als wir aus der Tür traten war die Luft klar und kalt. Ich stieß meine Hände ich die Manteltaschen und folgte Liviu, der den Hang hinunter tollte.

Das Schloss befand sich auf einer Anhöhe, die sich sanft abfallend nach links in ein Tal ergoss und rechts in den Wald führte. Als ich die dunklen Nadelbäume erblickte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich schob es auf die Kälte. Auch auf Liviu schien der Wald keine Anziehung auszuüben, denn er wandte sich nach links. Es gab einen Weg, der Mischung aus Trampelpfad und Feldweg zu sein schien. An einer Gabelung wählte Liviu eine neue Richtung, die wieder den Hang hinführte.

„Da ist die Gruft“, erklärte der Junge seine Wahl aufgeregt.

„Wessen Gruft?“, fragte ich interessiert und schloss zu ihm auf.

„Von meinem Ururururgroßvater, Cristian Ionescu.“

Ich zählte in Gedanken noch einmal die Urs, dann fragte ich: „Ist das der auf dem Gemälde im blauen Zimmer?“

Liviu legte kurz den Kopf schief, dann nickte er.

„Reizend“, murmelte ich zu mir selbst und dachte an den düsteren Mann, der über meinen Schlaf wachte.

Der Hang wurde steiler und nach kurzer Zeit ging mein Atem stoßweise und schneeweiße Wölkchen kamen aus meinem Mund.

„Was ist eigentlich mit deinem letzten Kindermädchen passiert?“, fragte ich Liviu aus einer plötzlichen Laune heraus.

„Sie ist gegangen.“

„Ja, aber weißt du auch warum? Ein Vorfall in ihrer Familie?“, schlug ich vor.

„Mama mochte sie nicht“, meinte er nach kurzem Zögern.

Ich warf dem Jungen einen Blick zu. Als ich weitersprach, wählte ich meine Worte vorsichtig.

„Liviu, du weißt, dass deine Mutter tot ist, oder?“, sagte ich sanft.

Er schwieg und ich machte mir Vorwürfe, weil sich unsere Unterhaltung in diese Richtung entwickelt hatte.

„Ja, natürlich“, sagte er schließlich. „Aber sie ist trotzdem noch bei mir.“

„In deinem Herzen.“

Er nickte.

„Und manchmal ist sie auch im Schloss.“

Mein Magen zog sich zu einem heißen Klumpen zusammen und für den Bruchteil einer Sekunde flammte der grausig glühende Umriss meines Alptraums vor meinen Augen auf.

Hatte Livius altes Kindermädchen ebenfalls diese Träume gehabt und war deshalb abgehauen? Aber das war fast so unmöglich wie der Gedanke, dass ich in der letzten Nacht wirklich einen Geist gesehen hatte.

Ich fragte nicht weiter nach, aber ich beschloss Darian noch einmal auf Liviu anzusprechen. Ich wollte nicht schlecht von dem Mann denken, der mein Leben gerettet hatte, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dass er seinen Sohn nicht so viel allein lassen sollte, wo er doch seine Mutter verloren hatte.

Wir gingen ein paar Minuten schweigend nebeneinander her.

„Oh, schau“, rief Liviu plötzlich und seine Kinderaugen leuchteten hell auf, unbeschattet von der Finsternis der letzten Minuten.

Er verließ den Weg und rannte zu einem einzelnen Baum, auf dem eine Eule saß. Als sie den Jungen näher kommen sah, stieß sie sich von dem Ast ab und flog davon ohne ein einziges hörbares Geräusch von sich zu geben.

„Seltsam“, murmelte ich. „Es ist doch mitten am Tag.“

„Komm weiter, wir sind gleich da“, rief Liviu und lief auf eine Baumgruppe auf der Anhöhe zu.

„Warte!“, rief ich, doch da hatte ich ihn bereits aus den Augen verloren.

Ich beschleunigte meine Schritte und trat zwischen die Bäume.

„Liviu, wo bist du?“

Ich ging weiter geradeaus und war so darauf bedacht nach dem Jungen in meiner Obhut zu suchen, dass ich die Grabstätte fast übersah.

Auf den ersten Blick war sie kaum mehr als ein verfallener Haufen Steine, doch wenn man einen zweiten Blick riskierte, erkannte man das kuppelförmige Gebilde auf dessen Dach drohend und imposant ein großes Steinkreuz stand.

„Liviu?“, rief ich erneut und ging zögerlich um den Eingang der Gruft herum.

„Piep!“

Das leise Geräusch wäre mir fast nicht aufgefallen. Ich drehte mich um und kniff die Augen zusammen.

„Piep!“

Ein leises Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Langsam ging ich zurück in die Richtung aus der der Ruf gekommen war. Ich ließ meinen Blick durchs Unterholz schweifen, doch nichts deutete auf den Jungen hin.

„Hmm, wo bist du nur?“, sagte ich gespielt theatralisch mit erhobener Stimme.

Ich vernahm ein Kichern hinter mir und fuhr herum.

Vor mir befand sich das gähnende schwarze Loch, welches den Eingang der Gruft bezeichnete. Ich atmete tief durch. Es war nur ein Haufen Steine. Wenn sich ein kleines Kind da hinein traute, sollte es für mich kein Problem sein.

Die Luft in der Gruft roch muffig. Steile Steinstufen führten in die Tiefe und meine Augen brauchten einen Moment um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Durch die baufällige Kuppel fielen schwache Lichtstrahlen ins Innere und tauchten die Szene in ein dämmriges Licht. Ich fand mich in einem runden Raum wieder. Auf dem Boden lagen Nadeln und trockenes Laub, das unter meinen Schritten knirschte. In der Mitte des Raumes stein ein großer, mit Spinnenweben überzogener Steinsarkophag. Ich näherte mich ihm langsam und versuchte die Inschrift darauf zu entziffern, doch das wäre wahrscheinlich auch bei besserem Licht so gut wie unmöglich gewesen. Wofür das Licht allerdings ausreichte, war einen verräterischen Schatten in dem Sarkophag zu werfen. Auf Zehenspitzen schlich ich um den Sarg herum und entdeckte Liviu, der am anderen Ende um die Ecke spähte.

„Hab ich dich!“, rief ich, packte den quietschenden Jungen und hob ihn hoch.

„Das zählt nicht! Ich hab dir geholfen“, erklärte Liviu und schlang die Arme um meinen Hals.

„Und wie das zählt. Aber jetzt lass uns erstmal hier verschwinden.“

Ich trug ihn auf meinen Armen nach draußen. Als die frische Luft uns umfing und eine Windböe durch meine Haare fuhr, tat ich mein möglichstes um meine Erleichterung, der Gruft den Rücken zuzukehren, zu verbergen.

„Schau mal, da ist das Schloss“, sagte Liviu und deutete in die Richtung.

„Tatsächlich.“

Durch die Bäume konnte man das Schloss mit seinem großen und kleinen Turm sehen. Alle Wände außer die des großen Turms waren mit schönem Fachwerk geschmückt und auf den Ecken der Dächer thronten Windspiele mit Kreuzen an der Spitze.

„Es ist wirklich schön, dein Zuhause.“

„Dann bleib doch da.“

„Meinst du?“ Ich lachte. „Ich weiß nicht, was dein Vater dazu sagen würde.“

„Ich frag ihn. Ich mag dich.“

Der Junge legte seinen Kopf auf meine Schulter und mir wurde seltsam warm ums Herz. Eine Weile standen wir nur so da, dann ließ ich Liviu runter und wir machten uns auf den Rückweg zum Schloss.

*

 

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Wann's weiter geht, erfahrt ihr wie immer in meiner Gruppe "Bücher von Clara S."

 

 

Impressum

Texte: Clara Schilling
Bildmaterialien: ThousandpointoneMusicFreak, pixabay
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die die Schatten lieben.

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