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Prolog

Die Stille

der Finsternis

dröhnt lauter

als der Gesang

des Lichts.

1. Kapitel

Ich schreckte auf. Meine Haut war schweißnass und mein Herz raste wie verrückt. Meine Augen wanderten wie von selbst durch den Raum und stellten sicher, dass die drohende Gefahr nur in meinem Traum existiert hatte.

Durch das kleine Fenster schien trübes Sonnenlicht ins Zimmer. Staubkörner tanzen in den Lichtstrahlen, die die Dunkelheit durchschnitten. Von draußen drangen Geräusche des geschäftigen Treibens, das Dragon erfüllte, herein. Wenn ich das Zimmer verließ würde ich die Ruhe, die ich im Schlaf nicht erhalten hatte, auch nicht finden, aber immerhin konnte ich so den Fängen meines Albtraumes entrinnen.

Ich schlug die Decke zurück und schwang die Füße aus dem Bett. Die Luft war unangenehm kalt auf meiner nackten Haut, obwohl es mit jedem Tag wärmer wurde. Ich tapste zu der kleinen Kommode und schaufelte mir mit den Händen kaltes Wasser aus der Schale, die dort stand, ins Gesicht. Schaudernd trocknete ich mich schnell wieder ab und zog mich an.

Meja hatte wie durch ein Wunder die Blutflecken aus meiner Kleidung bekommen, und obwohl mir klar war, dass es für eine Frau - und schon gar nicht für eine Frau meines Standes – nicht angemessen war, Hosen zu tragen, weigerte ich mich etwas anderes zu tragen. Einerseits weil ich es praktischer und bequemer fand, andererseits weil meine Kleidung so ziemlich das einzige war, was ich mein Eigentum nennen konnte.

Ich öffnete das Fenster um frische Luft herein zu lassen und warf einen Blick auf die Straße. Hier und da sah ich Männer auf Leitern, die Dächer und Fenster reparierten, Frauen, die Körbe voller Holz und Kräuter, die sie auf dem unbebauten Teil der Insel gesammelt hatten, trugen und Kinder, die lachend über das Pflaster rannten. Manchen sahen zu mir hoch und winkten fröhlich. Ich lächelte, dann trat ich vom Fenster zurück. Die Bewohner von Dragon hatten, wie ich in den letzten Tagen festgestellt hatte, einen unermüdlichen Willen und so viel Energie, als hätten sie Jahre lang Winterschlaf gehalten.

Was ja auch gewissermaßen stimmte. Man konnte die Erleichterung in ihren Augen sehen. Die Freude über die neugewonnene Freiheit, das Ende des Winters und Kristallas Schreckensherrschaft. Eine Freude, die, wie mir jeder versicherte, das ganze Land empfand. Und dennoch konnte ich nicht schlafen.

Ich fuhr mir durch mein rotes Haar, das in den letzten Wochen so viel dichter und kräftiger geworden war, und verließ das Zimmer. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich Meja aus ihrem Schlafzimmer verdrängte, aber sie hatte mir versichert, dass es ihr eine Ehre war.

Im Flur blieb ich vor Sams Zimmer stehen. Ich hielt ein Ohr an die Tür und lauschte. Es war nichts zu hören. Wahrscheinlich schlief er noch, was auch gut so war, da er sich ausruhen musste. Die Verletzung, die ihm der Eisbär zugefügt hatte, hätte ihn vermutlich umgebracht, wenn Meja und ihre Freundin sich nicht um ihn gekümmert hätten. In den vergangenen fünf Tagen hatte er sich schon sehr erholt, doch er war noch nicht vollständig geheilt. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich zu ihm hineingehen sollte, doch dann entschied ich mich dagegen. Wir hatten uns nicht oft unterhalten, seitdem Hauptmann Blay und seine Männer in Dragon angekommen waren. Eigentlich hatten wir uns gar nicht unterhalten. Nachdem die Soldaten meine wahre Herkunft bestätigt hatten, war eine seltsame Spannung zwischen uns entstanden. Ich wusste, woran es lag. Sam mochte das Königshaus nicht, das hatte er mehrmals gesagt. Und nun war ich ein Teil davon.

Ich ging hinunter, wo Meja bereits damit beschäftigt war, einen Trank zu brauen. Er war zum Senken von Fieber gedacht, wie sie mir gestern Abend erzählt hatte. Eine Frau, die unter den Gefangenen in Kristallas Festung gewesen war, hatte sich bei der Flucht den Kopf verletzt und die Wunde hatte sich entzündet. Jetzt hoffte Meja, ihr mit dem Trank helfen zu können.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ich und fasste meine Haare mit einem Band zusammen.

„Im Moment nicht, aber du könntest Lida später den Trank vorbei bringen. Ich habe noch einiges zu tun.“

Meja war die einzige, der ich die förmlichen Anreden „Kumari“ und „Pachanda“ hatte ausreden können. Die Begriffe erschienen mir so unpassend und ich war froh, wenigstens eine Person zu haben, mit der ich mich unterhalten konnte ohne mir wie eine höhergestellte, außergewöhnliche Persönlichkeit vorzukommen.

Ich nahm mir ein Stück Brot und aß es im Stehen.

„Denkst du, ich kann ihnen entkommen, wenn ich gleich aus dem Haus verschwinde?“, fragte ich und spähte aus dem Fenster.

„Die Soldaten der Königin sind hier, um dich zu beschützen. Du musst ihnen nicht entkommen.“

„Vor was denn bitte?“, fragte ich augenverdrehend.

„Vor dem Pöbel natürlich“, meinte Meja spöttisch.

Ich drehte mich zu ihr um und erst als ich ihr Grinsen sah, gestattete ich mir, es zu erwidern. Doch dann wurde ich wieder ernst.

„Ich verstehe das alles nicht“, meinte ich und schlang die Arme um mich. „Ich kann es gar nicht glauben. Es ist so … verworren.“

Meja sah mich mitleidig an.

„Es ist ein Schock, aber mit der Zeit wird sich alles aufklären. Du bist stark und klug. Du hast der ganzen Welt gezeigt, dass du alles schaffen kannst.“

„Aber so bin ich eigentlich gar nicht“, versuchte ich ihr klar zu machen. „Das hat nur die Prophezeiung aus mir gemacht.“

Meja warf mir einen seltsamen Blick zu.

„Wenn du dich von deinen Wachen loseisen kannst, dann komm heute Abend bei Einbruch der Dämmerung auf die kleine Lichtung im Wald, wo wir vor ein paar Tagen Kräuter gesammelt haben.“

„Warum …“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich.

„Und erzähle niemandem davon.“

„Also gut“, meinte ich langsam und runzelte die Stirn.

Was hatte Meja vor? Und warum erforderte es dieses Maß an Geheimhaltung?

Die Heilerin wandte sich von mir ab und füllte mithilfe eines Trichters etwas von dem Trank in zwei kleine Phiolen. In eine davon gab sie noch eine Priese von einem dunkelgrünen Pulver. Sie verschloss die Phiolen mit einem Korkpfropfen und reichte sie mir.

„Sag Lida, sie soll sich einen Tee damit zubereiten und das mit dem Pulver muss auf ein Tuch gegeben werden, mit dem sie sich die Wunde verbinden soll. Du darfst du Phiolen auf keinen Fall vertauschen.“

„Ja, ist gut“, sagte ich und nahm die mit dem Pulver in die rechte Hand.

Als ich aus der Tür trat lehnten zwei Soldaten bereits an der gegenüberliegenden Mauer. Ich hob grüßend die Hand und sie verstummten augenblicklich und standen stramm. Grinsend verdrehte ich die Augen. Im Gegensatz zu ihrem Hauptmann war es mir egal, ob sie salutierten oder was auch immer. Diese beiden waren besonders jung und mussten neu in der Einheit sein. Aber vielleicht konnte ich das später zu meinem Vorteil nutzen, wenn ich ihnen entwischen wollte.

Ich schlug den Weg zu Lidas Haus ein und die Soldaten folgten mir sofort.

„Kumari“, setzte einer der beiden an. „Hauptmann Blay hat …“

„Schon gut, ich verrate ihm schon nichts von eurem Fehltritt“, meinte ich belustigt.

„Das ist äußerst gütig von Euch, Kumari, doch darum geht es nicht. Hauptmann Blay hat angeordnet, dass wir heute aufbrechen sollen.“

„Heute schon?“

Ich runzelte Stirn. Sam war noch nicht wieder gesund. Er konnte mit seinen Verletzungen unmöglich reiten. Außerdem hatte Meja meine Neugier geweckt, und ich wollte wissen, was sie mir zeigen wollte. Ganz abgesehen davon hatte ich den Tag unserer Abreise nicht unbedingt herbei gesehnt.

„Ja, wir sind schon länger hier als geplant. Wir müssen Euch nach Migrass bringen.“

„Dann muss ich nachher mit ihm sprechen.“

Wir waren bei Lidas Haus angekommen und ich klopfte an die Tür.

Ihr Sohn öffnete. Er war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt und sehr klein und dünn. Heute war er ganz besonders bleich und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Als er mich erkannte, verbeugte er sich ungelenk und ich lächelte ihm aufmunternd zu.

„Hallo Mark. Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte ich und er schüttelte den Kopf und ließ uns eintreten.

In der Stube war es warm und ein Feuer brannte im Kamin, doch Lida war nirgends zu sehen.

„Wo ist deine Mutter?“

„Oben“, murmelte Mark.

Ich bedeutete den Soldaten unten zu warten, da ich es als unhöflich empfunden hätte, sie in Lidas Schlafzimmer mitzunehmen. Dann folgte ich Mark die Treppe nach oben.

Lida lag im Bett. Sie war blass und auf ihrer Haut glänzte ein Schweißfilm. Ihre Augen waren nur halb geöffnet und ihre Haare standen in einem wirren Nest von ihrem Kopf ab. Ihre Tochter, die mindestens zwei Jahre jünger als ich sein musste, aber doch viel älter wirkte, sprang von der Bettkante auf, als ich eintrat und knickste.

„Schon gut“, tat ich die Formalitäten mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und trat ans Bett.

„Lida. Wie geht es dir?“

„Sie ist zu schwach um zu sprechen“, antwortete ihre Tochter für sie und ich drehte mich besorgt zu mir um.

Sie hatte den Blick gesenkt und einige dunkle Strähnen, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten, fielen ihr in die Augen.

„Ist es so schlimm? Warum habt ihr Meja nicht Bescheid gesagt?“

„Ich … wusste nicht …“, stammelte das Mädchen.

Ich bemerkte wie ängstlich sie war. Selbstverständlich hatte sie Angst, immerhin war ihre Mutter schwer krank. Soweit ich wusste, war Lidas Mann vor einigen Jahren von einem Bärenreiter grundlos getötet worden und die Kinder hatten nur noch ihre Mutter.

„Mach dir keine Sorgen. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Geh hinunter und schick einen der Soldaten zu Meja.“

Ich gab ihr noch die eine Phiole um den Tee zuzubereiten, dann ließ ich sie gehen.

„Geh nach unten und hilf deiner Schwester“, wies ich Mark an und der kleine Junge ließ mich mit Lida allein.

Ich setzte mich auf die Bettkante und löste vorsichtig den Verband um Lidas Kopf. In den letzten Tagen hatte ich Meja bei der Versorgung der Verletzten aus den Verliesen geholfen und in der kurzen Zeit schon einiges gelernt.

Die Wunde nässte und die Haut um sie herum war gerötet, doch ich sah keinen Eiter. Das war ein gutes Zeichen. Neben dem Bett auf dem Nachttisch stand eine Schale mit Wasser. Ich nahm das Tuch, das darin schwamm heraus und wrang es aus. Dann träufelte ich den Inhalt der Phiole darauf und legte es auf Lidas Stirn.

Sie seufzte leise.

„Schon gut“, sagte ich und wickelte den Verband wieder um ihren Kopf. „Es kommt alles wieder in Ordnung.“

Meja kam kurz darauf ins Zimmer. Ich war gerade dabei Lida den Tee einzuflößen. Als sie eintrat, stellte ich die Tasse auf den Nachttisch und machte Meja Platz.

„Das hast du sehr gut gemacht“, sagte sie zu mir, nachdem sie den Verband kontrolliert hatte. „Das Fieber sollte sich dadurch bald senken, aber gut dass du mich gerufen hast. Man kann mit solchen Dingen nicht vorsichtig genug sein.“

Ich nickte leicht.

„Du solltest zu deinen Soldaten gehen. Sie kamen mir gerade etwas nervös vor.“

„Kann ich dir nicht helfen?“

„Nein, ist schon in Ordnung. Ich mache das.“

Ich blieb noch einen Augenblick stehen, doch nachdem ich eingesehen hatte, dass ich hier nichts mehr tun konnte, ging ich nach unten.

„Dann gehen wir mal zu Hauptmann Blay“, seufzte ich, nachdem ich mich von Lidas Kindern verabschiedet hatte und folgte den beiden Männern nach draußen.

Die Soldaten hatten ihr Lager am Stadtrand aufgeschlagen, von wo aus sie das Seeufer und das Tal dahinter im Blick hatten. Das war sicherlich strategisch genau geplant, aber mir war es hauptsächlich recht, weil sie nicht direkt vor Mejas Haustür waren.

Einige Frauen kamen uns entgegen, als wir das Lager erreichten. An ihren Körben sah ich, dass sie den Männern Essen gebracht haben mussten. Dragons Bewohner begegneten den Soldaten nicht mit der gleichen Freude wie mir, aber ich merkte doch, dass sie sie gern hier sahen, zum Zeichen von Schutz und der wieder eingekehrten Ordnung.

Hauptmann Blay befand sich im größten Zelt in der Mitte des Lagers, wo er über einer Papierrolle und einer Landkarte brütete.

„Kumari. Gut, dass Ihr da seid“, begrüßte er mich. „Habt Ihr fertig gepackt? Wir wollen aufbrechen.“

„Ich kann noch nicht gehen“, sagte ich bestimmt.

Der Hauptmann blinzelte mich an, als hätte er mich nicht verstanden.

„Aber wir haben einen festen Zeitplan. Eigentlich müssten wir bereits unterwegs sein.“

„Der Plan muss geändert werden. Sam kann noch nicht reiten“, erklärte ich.

Blay fuhr sich durch das kurze Haar und musterte mich. Er schien sich nicht sicher zu sein, wie er mit mir umgehen sollte.

„Einer meiner Männer kann hier bleiben und warten, bis …“

„Ich gehe nicht ohne ihn.“

Der Hauptmann runzelte die Stirn. Seine Geduld schien wohl ein Ende zu haben, denn er sagte etwas schärfer: „Wir haben die Anordnung, Euch so schnell wie möglich zur Königin zu bringen.“

„So schnell wie möglich ist nicht heute. Sam braucht noch mindestens zwei Tage.“

Blay richtete sich zu voller Größe auf und straffte die Schultern.

„Morgen brechen wir auf. Mit oder ohne ihm. Befehl der Königin.“

Ich knirschte mit den Zähnen.

„Also gut. Dann morgen.“

Ich verließ das Lager gefolgt von meinen Wachen, und machte mich auf zum Hafen. In der Zeit, in der ich in den letzten Tagen nicht bei Meja gewesen war, hatte ich dort verbracht und den Fischern beim Wiederaufbau ihrer Boote und Docks geholfen. Das war ein weiterer Weg, um zu zeigen, dass ich mich nicht für etwas Besseres hielt und auch nicht so behandelt werden wollte. Außerdem wollte ich nützlich sein und nicht untätig herumsitzen und mir den Kopf über Fragen zu zerbrechen, die ich nicht beantworten konnte.

M’nah war auch am Hafen. Er unterhielt sich mit einem Fischer über irgendwelche Handelsbedingungen der Krone. Es interessierte mich nicht und ich grüßte nur im Vorbeigehen.

Auf einer Bank vor einem Haus, das nah am Wasser stand, saßen ein paar Frauen und besserten Netze aus. Ich ging zu ihnen hinüber und fragte, ob ich helfen konnte. Eine der Frauen sprang auf, um mir einen Sitzplatz anzubieten, doch ich winkte ab und setzte mich einfach auf den Boden. Meine Wachen, die mich beobachteten, wies ich an, sich ebenfalls nützlich zu machen anstatt mich pikiert anzustarren. Was ihnen wohl durch den Kopf ging, wenn sie eine Prinzessin zwischen Fischerehefrauen auf dem Boden sitzen sahen? Ich scherte mich nicht weiter darum und griff nach dem Netz.

Ich hatte den Frauen schon einmal geholfen, doch meine Handgriffe waren viel langsamer und ungeschickter. Dennoch brachte ich es fertig, neben der Arbeit ihrem Gespräch zu folgen, das sie jetzt wieder aufnahmen.

„Jedenfalls musst du darauf achten, dass er nicht den ganzen Abend im Wirtshaus verbringt. Schon mehr als einmal hat ein Mann seinen Lohn ans Bier verschenkt statt an die Ehefrau“, riet eine der älteren Frauen einem Mädchen.

Sie konnte nur wenige Jahre älter sein als ich, hatte dunkle lange Haare und ein hübsches Gesicht.

„Am besten lässt du ihn erst gar nicht so oft hin“, lachte eine andere Frau.

„Aber du musst es so anstellen, dass er glaubt, es wäre seine Idee.“

„Und wie mache ich das?“, fragte das Mädchen schüchtern.

„Na, da wird dir schon etwas einfalle. Ob es nun gutes Essen ist oder etwas anderes, was ein Mann nur von seiner Frau bekommt …“

Die Frauen lachten und das Mädchen errötete.

„Du heiratest?“, schaltete ich mich in die Unterhaltung ein, um sie aus der unangenehmen Situation zu befreien.

„Ja, Kumari. So ist es.“

„Wer ist denn der Glückliche?“

Ihre Augen suchten das Ufer ab, dann deutete sie auf einen Mann. Er mochte Mitte zwanzig sein, war kräftig gebaut und machte einen tüchtigen Eindruck.

„Er ist der Sohn der Schmieds. Wir wollen schon sehr lange heiraten, aber …“

Ihr Blick glitt über das Wasser als würde gleich ein Seeungeheuer daraus hervor schießen.

„Ich verstehe.“

„Außerdem haben wir in Dragon schon seit zwei Jahren keinen Priester mehr“, fügte eine der Frauen hinzu.

„Warum das?“

Die Religion war mir als sehr wichtig für die Leute hier erschienen. Deshalb hatte ich angenommen, das jede Stadt ihren eigenen Priester hatte, vor allem eine wie Dragon, die so fernab von der Zivilisation das.

Die Frauen tauschten einen Blick, dann sagte die, die eben gesprochen hatte mit gedämpfter Stimme: „Die Eishexe hat unseren alten Priester auf offener Straße töten lassen. Sie war gegen die Verehrung der Elementgeister, eine Ketzerin. Und natürlich ist kein neuer gekommen. Wer wäre auch schon o wahnsinnig, hier herzukommen? Nicht einmal die Kinder konnten …“

„Psst!“, zischte eine der Frauen und trat der Sprecherin auf den Fuß.

Diese zuckte erschrocken zusammen und schlug die Hand vor den Mund.

„Was ist?“, fragte ich, doch die Frauen starrten stur auf ihre Netze und arbeiteten schweigend weiter.

Doch ich ahnte bereits, was der Frau beinahe über die Lippen gekommen wäre und ich wusste, warum sie es nicht aussprechen durfte. Schon gar nicht mir oder den Soldaten gegenüber. Die Taufe war in diesem Land Pflicht und musste vollzogen werden.

„Wann wollt ihr dann heiraten?“, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung.

„Wir werden sobald die Straße wieder sicher ist nach Briesing aufbrechen und uns dort trauen lassen. Einer der Mönche wird sicher mit uns zurückkehren und Dragons Priester werden.“

„Wo ist Briesing?“, hakte ich nach.

„Es ist ein Kloster am anderen Ende der Gebirgsstraße.“

„Eine Pilgerstätte, um genau zu sein“, erläuterte eine der älteren Frauen und ich hob neugierig den Blick.

Ich interessierte mich sehr für die Kultur dieser Welt. Aber nicht nur deshalb wollte ich sie kennenlernen, sondern auch, weil ich sicher war, das Leben hier nur verstehen zu können, wenn ich mehr darüber wusste.

„Das Mirakurgebirge ist der Sitz von Mrthyu. Der Geist selbst hat mit einem Hauch seines Atems die Erde aufgewirbelt und erstarren lassen, sodass das Gebirge hier entstanden ist. Es ist von der Geistmagie durchtränkt und die Eisblumen, die auf den Gipfeln wachsen, sind äußerst selten und kostbar. Aus ihrem Saft ein Nektar gewonnen, der sowohl den Tod als auch das Leben bringen kann.“

„Wer ist Mrthyu?“, fragte ich langsam, da mir der Name bekannt vor kam und ich ihn aber nicht einordnen konnte.

Die Frau sah mich einen Augenblick lang so an, als könnte sie nicht fassen, dass ich das nicht wusste, doch dann schien ihr wieder einzufallen, dass ich nicht aus dieser Welt stammte und sie sagte: „Mrthyu ist einer der vier Upanda Bhuta, die Elementgeister. Er ist der Wächter über den Tod und der Patron über die Magie des Eises und der Kälte.“

Jetzt wusste ich woher ich ihn kannte. Der Priester hatte ihn damals bei der Taufe erwähnt, im Zusammenhang mit dem Tod. Die Upadana Bhuta waren die Götter der Religion, die auch mit der Elementemagie der Elfen zu tun hatte.

„Das ist doch die Magie, die Kristalla praktiziert hat, oder? Hat sie dann ihre Seele an Mrthyu verkauft um mächtiger zu werden?“

Kaum hatte ich es ausgesprochen, wurde mir klar, dass meine Neugierde mich wieder einmal zu weit getrieben hatte. Und dass ich außerdem etwas ziemlich anstößiges gesagt hatte, denn die Frauen blickten mich mit offenen Mündern fassungslos an. Schuldbewusst zog ich den Kopf ein.

„Kumari, bei allem Respekt …“, sagte die älteste Frau mit leicht zitternder Stimme. „Wir sind nur einfache Fischersleute und nicht die richtigen, um Euch über … derlei Dinge zu unterrichten.“

Das war wohl die höflichste Art, die ihr eingefallen war, um mir zu sagen, dass ich absolut falsch lag und so etwas nie wieder behaupten sollte.

„Ja“, meinte ich langsam. „Tut mir leid.“

Derlei Dinge musste ich wohl mit anderen Leuten diskutieren.

Erneut breitete sich Stille aus und wir arbeiteten schweigend, bis es Mittag war. Die Frauen machten sich auf, um nachhause zu gehen und zu kochen. Sie verabschiedeten sich mit Knicksen, waren aber reserviert und sagten nichts mehr. Als die älteren Frauen schon gegangen waren, war nur noch das Mädchen, das heiraten wollte da.

„Wie heißt du?“, fragte ich sie.

„Maelle, Kumari.“

„Maelle, ich möchte dir ein Angebot machen. Wenn dein Verlobter und du morgen bereit seid, dann könntet ihr uns begleiten. Wir haben den gleichen Weg und mit den Soldaten seid ihr viel sicherer als allein.“

Marelles wasserblaue Augen leuchteten bei dem Vorschlag und sie hob den Blick.

„Ihr seid sehr großzügig, Kumari. Wäre das auch wirklich in Ordnung? Es wäre wundervoll, und wir …“

„Absolut in Ordnung“, meinte ich zuversichtlich.

„Oh, ich danke Euch! Ich hätte nicht gedacht, dass es uns schon so bald möglich wäre. Vielen Dank!“

Sie eilte davon, vermutlich um dem Bräutigam die frohe Botschaft zu verkünden und ich sah ihr nachdenklich hinterher.

Hauptmann Blay würde sicherlich nicht von meiner Idee begeistert sein, aber wenn sie schon so einen Aufriss um meine Stellung machten, dann konnte ich sie schließlich auch nutzen, um Maelle zu helfen. Denn auch wenn Kristalla tot war, ihre Schergen mussten noch irgendwo hier in den Bergen sein und mir war nicht wohl bei dem Gedanken, das junge Paar allein auf den Weg zu schicken.

Meine Wachen, die meinen Aufbruch bemerkt hatten, kamen zu mir herüber.

„Wenn wir morgen aufbrechen werden uns zwei der Dorfbewohner begleiten. Sie wollen nach Briesing, um zu heiraten und einen neuen Priester für Dragon zu suchen.“

„Kumari, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist“, sagte einer der Soldaten, doch ich ging nicht darauf ein.

„Geh einfach zu Hauptmann Blay und teile ihm meine Entscheidung mit. Und außerdem möchte ich, dass zwei Soldaten in Dragon bleiben, wenn wir aufbrechen. In den letzten Tagen war es zwar still, aber wer weiß, ob nicht noch ein paar verrückte Bärenreiter hier aufkreuzen um Rache zu nehmen.“

„Zu diesem Zweck trifft noch heute ein Trupp ein. Sie werden die Umgebung sichern.“

„Oh. Gut.“

Anscheinend war ich nicht die einzige, die auf diese Idee gekommen war.

„Ich nehme an, das geschieht gerade im ganzen Land, oder?“

Der Soldat nickte.

„Der Krieg ist gekommen, aber unser Gegner lauert noch überall. Die Bevölkerung muss geschützt werden.“

Erst jetzt?, schoss es mir durch den Kopf, doch ich behielt den Kommentar für mich.

2. Kapitel

 

Zurück in Mejas Haus traf ich die freundliche Heilerin nicht an, dafür fand ich aber Sam am Küchentisch vor.

„Was machst du denn hier unten? Du solltest dich ausruhen!“, sagte ich bestürzt und eilte zu ihm.

Er versteifte sich und machte Andeutungen sich zu erheben, doch ich drückte ihn an den Schultern zurück.

„Es geht mir schon besser. Kumari“, sagte er.

Ich ließ die Hände sinken. Sein Gesicht war wieder diese undurchdringliche Maske und seine Augen waren kalt und abweisend. Es war, als würden wir uns nicht kennen.

„Sam, warum tust du das?“, flüsterte ich verletzt. „Ich bin doch immer noch die gleiche.“

Der Soldat hinter mir räusperte sich und ich trat einen Schritt zurück. Sam beobachtete mich schweigend und ich straffte die Schultern.

„Also gut. Wir brechen morgen auf. Denkst du, du schaffst das?“

Er nickte. Hilflos wartete ich noch einen Moment, ob er noch etwas sagen würde, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte nach oben in mein Zimmer.

Es war so unfair. Wie konnte er mich nur so behandeln, nach allem was wir durchgemacht hatten! Was auch immer das zwischen uns war, es war mehr wert, als so eine dumme Abweisung, nur weil ich plötzlich eine Prinzessin war. Außerdem war ich ja nur technisch gesehen eine. Immerhin war ich noch nie am Hof gewesen, wusste nichts über die Politik und die gesellschaftlichen Verhältnisse und hatte auch sonst keine Ahnung, was das ganze für mich bedeutete. Das einzige, was mich zu einer Prinzessin machte, war das Verhalten der Leute.

Sonst schreckte Sam doch auch nicht vor Autorität zurück, das hatte er mit seinem Verhalten gegenüber den Wölfen deutlich gemacht. Ich hatte ihn eigentlich für toleranter gehalten, als jemand, der Menschen aufgrund ihrer Herkunft verurteilte. Immerhin war seine eigene Herkunft auch nichts, worauf er stolz war.

Etwas verloren stand ich in dem kleinen Zimmer. Ich wollte mich gerade, auf das Bett fallen lassen, als es an der Tür klopfte.

„Kumari?“, rief der junge Soldat auf dem Flur. „Ist alles in Ordnung?“

Mein Blick wanderte zum Fenster.

„Ja“, antwortete ich schnell, bevor er die Tür öffnete. „Ich habe nur etwas Kopfschmerzen. Ich werde mich eine Weile hinlegen.“

„Kopfschmerzen?“, wiederholte der Mann. „Soll ich die Heilerin kommen lassen?“

„Nein, nein. Es geht mir gut, ich brauche nur etwas Ruhe“, meinte ich hastig.

„Also gut“, sagte der Soldat nach kurzem Zögern. „Wenn Ihr etwas braucht, ich bin unten.“

„Danke!“

Ich wartete bis seine Schritte auf der Treppe verklungen waren, dann wandte ich mich wieder dem Fenster zu. Immerhin etwas. Jetzt wusste ich zumindest, wie ich meinen Wachen entkommen konnte, um Meja auf der Lichtung zu treffen.

Ich musste warten, bis die Dämmerung einsetzte. Erst dann, im schwindenden Licht des Abends, wagte ich es, das Fenster zu öffnen und nach draußen zu klettern. Es war schwerer als gedacht auf das Dach zu gelangen und oben dann nicht gleich wieder einzubrechen. Dennoch gelang es mir, mich auf eine Mauer und schließlich auf den Boden einer schmalen Gasse abzuseilen.

Mit klopfendem Herzen sah ich mich um, doch niemand war da, der mich hätte bemerken können. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich im Begriff war, etwas Verbotenes zu tun. Und damit meinte ich nicht das Weglaufen vor meinen Wachen. Der Nervenkitzel beschwingte mich und das Adrenalin, das durch meine Adern gepumpt wurde, versetzte mich in eine unterschwellige Euphorie.

Ich vermied es, die große Straße zu benutzen und schlich mich stattdessen zwischen den Häusern hindurch, bis ich unbemerkt am Stadtrand ankam. Dort schlug ich mich ins Gebüsch und erst als mich das Dickicht des Waldes von Dragon abschirmte, konnte ich freier atmen. Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht und ich beschleunigte meine Schritte. Zur Lichtung war es nicht mehr weit, doch bis ich sie erreicht hatte, war die Sonne bereits untergegangen.

„Meja?“, rief ich leise, als die Bäume sich vor mir teilten und ich auf die Wiese ins Sternenlicht trat.

Es war eine klare Nacht und das silbrige Licht verlieh dem Wald etwas Mystisches. Das Gras glänzte feucht und die Äste der Bäume sahen aus, wie schwarze Schlieren am Himmel. Mein Atem bildete kleine Wölkchen, die vor meinem Gesicht aufstiegen. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Ich lauschte dem fremden Klang, den ich keinem mir bekannten Vogel zuordnen konnte und versuchte herauszufinden, in welchem Baum er saß.

Ein Knacken im Unterholz ließ mich zusammenzucken. Ich starrte ins Gebüsch, doch es war viel zu dunkel, um irgendetwas ausmachen zu können.

„Hallo? Ist da jemand?“

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich hatte das bedrängende Gefühl eines Déjà-vus, doch ich war hier nicht im Fleidr Wald, wo die Bäume sprechen konnten. Ich war auf einer Insel, auf der sich möglicherweise noch Herzstehler und Bärenreiter befanden und ich hatte mich bei Nacht allein in einen einsamen Wald begeben. Plötzlich wurde mir die Dummheit meines Handelns bewusst. Die königlichen Wachen folgten mir nicht auf Schritt und Tritt wegen des Pöbels, wie Meja es ausgedrückt hatte. Kristallas Schatten lag noch immer auf dieser Gegend und ich hatte es völlig verdrängt, bei meiner Begeisterung über das neue Abenteuer.

Nun, hier hatte ich mein Abenteuer. Ich beugte mich langsam vor und zog meinen Dolch aus dem Stiefel, ohne den Blick vom Gebüsch abzuwenden. Meine Muskeln spannten sich an und mein Körper war in voller Alarmbereitschaft. Schritte näherten sich.

Die Lichtung bot mir rein gar keine Deckung und wer auch immer gleich aus der Dunkelheit treten würde, hatte die vorteilhaftere Position in unserem Kampf.

„Liah? Ganz ruhig, ich bin es nur. Meja.“

Ihre Stimme klang gedämpft.

„Komm raus ins Licht“, rief ich angespannt und kniff die Augen zusammen.

Zweige knackten, dann konnte ich einen Schemen ausmachen. Meine Finger schlossen sich fester um den Dolch.

„Die jüngste Vergangenheit hat das Misstrauen in dir geweckt“, sagte der Schemen. „Aber sie hat dich auch zu einer mutigen Kriegerin gemacht.“

Sie trat ins Licht und zog sich das Tuch vom Gesicht, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte.

Ich entspannte mich langsam und ließ den Dolch sinken.

„Wo warst du? Wir wollten uns doch schon in der Dämmerung treffen.“

Sie hob eine Augenbraue.

„Du bist diejenige, die zu spät kommt. Ich habe nur einige Kräuter gesammelt, während ich auf dich gewartet habe“, erklärte Meja ruhig. „Gut, dass du den Dolch dabei hast. Wir werden ihn brauchen.“

„Wozu? Und warum sind wir überhaupt hier?“

„Um Antworten auf deine endlosen Fragen zu suchen.“

„In einem Wald. Bei Nacht.“

„In der Nacht findet man einen leichteren Zugang zu den spirituellen Kräften.“

Ich runzelte die Stirn.

„Hast du vor zu den Elementgeistern zu beten?“

„Nein.“ Sie lachte leise. „Meine Götter sind andere.“

Instinktiv wusste ich, dass dieser Satz von unheimlicher Bedeutung war. Von einer verbotenen Bedeutung.

Meja ging zur Mitte der Lichtung und setzte sich dort auf einen Baumstumpf. Ich folgte ihr zögerlich und ließ mich vor ihr aufs Gras nieder.

„Was sind dann deine Götter?“, fragte ich leise.

Mejas Augen fanden meine.

„Du musst verstehen, dass nichts von dem, was wir hier tun, nach draußen gelangen darf“, sagte sie eindringlich. „Menschen ist es verboten Magie zu praktizieren.“

„Ich dachte, Menschen können das gar nicht.“

„Es gibt unterschiedliche Arten von Magie. Die Elfen wollen das nur nicht akzeptieren. Eine hast du schon kennengelernt, es ist die Naturmagie, die magische Wesen in sich tragen. Ich gehöre zu den Menschen, die gelernt haben, wie man diese Magie kanalisieren und nutzen kann.“

„Das heißt, du bist eine Hexe?“, schlussfolgerte ich erstaunt.

Meja nickte.

„Ich nutze meine Kräfte, um Menschen zu helfen. Doch wenn das jemand erfährt, werde ich hingerichtet. Blutmagie gehört zu den obersten Sünden in unserer Gesellschaft.“

„Warum? Ist es gefährlich?“

„Es ist dunkel, das gebe ich zu. Doch du wirst mich aus zwei Gründen nicht verraten. Der erste ist, dass dein Sam ohne magische Unterstützung nicht mehr am Leben wäre. Du stehst in meiner Schuld.“

Mir fiel die Kinnlade herunter. Mir war bewusst, wie schlimm Sams Verletzung gewesen war, aber das er nur durch Magie von der Schwelle des Todes zurückgeholt werden hatte können, war mir nie in den Sinn gekommen.

„Wie hast du das getan? Ich wollte ihn selbst heilen, aber es ging nicht. Pok hat gesagt, nur die, die Magie in sich tragen, können von ihr geheilt werden.“

Meja neigte leicht den Kopf.

„Darum habe ich ein Opfer benötigt.“

„Was für ein Opfer?“, hauchte ich, doch sie beantwortete meine Frage nicht.

„Der zweite Grund, warum du das für dich behältst, ist deine geistige Unschuld.“

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wie meinte sie das?

„Der Großteil von ihr ist dir in den letzten Wochen abhandengekommen. Du bist nicht mehr, das vertrauensselige liebe Kind, das in diese Welt gestolpert ist. Du bist härter geworden. Misstrauischer. Du hast bereits Eindrücke von unserer Kultur und unserem Leben gewonnen, doch dein Geist ist noch rein von Vorurteilen und den Grundfesten der Staatsreligion. Du wirst vielleicht einmal Königin sein und deshalb müssen wir alles daran setzen, dass dein Geist frei bleibt und alle Seiten der Medaille kennen lernt.“

„Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinaus willst“, meinte ich langsam.

„Die Regeln dieser Welt bestehen nicht ohne Grund. Doch manche von ihnen gehört es zu hinterfragen. Die Elementgeister gehört es zu hinterfragen. Kein Regent vor dir hat das getan, denn seit Evelant waren nur Elfen an der Macht, die in diesem Glauben erzogen wurden. Du nicht, und darum setzen wir so große Hoffnung in dich.“

„Du denkst, ich könnte einiges verändern? Aber ich habe doch keine Ahnung vom Regieren, ich war noch nicht mal am Hof und wen meinst du mit „wir“ überhaupt …“

„Das du viel denkst, ist unser Glück“, sagte Meja und unterbrach mich damit. „Doch jetzt keinen Ton mehr, wir wollen beginnen.“

Ich öffnete schon den Mund, um zu fragen, womit wir begannen, doch sie brachte mich mit einem Blick zum Schweigen.

„Du willst wissen, wer du bist und was deine Zukunft bringt. Wir werden die große Mutter anrufen, auf das sie dir helfe.“

Sie zog sich das Tuch vom Kopf und breitete es zwischen uns aus. Dann legte sie ein Häufchen Daumennagel großer, dunkler Blätter darauf. Gebannt beobachtete ich, wie sie zwei Steine aneinander schlug, bis Funken entstanden, die die Blätter in Brand setzen. Seltsamerweise fing das Tuch kein Feuer und die Blätter zerfielen auch nicht. Die Flammen legten an ihnen, konnten ihnen aber nichts anhaben.

„Gib mir deine Hand und deinen Dolch“, wies Meja mich an.

Ich streckte meinen Arm aus und sie nahm den Dolch an sich. Sie hielt meine Hand direkt über das Feuer.

„Große Mutter, empfange dieses Opfer und gib Liah einen Hinweis, was ihr Leben für sie bereithält!“

Mit diesen Worten fuhr sie mit der Klinge zwei Mal über meine Handfläche. Ich schnappte nach Luft. Mein Blut rann über meine Hand und in dem Moment als die Tropfen auf die Blätter fielen stoben grüne Funken auf. Die, die meine Haut berührten, brannten wie Säure, doch Meja hielt meine Hand eisern fest. Ich biss mir fest auf die Zunge, um nicht laut zu schreien, während sie zu einem leisen Singsang in einer fremden Sprache ansetzte.

Meine Muskeln begannen zu schmerzen und mein Magen stülpte sich um. Ich kämpfte mit dem Würgereiz. Mein Körper schien sich mit aller Macht gegen das zu wehren, was hier vorging. Plötzlich explodierte ein stechender Schmerz in meinem Kopf und ich konnte nichts mehr sehen.

Ich konnte die Frage, was zur Hölle hier los war, nicht stellen, da ich wusste, dass ich mich übergeben würde, sobald ich den Mund öffnete. Ich konnte das Gras unter mir und die Hitze des Feuers noch immer spüren, doch es war, als hätte jemand schwarze Tinte über meine Augen gegossen.

Als ich die ersten Umrisse ausmachen konnte, wusste ich, dass dies nicht die Lichtung war, die sich vor mir abzeichnete.

Zuerst dachte ich, es wären die Schmieden von Mjendra, doch dafür war es zu dunkel und zu felsig. Alles war schwarz, doch hier und da leuchtete Lava zwischen den Steinen auf. Es gab keinen Himmel, eigentlich hatte ich das seltsame Gefühl, es gab überhaupt kein oben und unten mehr, nur noch Schwärze und Lava.

Das Blut in meinen Ohren rauschte laut. Es wurde immer lauter, bis mir klar wurde, dass das nicht mein Blut war, sondern ein Stöhnen. Ein rasselnder Atem, tausende Stimmen, die verzweifelt durcheinander schrien und zu einem riesigen Klangteppich wurden. Ihre Angst wurde zu meiner Angst. Da war ein dunkler Schatten, der auf mich zukam, immer schneller, und ich wollte zurückweichen. Der Schatten bekam Augen und streckte seine Fänge nach mir aus. Die Welt kippte nach hinten und ich verlor den Halt und fiel und fiel und fiel …

 

Ich schreckte auf. Mein Herz klopfte wild in meiner Brust und der kalte Schweiß rann mir den Rücken hinunter. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte wo ich war.

Die Bettlaken waren klamm und durchgeschwitzt und durch das Fenster kam kalte Luft ins Zimmer. Am ganzen Leib zitternd stand ich auf und schloss es. Mein Albtraum saß mir noch immer in den Knochen und ich hatte das Bedürfnis mich entweder zu übergeben oder in Tränen auszubrechen. Ich fuhr mir übers Gesicht und in der Bewegung bemerkte den weißen Leinenverband an meiner Hand.

Ich erstarrte. Dann zerrte ich mit zitternden Fingern an dem Verband herum, bis ich ihn abgerissen hatte. Es war kein Traum gewesen. Ich war in der letzten Nacht wirklich auf der Lichtung gewesen. Die zwei überkreuzten Schnitte auf meiner Hand waren der Beweis. Doch was war dann passiert? Hatte ich das Bewusstsein verloren? Aber wie war ich dann zurückgekommen? Ich war zu schwer, als dass Meja mich den ganzen Weg hätte tragen können.

Ohne mich davon hindern zu lassen, dass ich nur ein Nachthemd trug, rannte ich nach unten in die Küche. Trotz der frühen Stunde war Meja bereits da. Als sie mich sah, zuckte sie zurück und wendete den Blick ab.

„Was ist los?“, fragte ich atemlos. „Meja, was ist gestern passiert? Hast du gesehen, was ich gesehen habe? Bin ich ohnmächtig geworden? Ich erinnere mich an nichts …“

„Wirst du wohl schweigen!“, zischte sie und warf einen Blick über die Schulter, als erwartete sie belauscht zu werden. „Nichts von alledem darf den Wald verlassen. Ich habe es dir gesagt.“

„Aber ich muss wissen, was passiert ist!“, beharrte ich mit gesenkter Stimme. „Hast du es auch gesehen?“

Sie starrte in das Feuer, das unter dem Kessel loderte. Jeglicher Humor war aus ihren Zügen verschwunden. Sie antwortete nicht, doch das brauchte sie auch gar nicht mehr. Meja hatte es gesehen. Und sie war noch verstörter als ich, was bedeuten musste, dass sie es verstanden hatte.

„Was ist geschehen?“, fragte ich eindringlich.

Es vergingen einige Augenblicke, bis sie fähig war, zu sprechen.

„Du warst nicht ohnmächtig. Aber sehr schwach. Ich musste dich auf dem Rückweg stützen.“

„Daran erinnere ich mich nicht“, wisperte ich verzweifelt.

„Dein Geist war gefangen.“

„In dieser Vision? Was war das, was diese große Mutter uns gezeigt hat?“

Meja drehte sich zu mir um. Ihr Blick war grauenerfüllt.

„Was sich unser Opfer genommen hat und in unseren Geist eingedrungen ist, war nicht die Mutter“, sagte sie mit gebrochener Stimme. „Es war eine viel dunklere Macht.“

„Was für eine Macht? Und was hat sie uns gezeigt?“

„Nicht mehr als ein Schatten. Und eine Welt, in der er gefangen ist.“

„Aber warum hast du dann so große Angst?“, wollte ich.

„Obwohl es nicht die Mutter war, die uns geantwortet hat, wurde uns dennoch unsere Frage beantwortet. Die Prophezeiung wurde erfüllt, doch dein Schicksal ist noch immer eng mit dem der Zwischenwelt verknüpft. Liah, du …“

Die Tür ging auf und einer der Soldaten trat ein.

„Kumari! Ich bitte um Verzeihung.“

Augenblicklich wandte er den Blick ab und mir wurde bewusst, dass ich nur leicht bekleidet war.

„Wir … Hauptmann Blay … in einer Stunde aufbrechen“, stammelte er.

Ich sah von ihm zu Meja und wieder zurück. Jetzt konnte sie mir nicht antworten. Bevor wir aufbrachen musste ich sie noch einmal allein erwischen. Ich musste einfach erfahren, was diese Vision für eine Bedeutung hatte und wer oder was dieser Schatten war!

„Ich gehe mich anziehen“, verkündete ich und ging nach oben.

Meja folgte mir um Sam zu wecken, doch bevor ich sie erneut ansprechen konnte, war sie schon in seinem Zimmer verschwunden.

Als ich mich gewaschen und angezogen hatte, war ich immerhin wieder etwas ruhig, doch noch immer geisterten mir die gleichen Fragen durch den Kopf. Da ich keine Habseligkeiten mehr hatte, musste ich nicht packen und so stellte ich mich hinter meine Tür, die ich einen Spalt breit geöffnet hatte und harrte aus, bis Sams Zimmertür aufging. Ich hatte Meja zu mir in den Raum gezogen, noch bevor sie mich überhaupt richtig bemerkt hatte.

„Beende deinen Satz!“, forderte ich sie im Flüsterton auf.

Die Heilerin starrte mich ängstlich an und mir wurde bewusst, dass ich sie ziemlich hart an den Schultern gepackt hatte. Ich ließ sie los und trat einen Schritt zurück.

„Ich kann nichts sagen“, setzte Meja an.

„Du musst!“

„Ich kann nichts sagen, bis auf eines: Du wirst keine Ruhe finden, Liah. Denn Kristalla war nur der Auftakt zu etwas viel, viel schlimmeren.“

„Ich verstehe nicht …“

„Ich verstehe es auch nicht!“, fuhr sie mich an. „Alles was ich weiß, ist, dass diese Welt und alle anderen keinen Frieden finden werden, wenn du nicht bist, wozu dich der Schatten erwählt hat.“

„Und das wäre?“

„Sein größter Feind. Er ist die Dunkelheit und du bist das Licht. Pachanda, Kumari, Rote Dame, Kind des Feuers, Eisbrecher. Du wirst viele Namen tragen. Doch wir werden dich als La’ita Calu kennen.“

„Was bedeutet das? Und wer seid ihr?“

Auf dem Gang waren Schritte zu hören.

„Kumari? Kommt herunter, Ihr müsst etwas essen, bevor wir aufbrechen.“

„Ich komme sofort!“, rief ich durch die geschlossene Tür.

„Deine Fragen versiegen nie. Du musst die Antworten selber finden. Denn irgendwann wird niemand da sein, der das für dich tun kann.“

Sie öffnete die Tür und trat nach draußen. Wie versteinert stand ich einige Sekunden lang da, dann folgte ich ihr nach unten.

Ich bekam keinen Bissen herunter und auch kein Wort verließ meine Lippen. Ich konnte Sams Blick auf mir spüren, doch ich wusste, dass er mich nicht ansprechen würde. Die Soldaten kannten mich nicht gut genug, um zu wissen, wann etwas nicht stimmte und so machte ich mir keine Sorgen, Ausreden erfinden zu müssen.

Nachdem das Frühstück beendet war, gingen wir alle zusammen zum Hafen, wo das ganze Dorf versammelt war. Der neu gewählte Bürgermeister hielt eine Ansprache, wie dankbar er uns und der Krone war, doch ich bekam nichts davon mit. Erst als er geendet hatte, riss ich mich zusammen, um ebenfalls meine Dankbarkeit für die Hilfe und die Gastfreundschaft auszudrücken. Dann vergewisserte ich mich noch, dass der neue Soldatentrupp wirklich eingetroffen war, bevor ich in das Boot stieg, das uns ans andere Ende des Sees bringen würde.

Meja stand still in der winkenden Menge. Ich hatte keine Abschiedsworte an sie gerichtet, doch ich wusste auch nicht, was ich gesagt hätte. Fast zwei Wochen hatte ich unter ihrem Dach gelebt und mich bei ihr wohlgefühlt. Und jetzt schickte sie mich mit einer noch größeren Last fort, als die, mit der ich hier angekommen war.

3. Kapitel

Der erste Tag war einfach. M’nah, der uns begleitete, ritt neben Sam und achtete auf ihn, sodass ich mich nicht jede Minute umdrehen musste, um zu sehen, ob er noch auf seinem Pferd saß. Maelle und ihr Verlobter waren ebenfalls bei ihnen im hinteren Teil des Trosses. Ich ritt weiter vorn zwischen den Soldaten, die viel zu respektvoll waren, um das Wort an mich zu wenden.

Ich stellte mich schnell wieder auf das stille Reiten ein, das mir schon bekannt war und gewöhnte mich auch schnell an das neue Pferd, obwohl es nicht einmal ansatzweise an Eisblitz heran kam. Ich fragte mich noch immer, ob es ihm, Pok und vor allem den Wölfen gut ging, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das in Erfahrung bringen sollte.

Da ich mit niemandem sprach, lenkte ich mich durch das Beobachten der Landschaft von meinen Gedanken ab. Wir waren noch in einer Höhe, in der der Schnee nicht abtauen würde, doch die Bergstraße hatte eine schöne Umgebung. Nicht alles war bedrohlich weiß, hier und da standen niedrige Nadelholzbüsche und die Bergketten teilten sich immer wieder und gaben den Blick auf kleine Täler frei.

Am Abend schlugen wir an einer geschützten Stelle ein Lager auf. Die Soldaten machten zwei Feuer, da wir so viele waren. Ich saß neben M’nah, der Geschichten aus seiner Heimat erzählte, doch ich hörte nicht hin. Die Schnitte in meiner Hand hatten vor ein paar Stunden zu jucken begonnen. Ich rückte näher ans Feuer, um besser sehen zu können und wickelte den Verband ab. Die Haut um die Wunden herum hatte sich rötlich gefärbt und der Schorf glänzte leicht. Stirnrunzelnd beugte ich mich noch weiter vor.

Plötzlich packte jemand meine Hand und zog sie aus dem Lichtkreis.

„Was soll das?“, fauchte ich Sam an.

Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er sich neben mich gesetzt hatte. Er erwiderte meinen Blick ebenso verärgert. Dann sah er zu den anderen. Niemand schien uns bemerkt zu haben, alle waren gebannt von M’nahs Erzählung.

„Komm mit“, zischte er und zog mich hoch.

Ich folgte ihm etwas abseits hinter einen Felsen, wo wir vor den Blicken der anderen geschützt waren.

„Woher hast du das?“, fragte Sam angespannt.

„Dann redest du also wieder mit mir“, stellte ich nur fest und versuchte meine Hand aus seinem Griff zu befreien, doch es gelang mir nicht.

„Liah, ich meine es ernst. Woher hast du das?“

Ich musterte ihn abschätzend.

„Du scheinst es ja schon zu wissen.“

Sam ließ meine Hand los und packte mich stattdessen an den Schultern, um mich gegen den Felsen zu drücken.

„Wer in Dragon praktiziert Blutmagie und was habt ihr getan?“

„Wieso regst du dich so auf? Es ist gar nichts passiert.“

Das war so nicht ganz richtig, aber da ich mir noch immer nicht sicher war, was geschehen war, konnte ich es ihm wohl kaum erklären. Außerdem wollte ich Meja nicht verraten.

„Nichts passiert? Blutmagie ist dunkel und gefährlich. Es öffnet den Geist für Dämonen und Halluzinationen. Leute, die sie praktizieren, werden wahnsinnig und können die Realität nicht mehr erkennen.“

Ich schluckte.

„Glaubst du das, weil es ein Vorurteil ist oder weißt du es?“

Sams Blick verdüsterte sich.

„Ich habe es mitangesehen. Und das werde ich nicht wieder tun.“

Ich holte gerade Luft, um zu fragen, was er mitangesehen hatte, doch in diesem Moment trat Sam einen Schritt von mir zurück. Keine Sekunde zu spät, denn ein Soldat, der Wache hielt, kam in unser Blickfeld.

„Kumari? Ist alles in Ordnung?“

Ich räusperte mich und wich von dem Felsen zurück.

„Ja, alles bestens. Wir haben uns nur unterhalten.“

 

Am nächsten Morgen war ich völlig unausgeschlafen. Ich hatte in der Nacht grübelnd wach gelegen und über Meja nachgedacht. Wenn das, was Sam sagte stimmte – und ich vertraute ihm vollkommen – dann war sie vielleicht wirklich nur eine Verrückte. Alles was sie von sich gegeben hatten, war relativ wage gewesen, als wüsste sie nicht, wovon sie überhaupt sprach. Außerdem hatte sie von sich selbst im Plural gesprochen. Was wenn diese Vision wirklich nur ein Trugbild gewesen war? Die Blätter, die sie verbrannt hatte waren vielleicht Drogen gewesen. Mir war von ihnen schlecht geworden und ich hatte Gedächtnislücken. Alles passte zusammen bis auf eines. Bis auf diese eine Nacht war Meja mir nicht verrückt vorgekommen. Eigentlich hatte sie recht bodenständig gewirkt. Sie war eine gute Frau und ich wollte sie nicht schlecht reden. Aber ein Schatten, der mich zu seinem größten Feind erwählt hatte? Was sollte ein Schatten überhaupt sein?

Als die ersten Sonnenstrahlen über die Bergkette krochen, war ich zu dem Schluss gelangt, dass es nichts weiter als ein Schauermärchen gewesen war. Wenn Sam sagte, dass sie wahnsinnig war, dann hatte er seine Gründe dafür und ich glaubte ihm. Allerdings hatte ich das dunkle Gefühl, dass ich mein Erlebnis noch nicht in einer Schublade wegsperren konnte. Denn Sam würde es sicher nicht darauf beruhen lassen.

Was mit ihm los war, interessierte mich momentan sowieso mehr. Da er wieder mit mir sprach, würde es mir vielleicht gelingen, herauszufinden, warum er so wütend auf mich war und die Sache ins Reine bringen. Nicht mit ihm sprechen zu können fehlte mir nämlich wahnsinnig.

Leider ergab sich in den nächsten Tagen keine Möglichkeit ihn zur Rede zu stellen, da die Soldaten mich keine Sekunde mehr aus den Augen ließen. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass sie das nicht nur taten, um mich vor etwaigen Gefahren zu beschützen, sondern auch, um mich von Sam und den anderen fern zu halten. Hauptmann Blay schien tatsächlich darauf bedacht, mein einziger Gesprächspartner zu sein, doch mit ihm wollte ich nicht reden, da sich so eine Unterhaltung vermutlich um meine Mutter gedreht hätte und dafür war ich noch nicht bereit.

Wir hatten großes Glück, bei unserer Reise auf keine Gefahren zu stoßen. Wir kamen gut voran, obwohl der Weg sehr schlammig und teilweise auch überschwemmt war, sobald wir in die Regionen kamen, in denen es zu tauen begonnen hatte. Hier und da stießen wir auf verlassene Stützpunkte von Kristalla, doch die einzigen Spuren, die zu sehen waren, musste laut Sam mindestens zwei Wochen alt sein.

So kam es, dass wir bereits am fünften Tag gegen Mittag das Kloster Briesing ausmachen konnten. Es war eine große Burg, die oben auf einem Bergkamm stand – dem letzten des Mirakurgebirges laut Hauptmann Blay. Ich war schon sehr gespannt darauf, da ich erwartete, etwas Neues über die Kultur und die Religion des Königreiches zu erfahren. Außerdem erhoffte ich mir die Möglichkeit, mich zu waschen und endlich eine Gelegenheit abzupassen, um mit Sam zu sprechen.

Wir waren im Tal angekommen, als Hauptmann Blay sein Pferd zügelte und der Trupp zum Stehen kam.

„Du und du!“, rief er zwei Soldaten zu. „Reitet voraus und überprüft die Lage. Falls dort Bärenreiter sind, wollen wir ihnen nicht in die Arme laufen.“

„Wäre das nicht sinnvoller gewesen, bevor wir ins Tal herunter gekommen sind?“, fragte ich, als die Männer sich auf den Weg machen. „Jetzt haben sie uns sowieso schon gesehen und hier unten können wir uns im Zweifelsfall nicht gut verteidigen.“

Der Hauptmann warf mir einen anerkennenden Blick zu.

„Ihr beweist strategisches Geschick, Kumari. Dennoch gibt es keine Möglichkeit ungesehen an Briesing heranzukommen, auch nicht für einen einzelnen Mann. Außerdem erwarten wir keine Feinde in dieser Gegend. Auf unserem Herweg haben wir einen Wachposten hier zurück gelassen.“

„Wann war das überhaupt?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn. „Es dauert doch fast sechs Tage nur um vom Kloster bis nach Dragon zu gelangen. Ihr ward aber schon am zweiten Tag nach Kristallas Tod dort.“

„Aufgrund der Nachricht der Himmelswächter, dass Kristalla noch im sechsten Mond dieses Jahres ihr Ende finden würde, sind alle Kompanien und Bataillone, die im Südwesten noch übrig waren, hier her gereist. Sie sind unterhalb von Briesing stationiert, um flüchtende Anhänger Kristallas abzufangen und Schritt für Schritt das Gebirge zu durchsuchen.“

Ich erinnerte mich daran, dass Norlos damals Westa, Mewa und Toss losgeschickt hatte, um die Ritter und die Krone genau dazu zu bringen. Das war drei oder vier Wochen vor Kristallas Tod gewesen.

„Ein Trupp unter meiner Leitung ist bereits drei Tage vor Ende des Mondes aufgebrochen. Wir sollten feststellen, ob der Sieg geglückt ist und falls ja, Euch sicher aus dem Gebirge geleiten.“

„Und falls nein?“

„Im Falle Eurer Niederlage oder einem Ausbleiben einer Nachricht von mir, wäre das Heer ins Gebirge eingezogen und hätte Kristalla auf Tod und Verderben heraus gefordert.“

Er sagte das mit völlig versteinerter Miene, doch mir lief ein Schauer über den Rücken. Wahrscheinlich wären sie wirklich alle dabei gestorben.

„Zum Glück ist es nicht soweit gekommen“, murmelte ich.

Ich beschloss mir etwas die Beine zu vertreten, die nach den langen Stunden im Sattel schon ganz steif waren und stieg von meinem Pferd. Hauptmann Blay wollte eben einem Soldaten bedeuten, mir zu folgen, da hob ich schon abwehrend die Hände und sagte: „Keine Sorge, ich muss nur mal für kleine Mädchen.“

Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner Felljacke, die für die Witterung eigentlich viel zu warm war. Der vom Schmelzwasser aufgeweichte Boden schmatze laut unter meinen Füßen, sobald ich die Straße verlassen hatte. Die Sonne schien mir warm ins Gesicht und ich genoss die Ruhe, die sich einstellte, sobald ich den Trupp hinter mir gelassen hatte. Ich folgte dem Wiesenverlauf nach links wo eine kleine Baumgruppe war. Zwischen den Nadelhölzern standen auch Laubbäume, und als ich näher an sie heran trat, konnte ich kleine Triebe junger Äste entdecken. Dieses Zeichen des erwachenden Frühlings war nicht das einzige seiner Art. Zu den Füßen der Bäume trieben Kräuter und Blumen aus. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und ich setzte meinen Weg fort. Ein gedämpftes Rauschen kündigte einen Gebirgsbach an und ich folgte dem Geräusch.

Der Bach entpuppte sich als Fluss, der eindeutig über seine Ufer hinausgetreten war. Er schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und hatte eine kleine Tanne bereits umgerissen. Ich fragte mich, ob es jetzt überall im Land so aussah, da der Schnee schmolz. Auf jeden Fall würde es eine Weile dauern, bis sich wieder ein Normalzustand eingestellt hatte.

Weiter oben war ein kleiner Wasserfall. Auf dessen Kannte in der Mitte war eine riesige Birke, deren Äste sich weit nach unten geneigt hatten. Ihr knorriger Stamm wirkte, als würde er jeden Moment unter seiner Last zusammenbrechen. Ich wollte ihn mir näher ansehen und kletterte die Böschung hoch. Oben angekommen schob ich die Äste beiseite, die sich bis zum Rand des Flusses erstreckten und musterte den Stamm. Dort, wo das Holz nicht vom Wasser blank gespült war, hatte sich ein dunkelgrünes, saftiges Moos angesiedelt. Es hatte winzige sternförmige blaue Blüten, was ich bei Moss noch nie gesehen hatte. Knapp zwei Meter über dem Wasser entdeckte ich eine einzelne hellblaue Blüte, die auch aus dem Moos zu wachsen schien, aber handtellergroß war. Sie war filigran und wirkte zerbrechlich wie Glas. Sie hatte mehrere Reihen schmaler Blütenblätter die nach außen hin immer heller wurden, sodass das Innere der Blüte besonders intensiv wirkte.

Die Blume übte eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus. Ihr Schönheit und auch ihre Fremdheit zogen mich in ihren Bann. Ehe ich mich versah, hatte ich einen Schritt nach vorn gemacht, wo ein Fels aus dem Wasser ragte. Die halbe Distanz war überquert. Jetzt musste ich nur noch meine Hand nach der Blüte ausstrecken. Meine Finger schlossen sich um den dünnen Stiel und ich zog daran. Mit einem leisen Reißen löste sich die Blume vom Moos.

Ein Knacken hinter mir im Gebüsch ließ mich zusammenzucken. Beim reflexartigen Umdrehen verlor ich das Gleichgewicht. Mein Magen verkrampfte sich und meine Hände schossen in die Höhe. In dem Moment, in dem meine Füße den Halt verloren, bekam ich die Äste der Birke zu fassen und konnte so verhindern, zwei Meter in die Tiefe ins kalte Wasser zu fallen.

Hastig machte ich, dass ich wieder ans Ufer des Flusses kam. Den Schreck immer noch in den Knochen sitzend, fiel mir wieder ein, was der Auslöser für meinen Beinahe-Fall gewesen war.

Ich wurde eindeutig zu oft von Geräuschen in Wäldern erschreckt. Eher genervt als verängstigt trat ich auf das Unterholz zu. Aufmerksam spähte ich durch die Zweige. Etwas Weißes blitzte zwischen all dem Braun und Grün hervor. Ein leises Schnauben ließ ungläubig die Stirn runzeln.

„Eisblitz?“

Der weiße Hengst trat zwischen den Büschen hervor und senkte den Kopf, wie um mich zu begrüßen.

„Eisblitz! Was machst du denn hier? Du hast mich erschreckt“, wisperte ich erstaunt und trat auf das Pferd zu.

In seiner Mähne hingen Blätter und kleine Zweige und das Fell auf seinem Rücken war etwas struppig, aber ansonsten sah er gut aus. Ich strich ihm über den Hals und lehnte meine Stirn gegen seine.

„Es ist schön, dich wiederzusehen. Ist Nola auch hier? Und die Wölfe?“

Ich trat an ihm vorbei, um nach meinen anderen Gefährten zu sehen, von denen Sam und ich bei dem Grotteneinsturz getrennt worden waren. Und tatsächlich verbarg sich auch die braune Stute hinter den Zweigen, nur von den Wölfen war keine Spur.

Ich führte die beiden Pferde zurück zur Straße, wo die anderen bereits auf mich warteten. Sam war sprachlos, als er Nola sah.

„Wo hast du sie gefunden?“, fragte er erstaunt.

„Sie haben mich gefunden. Sie müssen ganz allein aus dem Gebirge gefunden haben“, mutmaßte ich.

„Was sind das für Pferde?“, schaltete Hauptmann Blay sich ein.

Während Sam erklärte, was geschehen war, pflückte ich Eisblitz die Blätter aus der Mähne. Ich hatte ihn vermisst. In der Zeit, die wir mit einander verbracht hatten, hatte ich mich an ihn gewöhnt. Außerdem war er meiner Meinung nach ein viel besseres Pferd, als das, das ich von den Soldaten bekommen hatte.

Nachdem Hauptmann Blay sich wieder entfernt hatte, drehte Sam sich zu mir um.

„Was ist?“, fragte ich.

Sam streckte die Hand aus und griff nach etwas in meinem Haar. Es war die Blume, die ich gepflückt hatte und die mir aus der Hand gefallen war, als die Pferde mich erschreckt hatten.

„Die habe ich dahinten bei einem Fluss gefunden“, erklärte ich.

„Warum hast du sie gepflückt?“

„Ich weiß es nicht“, meinte ich nachdenklich. „Ich konnte nicht anders.“

Er musterte die Blüte, dann steckte er sie mir hinters Ohr. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, doch Sam hatte sich bereits abgewandt.

Wenige Minuten später kam die Vorhut zurück, die Blay zum Kloster geschickt hatte. Sie sahen gehetzt aus und ihre Pferde waren unruhig. Ich war zu weit entfernt, um ihre Worte zu hören, doch das Gesicht des Hauptmanns verdunkelte sich, als sie Bericht erstatteten.

„Briesing wurde in unserer Abwesenheit angegriffen“, rief der Hauptmann mit erhobener Stimme. „Es gab viele Tote.“

Der Ritt den Berg hinauf war bedrückend. Niemand sprach ein Wort und sogar die Sonne hatte sich hinter einen dunstigen Wolkenschleier zurückgezogen. Obwohl der Ritt keine volle Stunde gedauert haben konnte, war ich ausgelaugt und müde, als wir oben ankamen.

Das Kloster erinnerte mich ein wenig an Bertang, nur das es viel leichter befestigt war. Dennoch wirkte es wie eine altertümliche Ritterburg mit hohen Zinnen und einem Fallgatter. Wir ritten in den Innenhof, wo uns drei Mönche und einige Soldaten erwarteten. Die Mönche trugen dieselben Kutten, wie die Priester, die ich damals bei dem Umzug in Thal beobachtet hatte: rostrot mit grünen Kapuzen und einem weißen Stern, umrahmt von einem Lorbeerkranz, auf der Brust.

„Willkommen in Briesing“, sagte einer der Mönche. „Ich bin Bruder Jakobe. Möge Euer Aufenthalt gesegneter sein, als der, unserer Brüder.“

Wir stiegen ab und Hauptmann Blay trat vor.

„Wann ist der Überfall geschehen?“, erkundigte er sich sofort.

„Vor fünf Nächten. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit sind sie von allen Seiten eingefallen. Wie Dämonen des Bösen tauchten sie aus dem Nichts aus. Wir haben sie nicht kommen sehen.“

„Und wie viele Tote?“

Bruder Jakobe räusperte sich, als würde ihm die Zahl im Hals stecken bleiben.

„Zehn der fünfzehn Soldaten, die zu diesem Zeitpunkt hier waren und … sechsundzwanzig Brüder.“

Ich sog scharf Luft ein. So viele Tote. Sie mussten die unbewaffneten Mönche regelrecht abgeschlachtet haben. Wie damals in Dorne. Wie viele unschuldige Menschen hatte Kristalla auf diese Weise hingerichtet?

„Sind die Angreifer entkommen?“, fragte ich, ohne zu zögern.

Der Mönch drehte sich zu mir um, als würde er mich erst jetzt bemerken.

„Nein, Kumari. Die Verstärkung kam in letzter Sekunde.“

 

Die Beerdigung der Toten sollte an diesem Abend stattfinden. Es war den Mönchen nicht früher möglich gewesen, da sie nur noch sehr wenige waren und die Vorbereitungen mit weniger Lebenden trafen, als es Tote gab.

Nachdem wir unsere Pferde versorgt hatten, folgten wir Bruder Jakobe zur Rückseite der Festung.

Was sich dort auf dem Feld darbot, war grauenhaft. Sechs Reihen mit je sechs Scheiterhaufen waren hier aufgebaut und auf jedem Scheiterhaufen lag ein Körper, eingehüllt in weiße Leinen. Hier und da waren die Tücher vom Blut rot gefärbt.

Soldaten flankierten die Seiten des Leichenfeldes und sechs Mönche standen vor jeder Reihe, in der Hand eine Fackel. Wir versammelten uns vor ihnen und Bruder Jakobe trat vor. Ein anderer Mönch schlug einen Gong und Bruder Jakobe hob die Arme zum Himmel. Der Gong ertönte drei weitere Male, dann stimmten die Mönche einen tiefen, ruhigen Gesang an.

Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus und ich spürte die Gewichtigkeit dieses Rituals mit jeder Faser meines Körpers. Die Stimmen der Mönche hallten über den Berg und wurden von einem aufkommenden Wind ins Tal hinab getragen. Ein innerer Frieden breitete sich in mir aus.

Sie sangen, bis die Sonne unter gegangen war. Erst, als die Fackeln die einzige Lichtquelle waren, verstummte der Gesang und Stille zog ein.

„Upadana Bhuta, wir rufen Euch“, begann Bruder Jakobe und ich erkannte die Worte der Taufe wieder. „Unser Geistvater Eyara hauchte euch den Atem des Lebens ein. Unsere Mutter Artha gab euch die Kraft der Erde. Skiha erfüllte euch mit dem brennenden Leben und im Schoß von Mrthyu wurde es euch genommen. Geht nun in Frieden und verlasst unsere Welt.“

Er begann eine Liste mit Namen vorzulesen und mit jedem Namen, wurde ein Scheiterhaufen entzündet, bis alle brannten.

„Atme, lebe, brenne, stirb. Der Kreis schließt sich. Eure Seelen sind nun frei.“

Ich spürte Tränen über meine Wangen rinnen, bevor ich wusste, dass ich weinte. Jemand ergriff hinter meinem Rücken meine Hand und ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war.

Die Versammlung begann sich aufzulösen und bis auf die Wachen, gingen wir alle in die Festung zurück. Sam hatte meine Hand wieder losgelassen. Drinnen in einem kleinen Saal, wurde Essen aufgetischt, doch ich war nicht hungrig. Stattdessen stahl ich mich durch einen Flur davon, in eine kleine Kapelle, durch deren Fenster ich die Scheiterhaufen sehen konnte. Das Feuer zu betrachten, beruhigte mich und die Flammen hypnotisierten mich.

All diese Menschen waren vor fünf Nächten gestorben. In der Nacht, in der Meja und ich ein verbotenes Blutritual vollzogen hatten, dass mich hatte glauben lassen, in eine Schattenwelt zu blicken. Die Parallele war da, doch es konnte nur Zufall sein. Denn es war ja nicht echt gewesen. Ich hatte keine Schuld an diesem Ereignis, weil ich nichts Böses in diese Welt gelassen hatte. Dieses Königreich und ich hatten ein Trauma erlitten. Doch jetzt war die Bedrohung besiegt und es nur normal, dass ich dem Frieden nicht traute. Ich hatte in den letzten Wochen schreckliches erlebt und eine ungeheure Verantwortung getragen. Es würde eine Weile dauern, bis ich alles verarbeitet hatte und nicht hinter jedem Zufall das Schicksal vermutete.

Ich ließ den Gedanken los und richtete mein Bewusstsein wieder auf das Feuer vor mir. Ich kannte den nächsten Schritt. Ich wusste was als nächstes zu tun war und ich brauchte keine Prophezeiung, die mir den Weg wies.

„Geht es dir gut?“

Ich erschrak nicht, da ich ihn erwartet hatte. Sam tauchte immer auf, wenn es mir schlecht ging, als würde er es fühlen.

„Ich will nachhause“, sagte ich langsam.

„In deine Welt?“

„Nein. Das ist nicht meine Welt. Ich meinte meine Mutter.“

Ich drehte mich zu Sam um und sah ihm in die Augen.

„Es gibt so viel, was ich wissen muss. Nicht nur über sie, auch über mich. Und ich weiß, dass es dir nicht gefällt, wer sie ist und was es aus mir macht, aber ich schaffe es nicht ohne dich. Du bist die einzige Person in dieser und jeder anderen Welt, der ich vollkommen vertraue und ich weiß, dass du mir ebenso vertraust. Bitte lass mich nicht allein, nur weil ich nicht die bin, die du dir gewünscht hast. Bitte sei wieder mein Freund.“

Sams Züge wurden weich und er nahm meine zitternden Hände in seine.

„Ich wünschte wirklich, du wärst nicht die Tochter der Königin. Aber nicht, weil ich glauben würde, es mache dich zu einer von ihnen, denn das tut es nicht. Sondern weil es alles viel komplizierter macht. Weil es alles unmöglich macht. Ich werde immer dein Freund sein und ich werde immer für dich da sein. Aber wenn wir in Migrass sind, wirst du dort bleiben und ich nicht.“

„Aber warum nicht?“, fragte ich mit erstickter Stimme.

Er nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich sanft an.

„Ich liebe dich, Liah. Aber das Königsschloss ist ein Ort, an dem Gefahren lauern, die man nicht mit Pfeilen niederstrecken kann. Die Fragen, die du dort stellen wirst, kann ich nicht beantworten. Außerdem habe ich eine Familie und eine Heimat. Und die liebe ich auch.“

„Du wählst sie und nicht mich. Das verstehe ich“, wisperte ich.

„Nein. Ich wähle das Leben, das ich haben kann. Und nicht das Leben, in dem ich nur ein stummer Gast wäre.“

4. Kapitel

 

In der Nacht quälten mich wirre Alpträume und so war ich froh als der Morgen kam. Das Leuten heller Glocken kündigte den neuen Tag an und ich stand um mich zu waschen und mich anzukleiden.

Ich wollte gerade das kleine Zimmer verlassen, in dem ich geschlafen hatte, als es an der Tür klopfte. Ich öffnete und sah zu meinem Überraschen Maelle vor mir stehen. Ich hatte während unserer Reise kaum mit ihr gesprochen und fühlte mich etwas schuldig deswegen.

„Es tut mir leid, Euch hier zu stören, Kumari“, sagte sie mit gedämpfter Stimme und knickste. „Aber ich muss dringend mit Euch sprechen, wenn Ihr es gestattet.“

„Natürlich. Komm rein.“

Ich schloss die Tür hinter ihr und musterte die junge Frau vor mir. Sie sah noch müder aus als ich mich fühlte und ihr einige Strähnen ihres Haars hatten sich aus ihrer Frisur gelöst.

„Ich wollte Euch bitte … Es ist so, dass keiner der Mönche uns jetzt nach Dragon begleiten kann, da sie nur noch so wenige sind. Sie wollen uns jemanden schicken, sobald neue von anderen Klöstern da sind, aber … Wir können nicht solange warten. Es wird Wochen dauern und …“

„Maelle, ganz ruhig.“

Ich legte meine Hände auf ihre bebenden Schultern.

„Was ist das Problem?“

„Wir müssen sobald wie möglich heiraten. Wir können nicht warten, sonst wird man … es sehen.“

Ich sah sie einen Moment verständnislos an, dann ging mir ein Licht auf.

„Du bist schwanger? Aber das ist doch wundervoll“, rief ich und umarmte sie.

„Ist es nicht“, schluchzte sie und brach in Tränen aus. „Ich schäme mich so sehr.“

„Aber dafür musst du dich nicht schämen, wirklich nicht“, versicherte ich ihr. „Wie lange denn?“

„Drei Monate“, presste Maelle hervor.

Mein Blick wanderte automatisch zu ihrem Bauch. Jetzt wo ich es wusste, glaubte ich tatsächlich eine leichte Wölbung zu erkennen.

„Ihr hattet ja sowieso vor zu heiraten“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ihr konntet nur nicht wissen, wann.“

„Aber es ist ja nicht … es ist gar nicht von ihm.“

Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, doch ich bemühte mich um Ruhe.

„In Ordnung. Setzen wir uns erstmal hin und dann erzählst du mir die ganze Geschichte.“

Das war leichter gesagt als getan. Maelles Heulkampf schüttelte sie und ließ sie keinen Satz herausbringen. Doch es dauerte nicht lange, bis ich durch vorsichtiges Raten die schrecklichen Details erfahren hatte.

Eines Nachts hatte Maelle das Haus nach der von Kristalla verhängten Ausgangssperre verlassen und einer der Bärenreiter hatte sie erwischt. Er hatte sie allerdings nicht verraten. Das, was er getan hatte, war um einiges schlimmer.

„Weiß dein Verlobter davon?“, fragte ich schließlich leise.

Sie nickte.

„Und wie denkt er darüber?“

„Er wollte … ihn totschlagen, aber … aber ich konnte ihn zurückhalten. Das K-kind soll nicht ohne Vater aufwachsen, auch wenn es n-nicht der leibliche ist.“

„Du meinst, ihr wollt das Kind als eures aufziehen?“

„Es kann doch nichts für die Grausamkeit dieser W-welt“, schniefte sie und verschränkte die Hände schützend vor ihrem Bauch.

„Aber wenn er es weiß, und es auch gar nicht von ihm ist, wieso müsst ihr dann so schnell heiraten?“

Sie schluckte und sah mich fest an. Als sie sprach, war ihre Stimme völlig ruhig.

„Weder mein Mann noch mein Kind sollen mit so einer Schande leben. Und selbst wenn es keine Schande sein sollte, so werden die Menschen es doch als eine solche sehen. Wir sind eine Familie im Geist und die anderen sollen uns als eine Familie im Blut sehen.“

Trotz ihres verheulten Gesichts und der Angst in ihren Augen wirkte Maelle in diesem Augenblick unheimlich stark. Die Liebe, die sie für ihr ungeborenes Kind und den Mann ihrer Wahl empfand, überwältigte mich.

„Ich spreche mit Bruder Jakobe“, sagte ich.

Maelle sprang entsetzt auf.

„Ihr dürft ihm nichts verraten, bitte, ich flehe Euch an!“

„Warte!“, unterbrach ich sie und stand ebenfalls auf. „Ich werde ihm sagen, dass ich eurer Hochzeit beiwohnen will und sie deshalb ganz einfach hier und heute stattfinden muss. Dann wird er euch sicher trauen.“

Das Entsetzen verwandelte sich in Unglauben und dann in Dankbarkeit.

„Oh, ich danke Euch! Ich danke Euch so sehr“, wisperte sie und wäre auf die Knie gegangen, wenn ich sie nicht festgehalten hätte.

„Ihr seid gute Menschen und verdient ein Leben, in dem das gewürdigt wird. Ich freue mich, euch helfen zu können. Das würde jeder tun.“

„Oh nein. Ich weiß nicht wie ich das jemals vergelten kann. Erst hatte ich Angst Euch mit meinen einfachen Problemen zu behelligen, wo Ihr sicher wichtigeres zu tun habt. Aber schon in Dragon haben wir alle gespürt, wie besonders Ihr seid. Ich wünschte, ich könnte in Worte fassen, was ich gerade fühle. Tausend Dank, Kumari. Seid gesegnet und alles Glück der Welt für Euch!“

 

Obwohl ich mir eine ganze Reihe Argumente zugelegt hatte, musste ich nur meinen Wunsch aussprechen und schon stimmte mir Bruder Jakobe zu.

„Letzte Nacht verabschiedeten wir die Toten, heute wollen wir das Leben feiern. Eine gute Idee, Kumari.“

Wir befanden uns draußen, hinter der Festung, wo gestern die Scheiterhaufen entzündet worden waren. Bis auf ein paar verkohlte Stellen war nchts mehr von ihnen zu sehen. Die Mönche mussten die letzten sterblichen Reste, die nicht verbrannt waren, an einen anderen Ort gebracht haben.

„Dann wird es kein Problem sein?“

„Keines Falls. Ich werde persönlich die Vorbereitungen treffen.“

„Es ist nur so, dass Hauptmann Blay vermutlich so schnell wie möglich weiter reisen möchte.“

„Es wird nicht lange dauern.“

Ich nickte erleichtert. Aus irgendeinem Grund war mir Maelles Anliegen noch wichtiger geworden. Ich wollte unbedingt, dass es funktionierte. Aufgeregt fuhr ich mir durchs Haar. Dabei blieb ich an der Blume hängen, die dort noch immer feststeckte. Ich nahm sie in die Hand und stellte verwundert fest, dass sie weder zu welken begonnen hatte, noch zerdrückt oder schlaff geworden war.

„Was habt Ihr da?“, fragte Bruder Jakobe interessiert.

„Nur eine Blume, die ich unten am Fluss gefunden habe“, meinte ich und zeigte sie ihm.

Die Augen des Mönchs wurden groß. Ehrfürchtig streckte er die Hand nach der Blume aus und strich vorsichtig über den Blütenkelch.

„Ihr seid wahrlich ein Wunderkind, Kumari.“

„Was soll das heißen? Was ist das für eine Blume?“

„Eine weitere Metapher für Leben und Tod. Ihr wisst nicht viel über die Kultur dieses Landes, nicht wahr?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wollt Ihr etwas darüber erfahren?“

„Sehr gerne.“

„Dann folgt mir.“

Er führte mich in eine Kapelle, die größer war, als die, in der ich gestern gewesen war. Sie kam einer Kirche nahe, durch ihre hohe Decke und die mit Reliefs verzierten Wände. Bruder Jakobe führte mich zu einem dieser Reliefs. Es zeigte zwei geschlechtslose Gestalten, die sich küssten und eng ineinander verschlungen waren. Um sie herum waren ornamentartig Blüten angeordnet, die meiner von der Form her glichen.

„Was Ihr gefunden habt, ist eine kostbare Eisblume, die eigentlich nur auf den höchsten Gipfeln dieses Gebirges wächst. Ihr Nektar kann sowohl Leben retten als auch den Tod bringen.“

„Davon hat mir eine Frau in Dragon erzählt“, erinnerte ich mich. „Sie meinte, sie wachsen hier, weil das Gebirge Mrthyus Sitz ist und alles von Geistmagie durchtränkt ist.“

„Das stimmt“, meinte Bruder Jakobe nickend. „Doch es gibt noch einen weiteren Teil der Geschichte. Nun, ich werde etwas weiter ausholen, um Euch alles zu erklären. Ihr habt gestern gehört, wie ich die Elementgeister anrief, unsere Götter, nicht wahr? Erinnert Ihr Euch an die vier Worte, die ich am Ende gebraucht habe?“

„Atme, lebe, brenne, stirb“, wiederholte ich gespannt.

„Richtig. Jedes dieser Worte steht für einen Geist. Während sich nun die ersten drei alle mit dem Leben befassen, ist „brenne“ der Inbegriff des am Lebenseins. Skiha ist der Gott des Lebens und Mrthyu, der des Todes.“

Ich nickte. Das wusste ich ebenfalls. Die Frage, die mir die Frau in Dragon nicht hatte beantworten können, lag mir auf der Zunge, doch dieses Mal formulierte ich sie vorsichtiger.

„Fürst Bertang hat mir erzählt, dass Kristalla ihren Geist gegen die dunkelste Magie des Todes eingetauscht hat. Und sie hatte ja auch die Eismagie von Mrthyu. Bezieht sich das also auf ihn?“

Bruder Jakobe zuckte sichtlich vor der Frage zurück, doch das hielt seine Antwort nicht zurück.

„Er hat von einem anderen Tod gesprochen. Einer viel dunkleren Macht. Mrthyu nimmt den Atma der Toten mit sich, aber nicht den der Lebenden. Fürst Bertang sprach von den Dämonen des Bösen.“

Mir lief ein Schauer über den Rücken.

„Nun denn, zurück zu unserer Geschichte. Durch ihre Gegensätzlichkeit halten Skiha und Mrthyu das Gleichgewicht unserer Welt. Sie stoßen sich ab, wie zwei Pole. Doch es gibt eine Legende, die besagt, dass sie sich ein einziges Mal vereinigten. Und als sie sich berührten, sprossen diese Blumen aus dem Boden, die das Leben und den Tod vereinen.“

Ich musterte das Relief noch eine Weile, dann sagte ich: „Das ist eine schöne Geschichte.“

„Es ist nicht nur eine Geschichte.“

„Ich möchte gerne mehr über die Elementgeister lernen. Ich möchte alles wissen.“

„Nun, das würde den Rahmen unserer begrenzten Zeit sprengen, Kumari“, meinte der Mönch verschmitzt. „Doch Euer Wissensdrang ehrt Euch. Ihr werdet sicher noch viel lernen, wenn Ihr zuhause seid.“

Ich nickte leicht.

„Und was mache ich jetzt mit der Blume?“

„Kommt mit. Ich zeige es Euch.“

Er führte mich in einen kleinen Raum hinter der Kapelle. Aus einem Schrank nahm er eine winzige Phiole und eine Pipette. Diese steckte er in den kleinen Kelch der Blüte und saugte damit eine eisblaue Flüssigkeit ab. Diese füllte er in die Phiole und verschloss sie. Dann befestigte er die Phiole an einem Bändel und reichte sie mir.

„Hier. Es sind nur wenige Tropfen, doch sie können Leben retten.“

„Ich hoffe, ich werde sie nie brauchen“, meinte ich nachdenklich und hängte mir die Phiole wie eine Kette um den Hals.

„Das hoffe ich ebenso. Aber darum geht es auch nicht. Seht es viel mehr als ein Symbol für das Göttliche.“

Wir verließen die Kapelle wieder und Bruder Jakobe machte sich auf, um die Trauung vorzubereiten während ich Maelle aufsuchte, um ihr davon zu berichten.

Zu meiner Überraschung hatte Hauptmann Blay nichts weiter dagegen, dass wir erst am Nachmittag aufbrechen würden. Ich fragte nicht weiter nach den Gründen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, seine Meinung zu ändern. Als ich den Raum verließ, in dem ich mich mit ihm unterhalten hatte, traf ich auf Sam. Wir stockten beide für einen Moment, als wir uns im Gang gegenüberstanden.

„Ist Hauptmann Blay da drin?“, fragte Sam schließlich und deutete auf die Tür hinter mir.

„Ja. Wir brechen heute Nachmittag auf“, sagte ich, da ich ahnte, dass es das war, was er wissen wollte. „Wir bleiben zur Hochzeit.“

Er schien zu verstehen und ein seltsamer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.

„Ich wusste, dass du Maelle hilfst.“

„Sie hat zuerst mit dir gesprochen?“

„Wir haben bei unserem Ritt hier her viel Zeit mit einander verbracht.“

„Ach so.“

Natürlich hatten sie das. Sam war hinten bei den beiden geblieben, sicher hatten sie sich viel unterhalten.

„Ich wollte raus gehen, kommst du mir?“, fragte ich unvermittelt und Sam nickte.

Wir verließen das Kloster auf dessen Rückseite und gingen langsam über das Feld, wo die Scheiterhaufen gestanden hatten. Wir sprachen kein Wort, doch je weiter wir den Hügel hinab gingen, umso stärker spürte ich, was uns verband. Da war viel mehr als Liebe. Es war die Erinnerung an eine Zeit, in der wir unser Leben für einander gegeben hätten und die Gewissheit, dass wir es noch immer tun würden. Der Kampf gegen Kristalla würde uns für immer verbinden, auch wenn wir unser Leben an unterschiedlichen Orten führen würden.

Der Gedanke gab mir eine ungeheure Sicherheit, aber die bevorstehende Trennung machte mich traurig. Ich wusste nicht, wie ich dieses neue Abenteuer, das vor mir lag, ohne Sam bestreiten sollte. Eigentlich war es doch ironisch, dass er mir so wichtig war, wo mir doch immer nur meine Mutter etwas bedeutet hatte und sie an erster Stelle gestanden hatte. Jetzt war sie eine Fremde, von der ich nicht wusste, was ich für sie empfand.         

„Wir sollten umkehren“, sagte Sam irgendwann. „Es geht sicher bald los.“

Wir gingen den Weg, den wir gekommen waren, wieder zurück. Die Stimmen der anderen führten uns in die größere Kapelle, in der ich vorhin mit Bruder Jakobe gesprochen hatte.

„Wir wollten gerade nach Euch suchen, Kumari“, sagte Hauptmann Blay, als wir eintraten und bedachte Sam mit einem misstrauischen Blick.

Dieser zog sich in den hinteren Teil der Kapelle zurück, wo M’nah stand. Die beiden begannen ein leises Gespräch, doch sie waren zu weit weg, als dass ich etwas gehört hätte.

Alle der überlebenden Mönche und einige unserer Soldaten hatten sich in der Kapelle versammelt. Bruder Jakobe stand vorne unter einem mitten im Raum stehenden Bogen, in den das Sternsymbol mehrfach eingraviert war. Er hatte ein Seidentuch in der Hand, auf dessen weißem Grund die unterschiedlichsten Farben schillerten. Maelle und ihr Verlobter standen bei Jakobe unter dem Torbogen. Es hatte den Anschein, als hätten alle nur auf uns gewartet.

Maelle strahlte mir entgegen und der Mönch winkte mich zu sich, sodass ich die Zeremonie aus nächster Nähe beobachten konnte.

„Wir haben uns heute hier versammelt“, setzte Bruder Jacobe mit erhobener Stimme an und sofort breitete sich Stille aus. „um die Vereinigung dieser beider Menschen vor den Göttern zu feiern. So lasset sie uns rufen.“

Es begann eine ähnliche Zeremonie wie bei der Beerdigung, während der Mönch jeden der vier Geister anrief. Eine Gänsehaut breitete sich über meinen ganzen Körper aus und ich bildete mir ein, tatsächlich eine Präsenz zu spüren. Mein Blick wanderte durch den Raum und traf auf den von Sam. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske, doch seine Augen, deren Grün ich trotz der Entfernung schimmern sehen konnte, sahen mich unverwandt an. Für einen Moment hatte ich das befremdende Gefühl, dass unsere Herzen im selben Takt schlugen. Dann riss der Kontakt ab und es war vorbei.

Nachdem Bruder Jacobe mit dem ersten Schritt fertig war, hob er das bunte Seidentuch, das er in der Hand hielt, in die Höhe und sagte mit lauter, klarer Stimme: „Seht dies als das Band, das eure Seelen nun für immer aneinander knüpfen wird, wie es nur das Blut kann. Von diesem Moment an sollt ihr eine Familie sein, werdet zu einander stehen Tag und Nacht, auf dem Feld und in der Stadt, in Krankheit und Gesundheit, im Leben und im Tod. Und auch wenn ihr diese Welt getrennt verlassen werdet, soll eure Atma sich in Mrthyus Armen wiederfinden und euren Seelenfrieden finden.“ Während er sprach, wand er das Band um die verschränkten Hände von Maelle und ihrem Mann. „Mit diesem Band werdet ihr eins. Sollen unser Vater Eyara und unsere Mutter Artha euch viele Kinder schenken und Skiha soll euch euer Leben lang mit Wärme und Freude füllen.“

Er trat einen Schritt zurück und faltete seine Hände unter den Ärmeln seiner Kutte. Ich dachte schon, das wäre es gewesen, doch da wandte der Mönch sich mir zu und sagte: „Wir haben die Ehre, diese Zeremonie in der Gegenwart des Königshauses zu vollziehen. Kumari, ich bitte Euch, den Segen für das Paar zu sprechen.“

Ich erstarrte und so Bruder Jacobe erschrocken an. Das konnte er nicht ernst meinen. Er wusste doch, dass ich so gut wie nichts über die Traditionen dieser Welt wusste.

„Ich weiß doch nicht, wie das geht“, wisperte ich.

„Lasst Euer Herz sprechen. Ihr werdet das richtige sagen“, flüsterte er mir aufmunternd zu.

Ich schluckte und trat an die Stelle, wo eben noch er gestanden hatte. Maelle sah mich mit leuchtenden Augen an und ich lächelte ihr angespannt zu. Ich räusperte mich. Die Blicke aller Personen in diesem Saal lasteten auf mir, doch ich sah nur die junge Frau an, die der glücklichste Mensch auf Erden zu sein schien.

„Ich bin nicht von hier“, begann ich und stellte fest, dass es sich wie eine Lüge anfühlte und verbesserte mich schnell: „Ich kenne eure Sitten nicht, aber ich habe festgestellt, dass sich diese Hochzeit gar nicht so sehr von denen unterscheidet, die ich kenne. Hier sind zwei Leute, die sich lieben und die sich ein Versprechen gegeben haben. Nämlich für einander da zu sein, was da auch kommen mag. Ich wünsche euch, dass da nichts kommen wird. Ich wünsche euch, dass ihr von heute an ein Leben in Frieden, Glück und Gesundheit führen dürft. Doch wenn etwas kommen sollte, dann weiß ich, dass ihr es bestehen könnt. Denn ich weiß, dass ihr euch auf eine Art liebt, die alles besiegen kann. Und in dieser Sache sind wir gleich. Wir alle, Mensch oder nicht, aus dieser Welt oder aus einer anderen. In der Liebe sind wir alle gleich. Ich weiß nicht womit man euch segnen könnte, denn ihr seid bereits gesegnet. Von der Liebe.“

Ich sah auf und bemerkte erst jetzt, wie die Stimmung im Raum sich verändert hatte. Eine unterschwellige Anspannung hatte sich ausgebreitet. Manche sahen mich verwirrt an, andere ungläubig. Manche hatten sogar den blick gesenkt.

Ich runzelte die Stirn und räusperte mich erneut.

„Ich danke euch, dass ihr mich an eurem Glück teilhaben habt lassen. Das ist wirklich ein Segen nach dem, was diese Welt gesehen hat. Seid gesegnet“, beendete ich meine Rede und trat zurück.

„Nun“, sagte Bruder Jacobe nach einigen Sekunden Stille und lachte verhalten. „Ich danke Euch, Kumari, für Eure weisen Worte. Verlasset nun dieses Haus der Götter als Mann und Frau. Und seid gesegnet.“

Maelle und ihr Mann fielen sich in die Arme und küssten sich endlich. Ich atmete befreit aus und wandte mich ab. Dieser Moment sollte nur ihnen gehören.

Ich verließ mit den anderen die Kapelle, doch draußen holte Maelle mich ein.

„Kumari!“

Ich drehte mich zu ihr um.

„Ich danke Euch. Für alles“, sagte sie, immer noch vor Freude strahlend.

„Ich danke dir“, meinte ich und drückte ihre Hand.

Sie zögerte einen Augenblick.

„Was Ihr da drinnen gesagt habt. Über die Liebe. Ich habe so noch nie gedacht, aber es ist wahr. Es ist wirklich wahr. Ich danke Euch. Wenn Ihr eines Tages einmal Königin seid, wird man Euch die Weise nennen, und die Gütige.“

„Danke“, sagte ich überrascht.

„Kumari.“

Hauptmann Blay trat zu uns und bedachte Maelle mit einem abschätzenden Blick.

„Wir brechen auf.“

„Ja. Ich komme.“ Noch einmal drehte ich mich zu der jungen Frau um. „Viel Glück, Maelle. Ich hoffe wir sehen uns eines Tages wieder.“

„Euch auch alles Glück der Welt. Die Geister mögen Euch beschützen.“

Wenig später ritten wir der Mittagssonne entgegen den Hügel hinunter und ich fühlte mich seltsam befreit. Es war, als hätte ich in diesem Kloster eine schwere Last zurückgelassen, die mich schon eine Weile bedrückt hatte.

Sam schloss zu mir auf und ich spürte, dass er etwas sagen wollte, doch es dauerte eine Weile, bis er sprach.

„Das war der ungewöhnlichste Segen, den eine Hochzeit je gesehen hat.“

Ich glaubte, so etwas wie Stolz in seiner Stimme zu hören.

„Als ihre Prinzessin hast du mit deiner Rede über Gleichheit jedem Monarchie treuen Zuhörer ziemlich was zu denken gegeben.“

Ich drehte mich zu ihm um.

„Dir nicht?“

„Nein. Ich weiß ja schon, wie gut du bist.“

Ich schüttelte grinsend den Kopf.

„Ach halt doch einfach die Klappe.“

„Ist das ein Befehl?“

„Und was wenn?“

„Keine Ahnung. Ich bin doch nicht Monarchie treu.“

Ich sah ihn an.

„Danke, Sam“, meinte ich plötzlich ernst.

„Wofür?“

„Na, du weißt schon. Du bist nämlich auch ziemlich gut.“

Er zuckte leicht mit den Schultern.

„Ich bin froh, dass wir Freunde sind“, sagte ich.

„Ich auch.“

5. Kapitel

 

Die Sonne stand im Zenit als wir den Fuß des Gebirges erreichten. Schon von weitem sahen wir das Zeltlager der Soldaten. Während wir auf es zuritten, spürte ich ein Flattern in meiner Brust. Ich wusste, dass es jetzt ernst wurde. Mit dem Gebirge verließ ich mein Abenteuer endgültig. Obwohl ich schon seit Kristallas Tod mit einem anderen Titel angesprochen wurde, hatte ich erst jetzt das Gefühl wahrlich von der Pachanda zur Kumari zu werden. Und wie damals, als ich in diese Welt gestolpert war, fühlte ich mich wieder ratlos und wusste nicht wie ich das mir bevorstehende meistern sollte.

Die Soldaten standen in Habachtstellung vor den Zelten. Es mussten mehrere Hundert sein. Zwischen ihnen war ein breiter Gang durch den wir ritten. Die Gesichter der Männer waren starr, doch ich spürte ihre Augen auf mir.

Uns erwarteten drei Hauptmänner. Sie trugen polierte Rüstungen und lange rote Mäntel. Als ich von Eisblitz abstieg, gingen alle drei auf die Knie und neigten den Kopf.

„Nein, steht auf“, sagte ich schnell, obwohl ich mir sicher war, dass das Protokoll eine andere Formulierung vorsah.

Die Hauptmänner erhoben sich und Hauptmann Blay stellte sie vor.

„Kumari, darf ich euch bekannt machen mit Hauptmann Furij“, er deutete auf den Mann rechts, der groß und breit wie ein Berserker war, „Hauptmann R’dscha“, der dunkelhäutige, kahlköpfige Mann links neigte erneut seinen Kopf, „und General Balsac.“

Der Mann, in der Mitte, den er zuletzt vorstellte, war groß, hatte sehnige Muskeln, weißes kurzes Haar und eisgraue scharfe Augen.

„Es ist mir eine Ehre, Kumari“, sagte er mit schneidender Stimme. „Ich werde von nun an für Euer Geleit verantwortlich sein.“

„Danke“, sagte ich nach kurzem Zögern, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.

„Ihr würdet mir eine weitere Ehre erweisen, wenn Ihr mit mir speisen würdet. Ich habe in meinem Zelt alles vorbereiten lassen.“

„Ja. Sicher.“

„Dann folgt mir, Kumari.“

Ich warf Sam noch einen schnellen Blick über die Schulter zu und er nickte mir fast unmerklich aufmunternd zu.

In einem respektvollen Abstand folgten uns die anderen Hauptmänner und auch Blay. Ich war froh darum, wenigstens ein bekanntes Gesicht in der Nähe zu behalten.

Ich hatte diesen Gedanken gerade zu Ende gedacht, als zwischen den Zelten zwei Gestalten hervortraten. Ich stieß ein Jauchzen aus und rannte ihnen entgegen.

„Solos! Scar! Oh Gott sei Dank, ihr lebt“, rief ich und fiel vor ihnen auf die Knie. „Was ist passiert? Geht es den anderen gut?“

„Kumari“, sagte Solos schmunzelnd und neigte seinen Wolfskopf leicht.

„Wie seid ihr aus der Höhle gekommen?“, fragte ich weiter.

„Wir konnten uns einen Tunnel graben“, sagte Scar.

„Dann geht es allen gut?“

Die Wölfe tauschten einen kurzen Blick.

„Es sind alle raus gekommen“, sagte Solos. „Alle bis auf einen.“

Die überschwängliche Freude verdichtete sich zu einem schweren Klumpen in meinem Hals.

„Wer ist es?“, fragte ich erstickt.

„Gryf.“

Ich brauchte einen Moment, um dankbar zu registrieren, dass es nicht Norlos oder Damin gewesen war.

„Ostas Gefährte“, stellte ich schließlich fest. „Wie geht es ihr?“

„Sie ist wieder unterwegs. Sie hat zwei neue Kämpfer.“

„Aber kommt sie darüber hinweg?“

Ich hatte Osta nie gemocht, doch ich spürte die Schuld auf mir lasten. Ihr Gefährte war wie drei andere der Wölfe wegen mir gestorben.

„Es wird seine Zeit brauchen“, gab Solos zu.

„Und wo sind die anderen? Westa und Norlos?“

„Westa, Mewa und Toss sind ebenfalls wieder in ihrem Gebiet. Wie du weißt, hat jeder der Himmelswächter ein Viertel des Königreiches, welches er im Blick haben muss. Norlos ist nachdem wir das Gebirge verlassen und die Truppen gerufen hatten nach Migrass zum Kronrat aufgebrochen und wir sind nur noch hier, weil dies mein Gebiet ist und wir es uns daher erlauben konnten, auf deine Rückkehr zu warten.“

Ich schluckte und sah meine beiden Freunde an. Sie waren die Wölfe, zu denen ich die freundschaftlichste Beziehung entwickelt hatte. Und jetzt wo ich wusste, dass es ihnen gut ging, war ich unendlich erleichtert. Dennoch hatte ich nicht erwartet, dass meine Gefährten so schnell wieder im Land verstreut sein würden.

„Wir haben es wirklich geschafft“, sagte ich leise. „Wie Norlos gesagt hat. Sie ist noch im letzten Mond gestorben.“

„Wir haben keine Sekunde an dir gezweifelt. Kumari.“

Für einen Moment hatte ich den Gedanken, dass eine Möglichkeit bestand, dass die Wölfe die ganze Zeit von meiner Herkunft gewusst haben können. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah den leicht ungeduldigen, aber dennoch diskreten General hinter mir stehen.

„Seid ihr noch eine Weile hier? Können wir uns nochmal richtig unterhalten?“, fragte ich schnell.

„Wir werden mit unserem Aufbruch warten, bis auch du gehst.“

Ich nickte und stand auf. Dann folgte ich den General zu seinem Zelt.

Es gab Braten mit Bratkartoffeln und einem Wein, den ich trotz meiner Abneigung zu Alkohol wie eine Verdurstende hinunter stürzte. Vielleicht tat ich es aus Nervosität, vielleicht auch um einfach nicht sprechen zu müssen. Das Zelt war groß und der General und ich saßen etwas oberhalb der Hauptmänner. Sie führten ihre eigene Unterhaltung über den Krieg und schienen uns nicht zuzuhören.

„Wie habt Ihr es geschafft nach Dragon vorzudringen. Wenn ich fragen darf.“

Ich warf General Balsac einen Seitenblick zu und kaute langsam auf dem Braten herum. Er musterte mich mit Neugierde, doch da war noch etwas anderes in seinem Blick. Etwas, was mir nicht gefiel.

„Ich habe monatelang versucht mit meinen Truppen zur Festung vorzudringen. Wir sind nicht mal in die Nähe der Stadt gekommen. Das Gebirge ist undurchdringlich und die Patrouillen der Eishexe haben uns fast sofort aufgespürt.“

Ich schluckte und nippte an meinem Glas.

„Ein Erdling hat uns durch die Tunnel geführt.“

„Ein Erdling? Wie habt Ihr es geschafft einen aufzuspüren? Diese Kreaturen sind nicht gerade hilfsbereit. Eher zwielichtig. Meines Wissens standen sie auf der falschen Seite.“

Ich runzelte die Stirn.

„Pok nicht. Ich bin quasi über ihn gestolpert. Es war Glück“, meinte ich schulterzuckend.

„Hat er Euch in die Festung gebracht?“

„Nein. Das war nicht möglich.“

„Wo ist er jetzt?“

„Ich weiß es nicht“, gab ich widerstrebend zu.

„Wie seid Ihr dann in die Festung gelangt?“

„Wir wurden gefangen genommen“, sagte ich kurz angebunden und kämpfte die Erinnerung an Sam nieder, wie er blutend im Schnee lag.

Nach einer kurzen Pause begann der General wieder zu sprechen.

„Erlaubt mir, mich zu erklären. Ich bin ein erfahrener Krieger. Ich habe während des gesamten Winterkrieges als General Ihrer Majestät gedient und niemals ist es jemandem gelungen, so nah zu Kristalla vorzudringen. Vergebt mir diese Feststellung, aber Ihr seid kein ausgebildeter Krieger.“

„Glaubt Ihr nicht an die Prophezeiung?“, fragte ich ironisch.

„Nein. Ich bitte erneut um Vergebung, doch derlei Dinge fallen mir schwer.“

Ich leerte mein Weinglas zum wiederholten Mal und ließ den Diener erneut einschenken.

„Ich denke, ich glaube nur daran, weil ich es ebenso wenig verstehe wie Ihr. Wer bin ich schon, dass ich das schaffen konnte, was niemand vor mir geschafft hat? Vielleicht hat es nur funktioniert, weil sie an die Prophezeiung geglaubt hat. Sie wollte, dass ich zu ihr komme. Sie hat sich überschätzt. Das war ausreichend.“

Ich starrte in den dunkelroten Wein in meinem Glas und merkte plötzlich, dass ich betrunken war.

„Wie ist es Euch gelungen?“, fragte Balsac mit einem erregten Glitzern in den Augen. „Wie habt Ihr ihr ein Ende bereitet?“

„Hört mal“, sagte ich und holte tief Luft. „Ich will nicht darüber reden. Ich will mich nicht daran erinnern. Fragt Sam, wenn Ihr es wissen wollt.“

„Sam. Das ist der Krieger des Wüstenvolks in Eurem Gefolge.“

„Ja. Er war auch da“, sagte ich leise. „Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft.“

Der General nickte.

„Er hat sich als königstreuer Held erwiesen. Zum Dank wird ihm sicher eine gute Position angeboten werden.“

Ich schnaubte und schlug die Hände vor den Mund.

„Verzeihung. Ich glaube … Sagt mir einfach, wann wir aufbrechen, damit ich mich noch ein wenig ausruhen kann.“

Der General schien sichtlich irritiert zu sein, doch er ließ trotzdem einen Knappen kommen, der mich zu einem Zelt bringen würde, wo ich mich ausruhen konnte.

Das Zelt lag fast direkt hinter dem Zelt des Generals und darin war ein Feldbett aufgebaut, auf dem viele Felle und Kissen lagen. In der Ecke stand eine Schale mit frischem Wasser und neben dem Bett standen eine Karaffe und ein Becher.

„Kann ich Euch noch etwas bringen, Kumari?“, fragte der Knappe höflich.

Ich massierte mir die Schläfen. Mein Kopf fühlte sich dick und schwer an.

„Wie heißt du?“

„Johann, Kumari“, sagte er stolz.

Ich schälte mich aus meiner dicken Felljacke, die für das Wetter viel zu warm war. Ich war jetzt nicht in der Verfassung, um mit Solos und Scar ernste Gespräche zu führen. Dennoch hatte ich nur noch wenige Stunden Zeit, da wir noch am Nachmittag aufbrechen würden.

„Ich möchte mich noch etwas hinlegen, aber kannst du den beiden Wölfen Bescheid geben, dass ich sie sehen möchte? Sagen wir, in einer Stunde?“

„Selbstverständlich, Kumari. Noch etwas?“

„Nein, das war’s. Du kannst gehen“, sagte ich und er verneigte sich noch einmal, bevor er mich verließ.

Ich hörte draußen die Wache vor mein Zelt treten und wusste, dass ich eine Weile lang ungestört sein würde. Ich wusch mir die Hände und trat mir die Stiefel von den Füßen. Dann sank ich auf das Feldbett und schloss die Augen.

Der Wein und das Essen hatten mich müde gemacht und die vielen Fragen des Generals hallten noch immer in meinem Unterbewusstsein. Ich wusste, dass ich noch einige Male berichten würde müssen, was geschehen war. Doch ich wollte nicht daran denken. Normalerweise war ich diejenige, die die Fragen stellte. Und das Geschehene warf so viele auf, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass die Menschen hier mir auch nur eine davon beantworten konnten …

„Liah?“

Ich riss die Augen auf. Ich musste für einen Augenblick eingeschlafen sein. Sam saß auf der Bettkante und musterte mich wachsam.

„Was …“, machte ich schlaftrunken.

„Du hast gestöhnt.“

Ich wurde rot.

„Was?“, wiederholte ich und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

„Als hättest du starke Schmerzen.“

„Oh. Ich … Das muss ein Traum gewesen sein. Ich erinnere mich nicht.“ Ich setzte mich auf und sah mich um.

„Warum bist du hier? Habe ich verschlafen?“

„Nein“, sagte Sam zögerlich. „Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht.“

„Und die Wache hat dich einfach in das Zelt der Prinzessin gelassen?“, fragte ich mit einem müden Grinsen.

„Ich habe sie eventuell nicht um Erlaubnis gebeten.“ Er sah mich ernst an. „Ich kenne Balsac. Er ist nicht gerade dafür bekannt, ein charmanter Gastgeber zu sein.“

„Ach so. Er hat mir viele Fragen gestellt. Es kam mir vor, als wollte er irgendwelche gewalttätigen Geschichten von mir hören.“

„Das passt zu ihm. Balsac war während des Krieges immer in den größten Schlachten. Er ist zweifelsohne ein guter Stratege und ein herausragender Kämpfer. Seine Truppen haben zu fast allen der wenigen Siege, die unsere Seite hatte, beigetragen. Aber ist auch brutal. Rücksichtslos. Und was Frauen angeht, hat er einen ehrenlosen Ruf.“

Ich hob die Augenbrauen.

„Warum wurde er dann ausgesucht, um mich nach Migrass zu bringen?“

„Er ist ein Kriegsheld und in Friedenszeiten gehört er zur Leibgarde der Königin. Außerdem würde er es niemals wagen, eine höher gestellte Person anzugreifen.“

„Und trotzdem hast du dir Sorgen gemacht?“

Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, doch Sams Blick blieb undurchschaubar.

„Ich wollte dir nur sagen, was ich weiß.“

„Danke. Ich erfahre gerne Dinge.“

„Ich weiß.“

Wir sahen uns einen Moment lang unverwandt an.

„Ich bin betrunken“, sagte ich unvermittelt.

Sam runzelte leicht die Stirn.

„Ich bin betrunken und kann nicht klar denken, deshalb sage ich das jetzt. Ich respektiere deine Entscheidung, was uns betrifft. Aber wir haben noch ein paar Tage bis wir in Migrass sind. Ein paar Tage in denen du noch du bist und ich noch ich bin. Wieso verschwenden wir diese Zeit, indem wir verantwortungsvoll sind?“

„Weil der Abschied dann noch viel schwerer sein würde“, sagte Sam trocken und fing meine Hand ab, die ich nach ihm ausgestreckt hatte.

„Aber ich liebe dich. Und du liebst mich. Zählt das gar nichts?“

„Liah … Liah, wieso machst du es mir immer so schwer?“, seufzte er, als ich mich zu ihm beugte.

„Weil nicht jeder so eine Selbstbeherrschung haben kann wie du.“

Meine Lippen lagen auf seinen, noch bevor er antworten konnte. Einen Augenblick passierte gar nichts. Dann brach Sams Verteidigung zusammen und er vergrub seine Hände in meinen Haaren.

Ich wagte es kaum zu atmen, als Sam mich auf das Bett drückte, aus Angst, die Wache vor dem Zelt könnte uns hören.

„Ich will das so sehr“, hauchte ich.

„Ich werde nicht deine Ehre beschmutzen“, murmelte er gegen meine Lippen.

„Ich bin mit anderen Werten aufgewachsen. Das hier stört meine Ehre kein bisschen. Was ist mit deiner Ehre?“

Er lachte leise und wich einige Zentimeter zurück, um mich ansehen zu können.

„Meine Mutter war ein Meermensch, mein Vater ein Verbrecher. Von welcher Ehre sprichst du?“

Ich legte meine Hand an seine Wange und erwiderte seinen Blick ernst.

„Wenn niemand durch seine Geburt ein Recht zu herrschen hat, dann kann man auch nicht von Geburt an unehrenhaft sein.“

Er musterte mich nachdenklich.

„Ich weiß nicht, ob du damit Recht hast.“

Ein Geräusch vor dem Zelt ließ ihn hochfahren. Noch bevor ich irgendwie reagiert hatte, stand er schon vor dem Bett mit einer Hand an seinem Schwertgriff.

„Was ist denn hier los?“, fragte Solos, als er zwischen den Zeltplanen hervortrat.

Sam entspannte sich und trat zur Seite.

„Ich lasse euch allein“, sagte er und verließ das Zelt.

Ich räusperte mich und richtete mich auf. Ich hatte die beiden Wölfe ganz vergessen und wenn ich ehrlich war, wünschte ich mir, sie hätten zumindest für den Moment auch mich vergessen.

„Sam wollte nur sehen, ob es mir gut geht“, sagte ich, da ich das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen.

„Sicher. Ihr habt einiges durchgemacht. Es ist nur natürlich, dass ihr euch um einander sorgt“, sagte Scar zustimmend und ich war erleichtert, dass sie nicht mehr zu vermuten schien.

Irgendetwas sagte mir, dass vermutlich nicht mal sie unsere tatsächliche Verbindung billigen würden.

„Liah, was ist geschehen, nachdem wir getrennt worden sind?“, fragte Solos. „Wie ist es dir gelungen, die Eishexe zu töten?“

Ich vergrub meine Finger in einem der Felle und wandte den Blick ab.

„Es kommt mir selbst unfair vor, weil ich euch als meine Freunde ansehe, und ihr doch eigentlich beteiligt wart. Aber ich kann noch nicht darüber sprechen. Wenn ich das tue, dann würde ich so viele Fragen haben, die ihr nicht beantworten könnt.“

„Du willst zuerst mit deiner Mutter darüber sprechen“, erkannte der Wolf verständnisvoll.

„Ja. Und das bringt mich zu der Frage, die ich euch stellen wollte. Habt ihr es gewusst?“

Die Wölfe tauschten einen Blick.

„Ihr wisst, was ich meine. Wusstet ihr, wer ich bin?“

„Nein“, sagte Solos. „Niemand wusste es. Ich glaube, die Königin hat nur die engsten Vertrauten in ihre Schwangerschaft eingeweiht, um zu verhindern, dass Kristalla von dir erfährt. Es geschah alles zu deinem Schutz.“

Nur dass ihr das offensichtlich nicht gelungen war. Kristalla hatte gewusst, wer ich war, noch bevor ich es gewusst hatte.

„Aber hattet ihr zu irgendeinem Zeitpunkt eine Vermutung?“, bohrte ich weiter.

„Nun ja“, meinte Scar zögerlich. „Nachdem du angekommen bist, haben wir festgestellt, dass ihr aus der gleichen Welt gekommen seid. Aber da wir nichts von der Existenz einer Thronfolgerin wussten und du zu diesem Zeitpunkt noch keine Merkmale einer Elfe aufgewiesen hast …“

„Welche Merkmale?“

„Du sahst aus wie ein Mensch“, erklärte Solos. „Ein ungewöhnlicher Mensch, aber dennoch … Du hast dich während deiner Zeit hier sehr verändert. Nicht nur äußerlich, auch Zeichen der Magie des Feuers, die in dir ruht, sind aufgetreten. Wahrscheinlich konnte sich die Elfe in dir nicht entfalten, solange du nicht hier warst, weil in deiner Welt keinerlei Magie existiert. Das muss deine übermenschlichen Gene unterdrückt haben.“

„Das würde einiges erklären“, murmelte ich.

Mein Gesicht sah wirklich anders aus. Ich hatte es in Kristallas Festung gesehen, als meine Züge mir selbst fremd erschienen waren. Meine Augen saßen schräger. Meine Wangenknochen waren spitzer. Ich hatte mich wie ein Alien gefühlt. Tatsache war, dass das das Aussehen von Elfen sein musste.

„Ich habe noch nie Elfen hier gesehen“, stellte ich fest.

„Es gibt nicht mehr viele von ihnen. Es gibt vier große Geschlechter, aus denen die Könige hervor gehen. Die momentan herrschende Familie, zu der du gehörst und die aus dem hohen Norden kommt, eine im Osten in Metassi, wo dein Freund M’nah herkommt, eine im Westen und eine im Süden. Außerdem gibt es noch kleine zerstreutere Familien, die allerdings nicht zum Hochadel gehören.“

Ich nickte langsam.

„Wo genau liegt die Hauptstadt?“

„Migrass ist ungefähr in der Mitte des Königreiches. Etwas im Nordosten, oberhalb der Drachenwüste.“

„Dann müssen wir die durchqueren, um dorthin zu gelangen?“

„Nein. Ihr werdet ein Schiff nehmen und die Nanuk hinauffahren. Der Fluss bringt euch direkt zur Hauptstadt“, sagte Scar.

Für einen Moment hatte ich ganz vergessen, dass meine einstigen Weggefährten mich gar nicht begleiten würden.

„Ich glaube aber, dass ihr in den Städten, die am Fluss liegen anhalten werdet. Dein Volk will dich sehen und dir danken. Deine Anwesenheit wird wie ein Licht nach all der dunklen Zeit sein.“

„Was glaubt ihr, wie lange wir brauchen?“

„Ihr werdet ein schnelles Schiff haben. Eine Woche vielleicht.“

Ich starrte gedankenverloren auf das Fell in meinen Händen.

„Dir steht ein weiteres Abenteuer bevor“, meinte Solos nach einer Weile. „Aber wenn du dich erinnerst, wie hilflos du dich gefühlt hast, als du in dieser ankamst und wie großartig du deine Aufgabe erfüllt hast, dann sollte dir klar werden, dass du das mit Leichtigkeit schaffen wirst. Kumari.“

„Ja“, sagte ich, weil ich keine andere Antwort wusste und stand auf. „Ich möchte euch danken. Ihr wart meine ersten richtigen Freunde. Nicht nur in dieser Welt.“

„Es war eine Ehre und eine Freude an deiner Seite zu kämpfen. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“

„Das hoffe ich auf“, sagte ich lächelnd. „Ich glaube, es ist Zeit aufzubrechen.“

 

Wir ritten schnell und erreichten wenige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit den Fluss. Er war breit und führte hohes Wasser. Als wir noch weit entfernt waren, hielt ich das ferne Glitzern für einen Moment für das Meer. Seit meiner letzten Schifffahrt hatte ich keinerlei neue Sympathie für die nassen Fluten entwickelt und ich wäre lieber wochenlang durchgeritten als auf diesem Weg zu reisen. Doch Sam versicherte mir, dass Meermenschen sich nie im Süßwasser aufhielten, da sie das Salz zum Überleben brauchten. Dennoch schluckte ich schwer, als ich von Eisblitz abstieg und mein Pferd schien ebenso wenig davon begeistert zu sein, auf den Kahn zu steigen.

Es waren zwei Schiffe. Beide hatten keine Segel oder hohe Masten, sie sahen mehr wie Dampfschiffe aus, nur ohne Schornstein. Ich konnte mir selbst zusammen reimen, dass Magie im Spiel war, deshalb unterdrückte ich die Frage.

Balsac koordinierte mit lauter, fester Stimme die Beladung und ich musste mich von Eisblitz verabschieden, da die Pferde auf das zweite Schiff gebracht wurden. Obwohl außer Sam, M’nah und mir niemand unserer ursprünglichen Truppe mehr bei uns war, hatten wir uns vergrößert. Balsac hatte ungefähr doppelt so viele Soldaten wie Blay zu meinem Schutz dabei. Außerdem würde uns Hauptmann R’dscha mit ein paar seiner Männer auf dem ersten Stück begleiten.

Ich stand mit Sam und M’nah etwas abseits und trat müde von einem Fuß auf den anderen, während wir darauf warteten, dass wir einsteigen durften. Sam und M’nah, die ihre Freundschaft bei unserer Reise vertieft zu haben schienen, unterhielten sich mit gesenkter Stimme über die Soldaten. Sam gab in kurzen Worten wieder, was er bereits mir über Balsac erzählt hatte und M’nah fügte sein Wissen über R’dscha hinzu.

„Ich habe einmal unter ihm gekämpft. Er kommt aus der Gegend von Metassi wie ich. Es war ein Seegefecht. Der Hafen wurde von Truppen der Eishexe angegriffen. Kein einziger der Feinde hat überlebt. R’dscha macht keine Kriegsgefangenen.“

„Warum sind die militärischen Oberhäupter hier so brutal?“, schaltete ich mich gedankenlos ein.

„Es war ein langer Krieg, Kumari“, sagte M’nah düster. „Er hat die Soldaten hart gemacht. Und die besonders harten treffen im Krieg die rationalsten Entscheidungen. Das ist erforderlich für den Erfolg. Und das bringt sie in führende Positionen.“

Ich fühlte mich dumm, weil ich gefragt hatte. Diese Menschen hatten mehr durchgemacht und schrecklichere Dinge gesehen, als ich mir vorstellen konnte. Dennoch fiel es mir schwer zu glauben, dass alle Soldaten im Krieg ihre Menschlichkeit verloren hätten. Sam hatte auch gekämpft und er war der menschlichste Mann, der mir je begegnet war. Obwohl er technisch gesehen eigentlich kein Mensch war.

Wenige Minuten später durften wir an Bort gehen. Balsac wollte Sam und M’nah auf dem anderen Schiff einquartieren, doch ich bestand darauf, dass sie bei mir blieben.

Das Schiff schaukelte nicht so stark wie Kapitän M‘ballas Windrose, aber mir war dennoch schlecht, sobald ich meine Kajüte erreicht hatte. Ich hatte das Gefühl als würde der Fluss das Schiff auf seinen Grund saugen und sobald ich die Augen schloss, hatte ich die schnappenden Zähne der Meermenschen vor Augen. Also stand ich am Bullauge und sah auf das Wasser und das Ufer, das an uns vorbei zog, während meine Zukunft immer näher rückte.

Ich schlief nicht. Nachts lag ich wach und tagsüber stahl sam sich wann immer er konnte in meine Kajüte und wir redeten und küssten uns stundenlang. Manchmal sank ich in den frühen Morgenstunden in einen deliriumsartigen Schlaf und hatte wirre dunkle Träume voller Blut und Kälte und schwarzem Wasser, in dem ich zu ertrinken drohte. Kristallas verzerrtes Gesicht und ein dunkler Schatten suchten mich heim und wann immer ich mit rasendem Herzen aufwachte, schreckte ich auf und griff nach meinem Dolch, als könnte er mich vor meinem Unterbewusstsein beschützen.

Die Zeit rann mir wie Sand durch die Finger. Meine wenigen komplett wachen Phasen verbrachte ich an den Hafen der Städte, die wir passierten, wo mir Menschen zujubelten und ich mich fremd fühlte, aber dennoch lächelte ich und schüttelte Hände. Mehrmals baten mich Mütter ihre Neugeborenen zu segnen und ich tat es jedes Mal, doch ich hielt mich an kurze Sätze. Was ich in der Kapelle gesagt hatte, würde vermutlich weder bei den Soldaten noch bei dem Volk besonderen Anklang finden.                                          

Am Morgen des achten Tages überredete Sam mich, ihn an Deck zu begleiten.

„Der Kapitän sagt, dass wir heute Mittag anlegen werden.“

Dieses Mal musste ich nicht nach dem Namen der Stadt fragen. Dieses Mal kannte ich ihn bereits.

„Dann müssen wir uns bald verabschieden?“, fragte ich, ohne ihn anzusehen.

„Liah.“

Er legte eine Hand unter mein Kinn und zwang mich ihn anzusehen. So hatte er mich vor anderen noch nie berührt.

„Ich werde nicht gehen, bevor du dich nicht sicher fühlst.“

Der Fluss bog um eine Böschung und als die Sicht wieder frei war, sah ich in der Ferne hinter den Wiesen und Feldern die goldenen Dächer einer großen Stadt im Sonnenlicht glänzen.

„Das ist es also. Das ist Migrass.“

6. Kapitel

 

Der Fluss führte direkt in die Stadt hinein. Wir passierten hohe, dicke Mauern aus Sandstein durch ein hohes Tor und Fanfaren erschollen über den Dächern der Stadt. Der Jubel der Menge, hallte von den Gebäuden wieder, die den Fluss säumten. Hunderte fröhliche Gesichter strahlten mir entgegen, hunderte Hände winkten mir zu und ich hob die Hand um den Gruß zu erwidern.

Ich stand vorne am Bug, Hauptmann Balsac mit geschwellter Brust neben mir. Die Soldaten standen hinter uns an der Reling und beäugten alles wachsam, genau wie die Stadtwache, die die überall postiert war.

Mein Puls schwoll an und ich spürte ihn in meinem gesamten Körper hämmern. Ich konnte mir das Kommende nicht vorstellen, meine Vorstellungskraft schien nicht dafür auszureichen, und so konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Menschenmenge.

Das Schiff wand sich durch die Straßen und hielt schließlich an einem Dock an einem Platz. Zwei Reihen von Männern der Stadtwache hielten die Menschen dort zurück, um einen breiten Weg frei zu lassen, der geradewegs zu einer breiten Straße führte. Als wir an Land gingen schwoll der Jubel noch höher an und ich lächelte verkrampft. Ich wusste nicht, was ich zu tun hatte und ich hasste es, hilflos dem Hauptmann zu folgen. Wir gingen nicht sofort den Berg hinauf, sondern betraten über eine breite Treppe die Veranda eines großen alten Gebäudes. Dort erwartete uns ein Mann, der in festliche Gewänder gekleidet war.

Er verneigte sich tief, als wir vor ihm standen und sagte: „Willkommen in Migrass, Kumari. Voller Freude begrüßen wir Euch, Pachanda, in unserer Hauptstadt. Mein Name ist Maes, ich bin der Statthalter von Migrass. Es ist mir eine Ehre, Euch in Empfang nehmen zu dürfen.“

„Danke, es freut mich, Euch kennenzulernen“, sagte ich.

Er nahm meine Hand und trat mit mir zum Geländer der Veranda.

„Bürger von Migrass!“, rief er mit erhobener Stimme und der Lärm dämpfte sich etwas. „Verneigt euch und seid froh. Der Krieg ist vorbei, die Eishexe ist tot und eure Kumari Liah, Tochter unserer Königin Fiona, ist heimgekehrt! Sie hat das Böse bezwungen und euch von allem Schrecken befreit.“

Er riss meine Hand in die Luft als Zeichen des Sieges und die Menschen brachen erneut in ohrenbetäubenden Lärm aus. Ich hörte sie meinen Namen rufen, meinen Titel und „Friedensbringer“, „Lichtbringer“ und noch viel mehr, was ich nicht verstand. All diese Dankbarkeit, die ich in ihren Gesichtern sah, und die ich schon in so vielen Gesichtern in den letzten Tagen gesehen hatte, bereitete mir ein warmes Gefühl, und dennoch glaubte ich nicht, dass ich alles davon verdiente, da ich nichts von dem, was ich getan hatte, allein geschafft hätte. Mein Blick wanderte zum Fuß der Treppe, wo Sam stand und zu mir hochsah.

„Kumari, wenn Ihr es mir gestattet“, sagte der Statthalter und gab meine Hand frei. „Ich habe eine Kutsche für Euch vorbereitet.“

Maes, Balsac und ich waren in der ersten Kutsche, hinter uns Sam und M’nah in der zweiten, kleineren. Schöne Apfelschimmel mit glänzender Mähne und langem grauen Schweif zogen uns die Straße hinauf über das raue Pflaster. Ich hatte das Gefühl, dass die gesamte Stadt sich versammelt hatte, um mich zu begrüßen. Männer, Frauen und Kinder, Junge und Alte säumten unseren Weg und allesamt strahlten sie eine unbändige Freude aus.

Wir passierten eine zweite, niedrigere Mauer. Die Häuser wurden größer und prunkvoller und ich wusste, dass wir uns nun im Stadtteil der Reichen befanden. Ich konnte das Tor zum Schloss bereits sehen. Mein Mund war völlig ausgetrocknet und in diesem Moment hätte ich alles für einen Schluck Wasser gegeben. Durch das Tor kamen wir in einen prunkvollen Park, der es mit den Barockgärten Englands ohne weiteres hätte aufnehmen können. Der Kies der Auffahrt spritzte unter den Kutschrädern zur Seite. Die Wachen des Schlosses, deren Uniform sich durch ein sattes Rot von der der Stadtwache abhob, standen mit präsentierter Lanze vor den weißen Stufen des Palastes. Die Kutsche hielt vor einem großen Springbrunnen und ein Diener öffnete eilig die Tür.

„Danke“, sagte ich reflexartig und stieg langsam aus.

„Folgt mir, Kumari“, sagte Maes, doch ich wartete noch einen Herzschlag, bis ich mich vergewissert hatte, dass Sam zu uns aufgeschlossen hatte.

Dann atmete ich tief durch, richtete mich zu voller Größe auf und schritt die Stufen hinauf. Die Eingangshalle war zugleich der Thronsaal. Er war riesig und hoch mit Fresken an den Wänden und der Decke. Marmorsäulen streckten sich in die Höhe und unsere Schritte hallten von den Wänden wieder, als wir auf die schillernd gekleideten Leute zu gingen, die am anderen Ende der Halle standen, dort wo der Thron war. Wo sie saß.

Sie sah anders aus, aber ich erkannte sie dennoch sofort. Sie trug ein langes fließendes Gewand aus einem Stoff der gleichzeitig blau und silbern zu sein schien. Auf ihren langen dunkelbraunen Locken thronte ein schlichter goldener Reif und ihre sturmgrauen Augen bohrten sich in meine.

Zehn Meter vor dem Thron blieben wir stehen und die Soldaten und der Stadthalter sanken mit gesenktem Haupt auf die Knie. Ein plötzlicher Trotz verhinderte, dass auch ich das Knie beugte. Sie erhob sich und schritt langsam auf uns zu. Direkt vor mir blieb sie stehen.

„Mein Kind“, sagte sie mit erstickter Stimme und schloss mich in ihre Arme.

 

*vier Wochen später*

 

Die Sonne blendete mich durch meine geschlossenen Lider und ich drehte den Kopf zur Seite. Die Haut auf meinem Gesicht spannt und ich ahnte, dass ich einen Sonnenbrand bekommen würde. Das Lachen der Hofdamen drang an meine Ohren und ich runzelte leicht die Stirn. Sie alle waren Töchter von Grafen und Würdenträgern des Hofes. Sie alle waren Elfen. Und sie alle verhielten sich wie junge Damen das so taten. Ihre aufrechte Haltung, ihr sanftes Lächeln und ihre Zurückhaltung führten mir Stunde für Stunde vor Augen wie wenig ich hier her gehörte. Ich beobachtete sie, wie sie im Schatten der Bäume stickten, mit magnetischen Leinen Metallfische aus dem Teich angelten und die bunten Vögel in ihren Käfigen fütterten. Es kam mir alles so sinnlos vor. Sie taten nie etwas nützliches, ihre einzige Aufgabe war es hübsch zu sein und einen passenden Elfenehemann zu finden. Eigentlich hatte ich gedacht, dass in einem Staat mit einer weiblichen Regentin die Emanzipation weiter sein müsste, doch da hatte ich mich geirrt.

Ich winkelte ein Bein an und dankte in Gedanken meinem Ausstatter aufs Neue dafür, dass er erkannt hatte, dass die Rock-Mode der Hauptstadt nichts für mich war. Stattdessen hatte er mir die weiten, bunten Pluderhosen, die die Elfen im Süden trugen, beschafft, zu denen man praktische, ärmellose Oberteile trug. Meines war zwar mit allerlei Stickereien verziert, aber es hatte kein Korsett und der Schneider schien es sich nicht zur Aufgabe gemacht zu haben, den Frauen jegliches Atmen unmöglich zu machen.

Lautes Gezwitscher und das Klingeln kleiner Glöckchen kündigten Tarek an, den Vogelmeister. Die anderen Mädchen sprangen sofort auf und rannten kichernd vom Garten in die offenen Räume des Palastes, um zu sehen, was er neues dabei hatte. Ich erhob mich ebenfalls und schlenderte in die gleiche Richtung. Als meine nackten Füße auf den kalten Marmor des Wintergartens trafen, zuckte ich leicht zusammen. Es war kein richtiger Wintergarten, da die Außenwand komplett offen war und der Garten praktisch in den Garten hineinfloss, aber durch die hohen Steinwände und die Büsche und Bäume, die aus den großen Töpfen wuchsen, war es hier so kühl, dass der Raum von allen als Wintergarten bezeichnet wurde.

Tarek und die Mädchen standen in der Mitte des Raumes und ich blieb an eine Säule gelehnt mit etwas Abstand stehen. Bei den neuen Vögeln handelte es sich um einen Haufen kleiner, bunter Dinger. Sie erinnerten mich an Küken, wie sie fiepend durch ihre Käfige stolperten und mit ihren kleinen Flügelchen flatterten.

Als Tarek mich sah, breitete sich ein Lächeln auf seinem spitzen Gesicht aus und er kam strahlend zu mir herüber.

„Kumari! Wie geht es Euch heute an diesem wundervollen Tag? Ihr seht müde aus, wie kann ein einfacher Mann wie ich Euch fröhlich stimmen?“

Ich lächelte und stieß mich von der Säule ab.

„Ich kann nur nicht schlafen, das ist alles. Es geht mir gut.“

Das war nicht die ganze Wahrheit, doch ich beließ es dabei.

„Ich habe etwas Besonderes für Euch. Ich sah ihn und wusste auf der Stelle: du gehörst zu der Kumari.“

Er zog einen kleinen Käfig aus den tiefen seines Gewandes und reichte ihn mir. Hinter den goldenen Streben sah ein kleiner purpurroter Vogel mit spitzem schwarzem Schnabel und schwarzen Flügeln.

„Das ist ein Rubintyrann“, erklärte Tarek.

„Er ist wirklich wunderschön. Ich danke dir.“

„Wie immer ist es mir die größte Ehre“, sagte Tarek, verbeugte sich und ging davon.

Ich drehte mich ebenfalls um und trat auf den Gang, dessen Fensterbögen sich wie der Wintergarten zum Garten öffneten.

„Na, wer hat dich hier hineingesteckt?“, fragte ich den Vogel leise im Gehen und hob ihn vor mein Gesicht. „Wir sind in einer ziemlich ähnlichen Situation, du und ich. Wir sind ein dekoratives Element in einem goldenen Käfig und dürfen nichts Sinnvolles tun. Aber weißt du was der Unterschied zwischen uns ist? Ich habe die Macht, etwas an deiner Situation zu ändern.“

Ich blieb stehen und stellte den Käfig auf einem Sims ab, um ihn zu öffnen. Kaum war das Gitter geöffnet, flatterte der Vogel hinaus und schwang sich in die Lüfte.

„Mach bloß, dass du weg kommst“, sagte ich leise. „Bevor dich wieder irgendjemand einsperrt, um die hohen Damen zu bespaßen.“

Ich sah dem kleinen roten Ball nach und unterdrückte ein Gähnen. Wenn ich wenigstens etwas zu tun gehabt hätte, wäre die Müdigkeit vielleicht vertreibbar gewesen. Aber da ich meine Tage nur mit Mädchen-Dingen wie im Garten sitzen und Unterricht in angemessenen Verhalten verbrachte, waren die einzigen Momente, in denen ich mich hellwach fühlte, wenn ich aus einem Alptraum aufschreckte. Das geschah mehrmals pro Nacht, bis ich jedes Mal kapitulierte, eine Kerze anzündete und in den Büchern las, die man mir gegeben hatte. Sie handelten hauptsächlich von irgendwelchen Adelsfamilien, die dies und jenes getan hatten, aber es war besser als in meinem eigenen Schweiß zu kochen und dem Rasen meines Herzens zu lauschen.

Ich hatte seit Wochen keine ruhige Nacht mehr gehabt. In den ersten Nächten nach unserer Ankunft in Migrass hatte ich gar nicht geschlafen.

„Das Bett ist zu weich“, hatte ich zu Sam gesagt.

Er hatte geschmunzelt und gemeint, dass das jedem so ging, der die raue Erde gewohnt war.

Es war eine der letzten Unterhaltung gewesen, die ich mit Sam geführt hatte. Wir hatten uns nur selten gesehen, denn in der ersten Woche hatte man mich beschäftigt gehalten. Es hatte Empfänge gegeben, um mich den wichtigen Leuten des Landes vorzustellen, wir waren durch die Stadt gefahren und ich war gezwungen gewesen, zu erzählen, was geschehen war. Die vollständigste Version, die alles außer Teile des Gesprächs mit Kristalla beinhaltete, hatte ich nur einmal für meine Mutter erzählt. Danach fasste ich alles knapp zusammen, um mich nicht erinnern zu müssen. Niemand meiner „Bewunderer“ schien zu verstehen, dass ich keinerlei Bedürfnis hatte über das Geschehene zu sprechen. Sam verstand mich als einziger. Zumindest hatte ich das gedacht, bis er am neunten Tag ohne sich zu verabschieden abgereist war.

Ich stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und wandte mich in die entgegengesetzte Richtung des Zimmers, wo meine Erzieherin auf mich wartete. Hijaja war eine schrecklich sture, traditionstreue Elfe, die an jeder Haltung und jedem Wort, das ich von mir gab, etwas auszusetzen hatte. Die alte Frau, die trotz der Hitze immer hohe steife Krägen trug, fühlte sich dazu berufen meinen Charakter in wenigen Wochen so zu formen, wie man es sonst bei Kindern über mehrere Jahre hinweg tat. Doch ich weigerte mich und durch die Befreiung des Vogels vor wenigen Minuten fühlte ich mich besonders rebellisch und beschloss zu schwänzen.

Ich näherte mich den Räumen, in denen die Regierungsgeschäfte abliefen und ich verlangsamte meine Schritte. Meine Mutter war fast immer hier. Die wenigen Male, bei denen ich sie alleine getroffen hatten, waren hier gewesen. Ich hörte leise Stimmen aus einem Konferenzzimmer und blieb zwei Meter von der Tür entfernt stehen. Ich erkannte zwei der Berater meiner Mutter, die sich gedämpft unterhielten.

„ … schon wieder zwei Männer verschwunden.“

„Das ist schon das sechste Mal, dass Bauern im Westen vom Feld verschwunden sind, seit …“ Der zweite Mann unterbrach sich und kurz war es still.

„Sie könnten weggelaufen sein. Zum Wüstenvolk oder zu anderen Vagabunden.“

„Aber warum jetzt? Und warum immer wieder Einzelne, ohne Zusammenhang? Es ergibt keinen Sinn.“

„Vielleicht Plünderer. Es sind noch nicht alle der Anhänger der Eishexe gefangen genommen worden.“

„Aber warum sollten sie sich an Bauern vergreifen? Was wollen sie uns damit sagen?“

„Das sind hirnlose Gesetzesbrecher. Die haben keine Botschaft, außer dass …“

Ich ging weiter bevor ich entdeckt werden konnte. Ich hatte in den letzten Tagen immer wieder derartige Gespräche gehört. In den offiziellen wöchentlichen Ratssitzungen, bei denen ich auf Wunsch meiner Mutter anwesend war, wurde nur davon gesprochen wie gut der Wiederaufbau verlief und wie froh alle Bürger des Landes waren. Doch außerhalb der Sitzungen gab es einige wenige die noch mehr zu wissen schienen. Etwas schien im Gange zu sein.

Ich setzte meinen Weg zum königlichen Schreibzimmer fort und passierte die Wachmänner ohne aufgehalten zu werden.

Sie saß an dem großen Schreibtisch, vor sich mehrere Rollen Pergament, Siegelwachs und Schreibfedern.

„Solltest du nicht bei Hijaja sein?“, sagte sie ohne aufzusehen.

„Woher wusstest du, dass ich es bin?“, fragte ich und schloss die Tür.

„Du bist schon wieder barfuß. Gefallen dir deine neuen Schuhe nicht?“

„Ich kann mit ihnen nicht rennen.“

„Wann rennst du denn?“, fragte sie und hob den Kopf.

Ich zuckte mit den Schultern und trat ans Fenster.

„Morgens.“

„Wohin?“

„Durch den Garten. Mum, ich brauche etwas zu tun. Du bist vielleicht in dieser Welt eine andere Person aber ich nicht. Gib mir eine Aufgabe, lass mich etwas Sinnvolles lernen.“

„Du bist die Kumari und dementsprechend ist auch dein Unterricht. Wie man sich verhält und wie man regiert, das musst du beherrschen und nicht den Schwertkampf“, sagte sie und ließ sich zu einem leichten Schnauben herab.

„Ich will keine Regentin werden.“

„Ich wollte es auch nicht, als ich in deinem Alter war. Aber es ist unsere Bestimmung.“

„Ich will auch nicht irgendeinen tollen, adligen Elf heiraten. Und schau nicht so, ich habe dich und Doras darüber reden hören. Ich mache das nicht.“

„Liah“, seufzte sie. „Wir werden diese Unterhaltung noch führen, jetzt ist nicht der Zeitpunkt. Ich möchte, dass du dich erholst und zurechtfindest, bevor wir über deine Zukunft sprechen.“

„Hm.“

Gedankenverloren rieb ich über meine Handfläche. Die dünnen gekreuzten Narben prickelten. Sie heilten nicht richtig und rissen an manchen Stellen immer wieder auf. Ich hatte dem Hofarzt gesagt, die Schnitte stammten von einer Scherbe, doch ich war mir nicht sicher, ob er mir glaubte.

„Wann erhalte ich Magieunterricht?“, schnitt ich ein neues Thema, das mindestens so gefährlich wie das vorherige war.

„Das tust du bereits.“

„Nein. Ich laufe mit einem alten Mann durch die Gärten und versuche meinen inneren Elementgeist zu finden. Ich habe mit eurer Technik noch nie etwas Größeres als einen Funken zu Stande gebracht.“

„Es gibt nur diese Technik“, sagte meine Mutter mit scharfer Stimme und ich verdrehte die Augen.

„Doch. Das was Pok mir gezeigt hat, ist ziemlich mächtig.“

„Aber du kannst es nicht kontrollieren. Wenn deine Magie nur mit deinen Emotionen aus dir herausbricht, hast du keine Macht über sie und wirst nie den höchsten Grad deines Könnens erreichen.“

„Ja. Das habe ich auch schon gehört“, murmelte ich und schnipste frustriert mit den Fingern, in der Hoffnung einen Funken zu erzeugen. „Ich habe keine Lust mehr auf dieses tiefsinnige Gerede. Ich brauche etwas Handfestes.“

„Möchtest du morgen mit auf die Jagd?“

„Ich möchte auch keine unschuldigen Tiere durch die Gegend hetzen, um sie am Ende sowieso nicht zu essen.“

Meine Mutter holte hörbar kontrolliert Luft und atmete langsam wieder aus.

„Manchmal habe ich das Gefühl, du willst dich nur mit mir streiten.“

Ich drehte mich um und sah sie an.

„Manchmal habe ich das Gefühl, du willst nicht mich sondern nur eine brave kleine Nachfolgerin.“

Sie erwiderte meinen Blick ohne eine Regung zu zeigen.

„Geh jetzt in deinen Unterricht. Ich habe keine Zeit für so ein Gerede.“

Ich ging nicht in den Unterricht. Stattdessen schlich ich mich in die Stallungen und ließ mich in Eisblitz‘ Box ins Stroh sinken. Die Leere, die mich erdrückte genau wie die Marmor- und Sandsteinwände des Palastes, senkte sich auf meine Brust und ich schloss die Augen. Eisblitz stupste mich sanft mit seinem weichen Maul an und ich lehnte den Kopf an die Holzwand neben mir.

 

Ich wusste, dass es ein Traum war und gleichzeitig wusste ich, dass alles was ich sah, da war. Es war kalt. Doch es war keine irdische Kälte, es war ein Zustand von der Abwesenheit jeglicher Temperatur. Meine Nerven schienen sich unter meiner nackten Haut zu bewegen, auf der Suche nach Wahrnehmung. Es war dunkel. Die Dunkelheit herrschte mit einer solchen Gewalt, dass das Wort Licht aus meinem Verstand gebannt wurde. Und dennoch konnte ich sehen.

Eine körperlose Gestalt stand vor mir. Sie war da und war gleichzeitig nicht da. Ein rasender Schmerz bohrte sich zwischen meinen Augen durch meinen Kopf, während mein Gehirn versuchte, zu verarbeiten, was meine Sinne nicht vermitteln konnten. Ich wollte atmen, doch da war keine Luft. Ich war gelähmt, zusammengepresst vom Nichts und das Nichts kannte meinen Namen.

 

Meine Muskeln verkrampften sich und rissen mich aus der Lähmung des Traums. Ich saß an die Wand der Pferdebox gekauert, mein Herz raste und mein Verstand versuchte den Traum abzuschütteln. Ich drückte meine Hände auf mein Gesicht. Ich hatte im Traum keine Angst gehabt, ich hatte nie Angst in den Alpträumen, die sich mir Nacht um Nacht aufdrängten. Doch jedes Mal wenn ich erwachte, packte mich eine reale Furcht, eine Panik vor etwas, das ich nicht erfassen konnte, genau wie die Gestalt in meinen Träumen.

Ich atmete zittrig ein und aus und zählte in Gedanken langsam bis zehn. Erst dann hörte ich die Geräusche, die mich geweckt hatten. Zwei Stallknechte kamen den Gang herunter und unterhielten sich laut.

„Da hinten steht er, der Hengst der Kumari“, sagte einer der beiden.

„Ob sie ihren Wüstenmann wohl genauso geritten hat wie ihn?“, fragte der andere höhnisch und sie lachten.

Mir fiel die Kinnlade herunter, doch ich verhielt mich still.

„Hoffen wir’s für ihn. Durch seine Verbannung wird er sie nie wieder zu sehen kriegen.“

Verbannung? Was hatte das zu bedeuten?

„Na ja. Aber bevor ich das königliche Schoßhündchen werden würde, wäre ich auch lieber in der Wüste, wo die Weiber zahlreich und ungebunden sind.“

„Ha! Dich nimmt doch nicht mal eine gegen Bezahlung, du Held!“

Sie entfernten sich und ich stand langsam auf. Wenn die beiden wüssten, dass ich sie belauscht hatte, würden sie vermutlich um ihr Leben fürchten. Doch ich hatte nicht vor sie zu verpfeifen. Viel eher musste ich herausfinden, ob sie die Wahrheit gesagt hatten.

Da es bereits spät war ging ich in meine Gemächer. Ich war mir sowieso sicher, dass meine Mutter mir nichts anderes über Sams Weggang sagen würde, als sie es schon getan hatte. Allerdings gab es noch eine andere Person, die mir helfen konnte.

Meine Kammerzofe wartete bereits im Esszimmer auf mich, als ich eintrat.

„Tut mir leid, bist du schon lange hier, Diana?“, fragte ich und setzte mich.

„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ihr bestimmt wann Ihr speißt, Kumari.“

„Und du musst endlich anfangen mich Liah zu nennen.“

Sie lächelte und knickste leicht.

„Komm schon, setz dich. Es ist genug für alle da.“

„Oh, ich esse in der …“

„Keine Wiederrede. Es gibt Ente. Ich weiß, dass du es willst“, sagte ich mit einem Zwinkern und sie gab nach.

„Ist für morgen alles bereit?“, fragte ich nachdem wir mit dem Essen begonnen hatten.

Die junge Frau sah mich zögernd an.

„Ich habe vorhin ein Kleid von mir herein geschmuggelt. Aber seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt, Liah?“

„Ja, bin ich. Außerdem ist morgen perfekt. Der halbe Hof wird auf dieser Jagd in den Wäldern sein. Niemand wird es merken, wenn ich für ein paar Stunden nicht im Palast bin.“

„Es könnte gefährlich sein.“

„Ach was. Keiner wird wissen, dass ich es bin. Und wenn ich hier nicht bald mal raus komme und echte Menschen sehe, werde ich noch verrückt.“

Diana nickte leicht und ich wusste, dass sie mich verstand. Dianas Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und ihr Vater war im Winterkrieg gefallen. Da er damals direkt unter dem Kommandanten der Stadtwache gedient hatte, hatte dieser sich für das kleine Mädchen verantwortlich gefühlt. Seine eigene Ehe war kinderlos und so war Diana als sein Mündel an den Hof gekommen. Obwohl sie schon wesentlich länger als ich hier war, fühlte sie sich immer noch fremd unter den Reichen und Herrschenden.

„Ich bin zwar bereits in einer Kutsche durch die Stadt gefahren, aber ich möchte alles sehen. Nicht nur die schönen, herausgeputzten Ecken.“

„Vielleicht bereut Ihr das aber.“

„Ich möchte die wahre Welt sehen. Ich habe mein ganzes Leben in einem Scheinkonstrukt verbracht. Das reicht mir.“

Sie vertiefte das Thema und ich nahm die Gelegenheit wahr, um die Frage zu stellen, die mir eigentlich im Kopf herumspukte.

„Diana, was weißt du über Sam?“

Sie sah mich überrascht an.

„Alles, was Ihr mir über ihn erzählt habt.“

„Ja, aber was noch? Warum ist er gegangen?“

„Sagtet Ihr nicht, er habe die Stadt mit M’nah verlassen, um nachhause zurück zu kehren?“

„Das ist das, was man mir erzählt hat. Aber es macht keinen Sinn. Und vorhin habe ich jemanden sagen hören, er wäre verbannt worden.“

Diana verschränkte die Finger im Schoß.

„Es kursieren gewisse Gerüchte auf den Fluren.“

„Und zwar?“

Ich legte meine Gabel vorsichtig auf den Tisch, weil ich ahnte, dass sie mir sonst aus der Hand fallen könnte.

„Es heißt, die Königin hat ihm gedroht, damit er aus der Hauptstadt verschwindet und Euch nie wieder sieht.“

7. Kapitel

 

Ich war wach lange bevor Diana mit dem Kleid herein kam. Ich wusch mir den kalten Schweiß, den mir meine Alpträume auf die Haut getrieben hatten, mit Wasser aus einer großen Kristallschale ab, die immer unter einem der großen Bogenfenster stand, die in den Park zeigten. Danach setzte ich mich auf da Baldachinbett und fingerte an den Perlenstickereien auf der Tagesdecke herum. Ich war weit über den Punkt hinaus, an dem man meinen Zustand als schläfrig hätte bezeichnen können. Alle Geräusche waren gedämpft und meine Bewegungen langsam als wäre ich unter Wasser. Ich kreuzte die Beine, legte die Hände auf die Knie und schloss die Augen. Meditation war das erste, was einen die Elfen hier am Hof lehrten, wenn es um das Kontrollieren der Magie ging. Nur nichts überstürzen. Nur nicht riskieren, dass die Gefühle die Magie beeinflussen könnten.

Ich atmete tief ein, dann ließ ich meinen Atem langsam aus meinem Mund strömen und dachte an die imaginäre Flamme vor meinem, die ich nicht auspusten durfte. Ich ließ meine Gedanken von mir wegtreiben und versuchte an nicht zu denken. Das Problem mit dem Nichtsdenken war – und das hatte ich meinen Lehrern mehrfach gesagt – es war unmöglich. Irgendetwas war immer. Und je mehr man es versuchte, umso schwerer wurde es.

„Du musst alles loslassen“, hatte man mir gesagt.

Aber um loszulassen musste ich erst einmal in den Zustand der Meditation kommen und das war bei den Bildern, die mich verfolgten, unmöglich.

Ich seufzte und öffnete die Augen. Ich würde das Delirium, in dem sich mein Körper befand, nur durch eine Aufgabe vertreiben können. Durch einen Fokus und nicht durch die Verschwommenheit einer Meditation.

Gerade als ich aufstand, um zum Dienstboteneingang meines Schlafzimmers zu gehen, trat Diana durch denselben.

„Sind sie schon weg?“, fragte ich und spürte wie die Aufregung etwas Leben in meinen Körper brachte.

„Noch nicht, aber gerade wurden die Stallburschen mit den Pferden rausgeschickt“, berichtete Diana.

„Na dann.“

Grinsend schlüpfte ich aus meinem Nachthemd und Diana half mir in das braune Kleid. Sie schnürte es gerade zu, als ein Klopfen ertönte.

Wir erstarrten und tauschten einen ertappten Blick.

„Unters Bett!“, zischte Diana und ich glitt zu Boden.

Die lange Tagesdecke schwang gerade hinter mir zurück, als ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde.

Kurz war es still.

„Wo ist meine Tochter?“

Die barsche Stimme ließ mich zusammen zucken. Ich wette meine Mutter sah Diana nicht einmal an. Ich hasste es, wie sie mit den Dienern hier umging.

„Sie ist eben gegangen, Maharani“, sagte Diana seelenruhig.

„Wohin?“

„In die Gärten glaube ich.“

Wieder Stille.

„Ich hatte gehofft, sie würde mich auf die Jagd begleiten.“

Diana schwieg, es entsprach nicht ihrem Stand, unaufgefordert zur Königin zu sprechen.

„Nun gut. Diana, richtig?“

„Ja, Maharani.“

„Ich wünsche, dass meine Tochter heute zu ihrem Unterricht erscheint, wenn sie schon nicht an gesellschaftlichen Verpflichtungen teilnimmt.“

Der Tonfall meiner Mutter war angespannt. Drohend.

„Sehr wohl, Maharani.“

Die Tür schlug zu und Stille kehrte ein. Dann schlug Diana die Decke zurück und Licht flutete unter das Bett. Ich kroch nach draußen und stieß mir den Kopf an.

„Verdammt!“, fluchte ich und Dianas Lippen zuckten.

„Lachst du mich etwa aus?“

„Nein“, presste sie hervor und biss sich auf die Lippe.

Ein ungläubiges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich hielt mir kichernd den schmerzenden Kopf. Dianas Mund entsprangen ebenfalls ein paar unterdrückte Lacher und wir machten uns immer noch lachend auf den Weg zum Dienstbotengang.

Wir schafften es ungesehen nach draußen zu gelangen. Als wir den Hof hinter der Küche erreicht hatten, reichte Diana mir ein braunes Kopftuch.

„Gut mitgedacht.“

Meine roten Haare waren sehr auffällig und jeder in der Hauptstadt kannte die Farbe. Ich band mir das lange Tuch wie ein Piratenkopftuch um den Kopf und Diana steckte hier und da noch eine Strähne darunter.

„Ich bin rechtzeitig zum Unterricht wieder da. Ich habe das Gefühl, sie macht sonst dich verantwortlich.“

Diana lächelte besorgt.

„Folgt einfach dem Weg, er führt direkt ins Zentrum. Und seid vorsichtig.“

„Ich bin nicht das erste Mal allein unterwegs“, lachte ich und zwinkerte ihr zu.

Obwohl, wenn ich an meinen Ausflug in Erepo dachte … Aber dieses Mal war ich vorbereitet. Außerdem war dies die Hauptstadt. Was sollte schon groß passieren.

Ich schloss mich unauffällig ein paar Mägden an und passierte mit ihnen das Tor. Keine der Wachen sprach mich an. Sobald es mir möglich war, verließ ich die Mägde und mischte mich unter die Passanten. Viele waren auf dem Weg zum oder vom Markt, einige trugen Körbe oder zogen Karren. Ich ließ mich treiben und fühlte mich zum ersten Mal seit Wochen richtig lebendig. Die Rufe der Marktschreier drangen schon bald an meine Ohren und ich hielt auf sie zu.

An einem Stand kaufte ich mir ein warmes Brötchen und beinahe hätte ich am nächsten ein Päckchen kandierte Früchte eingekauft, doch dann erinnerte ich mich, dass ich in der Rolle einer gewöhnlichen Dienerin war, die sich so etwas sicher nicht leisten konnte.

Ich ging weiter und kam zur Mitte des Platzes, wo ein riesiger Brunnen war, an dem Kinder spielten. In seiner Mitte stand die riesige Bronzestatue eines Elfenmannes. Seine Züge waren fein gearbeitet und in der Hand hielt er ein Zepter. Auf seinem Rücken prangten die prächtigen schillernden Flügel, die Elfen materialisieren konnten, wenn sie aus ihrer Magie schöpften. Normalerweise zumindest. Ich konnte es nicht.

Ich lehnte mich vor und entzifferte die Runeninschrift am Sockel der Statue. Adhipati Evelant, der Begründer. Ich kramte in meinem kleinen Wortschatz der alten Sprache und war mir ziemlich sicher, dass Adhipati König hieß. Und den Namen Evelant hatte ich ebenfalls schon einmal gehört.

„Die Prophezeiung besagt, dass der Retter in der 22. Nacht des fünften Mondes im Jahre 42748 nach Evelants Geburt kommen wird.“

Norlos‘ Worte hallten in meinem Kopf wieder. Evelant war der erste Elfenkönig gewesen. Er hatte das Königreich geeint und eine Dynastie geschaffen die Jahrtausende nach seinem Tod bestand. Ich hatte von Zwergenkunstwerken gehört, die so gearbeitet waren, dass sie nie kaputt gingen. Ich fragte mich wie alt diese Statue sein mochte. Wohl kaum 42000 Jahre, aber dennoch …

Ich ging weiter und wanderte die Hauptstraße hinunter bis ich mich irgendwann auf dem Platz vor dem Haus des Stadtverwalters wiederfand. Einige Gaukler veranstalteten eine Vorstellung und ließen Passanten ihre Hektik für einige Momente vergessen und innenhalten. Ich kam näher und beobachtete eine Frau, die riesige bunte Seifenblasen machte, die im Wind tanzten und schillerten. Sie erinnerten mich an Elfenflügel und erneut fragte ich mich, warum meine nie zum Vorschein gekommen waren.

Meine Augen folgten den Seifenblasen und ich war nicht die einzige, der ein erstauntes „Oh!“ entwich, als sie plötzlich von blauen Flammen erfasst wurden, für wenige Sekunden zu blauen Feuerbällen wurden und dann zerplatzten. Die Flamen wurden von einem weiteren Gaukler erzeugt. Es war ein junger dunkelhäutiger Mann, der nichts als weite, schwarze Pumphosen und eine offene schwarze Weste trug, die so gut wie nichts von seinem muskulösen Oberkörper verdeckte. Er erzeugte die Flammen durch ein Fingerschnipsen und blies sie dann auf die wabernden Seifenblasen. War das Magie? Aber er war kein Elf, sondern ein Mensch … Wie war das möglich?

Das Scheppern der Rüstungen der Stadtwache ertönte und die Menge begann sich aufzulösen.

„Zirkus Sarkasa, draußen vor der Stadt, jeden Abend! Besucht uns in unserer Manege der Magie und lasst euch verzaubern!“, rief der Mann, dann nahmen er und die anderen die Beine in die Hand und rannten in unterschiedliche Richtungen davon.

Einem Impuls folgend raste ich dem Mann hinterher. Er bog in die Gasse neben mir ein, die hinter das Haus des Stadthalters führte, doch als ich sie erreichte, war niemand da. Ich bog nach links in eine noch engere Gasse und folgte dem Hall seiner nackten Füße auf dem Pflaster.

Plötzlich stand ich in einem verrümpelten Innenhof einer Wäscherei. An langen Leinen, die von Wand zu Wand gespannt waren, hingen feuchte Laken und Tücher, die mir die Sicht versperrten. Mit klopfendem Herzen und schwerem Atem hielt ich inne und sah mich um. Wo war er hin verschwunden?

Ein leises Poltern lies mich herum fahren und ich entdeckte einen kleinen Schuppen. Langsam ging ich auf ihn zu und sah, dass die Tür tatsächlich einen Spalt breit offenstand.

Ich schluckte. Was machte ich hier eigentlich? Ich hatte mich doch von allem Ärger fernhalten wollen. Doch jetzt wo ich hier war, konnte ich nicht widerstehen. Ich stieß die Tür auf und trat ein.

„Hallo?“, sagte ich und blinzelte um mich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen.

Die Tür fiel mit einem Rums ins Schloss und Dunkelheit umfing mich. Jemand packte mich an den Händen, drehte sie mir über den Kopf und drückte mich an die Wand.

„Warum bist du mir gefolgt?“

Die raue Stimme klang atemlos.

„Lass mich los oder ich schreie“, keuchte ich und schnappte nach Luft.

„Wenn du schreien wolltest, hättest du es bereits getan.“

Trotzdem ließ er mich los und trat einen Schritt zurück.

„Warum bist du mir gefolgt?“, wiederholte er seine Frage.

„Warum bist du weggerannt?“

„Weil wir keine Lizenz haben, um in der Stadt zu spielen.“

„Oh. Warum tut ihr es dann?“

„Weil das Publikum nicht von alleine kommt.“

Mein Blick wanderte zur Tür, doch irgendwie glaubte ich nicht, dass ich den Fluchtweg brauchte. Der Mann würde mir nichts tun. Er hörte sich eher verspielt als beängstigend an.

„Ward ihr in Thal? Vor drei Monaten.“

Er schwieg einen Augenblick.

„Nein, wir waren im Norden in letzter Zeit“, sagte er schließlich misstrauisch und ich konnte mich nicht länger zurückhalten.

„Das was du vorhin gemacht hast, mit dem blauen Flammen, wie geht das? Ich habe in Thal einen Mann gesehen, der hatte blaues Feuer am ganzen Körper, aber es hat ihn nicht verbrannt. Und ich dachte es wäre Magie, aber das kann nicht sein.“

Er schnippte mit den Fingern und eine blaue Flamme tanzte auf seinen Fingern. Das schwache Licht reichte gerade aus, um das Grinsen in seinem Gesicht zu zeigen.

„Es ist die Magie des Volkes.“

„Nein, das ist keine Magie“, sagte ich brüsk und er hob die Augenbrauen.

„Du bist wohl eine kleine Skeptikerin. Wieso glaubst du, dass ein einfaches Dienstmädchen mehr über den Zauber der Ostküste wissen könnte, als ein Magier wie ich.“

„Ostküste? Bist du aus Metassi?“

„Hm. Du bist wohl gebildeter als du aussiehst.“

„Und du bist kein Magier.“

Er seufzte und ließ die Hand fallen, wobei die Flammen erloschen. Dann stieß er die Tür auf und trat nach draußen.

„Na los, oder hast du da drinnen noch was vor?“

Ich folgte ihm, doch mein Fuß blieb an einem Besenstil hängen und ich fiel vornüber.

„Vorsicht!“, rief der Mann und fing mich auf.

„Danke“, murmelte ich und beeilte mich, aus seinen starken Armen freizukommen.

Mein Kopftuch war beim Sturz verrutscht und ich richtete es hastig.

„Also.“ Der Mann musterte mich nachdenklich. „Bist du von hier?“

„Ich wohne hier“, antwortete ich wage und strich mein Kleid glatt.

„Und du interessierst dich für Magie.“

„Ich interessiere mich für deinen Trick.“

„Tut mir leid, aber das ist ein Berufsgeheimnis“, meinte er und zwinkerte mir zu.

Ich atmete frustriert aus und kniff die Lippen zusammen.

Schritte kündigten die Ankunft einer Waschfrau an und wir stahlen uns hastig vom Hof. Doch als wir die Gasse verlassen wollten, passierte uns eine Patrouille und der Mann zog mich in einen Hauseingang, bis sie vorbei waren.

„Ich glaube nicht, dass sie noch nach dir suchen“, informierte ich ihn mit gehobenen Augenbrauen und er grinste.

„Bist du eigentlich verlobt?“

Die Frage stieß sauer bei mir auf und ich biss mir auf die Zunge.

„Nein“, schnaubte ich.

„Aber deine Eltern hätten es gerne?“

„Ja“, gab ich zu.

„Falls du das Bedürfnis verspürst wegzulaufen, unser Zirkus campiert direkt vor dem Osttor der Stadt.“

Ich lachte und schob ihn belustigt weg.

„Das hört sich gar nicht mal so schlecht an. Würdest du mir dann deinen Trick beibringen?“

„Ich würde dir so einiges beibringen.“

Ich verdrehte die Augen und trat auf die Straße.

„Oder bist du etwa doch vergeben?“

„Nein“, sagte ich fest. „Aber das muss nicht heißen, dass ich für jeden Dahergelaufenen zu haben bin.“

Der Mann lachte.

„Du bist wirklich kein gewöhnliches Mädchen. Ich bin übrigens B’reva.“

„B’reva“, wiederholte ich. „Ich kannte mal einen B’reva. Er war Steuermann auf einem Schiff.“

„Ein Händler?“

„Nicht direkt“, grinste ich und dachte an Kapitän M’balla und seine Mannschaft zurück.

Wir hielten uns fern von der Innenstadt und gingen auf schmalen Seitenstraßen in Richtung des Osttores.

„Bist du schon dein ganzes Leben beim Zirkus?“

„Nein. Ich bin auf der Straße aufgewachsen. Vor zehn Jahren, da war ich zwölf, kam der Zirkus Sarkasa nach Metassi. Es waren harte Zeiten. Ich konnte jonglieren also nahmen sie mich auf. Jetzt sind die Zeiten immer noch hart, aber ich kann jetzt auch Einrad fahren.“

Er zwinkerte mir zu ich lächelte bedrückt.

Ich hatte kaum bemerkt, wie sich das Straßenbild verändert hatte. Bei unseren Stadtrundfahrten verließen wir nie die breiten Straßen an denen alles schön und hell war. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass sich mit jedem Schritt der Schmutzfilm zu verdichten schien. Die Häuser waren viel niedriger und farbloser. Kaum eines hatte Scheiben in den Fenstern und die meisten Menschen trugen nicht einmal Schuhe. Als ich an den Überfluss im Palast dachte, schnürte es mir die Kehle zu. Der Gestank nahm zu, doch schlecht wurde mir erst, als ein spindeldürrer kleiner Junge aus einer Gasse kam und seine Hände bettelnd ausstreckte. Ich griff nach meiner Börse, doch B’reva legte die Hand über meine.

„Nicht. Er wird es nicht behalten.“

Ich riss mich verärgert los und gab dem Jungen ein Geldstück. Er bedankte sich und rannte davon.

B’reva sah mich kopfschüttelnd an.

„Er wird damit nicht mal in die Nähe eines Ladens kommen.“

„Warum nicht?“

B’reva seufzte, dann bedeutete er mir, ihm zu folgen. Wir huschten zwischen zwei Häusern hindurch, eine schmale Treppe hinauf, bogen zweimal ab und hatten den Jungen eingeholt. Wir drückten uns gegen eine Wand und spähten um die Ecke, wo ein bärtiger Mann mit einem langen löchrigen Mantel den Jungen an der Schulter gepackt hatte und ihm ein Messer an die Kehle hielt.

„Das ist alles, du Hund?“, krächzte er und der Junge wimmerte ängstlich. „Du willst mir weißmachen, du hast nicht mehr bekommen? Hältst du mich für dumm?“

Er schüttelte den Jungen und Tränen kullerten über die Wangen des Kleinen.

„Es tut mir leid, ich schwöre, das ist alles!“, schluchzte er.

Ein zweiter Mann, ebenso schmierig wie sein Partner, stieß ihn zu Boden und holte mit einem Knüppel aus.

Ohne zu zögern, riss ich den Knoten meines Kopftuchs auf und wand die Enden um meinen Kopf, sodass mein Gesicht bis auf meine Augen verdeckt war. Dann trat ich aus der Deckung, packte die Hand des Mannes, als er sie mit dem Knüppel auf den wehrlosen Jungen herabsausen ließ, trat ihm in die Kniekehle und er ging zu Boden.

„Hey!“, grunzte der Bärtige und hieb ungelenk mit dem Messer nach mir.

Es streifte meinen Oberarm mit gerade ausreichendem Druck um meine Haut zu ritzen. Ich riss den Arm des Mannes, den ich zu Fall gebracht hatte, nach hinten, sodass er den Knüppel loslassen musste, um seine Knochen vor dem Bruch zu bewahren. Mit dem Knüppel schlug ich dem anderen das Messer aus der Hand, welches klirrend zu Boden fiel.

Er schrie vor Schmerz auf und hielt sich die Hand, während sein Freund versuchte auf die Beine zu kommen, doch ich rammte ihm rückwärts den Ellenbogen gegen die Nase und er schwankte in Richtung Pflaster.

Der Bärtige wich zurück und wollte sich davon machen, doch ich stellte ihm ein Bein und er schlug flach mit der Nase auf den Boden. Ich sprang auf ihn und drückte ihm mein Knie in den Rücken.

„So“, schnaufte ich. „Ihr schlagt also gerne kleine Jungs.“

„Ich wollte ihm sicher nicht wehtun. Du verstehst das ganz falsch, wir sind alte Freund!“, winselte der Mann.

Ich sah zu dem Kind, das verschreckt an der Wand kauerte.

„Wo ist dein Geld?“

„Ich habe nichts, ich bin arm wie eine Kirchenmaus!“

„Dein Geld!“, knurrte ich, drehte seinen Arm auf den Rücken und zog.

„Rechte Manteltasche, rechte Manteltasche, bitte!“, jaulte er und ich ließ seinen Arm los.

Ich riss an seinem Mantel um an die Tasche zu gelangen. Darin fand ich eine dicke, schwere Geldbörse, die nur so vor abgeknöpftem Bettelgeld klingelte.

„Wenn ich dich noch einmal Hand an ein Kind legen sehe – und ich werde es sehen“, sagte ich bedrohlich leise. „Dann komme ich und nehme dir etwas ab, das dir weit wichtiger als dein Geld sein dürfte. Hast du mich verstanden?!“

„Ja!“, winselte er und versuchte freizukommen.

„Hier.“

Ich warf dem Jungen das Geld zu.

„Mach, dass du hier wegkommst und kauf deiner Familie und deinen Freunden etwas zu essen.“

„Wer bist du?“, flüsterte er und starrte mich entgeistert an.

„Niemand. Und jetzt lauf.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

Ich sprang auf, kickte das Messer in den nächsten Abflussschacht und machte mich davon.

„Na los, weg hier“, sagte ich als ich B’reva erreichte, der entgeistert alles beobachtet hatte.

„Was war das denn?“, fragte er.

„Gerechtigkeit“, schnaufte ich und zog ihn mit mir.

Vielleicht war es ein bisschen selbstsüchtig, aber nachdem ich die zwei Gauner verprügelt hatte, fühlte ich mich in jeglicher Hinsicht so gut, wie noch nie, seitdem ich in dieser verfluchten Stadt lebte.

Wir sprachen nicht mehr, bis wir die Stadtmauer erreicht hatten.

„Ich mache mir keine Sorgen, dich jetzt allein gehen zu lassen. Du kannst dich offensichtlich verteidigen“, sagte B’reva schließlich, immer noch verblüfft.

Ich zuckte mit den Schultern. Im Vergleich zu den ausgebildeten Söldnern, die für Kristalla gekämpft hatten, hatten diese Beiden sich so langsam und schwerfällig wie Faultiere bewegt. Und obwohl mein Training mit Sam schon eine ganze Weile her war, hatte es sich eindeutig bezahlt gemacht.

Jetzt, wo das Adrenalin verschwunden war, leuchtete es mir ein, dass meine Tat vielleicht dumm und unüberlegt gewesen war. Dennoch würde ich es sicherlich nicht bereuen, dem Jungen geholfen zu haben.

„Du gefällst mir wirklich. Ich hatte erst meine Zweifel, aber ich hoffe ich sehe dich wieder, La’ita cula“, sagte B‘reva grinsend und mir klappte der Mund auf.

„Mach’s gut“, meinte er und ging durch das Tor.

Wie vom Blitz getroffen stand ich da. Die Innenfläche meiner Hand prickelte unwillkürlich, als würden sich die Narben an jene Nacht in Dragons Wald erinnern.

„Wir werden dich als La’ita cula kennen.“

Das hatte Meja gesagt. Doch wie um alles in der Welt konnte B’reva diesen Namen kennen?

8. Kapitel

 

Zu gern wäre ich B’reva nachgelaufen um ihn auszufragen, doch das ferne Schlagen der Turmuhr hielt mich davon ab. Ich musste zum Palast zurückkehren. Wenn ich zu meinem Unterricht nicht erschien, würde Diana großen Ärger bekommen und das wollte ich auf jeden Fall verhindern.

Ich betrat das Schloss auf dem gleichen Weg, auf dem ich es verlassen hatte und niemand hielt mich auf. Ich war selbst überrascht, wie gut unsere List funktionierte. Allerdings waren auch fast alle damit beschäftigt, irgendein Fest vorzubereiten, dass in einigen Tagen stattfinden sollte. Ich wusste nicht was es war, doch es interessierte mich auch nicht sonderlich. In meinem Kopf wirbelten viel wichtigere Fragen durcheinander.

Ich schaffte es gerade noch mich umzuziehen, dann spurtete ich zum Unterrichtsraum und trat auf die Minute genau durch die Tür.

Hijaja, die alte Elfe, die als meine Erzieherin fungierte, hob überrascht den Kopf.

„Das ist wirklich einmal etwas neues“, sagte sie und schürzte die Lippen.

Ich knickste, wie sie es mich gelehrt hatte und ließ mich dann auf das altrosafarbene Sofa fallen. Zum Sprechen war ich noch zu sehr außer Atem.

Durch meine gekrümmte Haltung hoch angegriffen, richtete Hijaja sich noch gerader auf, sodass ihr Rücken zweifellos als Wasserwage hätte benutzt werden können.

„Nun, da Ihr schon mal hier seid, sollten wir keine Sekunde verschwenden.“

Sie zog an einer langen Kordel, an der wie ich wusste eine Klingel hing.

„Was machen wir denn heute?“, fragte ich misstrauisch.

„Wie Ihr wisst findet in vier Tagen ein großer Ball statt. Einige Adelsfamilien aus dem Osten werden empfangen.“

„Bitte kein Tanzunterricht“, stöhnte ich.

„Und daher erhaltet Ihr Tanzunterricht“, schloss sie und überging mein Kommentar.

Ich seufzte schwer und erhob mich.

„Bevor wir anfangen habe ich noch eine Frage.“ Ich wartete nicht auf die Erlaubnis sie zu stellen und fuhr fort. „Ich habe in einem Buch ein Wort gelesen, dass ich nicht verstehe. La’ita cula. Es steht auch nicht im Wörterbuch der alten Sprache.“

Während einer meiner Magieunterrichtsstunden, in denen ich entweder meditierte oder Vokabeln dieser Sprache lernte, die angeblich von den Elementgeistern selbst stammte, hatte ich das Wort tatsächlich nachgeschlagen. Es war mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seitdem Meja es benutzt hatte und als ich es heute aus B’revas Mund gehört hatte, war ich an die Nacht im Wald erinnert worden. Obwohl ich sie mittlerweile mehr oder weniger als Hokuspokus abtat, wollte ich dennoch verstehen, was damals geschehen war.

Hijajas Blick verdüsterte sich.

„Nun, es hat nicht in dem Wörterbuch gestanden, weil es kein Wort der alten Sprache ist. Wo habt Ihr es gelesen?“

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern und sah sie abwartend an.

Unter ihrer starren Halskrause schien ihre Hauptschlagader stark zu pulsieren, denn das affige Kleidungsstück zuckte leicht.

„Es ist eine Sprache, die schon lange verboten ist. Sie wurde aus allen Büchern gestrichen. Ihr könnt das unmöglich gelesen haben.“

Ihr Blick gefiel mir ganz und gar nicht und ich hatte das Gefühl, dass sie jeden Moment ein paar Wachen auf die Palastbibliothek hetzen würde, um alles darin zu verbrennen.

„Es war nicht hier. Ich habe es auf meiner Reise aufgeschnappt. Zufällig. Was ist das für eine Sprache? Warum wurde sie verboten?“

Ich versuchte mein brennendes Interesse zu verbergen, denn das war eine Eigenschaft, die Hijaja von mir nicht kannte und ich wollte die Frage nicht noch auffälliger gestalten als notwendig.

„Sie wurde von den Templern gebraucht“, sagte Hijaja wiederstrebend. „Menschen, die eine verkrüppelte und verdorbene Art von Magie praktizierten. Blutmagie. Sie ist äußerst gefährlich und schlecht.“

„Wurde sie deshalb verboten?“

„Sie wurde verboten, nachdem hunderte Menschen und Elfen im Massaker des hohen Nordens starben, weil diese Wahnsinnigen Kinder opferten, um grausame Dämonen in unsere Welt zu holen. Fast die Hälfte der Armee starb bei Schlacht gegen sie.“

„Aber sie haben gewonnen?“

„Sonst wären wir jetzt nicht mehr hier. Dein Großvater schlug sie vor 500 Jahren in die Flucht und legte die Todesstrafe auf das Praktizieren von Blutmagie.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Mir war, als hätte jemand Eiswasser über mich gekippt. Jetzt kam es mir völlig verständlich vor, dass Sam so einen Aufstand um meine Narben gemacht hatte. Aber Meja war mir einfach nicht wie eine wahnsinnige Mörderin vorgekommen. Hatte ich mich etwa so getäuscht?

„Und was bedeutet das Wort jetzt?“

„Ich weiß es nicht, schließlich ist die Sprache verboten. Ich wünsche nicht, dass du diesen Begriff erneut benutzt.“

Ich nickte langsam und ballte die Hand, in der die Narben erneut zu jucken begonnen hatten.

Unsere Unterhaltung wurde durch das Eintreten des jungen Mannes beendet. Ich kannte ihn vom Sehen, er war ein Spross einer Adelsfamilie, die in Migrass lebte. Ich hatte ihn einmal Luftmagie praktizieren sehen und da diese am häufigsten bei den Elfen des Nordens vorkam, nahm ich an, dass dort der Ursprung seiner Linie lag, genau wie der meiner Mutter.

„Liah, das ist Tonda, der Sohn eines Ratsmitglieds Ihrer Mutter Doras.“

Ich nickte und er deutete eine Verbeugung an. Er hatte welliges braunes Haar und die elfenüblichen spitzen Gesichtszüge, die mir immer noch fremd vorkamen, obwohl sie mein eigenes Gesicht zierten. Seine haselnussbraunen Augen funkelten und seine Mundwinkel schienen konstant zwischen einem spöttischen Grinsen und der moderaten Miene eines Höflings gefangen zu sein.

„Er wird fürs Erste dein Tanzpartner sein. Tonda ist einer der besten Tänzer am Hof.“

„Tatsächlich“, sagte ich und versuchte anerkennend und nicht beunruhigt zu klingen. „Ich bin ein Trampel.“

Seine Mundwinkel zuckten stärker in die Richtung des Grinsens, doch er beherrschte sich.

„Das kann ich ändern.“

„Sei nur nicht zu optimistisch. Mir wurde schon die Geschicklichkeit eines Bergtrolls zugesprochen.“

Mein Hals wurde eng als ich an den Mann dachte, der diese Worte ausgesprochen hatte, doch ich ignorierte das Gefühl. Sam war nicht mehr hier und ich musste damit leben.

Hijaja dirigierte uns an den Möbeln vorbei in den leeren Teil des Raumes und Tonda blieb einen halben Schritt vor mir stehen.

„Es gibt drei Tänze, die Ihr lernen müsst. Wenn es nach mir ginge, hätten wir schon früher begonnen, aber …“

Sie ließ die stille Anklage im Raum schweben und wieder einmal war ich froh den Unterricht geschwänzt zu haben. Ich wollte nicht mehr tanzen als unbedingt nötig.

„Nun denn. Der erste Tanz ist ein klassischer …“

Zwei Stunden und vier Nervenzusammenbrüche von Hijaja später wusste ich, dass die Tänze dieser Welt sich nicht so stark von denen aus Jane Austen Filmen oder Walzer unterschieden. Was mir dennoch keinen Vorteil verschaffte, da ich nie tanzen gelernt hatte und der einzige Takt, den ich zielsicher hielt, war der, in dem ich Tonda auf die Füße trat.

„Das ist eine Farse. Ich weiß nicht länger, was ich tun soll“, seufzte Hijaja angestrengt und schwebte aus dem Raum.

„Tut mir leid“, sagte ich zu Tonda, als wir allein waren, doch er zuckte mit den Schultern.

„Du bist gar nicht so schlecht. Du lässt dich nur nicht führen und das ist ein Problem, weil du nicht weißt, was du machen sollst.“

„Ich gebe nicht gern die Kontrolle ab.“

Vor seinem inneren Auge schien etwas aufzublitzen, das ihn sehr amüsierte, doch er sprach es nicht aus. Er schien seine Gedanken wie Sam eisern unter Verschluss zu halten, nur dass Tonda nicht ernst genug war, um eine Maske auf sein Gesicht zu legen.

„Mach die Augen zu.“

„Wie bitte?“

Ich hob die Augenbrauen.

„Du wirst es kaum glauben, aber ich habe noch etwas anderes vor, außer der Kumari Tanzunterricht zu geben. Aber wir sollten heute mindestens einen Tanz schaffen. Also Augen zu.“

„Hm“, machte ich, doch ich schloss die Augen.

„Entspann dich.“

Ich hörte seine Schritte, als er sich von mir entfernte.

„Du erinnerst dich an den Ablauf?“

„Ja“, machte ich und hob die Schultern.

„Hey, entspannen hab ich gesagt!“

„Ist ja gut“, grinste ich und verdrehte hinter geschlossenen Lidern die Augen.

„Stell dir die Bewegungen genau vor. Heb die Arme, als würde ich vor dir stehen und dann lass dich einfach leiten.“

Erst wusste ich nicht was er meinte, doch dann spürte ich die Luft, die sanft um meine Beine strich. Wie ein Windhauch, der mich völlig umfing und mir leise zuflüsterte, wann ich mich drehen und wenden musste. Ich ließ mich darauf ein und begann die Schrittfolge. Zu meinem Erstaunen kam ich weder ins Stolpern noch ins Schwanken, und als Tonda zwischen meine gehobenen Arme trat und die Führung der Luft ersetzte, schaffte ich es, den Tanz zu beenden, ohne ihm auf die Füße zu treten.

„Wow“, machte ich und öffnete die Augen, als wir fertig waren.

„Ich verstehe nicht, warum die meisten Elfen ihre Magie nur so selten nutzen, dabei kann sie so praktisch sein.“

„Das stimmt“, sagte ich, immer noch leicht benebelt.

Seine Hände wanderten von meiner Taille langsam auf meine Hüfte. Die Berührung erinnerte mich an andere Hände, die eigentlich anstatt Tondas auf mir liegen sollten und ich trat hastig einen Schritt zurück.

„Danke, dass du mir geholfen hast.“

Mein Herz klopfte und etwas hinderte mich daran, aus dem Raum zu stürmen. Es lag nicht an ihm, dass das Pochen in meiner Brust tiefer wanderte.

„Was hast du?“

Ich schluckte, doch meine Kehle war wie ausgetrocknet. Ich räusperte mich und drehte mich um.

„Du hast mich nur an jemanden erinnert. Nichts weiter.“

Ich machte ein paar Schritte zur Tür, doch ich hörte, dass er mir folgte.

„Ich hoffe, ich bin dir nicht zu nahe getreten, Liah.“

Bist du nicht, du sollst nur jemand anderes sein, schoss es mir durch den Kopf, doch das sprach ich nicht aus.

Seine Hand ergriff meine und ich drehte mich langsam um.

„Sind wir verwandt?“

Seine Augen blitzten und er schob mich sanft in Richtung des schweren Eichenholzschreibtisches.

„Nur sehr, sehr weit entfernt.“

„Wie weit?“, fragte ich und konnte nicht verhindern etwas atemlos zu klingen.

„Cousin achten Grades.“

„Das reicht.“

Meine Hände fanden seine Schultern in dem Moment, in dem er mich auf den Schreibtisch hob und die Tür durch einen magischen Windhauch ins Schloss fiel.

Seine Haare waren kürzer als Sams, keine Schultern schmäler und seine Hände kleiner. Er küsste anders, doch es war mir egal. Ich schloss die Augen und mein Herz schmerzte, als hätte ich mir selbst einen Dolch hineingerammt. Ich dachte an die Nacht, als wir von der Windrose in das eisige Wasser der Mondbucht gesprungen waren und uns in der heißen Quelle wieder aufwärmen mussten.

Ich schlang meine Beine um Tondas Hüften und zog ihn enger an mich. Ich stöhnte verzweifelt gegen seine Lippen und kämpfte die Tränen zurück.

Die Tür flog auf und wir fuhren auseinander.

„Was geht hier vor?“, brachte Hijaja verstört hervor und fasste sich an die Kehle. „Wie könnt ihr es wagen, ich … Davon wird die Königin erfahren!“, keuchte sie. „Na los, mitkommen!“

Ich glitt vom Tisch und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und auch Tondas Brust hob und senkte sich schnell.

Mit gesenkten Blicken folgten wir Hijaja den Flur hinunter zu den Gemächern meiner Mutter. Ich schämte mich nicht, weil ich einen Jungen geküsst hatte. Ich schämte mich, weil es nicht Sam gewesen war, und das war keine Sünde, die ich vor meiner Mutter rechtfertigen musste.

Wir fanden Fiona an ihrem Schreibtisch über einem Haufen Papier. Sie sah verwundert auf, als sie die schnaufende Erzieherin erblickte und hob die schmalen Augenbrauen.

„Was ist geschehen?“

„Diese zwei … ehrlosen … unerzogenen …“, ereiferte sich Hijaja, doch meine Mutter machte nur eine ungeduldige Handbewegung, um sie auf den Punkt zu bringen.

„Ich habe sie nur zwei Minuten allein gelassen, und als ich wiederkam, fand ich sie … Nun …“ Sie schnappte nach Luft und ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut loszulachen.

Sie tat ja so, als hätten wir versucht, einander zu ermorden. Obwohl das in den Augen der Elfe wohl das weniger unschickliche Vergehen gewesen wäre.

„Ich verstehe“, sagte Fiona und lehnte sich langsam zurück.

Zu meiner Überraschung hörte ich gar keine Wut in ihrer Stimme.

„Du kannst gehen, Hijaja, ich danke dir, für deinen Einsatz.“

Die Erzieherin hing etwas überrascht in der Luft, dann zog sie sich zurück.

„Nun“, meinte Fiona und ließ beiläufig den goldenen Federhalter zwischen ihren Fingern kreisen. „Habt ihr beide mir etwas zu sagen?“

Hatten wir nicht.

„Du kannst gehen, Tonda, und ich werde deinem Vater nichts hiervon erzählen, aber solltest noch einmal allein mit meiner Tochter in einem Raum sein, hast du zum letzten Mal ein Mädchen angefasst.“

Sie sagte es mit einem Lächeln, doch ihre Stimme war eiskalt.

„Natürlich. Ich danke Euch, Maharani“, flüsterte er.

Von dem spöttischen Lächeln war nichts mehr zu sehen, als er davon hetzte und ich verspürte eine leise Enttäuschung über seinen fehlenden Mut. Obwohl seine Reaktion völlig verständlich war, nicht jeder konnte ein furchtloser, rebellischer Krieger sein.

Das gewinnende Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter verwirrte mich und ich setzte mich auf einen Stuhl vor ihrem Tisch.

„Seit wann bist du von der Jagd zurück?“, fragte ich.

„Seit einer halben Stunde. Es freut mich, dass du die Zeit gefunden hast, heute deinen Unterricht wahrzunehmen.“

Immer noch irritierte es mich, dass sie nicht wütend wurde.

„Du wirst ihn nicht bestrafen, oder? Es ging von mir genauso aus, wie von ihm.“

„Was denn?“

Verwirrt öffnete ich den Mund, dann merkte ich, dass es eine rhetorische Frage war.

„Er ist ein Sohn einer meiner engsten Berater. Ich werde ihm nichts tun, aber ich kann auch nicht zulassen, dass er deiner Reputation schadet. Du kannst jetzt keinen  Skandal gebrauchen, also gibt es keinen Skandal.“

„Aha“, machte ich gedehnt und verschränkte die Arme.

Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich sprang auf.

„Du freust dich, dass ich Interesse an ihm gezeigt habe“, rief ich verblüfft, doch ihr Gesicht gab mir keine Antwort.

„Ich freue mich, dass es dir gut geht. Du kamst mir niedergeschlagen vor in letzter Zeit.“

„Das lag möglicherweise daran, dass du Sam vom Hof verbannt hast!“, fauchte ich.

Der gewinnende Ausdruck verschwand und sie runzelte die Stirn.

„Wie kommst du denn darauf?“

Ich biss mir auf die Zunge.

„Also streitest du es nicht ab? Hast du ihn wirklich bedroht, nur damit er nicht irgendeiner scheiß Reputation schadet, die mir total egal ist?“

„Liah!“, zischte sie und fuhr auf.

Ich hatte kaum bemerkt, wie meine Stimme sich erhoben hatte, doch es kümmerte mich nicht.

Meine Mutter ging um den Tisch herum und trat ans Fenster. Ich hatte das Gefühl sie hielt nach unerwünschten Zuhörern Ausschau.

„Ich habe ihm nicht gedroht. Das war gar nicht nötig. Ich habe ihn bezahlt.“

Die Worte trafen mich wie ein Hammerschlag.

„Das ist eine Lüge“, wisperte ich. „Sam ist Geld egal.“

„Woher willst du das wissen? Was weißt du schon über sein Leben? Was weißt du über ihn, abgesehen davon, dass er ein Krieger eines Haufen Vagabunden ist?“

Ich schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen.

„Geld regiert den Ort, an dem er lebt. Früher oder später wäre er sowieso dorthin zurückgekehrt, ich habe nur dafür gesorgt, dass es passiert, bevor er einen Schaden anrichtet, den ich nicht beheben kann.“

„Er hat diese Welt gerettet“, sagte ich mit erstickter Stimme. „Ohne ihn wärst du überhaupt nicht hier. Wie kannst du nur so über ihn sprechen?“

„Du hast diese Welt gerettet“, sagte meine Mutter sanft und trat zu mir. Sie legte die Hände auf meine Wangen. „Jetzt musst du nur noch deinen Platz in ihr einnehmen.“

„Das hier ist nicht mein Platz.“

Sie seufzte und zog mich auf ein Sofa. Widerwillig gab ich nach und setzte mich neben sie.

„Ich habe dir nie etwas über deinen Vater erzählt.“

Der Themenwechsel erwischte mich wie ein Eimer Eiswasser.

„Du hast seinen Namen sicher schon gehört, seitdem du hier bist.“

„Lalak. Er wurde getötet kurz bevor du evakuiert wurdest. Am Anfang des Winterkriegs“, sagte ich mechanisch und spulte damit alles ab, was ich über den Elf wusste, mit dem meine Mutter verheiratet gewesen war.

„Er war ein wunderbarer Mann. Ein Elf aus dem Süden. Ich lernte ihn auf einer Reise während der Ballsaison kennen, auf einem zauberhaften Anwesen am Meer. Dort ist es wunderschön, ich wünschte du hättest es ohne all das tote Eis erlebt. Alle sind immer fröhlich und die ganze Nacht wird überall Musik gespielt. Und morgens wenn die Sonne aufgeht, ist es so still, dass man eine Stecknadel fallen hört.“

Noch nie hatte ich so einen Ausdruck in den Augen und in der Stimme meiner Mutter wahrgenommen. Sie hörte sich so glücklich an und gleichzeitig auch unendlich traurig.

„Er hatte die Feuermagie, genau wie du. Er schenkte mir brennende Rosen, die nie verblühten.“

Ein bleiernes Gewicht lag auf mir und ich selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich mich nicht bewegen können. Ich hatte die gleiche Magie wie mein Vater. Ich hatte einen Vater.

„Er war wundervoll. Er liebte die Musik und das warme Klima. Als der Krieg ausbrach gab er all das auf. Er ließ alles hinter sich, um für das zu kämpfen woran er glaubte und das Reich zu verteidigen, das er zu schützen geschworen hatte. Und er gab sein Leben.“ Die Augen meiner Mutter schlossen sich flatternd, doch sie sprach weiter. „Der wunderbarste Mann … der Mann, den ich liebte, war tot und alles was ich noch von ihm hatte, was diese Welt von ihm hatte, warst du. Und nur um dich zu beschützen verließ ich diese Welt. Du bist das Vermächtnis eines Königs. Wenn du dich das nächste Mal also über diese Stadt beschwerst, dann denk an den Mann, der gestorben ist, um es dir zu ermöglichen einmal auf dem Thron zu sitzen, den du so verabscheust.“

Sie öffnete die Augen und musterte mich mit einem wehmütigen Lächeln.

„Du wirst eine wunderbare Königin, genau wie dein Vater ein wunderbarer König war. Und alle Fehler, die du in mir siehst, wirst du nicht machen. Du verstehst nur noch nicht, dass Herrschen viel mehr ist, als ein Privileg. Es ist eine Pflicht, die von dir fordert, deine Wünsche zu vergessen und das zu tun, was für dein Volk am besten ist.“

Ich lehnte mich zurück und starrte aus dem Fenster. Das war also mein Vater gewesen. Ein aufopferungsvoller König, der für sein Volk gestorben war. Hatte ich nicht etwas Ähnliches getan? War ich nicht bereit gewesen zu sterben, nur um Kristalla zu töten? Vielleicht war ich meinem Vater ähnlicher als ich gedacht hatte. Vielleicht war ich einer guten Herrscherin ähnlicher als ich gedacht hatte.

„Es gibt etwas, das Kristalla zu mir gesagt hat. Über Ähnlichkeiten innerhalb der Familie.“ Ich räusperte mich und verschränkte die Hände im Schoß. „Sie sagte, ich wäre wie sie. Eine Halbelfe.“

Die schrägliegenden Elfenaugen meiner Mutter verengten sich leicht.

„Kristalla war eine Meisterin der Manipulation und Täuschung. Was auch immer sie dir gesagt hat, diente nur der Verwirrung.“

Ich presste die Lippen zusammen. Ich wollte ihr glauben. Ich wollte, dass mein Vater ein Held gewesen war und da nicht noch mehr Lügen waren, die meine Mutter vor mir verbarg. Aber wie konnte ich ihr glauben, nach all den Jahren, in denen sie mir nicht einmal ihren wahren Namen gesagt hatte?

„Warum kann ich dann keine Flügel materialisieren, wie andere Elfen? Warum fällt es mir so schwer meine Magie zu kanalisieren? Außerdem waren meine Gesichtszüge bis vor ein paar Monaten die eines Menschen.“

„Du bist in einer Welt ohne Magie aufgewachsen. Da Magie dort nicht existiert, konnte unsere nicht zum Vorschein kommen. Wir waren dennoch keine Menschen. Du sahst schon immer anders aus, du hast dich anders entwickelt als die Menschenmädchen. Du hast auch keine Periode, denn die bekommen wir Elfen nicht. Außerdem habe ich alles getan, um zu verhindern, dass wir auffallen. Ich wusste nicht, wie weit Kristallas Macht reicht.“

„Hat das meiner Magie dauerhaft geschadet?“, fragte ich zögerlich und zog die Knie an.

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, du brauchst nur Zeit. Es ist zwar noch nie vorgekommen, dass eine Elfe in einer Welt ohne Magie geboren und aufgewachsen ist, aber …“

Sie beendete ihren Satz nicht und beunruhigte mich damit nur noch mehr.

„Liah“, sagte meine Mutter sanft und legte einen Arm um mich. „Mit dir ist alles in Ordnung. Du bist genau so wie du sein sollst.“

„Danke, Mum“, murmelte ich und legte meinen Kopf auf ihre Schulter.

Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das zuletzt getan hatte.

9. Kapitel

 

„Du bist sehr still“, stellte Diana fest, als sie mir am Abend das Haar bürstete. „Wie war es in der Stadt?“

„Aufschlussreich. Und verwirrend.“

Ich musterte die Haarspangen vor mir auf den Frisiertisch.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, es war nur ein ereignisreicher Tag.“

Ich spürte ihr Zögern bevor sie sprach.

„Ich weiß, es steht mir nicht zu aber, falls du darüber reden möchtest …“

„Natürlich steht es dir zu“, sagte ich nachdrücklich und drehte mich um. „Du bist meine Freundin.“

Sie lächelte unsicher und ich bedeutete ihr, sich zu setzen.

„Ich will nur nicht darüber reden. Was gibt es denn neues an Flurfunk? Irgendetwas aufregendes?“

Mir war nicht danach über die Unterhaltung meiner Mutter zu sprechen, oder mir Gedanken darüber zu machen, ob ich das Andenken an den Vater, den ich nie kennengelernt hatte, mit Füßen trat. Ich wollte mich nur ablenken.

„Es gibt tatsächlich etwas, das dich interessieren könnte.“

Ich überlegte kurz, ob ich gleich etwas über mein Intermezzo nach der Tanzstunde hören würde, doch das was Diana zu erzählen hatte, ging in eine ganz andere Richtung.

„Die Schwester eines Küchenmädchens war vorhin da. Sie hat von einer Freundin aus der Unteren Stadt erzählt, deren Neffe ein Wunder geschehen ist.“

„Der Neffe einer Freundin der Schwester eines Küchenmädchens?“, fragte ich und grinste, doch Diana verdrehte nur die Augen.

„Jedenfalls wurde der Junge von ein paar Ganoven überfallen, die ihm das Bettelgeld abnehmen wollten. Aber eine vermummte Frau hat sie zusammen geschlagen und ihm sein Geld und noch viel mehr zurückgegeben. Von dem Geld konnte er Essen und Medizin für seine kranke Großmutter kaufen.“

„Wer war die Frau?“, fragte ich und senkte den Blick.

„Er nannte sie Ke’u na. Das bedeutet Niemand.“

Ein leises Lächeln schwebte auf meinem Mund. Niemand. Das hatte ich ihm gesagte.

„Wer auch immer das war, sie ist ein Held“, sagte Diana.

„Sie wollte bestimmt einfach nur helfen.“

Unsere Blicke trafen sich und ich wusste, dass ich Diana nichts vormachen konnte.

„Ich wusste es!“, rief sie und sprang auf. „Ich wusste, dass nur du das gewesen sein kannst. Ich habe mir solche Sorgen und dich gemacht, als ich es gehört habe. Wurdest du verletzt?“

„Sei doch etwas leiser!“, flüsterte ich und sah nervös zur Tür. „Keiner soll erfahren, dass ich das Schloss verlassen habe.“

„Das war sehr leichtsinnig“, sagte Diana, doch ich konnte in ihrem Blick sehen wie stolz sie war.

„Ich habe schon stärkere Gegner gehabt“, meinte ich nur schulterzuckend. „Und selbst wenn nicht. Der Tag, an dem ich zusehe, wie ein Kind misshandelt wird, wird nie kommen.“

Diana lächelte und umarmte ich. Erst war ich überrascht, doch dann erwiderte ich die Umarmung und hielt sie fest. Ich war so froh Diana zu haben. Noch nie hatte ich eine Freundin wie sie gehabt, mit der ich einfach reden konnte und der ich vertraute.

„Weißt du, ich habe gedacht, ich könnte es wieder tun“, sagte ich, als wir uns wieder von einander lösten. „Jedes Mal wenn ich durch die Stadt gefahren bin, wurden mir nur die schönen Ecken gezeigt. Aber heute habe ich auch die andere Seite gesehen. So viele Menschen hier hungern und das ist die Hauptstadt! Wenn ich mir vorstelle, wie es im restlichen Land aussieht …“

Dianas Blick bestätigte meine Vermutung. Sie hatte zwar eine gute Anstellung und ein Zuhause, dennoch wusste sie viel mehr über das Leiden des Volkes als ich.

„Aber hier kann ich etwas tun. Ich kann ihnen Essen und Medizin beschaffen und sie vor den Straßengaunern beschützen, gegen die die Stadtwache nicht ankommt.“

„Das ist sehr nobel, aber auch so gefährlich. Du hast viele Feinde da draußen, Leute, die auf Kristallas Seite waren und jetzt Rache wollen.“

„Niemand wird erfahren, dass ich es bin. Ich beschaffe mir eine Maske und unauffällige Kleidung. Einen Namen haben sie mir ja schon gegeben. Ke’u na“, wiederholte ich das Wort der alten Sprache.

Es ging mir überraschend leicht über die Lippen.

„Ich werde nachts gehen. Irgendwie werde ich einen Weg finden, um unbemerkt hier raus und rein zu kommen. Ich ertrage es einfach nicht, nur in diesem Vogelkäfig aus Gold und Edelsteinen zu sitzen und zu lernen, wie ich mich bei Hofe zu benehmen habe. Ich brauche eine Aufgabe und ich will helfen.“

Diana sah mich einen Moment an. Dann nickte sie.

„Ich werde dir helfen so gut ich kann.“

„Danke“, sagte ich und dieses Mal war ich diejenige, die sie in die Arme schloss.

Kurz zuckten meine Gedanken zu der Unterhaltung mit meiner Mutter zurück, nach der ich an meinem Verhalten gezweifelt hatte. Aber sie hatte recht gehabt. Ich wollte vieles anders machen als sie. Vielleicht hatte ich soeben die Königin entdeckt, die ich sein konnte. Keine glorreiche Herrscherin, die mit den Reichen und Mächtigen parierte. Sondern eine Schattengängerin, die für die kämpfte, die selbst kein Schwert besaßen.

 

Es war die erste Nacht seit langen, in der ich durchschlief. Diana hatte mich dazu überredet, erst alles zu planen und mich nicht Hals über Kopf in meine neue Mission zu stürzen und so war ich in dieser Nacht im Palast geblieben.

Ich erwachte mit klopfendem Herzen und kam nur langsam zu Bewusstsein. Einige Minuten wusste ich nicht wo ich war, und mein Geist hing noch in dem Traum fest, den ich gehabt hatte.

Ich hatte mit Tonda getanzt, in einem riesigen leeren Saal, an dessen Wänden große vergoldete Spiegel hingen. Auch der Marmorboden spiegelte unsere umherwirbelnden Gestalten und über uns hing ein gigantischer glitzernder Kronleuchter. Tonda hatte mich geküsst, doch als ich die Augen öffnete, stand Sam vor mir und die vielen Spiegel verwandelten sich in Sand, der vom Wind davon geweht wurde.

Ich wollte seinen Namen sagen, doch ich konnte nicht sprechen.

„Was machst du hier, Liah?“, sagte Sam, der mich festhielt, wie Tonda bei unserem Tanz.

„Küss mich“, wollte ich sagen, doch der Wind riss mir die Worte von den Lippen, sodass Sam mich nicht hörte.

„Warum hast du Tonda geküsst? Liebst du mich nicht mehr?“

„Doch, ich liebe dich!“, schrie ich, so laut ich konnte, doch wieder kam es nicht bei ihm an.

„Du musst mich bezahlen, wenn du mich willst. So, wie deine Mutter mich bezahlt hat“, sagte er. „Willst du mich?“

Er küsste mich und zog mich enger an sich. Der Sandsturm um uns herum verschwand und wurde durch die Stoffwände eines Zeltes ausgetauscht. Sam drückte mich auf ein Bett aus Fellen.

„Willst du mich, Liah?“, fragte er erneut und ich nickte, weil ich meiner Stimme nicht traute.

Ich schlang die Beine um ihn, damit er mich nicht verlassen konnte, doch als er den Kopf hob, trat ein seltsamer Ausdruck in seine Augen und er zog sich zurück.

„Wer bist du?“

Dann war ich aufgewacht. Ich zitterte obwohl mir unglaublich heiß war. Ich konnte meinen Puls in meinem ganzen Körper pochen spüren und mein Atem ging flach und schnell.

Ich konnte mich nicht entscheiden, ob der Traum ein Alptraum gewesen war oder nicht. Ich hatte keine Angst gehabt. Da war keine drohende Dunkelheit und Kälte gewesen, wie in meinen anderen Träumen. Mein Körper war nicht mit kaltem Schweiß bedeckt wie an jedem anderen Morgen. Dafür waren meine Muskeln vor Verlangen verkrampft, während sich in meinem Hals ein dicker Kloß aufbaute. Die gegensätzlichen Gefühle machten es mir noch schwerer den Traum abzuschütteln und die Gedanken, die er mit sich gebracht hatte. Dass ich Sam nie wieder sehen würde. Dass er mich vergessen würde.

 

Die restliche Woche verging wie im Schlaf. Tagsüber ging ich vorbildlich zum Unterricht und gab mein bestes die Tänze für das Fest zu lernen und in der Nacht schlüpfte ich in meine Verkleidung und schlich als Ke’u na über die Dächer von Migrass. Meistens stellte ich nur Essen vor Häusertüren, doch wann immer ein Trunkenbold oder ein Gauner mir über den Weg kam, sorgte ich dafür, dass er sich wünschte, nie geboren worden zu sein.

Die Beschäftigung füllte mich voll aus und obwohl ich noch weniger als zuvor schlief, da ich fast die gesamte Nacht außerhalb des Schlosses verbrachte, war ich wacher als je zuvor, seitdem ich das Mirakurgebirge verlassen hatte.

Laut Diana redete die Dienerschaft über nichts anderes mehr als die geheimnisvolle Frau, die die Armen beschützte. Als ich einmal mit meiner Mutter durch die Stadt fuhr, sah ich sogar eine Art Runengraffiti an einer Hauswand mit dem Namen meines Alter Egos.

So verging die Zeit wie im Flug und ehe ich mich versah, erwachte ich am Morgen des Balles. Ich hörte schon von meinem Bett aus das geschäftige Treiben und Gewusel im Schloss. Die königlichen Familien trudelten langsam ein und ich war froh, dass ich am Empfang nicht teilnehmen musste. In der vergangenen Nacht hatte ich es mit einer Bande von fünf Schlägern aufgenommen und hatte ein paar Schläge einstecken müssen. Aber ich hatte gewonnen.

Müde quälte ich mich aus meinem Bett und wusch mir den Matsch, in dem ich gestern gelandet war, aus den Haaren. Diana schien schon da gewesen zu sein, denn auf der Kommode stand ein Tablett mit meinem Frühstück. Als mir der Geruch der warmen Milch in die Nase stieg drehte sich unvermittelt mein Magen um und ich stürzte zur Toilette. Gelbe Galle troff aus meinem Mund und ich würgte atemlos. Erst nach einigen Minuten hatte sich mein Körper beruhigt und ich sank erschöpft auf den Boden. Ich konnte mir nicht erklären, was mit mir los war. Ein Anzeichen der Erschöpfung? Aber ich hatte schon schlimmeres durchgemacht. Als ich aufstehen wollte fuhr stechender Schmerz durch meinen Bauch und ich krümmte mich keuchend zusammen.

„Komm schon“, würgte ich und tastete nach meiner Magie.

Pok hatte mir gesagt, dass magische Wesen sich selbst heilen konnten. Wenn mir also eine innere Verletzung von gestern zu schaffen machte, müsste ich sie heilen können. Nur zu dumm, dass ich den Zugang zu meiner Magie nicht mehr fand.

Ich würgte erneut und mein Hals verkrampfte sich. Ich versuchte Luft zu holen, doch meine Lunge war abgeschnürt. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, wurden immer größer und verschmolzen zu einer riesigen Dunkelheit.

 

Die kalten Marmorfliesen unter mir verwandelten sich in warme, lockere Erde und kalte Luft füllte meine Lungen. Ich gewann die Kontrolle über meinen Körper zurück und stand auf. Ich stand auf einem Felsvorsprung und unter mir lag ein Schlachtfeld. Doch es waren nicht die verzweifelten Schreie und das Klirren der Waffen, dass erneut Übelkeit in mir hervorrief. Es war das gigantische schwarze Loch hinter dem Schlachtfeld, aus dem schwarze Schwaden waberten und sich zu entstellten Körpern materialisierten, die sich in die Schlacht stürzten. Ich hatte das unergründliche Gefühl, dass ich diesen Ort kannte, obwohl ich etwas dieser Art noch nie gesehen hatte.

Ich sah die Banner des Königshauses zerfetzt im Dreck liegen. Verstümmelte Leichen lagen auf der Blut durchtränkten Erde und die Soldaten des Königreiches stellten eine erschreckende Minderheit dar. Ein starker Sog zwang mich dazu, zu dem schwarzen Loch zu blicken und ich erkannte, dass es über einem kleinen Wald schwebte. Im ersten Moment dachte ich, der Wald würde brennen, doch es waren keine Flammen, die die Bäume verzehrten. Es war Finsternis.

 

„Liah!“

Der Schrei riss mich zurück auf die Marmorfliesen und ich erblickte Diana, die mit Tränen in den Augen vor mir kniete.

„Hey“, krächzte ich. „Mir geht es gut, alles ist gut“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch die Worte vertrieben das Grauen weder aus ihrem noch aus meinem Gesicht.

„Deine Augen“, wisperte Diana und jetzt rannen die Tränen ihr über die Wangen. „Sie waren schwarz.“

Ich schluckte und eine neue Welle von Übelkeit schlug über mir zusammen. Ich zog mich an der Kloschüssel hoch und übergab mich erneut.

„Liah, was ist los mit dir? Ich hole den Arzt!“

„Nein!“, rief ich und griff nach ihrem Arm, doch er rutscht mir durch die nassen Finger.

Unsere Blicke wanderten gleichzeitig zu meiner Hand. Sie war Blut überströmt.

„Du bist verletzt! Ich hole den …“

„Warte! Das ist von gestern, wie soll ich ihm das denn erklären?“, sagte ich bestürzt und drückte die Hand gegen meine Brust. „Er wird vielleicht nicht darauf kommen, aber meine Mutter wird eins und eins zusammen zählen. Wenn sie herausfindet, dass ich Ke’u na bin, war’s das.“

Diana starrte mich unentschlossen an.

„Du holst Verbandszeug und ich mach hier sauber. Einverstanden?“

Ich sah sie beschwörend an und schließlich eilte sie davon.

Langsam atmete ich aus und tauchte meine Hand in die Kristallschüssel. Das Wasser darin färbte sich rot. Als ich die Hand wieder heraus zog, kamen die frisch aufgeplatzten Wunden des Blutzaubers zum Vorschein. Ich schloss die Augen und versuchte ruhig zu bleiben.

Ich konnte es nicht länger verleugnen. Die Alpträume und das eben – das war keine posttraumatische Belastungsstörung. Es waren die Auswirkungen dieser verfluchten Magie, die mich in den Wahnsinn trieben. Ich öffnete die Augen und starrte auf das Blut. Ich musste etwas unternehmen.

Als Diana zurückkam, nahm ich ihr den Verband ab und wickelte ihn hastig mit dem Rücken zu ihr um meine Hand.

„Ich finde wirklich, dass wir mit jemandem reden sollten“, sagte sie unsicher, doch ich schüttelte den Kopf.

„Ach was. Ist doch halb so schlimm. Ich trage heute Abend einfach Handschuhe und niemand wird etwas merken. Mach dir keine Sorgen“, meinte ich und zwinkerte ihr zu.

Ich schaffte es meine Fassade aufrecht zu erhalten, bis ich mich tatsächlich beruhigt hatte und nachdem wir all das Blut abgewaschen hatten, begann Diana mich auf den Ball vorzubereiten.

Wir brauchten Stunden um meine widerspenstigen Haare in die komplizierte Hochsteckfrisur zu bringen, die in dieser Saison jede Dame bei Hofe trug. Gerade als Diana fertig war, öffnete sich die Tür und meine Mutter trat ein.

„Du siehst bezaubernd aus“, sagte sie ohne Umschweife und musterte mich mit einer Spur Bewunderung.

Mir wäre es zwar lieber gewesen, wenn sie auf etwas anderes als mein Aussehen stolz gewesen wäre, aber ich akzeptierte das Kompliment.

„Hijaja hat mir berichtet, du beherrschst die Tänze für heute Abend?“

Ich zog die Ärmel des weißen Seidemantels, in den ich gehüllt war, lang und verbarg meine Hände darin.

„Beherrschen würde ich jetzt nicht unbedingt sagten …“

„Aber du wirst dich nicht vor deinem Tanzpartner blamieren?“

„Nein, Mutter“, knurrte ich und beobachtete Dianas Finger im Spiegel, wie sie meine Haare zurecht zupfte.

„Das ist gut. Du weißt welche Familien heute hier sind?“

Ich runzelte die Stirn als ich mir der Anspannung meiner Mutter bewusst wurde.

„Ja. Alle des hohen Adels aus dem Osten.“

„Nun, die Ostelfen sind sehr traditionelle Leute. Ihren Obersten und mich verbindet eine lange Freundschaft.“

„Aha.“

„Was weißt du über die Elfen dieses Landes?“

Ich knüllte den Stoff in meinen Händen zusammen. Was wollte sie nur?

„Also es gibt unter den Familien vier große Geschlechter, die Könige stellen können. Du entstammst der Familie aus dem Norden. Dein Vorfahre Evelant war der erste König dieses Landes der alle Geschlechter unter sich vereint hat. Ihr habt fast alle Luftmagie und euer Schutzpatron ist Eyara“, begann ich und kramte in meinem Kopf nach Informationen, mit denen Hijaja mich gefüttert hatte. „Und … mein Vater kommt aus dem Süden, der reichsten Familie. Sie haben oft die Magie des Feuers, demnach ist Skiha. Die Familie im Westen ist sehr religiös und leben eher zurückgezogen. Ihr Patron ist Mrthyu. Und die im Osten haben dann Artha, die Magie der Erde.“

„Und was, Liah, ist das besondere an der Königsfamilie im Osten in Metassi?“

„Sie sind wasseraffin?“, fragte ich langsam, da ich mir nicht sicher war.

„Richtig. Wie du weißt, können Elfen nicht schwimmen, da wir Geschöpfe der Luft sind. Doch die Magie dieser Linie hat sich von der Erde aufs Wasser ausgeweitet. Solche Entwicklungen gab es bisher nur einmal bei einer Linie im Süden, sie wurde Magie des Drachen genannt. Sie ist aber schon lange ausgestorben und so ging auch ihre Macht verloren.“

„Und du erteilst mir diese Geschichtsstunde, weil …?“

Ich fand es sehr interessant, was sie erzählte, doch ich konnte es nicht genießen, solange ich ihre Absicht nicht kannte.

„Es macht sie zur mächtigsten Familie des Reiches, obwohl unsere Familie regiert.“

Mir ging ein Licht auf und mein Blick kreuzte sich mit Dianas im Spiegel. Sie schien auch verstanden zu haben, worum es hier ging.

„Das ist nicht nur irgendein Ball heute, hab ich Recht?“

Sie schwieg und musterte auf die Kleider auf meinem Bett.

„Ich will, dass du das rote trägst“, sagte sie bestimmt, bevor sie das Zimmer verließ. „Darin wirst du am meisten auffallen.“

10. Kapitel

„Alles in Ordnung?“, fragte Diana nachdem ich lange geschwiegen hatte.

„Sicher“, murmelte ich und hob die Arme, um in das rote Kleid zu schlüpfen. „Nein, weißt du was? Ich will das nicht anziehen.“

„Aber die Maharani hat gesagt ...“

„Und genau deswegen werde ich es nicht tun. Sie will mich für ihre Politik verkuppeln? Gut, soll sie es doch versuchen.“

Ich biss mir fest auf die Zunge und griff nach einem Kleid, von dem ich mir sicher war, dass meine Mutter es mir am letzten vorschlagen hätte.

„Bist du dir sicher?“, fragte Diana und musterte mich bewundernd.

„Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich in Jeans und T-Shirt auftauchen“, meinte ich schulterzuckend und sah an ihrem Blick, dass sie nicht verstand, auf was für Kleidungsstücke ich mich bezog. „Aber wenn es ein Kleid sein soll, dann wird es eben ein Kleid.“

Es dauerte eine weitere Stunde, bis Diana mich geschminkt hatte und schließlich war es soweit aufzubrechen.

„Viel Spaß“, sagte Diana und ich zog sie kurz an mich.

„Ich wünschte, du könntest mitkommen. Die ganzen adligen Elfenschnösel sind doch langweilig.“

„Irgendetwas sagt mir, dass es heute nicht so langweilig wird“, meinte sie und zwinkerte mir zu.

Ein Klopfen an der Tür erinnerte mich daran, dass es Zeit war zu gehen und ich machte mich auf den Weg.

Während ich mit vier kichernden Hofdamen im Gefolge zur Halle lief, ging ich in Gedanken nochmal den Ablauf des Abends durch. Erst würde es einen Empfang geben, bei dem ich offiziell der Gesellschaft vorgestellt wurde. Dann gab es ein großes Essen und danach würde der eigentliche Ball stattfinden. Ich wusste, dass ein Feuerwerk geplant war, aber ansonsten hatte ich mir kaum etwas von Hijajas Gerede merken können. Meine nächtlichen Ausflüge minimierten meine Konzentrationsfähigkeit am Tag erheblich.

Als ich die letzten Stufen hinunter sprang spürte ich plötzlich eine erneute Welle der Übelkeit und mein Sichtfeld schrumpfte zusammen.

„Kumari? Was habt Ihr?“, rief eine der Hofdamen und griff nach meiner Hand.

„Es ist nichts“, murmelte ich und drängte die sich aufbauende Dunkelheit aus meinen Gedanken.

Meine Handfläche brannte und ich zupfte nervös an den langen Handschuhen herum. Wir hatten nur eine Schicht Verband unter dem feinen Stoff unterbringen können, ohne dass es auffiel. Jetzt hoffte ich nur, dass die Wunden nicht aufreißen würden. Ein blutgetränkter Handschuh würde nicht die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, die ich mir heute Abend erhoffte.

Der Blick des Hofmarschalls vertrieb meine Sorgen für einen Moment und ich konnte den Anflug eines Grinsens nicht unterdrücken. Doch der Mann hatte sich schnell wieder im Griff und wies meine Hofdamen an, die Halle durch einen Seiteneingang zu betreten. Ich würde durch die Flügeltür über die Haupttreppe eintreten. Das Stimmengewirr und die leise Musik, die aus dem Raum drang, rief mir in Erinnerung, dass ich gleich einem Haufen Würdenträger und Elfen des Hochadels gegenüberstehen würde. Sie alle hatten große Erwartungen an das Mädchen aus der anderen Welt und sie alle interessierten mich nicht. Mir war mein Ruf nicht wichtig. Dennoch wollte ich mich nicht schlechter darstellen als ich war, wobei ich dafür vielleicht doch das falsche Kleid gewählt hatte.

„Seid Ihr bereit, Kumari?“, fragte der Hofmarschall.

„Ja. Öffnet die Tür“, sagte ich so ruhig wie möglich und die Wachen griffen nach den Türklinken.

„Hört her, ihr Leute und empfangt nun“, setzte der Hofmarschall mit erhobener Stimme an und im Saal wurde es ruhig. „Liah, Tochter der Maharani Fiona vom Geschlecht der Elfen des Nordens, und Lalaks vom Geschlecht der Elfen des Südens, Kumari des Königreichs der Mittelwelt im Land zwischen den Zeiten. Pachanda und Bezwingerin der Eishexe, Thronfolgerin und Kind Eyaras und Skihas.“

Tosender Applaus brandete durch den Saal und ich schritt die Treppe hinunter, den Blick auf den mächtigen Kronleuchter gerichtet und versuchte nicht zu stolpern. Ich erreichte den Boden und dann wiederholte sich eine Stunde lang, was ich bei meiner Ankunft in Migrass bereits erlebt hatte. Wichtige Leute wurden mir vorgestellt, Namen genannt, die ich sofort wieder vergaß und das alles unter der Anspannung, dass ein falscher Knicks eine Staatskrise auslösen konnte. Zumindest Hijaja zu Folge.

„Das ist nicht das Kleid, das ich dir vorgeschlagen habe“, zischte meine Mutter zwischen zwei Botschaftern und lächelte mich mit zusammengebissenen Zähnen an.

Das schwarze Kleid wäre auch in London auf dem Catwalk skandalös gewesen. Der schwarze transparente Stoff schmiegte sich eng an meinen Oberkörper und war nur um meine Brüste herum blickdicht. Zu einem Samtband um meinen Hals spannten sich mehrere Streifen, die verhinderten, dass das Kleid rutschte. Der Rock bestand aus bodenlangen schwarzen Bahnen, die sehr hoch aufgeschlitzt waren, sodass meine Beine darunter hervor blitzten. Das einzig züchtige an meinem Erscheinungsbild waren die langen schwarzen Handschuhe.

„Ich weiß“, sagte ich und lächelte zurück, doch für mehr war nicht Zeit, denn schon nahten zwei weitere Elfen, die vorgestellt werden wollten.

Beim Essen saß ich zwischen meiner Mutter und dem Erben der Familie aus Metassi. Sein Name war Szensa und er war unfassbar spießig. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Mann wie Szensa über die starke Magie verfügen sollte, die meine Mutter beschrieben hatte. Allerdings schien die Abneigung auch auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

„Ihr tragt ein … interessantes Kleid, Liah. Ist es von einem örtlichen Schneider?“

„Tatsächlich kommt der Stoff aus Metassi. Ich dachte Ihr erkennt das, wo doch der Textilhandel ein so bedeutendes Feld in Ihrer Gegend ist. Nicht wahr, Szensa?“, sagte ich bissig und zuckersüß und wusste selbst nicht, warum ich mich auf dieses Niveau herab ließ.

„Nun …“

Er setzt zu einer ausschweifenden Antwort an, die mein Interesse tief unter den Marmorfließen der Halle begrub und ich ließ den Blick schweifen. Ich entdeckte Tonda, meinen Tanzpartner, etwas weiter hinten in der Halle und hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln. Er erwiderte es und ich glaubte einen sanften Windhauch in meinem Haar zu spüren. Ich schnaubte belustigt und sah wieder zu Szensa um ihm ein Nicken zukommen zu lassen, zum Zeichen, dass ich ihm zuhörte.

Doch auch das Essen verging wie der Empfang irgendwann und die Gesellschaft erhob sich, um den Abend im Ballsaal fortzusetzen.

„Darf ich Euch um den ersten Tanz bitten?“, fragte Szena gequält mit einem Blick auf seinen Vater.

Anscheinend hatte ihm dieser ähnliche Anweisungen gegeben wie meine Mutter mir, nur das er wohl vorhatte, sich an sie zu halten.

„Sicher“, sagte ich, in der Hoffnung ihn danach los zu werden und folgte ihm auf die Tanzfläche.

Wir sprachen kein Wort und als das Stück zu Ende war, ließ Szensa mich ohne weiteres gehen. Ich ging durch die Halle zu den Elfenjungen, die ich vom Sehen her kannte, da sie am Hof verkehrten. Einige von ihnen unterhielten sich mit meinen Damen, doch Tonda stand alleine da.

Er wackelte anerkennend mit den Augenbrauen, verbiss sich allerdings einen Kommentar zu meinem Kleid.

„Hallo“, sagte ich und stellte mich neben ihn.

„Hast du Spaß?“, fragte Tonda schmunzelnd und ich verdrehte die Augen.

„Weißt du, ich war einmal sehr neugierig auf die anderen Elfen. Und auf die unterschiedlichen Formen von Magie. Aber das hier … das ist nicht meine Welt“, gestand ich leise und ließ meinen Blick durch die Menge schweifen.

„Vermisst du dein Zuhause?“

„Was? Nein, das meinte ich nicht. Ich habe mich nie mehr zuhause gefühlt wie in dieser Welt. Nur habe ich das Gefühl mich von ihr zu entfernen, seitdem ich am Hof bin.“

Es überraschte mich, wie offen ich mit Tonda sprechen konnte. Doch ich hatte den Eindruck, dass hinter der Fassade, die er so angestrengt aufrecht zu erhalten versuchte, ein Junge steckte, der mehr mit mir gemein hatte, als er wusste.

„Ich habe mal mit ihm gesprochen. Mit deinem Freund.“

Verwirrt drehte ich mich zu Tonda um, doch es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass er Sam meinte.

„Nur kurz versteht sich, er ist auch kein gesprächiger Kerl.“ Er lachte leise. „Aber ich denke, ich verstehe das zwischen euch. Und ich verstehe auch, dass du dich hier nicht eingliedern kannst. Du bist eine Kriegerin, keine Dame.“

Seltsamerweise erfüllte mich diese Aussage mit einer gewissen Wärme.

„Wollen wir von hier verschwinden?“, fragte Tonda plötzlich und ich sah ihn überrascht an.

„Wohin denn?“

„Vor allem weg von hier.“

Er zwinkerte mir zu und zog mich an der Hand zu der großen Fensterfront des Raumes, wo sich eine Fügeltür in den Garten öffnete. Wir traten unter die stillen Arkaden und ließen uns auf einer niedrigen Mauer nieder.

„Von hier aus sieht es aus wie im Märchen“, murmelte ich und musterte die glitzernden Kronleuchter durch das dünne Fensterglas.

„Was ist ein Märchen?“

Ich seufzte leise.

„Eine Geschichte mit Helden und Monstern. Und einem glücklichen Ende.“

Die Flügeltür ging auf und ein paar von Tondas Freunden kamen mit kirchenden Hofdamen im Schlepptau zu uns heraus. Eigentlich konnte man nicht behaupten, dass die Jugendlichen dieser Welt anders waren, als die, die ich an meiner Schule gehabt hatte. Sie stockten kurz als sie mich sahen, doch ich lächelte nur entspannt und einer der Jungen hob eine Flasche hoch.

„Mit Eurer Erlaubnis, Kumari, Wein aus dem Süden.“

Ich nickte lachend und die Flasche wurde herum gereicht.

Ich war nie auf einer Party gewesen, doch das fühlte sich wie eine an und es machte tatsächlich Spaß. Zumindest für den Moment. Ich ließ meinen Blick durch das dunkle Gebüsch schweifen. Etwas fühlte sich seltsam an. Vielleicht war es der Wein, vielleicht war es die Müdigkeit. Doch ich konnte spüren, wie eine kalte Faust sich um mein Herz legte und Finsternis meine Lider in Blei verwandelte.

Ein lauter Knall ertönte und bunte Lichter erhellten die Luft. Erschrocken sprang ich auf und stolperte über mein Kleid, doch Tonda fing mich auf.

„Es ist nur das Feuerwerk“, murmelte er beschwichtigend und ich richtete mich nickend auf, während die anderen Ballgäste nach draußen strömten, um das Spektakel zu bewundern.

„Hast du das auch gespürt?“, fragte ich Tonda leise.

„Was denn?“

Ich machte ein paar Schritte zurück und suchte das Gebüsch weiter mit meinen Augen ab.

„Da ist jemand“, murmelte ich und trat aufs Gras.

„Bist du dir sicher? Ich sehe nichts.“

Tonda folgte mir zögernd als ich mich von der Menge entfernt und meine Finger zuckten reflexartig zu meinem Fußgelenk, bis mir einfiel, dass ich keine Stiefel trug, die einen Dolch in sich verbargen. Ich spürte die Wunde an meiner Hand pulsieren und auch die alten Narben auf meinen Unterarmen pulsierten. Mein ganzer Körper war angespannt wie eine Sprungfeder. Dann hörte ich die Stimmen. Männer riefen etwas und das Geräusch von Schwertern, die aus der Scheide gezogen wurden, sirrte durch die Luft.

Ich rannte los auf die Geräusche zu, bog um eine Hecke und knallte fast gegen eine der Wachen, die die Eindringlinge umstellt hatten.

„Was ist hier los?“, stieß ich hervor und drängte mich an dem Mann vorbei, um mehr sehen zu können.

Auf dem Boden kauerte eine Frau mittleren Alters, deren Haar unter einer Haube verborgen war. Sie hatte den Kopf gesenkt und umklammerte die Hand eines kleinen Mädchens, das aufrecht da stand und mir ohne Furcht in die Augen sah. Sie hatte langes weißes Haar und ihre Pupillen waren riesig, sodass man ihre Augenfarbe nicht mehr sehen konnte.

Ich hatte das Gefühl sie zu kennen, doch ich wusste nicht woher.

„Wer bist du?“

Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie hatte mich gehört.

„Mein Name ist Jibita“, sagte sie klar und deutlich mit glockenheller Stimme.

Ich runzelte die Stirn.

„Ich kenne diesen Namen.“

„Was geht hier vor?“

Die Stimme meiner Mutter durchschnitt die Nacht und ich fuhr herum. Sie und einige der Gäste waren wie ich dem Lärm gefolgt.

„Sie sind über die Mauer geklettert, nachdem wir ihnen den Zutritt verweigert haben, Maharani“, sagte eine der Wachen.

„Dann werft sie wieder hinaus! Wie kann es sein, dass eine alte Frau und ein Kind unsere Feier stören?“, zischte sie und wandte sich schon zum Gehen, da hob die Frau den Kopf.

„Wir bitten untertänigst um Vergebung, Eure königliche Hoheit, doch wir wussten uns nicht zu helfen. Unsere Sache ist von äußerster Dringlichkeit und sie kann nicht länger warten!“

Ich kannte diese Stimme. Auch wenn der Tonfall sich geändert hatte und nun, wo ich das Gesicht der Frau sah, wusste ich, woher ich sie kannte.

„Hana?“, fragte ich langsam.

„Es ehrt mich, dass Ihr Euch an mich erinnert, Kumari“, sagte sie und verbeugte sich auf Knien. „Wenn Ihr mich noch kennt, dann müsst Ihr auch wissen, wer dieses Mädchen ist. Sie muss dringend mit Euch sprechen!“

Ich starrte das Kind fassungslos an.

„Das ist nicht möglich. Das ist doch erst … drei Monate her“, stammelte ich und wich zurück, doch die schwarzen Augen des Mädchens ließen mich nicht los.

„Ich weiß nicht, wer sie sind und woher sie meine Tochter kennen, aber ich gestatte nicht, dass sie widerrechtlich in den Palast eindringen! Werft sie hinaus. Wer eine Audienz will, soll zu den üblichen Zeiten kommen“, wies meine Mutter die Wachen erneut an.

Ich war zu abgelenkt, um mich über ihre Unhöflichkeit aufzuregen, dass sie die beiden nicht einmal direkt ansprechen wollte.

„Was ist passiert?“, fragte ich eindringlich und trat zu dem Kind heran.

Sie nahm meine Hand und ein stechender Schmerz zuckte durch meine Wunde. Ich spürte wie sie aufbrach und langsam meinen Handschuh durchnässte, doch Jibita ließ nicht los.

„Die Eishexe ist nicht tot. Und ihr Meister schart ein Heer um sich, um diese Welt zu erobern. Ein Schatten liegt über dem Land und du weißt es, Liah.“ Mit erhobener Stimme fuhr sie fort: „Der Winterkrieg war nichts gegen den Schrecken, das uns erwartet! Greift zu den Waffen bevor es zu …“

„Genug!“, rief meine Mutter und ihre Augen waren voll Zorn. „Führt sie ab und werft sie in den Kerker. Ich dulde keine Hetze an meinem Hof. Na los!“

Die Wachen zerrten Hana auf die Beine und packten Jibita. Sie ließ sich abführen ohne sich zu wehren, doch bevor sie außer Hörweite war, rief sie mir zu: „Du weißt, dass ich die Wahrheit sage! Du hast es gesehen!“

Sie verschwanden im Palast und Stille legte sich über den Garten.

„Ich bitte um Verzeihung, meine Lieben! Lasst uns in den Ballsaal zurückkehren und hoffen, dass die Wachen nicht noch mehr Verrückte hereinlassen“, hörte ich meine Mutter lachen und die Leute entfernten sich langsam.

„Wer war das?“, fragte Tonda leise.

Ich drehte mich zu ihm um.

„Als wir auf dem Weg nach Erepo waren, um ein Schiff zu finden, sind wir auf ein Dorf gestoßen. Die Bärenreiter hatten alle Bewohner getötet bis auf einen Säugling, den wir zum Nachbardorf gebracht haben. Das war sie“, sagte ich langsam und fand seinen Blick.

„Das Kind war mindestens sechs Jahre alt, Liah“, erwiderte Tonda verwirrt.

„Ich weiß!“

Wir kehrten zur Gesellschaft zurück. Tondas Freunde waren wieder im Saal und als er zu ihnen stoßen wollte, verabschiedete ich mich mit den Worten, dass ich noch etwas frische Luft schnappen wollte und dann schlafen gehen würde. Er ließ mich stirnrunzelnd unter den Arkaden zurück und ich setzte mich auf das kleine Mäuerchen. Meine Gedanken wirbelten haltlos umher, während ich versuchte, zu verstehen, was ich eben gesehen hatte. Dieses Kind war dasselbe gewesen, dass ich damals in Dorne zur Taufe gebracht hatte. Ich wusste es und gleichzeitig verneinte ich es. Sie hatte unmöglich so schnell wachsen können. Doch was mich viel mehr beschäftigte, war die Frage, wie sie von meinen Alpträumen wissen konnte.

Hatte Meja etwas damit zu tun? Hatte sie Jibita aufgesucht und auch in einen Blutzauber verwickelt? Aber warum hätte sie das tun sollen? Zumal sie nicht einmal von dem Kind wusste.

„Liah?“

Die Stimme ließ mich aufschrecken und ich drehte mich um. Szensa stand vor mir, einen verdrießlichen Ausdruck im Gesicht.

„Szensa“, seufzte ich und lehnte mich zurück.

Unauffällig verbarg ich meinen feuchten Handschuh unter dem anderen.

„Wollt Ihr noch einmal tanzen?“, fragte er und ich konnte seine innere Qual förmlich spüren.

„Szensa, hör zu. Du willst mich nicht heiraten. Warum versuchst du es dann?“

„Ich habe nie gesagt, dass ich …“

„Komm schon. Ist in Ordnung“, sagte ich und klopfte auf die Mauer neben mir.

Er setzte sich zögerlich und stützte die Ellenbogen auf die Knie.

„Es tut mir leid, dass ich es so offensichtlich gemacht habe. Ich wollte Euch nicht verletzen, Kumari.“

„Jetzt lass das doch mit dieser Anrede. Wenn wir offen sprechen wollen, dann tun wir das ohne Förmlichkeiten.“

Er zögerte kurz dann nickte er zustimmend.

„Ich will wirklich tun, was das Richtige für meine Familie und das Königreich ist. Aber …“

„Ja?“

Szensa holte tief Luft und warf mir einen abschätzenden Blick zu.

„Mein Herz ist schon vergeben. Und egal, wie sehr ich das hier tun will, es lässt mich nicht.“

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Hinter der hochnäsigen Maske des jungen Mannes trat etwas so sympathisches hervor, dass ich mich für das Urteil, das ich über ihn gefällt hatte, schämte.

„Es ehrt dich sicher, dass du für deine Familie etwas tun willst. Aber wenn es um das Gründen deiner eigenen Familie geht, meinst du nicht, dass du da selbst entscheiden solltest? Egal wie viel Macht es irgendjemandem bringen sollte, glücklich sein schafft etwas viel wichtigeres als Macht.“

„Und zwar?“

„Inneren Frieden.“

„Und was ist mit dem Frieden des Landes?“

„Ich glaube nicht, dass dieser Welt mit einer unglücklichen Ehe geholfen ist. Wenn du die Chance hast mit deiner großen Liebe zusammen zu sein, dann solltest du sie nicht verstreichen lassen.“

Szensa seufzte leise und stand auf.

„Wenn das Leben nur so einfach wäre.“

„Wer hat gesagt, dass es leicht sein würde?“

Er ging nach drinnen und ich erhob mich ebenfalls. Ich wollte nicht noch einmal durch die Halle gehen und so schlich ich mich durch die Gärten zu einer anderen Tür um ungesehen in mein Zimmer zu gelangen.

Ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft als ich auf mein Bett sank und obwohl ich spürte, dass mir keine erholsame Nacht bevorstand, schlief ich mit einer gewissen Erleichterung ein.

 

11. Kapitel

„Und du bist sicher, dass es das gleiche Mädchen war?“

Gedankenverloren zupfte ich an dem weißen Verband an meiner Hand herum und nickte langsam.

„Ja. Ich kann es nicht erklären, aber sie ist es.“

„Aber wie kann das nur möglich sein?“

„Diese Welt ist voller Magie. Und da ist etwas an ihr …“

Ich ließ den Satz im Raum schweben und stand von der Bettkante auf.

„Ich muss mit ihr sprechen.“

„Aber wie willst du das anstellen? Nicht mal du kannst so einfach in den Kerker spazieren.“

„Es muss einen Weg geben! Diana, das alles ist ungeheuer wichtig. Ich habe seit langem Dinge wahrgenommen, die ich nicht verstehe und ich glaube, sie hat Antworten.“

Diana musterte mich eindringlich, dann nickte sie.

„Wenn du das wirklich willst, dann kenne ich einen Weg.“

Eine halbe Stunde später balancierte ich eine Schüssel Haferbrei und einen Krug Wasser auf einem Tablett und ging mit gesenktem Kopf die Stufen zum Kerker hinab. Diana hatte meine Haare sorgfältig unter eine Haube gesteckt und mir das Kleid einer Dienstmagd besorgt. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Wachen mich durch ließen.

Zwei Männer saßen an einem Tisch und würfelten. Neben ihnen war der Gang zu den Zellen. Sie beachteten mich nicht und ich zog fröstelnd die Schultern hoch. Ich war noch nie in diesem Teil des Schlosses gewesen und ich hatte auch nicht wirklich vor, so bald wieder zu kommen. Die Erinnerung an Kristallas Eiskerker drängte sich mir auf, doch ich schüttelte sie ab und räusperte mich.

Eine der Wachen sah genervt auf.

„Was ist denn? Was stehst du denn so herum?“

„Ich bringe das Essen für das kleine Mädchen.“

Der Mann runzelte die Stirn.

„Fütterungszeit ist doch erst in ein paar Stunden.“

„Es handelt sich um ein Kind, das nichts weiter getan hat. Soll es etwa Hunger leiden?“

„Nichts weiter getan? Es ist über die Mauern des Palastes geklettert und hat den Ball der Maharani mit lügnerischer Hetze gestört!“

„Kinder reden eben manchmal Unsinn. Und dass es erst so weit kommen konnte, liegt doch eher an der mangelnden Kompetenz der Palastwache.“

„Passt auf was du sagst, Weib!“, knurrte der Mann und sprang auf.

Ich zuckte zusammen und auf einmal fiel mir ein, wer ich in den Augen der Männer war. Schnell senkte ich den Blick.

„Ich bitte um Verzeihung.“

„Na los, geh mir aus den Augen. Zelle sechs am Ende des ersten Flures.“

Kopfschüttelnd über meine eigene Unaufmerksamkeit machte ich mich davon und erreichte die Zelle nach wenigen Schritten.

„Jibita?“, flüsterte ich und kniete mich auf dem kalten Lehmboden hin.

Ein Rascheln auf der Liege verriet ihre Position in der dunklen Zelle und nach wenigen Sekunden erschien sie vor mir.

„Schnell, wir haben nicht viel Zeit. Was meintest du gestern? Warum bist du hier?“

„Die Regierung tut so als wäre alles in Ordnung, dabei verschwinden im ganzen Land Menschen. Kristallas Herr holt sie zu sich und schließt sie seinem Heer der verlorenen Seelen an.“

„Verlorene Seelen? Meinst du Dämonen? Und woher weißt du das alles?“

„Ich habe es gesehen. Genau wie du. Durch das Band zwischen uns müssen dich Bruchstücke meiner Visionen erreicht  haben.“

„Visionen?“, fragte ich stockend. „Nein, das sind Halluzinationen. Wegen des Blutzaubers.“

„Es ist wahr, der Blutzauber hat alles ausgelöst.“

„Wie meinst du das?“

„Er hat durch dich meinen Geist geöffnet. Seit Wochen sehe ich das Grauen, das diese Welt erwartet. Nachdem ich sah wie mein Priester verschluckt wurde, brach ich mit Hana auf, um zu dir zu kommen.“

„Verschluckt?“

„Ein Tor zu einer anderen Welt öffnete sich für einen Augenblick und riss ihn fort.“

Ich holte Luft, doch sie unterbrach mich.

„Liah, du bist die einzige, die uns retten kann. Du musst mich befreien, damit ich dich auf deinen Kampf vorbereiten kann.“

„Meinen Kampf?“

Ich stand langsam auf und ballte meine zitternden Hände.

„Ich habe meinen Kampf gekämpft. Und ich … glaube dir nicht. Es ist vorbei. Ich habe Kristalla getötet.“

„Doch das war nur der Anfang! Du weißt, ich sage die Wahrheit. Liah!“

Doch ich war schon davon gestürmt. Ohne Rücksicht auf meine Tarnung rannte ich an den Wachen vorbei und verlangsamte meine Schritte erst, als ich in meinem Zimmer angekommen war.

„Was hast du herausgefunden?“, fragte Diana aufgeregt, die immer noch auf meinem Bett saß.

„Nichts“, keuchte ich. „Gar nichts.“

 

Ich erschien an diesem Tag nicht zum Unterricht bei Hijaja. Stattdessen zog ich mich in die Gärten zurück, in der Hoffnung, dass mich dort niemand finden würde.

Jibitas Worte hatten mich mehr aufgebracht als ich es erwartet hatte. Meine Kehle war zugeschnürt und meine Eingeweide hatten sich in einen heißen Klumpen verwandelt. Meine Gedanken quälten mich mit Erinnerungen und Bildern, die ich mit aller Kraft hatte vergessen wollen. Ein Berg aus Leichen. Sam halb tot in meinen Armen. Ein Dolch der durch das Auge eines Mannes drang als wäre es Butter …

Es durfte nicht wieder von vorne losgehen. Weder ich noch dieses Land konnten eine Wiederholung der Ereignisse ertragen. Ich hatte meine Aufgabe im Helfen gefunden, ich wollte sie nicht gegen das Grauen einer dunklen Bedrohung eintauschen.

Ich drückte meinen Kopf fester gegen den Baum, an dem ich lehnte.

„Es ist vorbei“, wisperte ich und zwang mich ruhig zu atmen. „Es ist vorbei.“

Ein leises Zirpen lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Auf einem Ast, eine Armlänge über meinem Kopf, saß ein kleiner roter Vogel. Es war ein Rubintyrann, genau wie der, den Tarek, der Vogelmeister mir vor einer Woche geschenkt hatte.

„Was machst du denn noch hier?“, fragte ich verblüfft.

„Ich wollte mich ehrlich gesagt von dir verabschieden.“

Einen aberwitzigen Moment lang dachte ich, der Vogel hätte zu mir gesprochen. Doch dann trat Szensa hinter einer Hecke hervor und mein Kopf sank zurück gegen den Baumstamm.

„Ihr reist schon ab?“

Er neigte leicht den Kopf und sah zu Boden.

„Ich reise ab. Meine Familie folgt später.“

„Warum hast du es denn so eilig?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte.

Zu meiner Bestätigung stahl sich ein kleines Lächeln auf Szensas Gesicht.

„Ihr Name ist Irina. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan und über das nachgedacht, was du gesagt hast. Du hattest Recht.“

„Wie hat dein Vater reagiert?“

Szena holte tief Luft.

„Er wird es verstehen. Sobald er sie kennen lernt. Niemand kann ihr wiederstehen. Ich mache mir nur Sorgen, wegen …“

„Nein. Lass meine Mutter meine Sorge sein. Kümmere du dich nur um Irina.“

„Wenigstens das wird mir nicht schwer fallen.“

Die Wärme in seiner Stimme rief die Erinnerung an Maelle und ihren Mann, deren Hochzeit nun schon fast eineinhalb Monate her war.

„Ich freue mich wirklich sehr für dich und wünsche dir und Irina alles Gute. Ihr werdet sicher glücklich.“

„Ich wünsche dir dasselbe, Liah. Verdient hast du es sicher.“

Er verbeugte sich leicht und verschwand wieder zwischen den Hecken.

Ich atmete tief durch, dann machte auch ich mich auf den Weg zum Palast. Etwas verriet mir, dass meine Mutter bereits nach mir suchte.

Als ich ihr Arbeitszimmer betrat, war mir klar, dass mich wohl mehr als eine Standpauke erwartete. Zwei ihrer Berater standen vor ihrem Schreibtisch, und ihrem Gesichtsausdruck nach, schienen sie auch nicht gerade die süßeste Unterhaltung gehabt zu haben.

„Geht“, fauchte meine Mutter schlicht, als sie mich sah und die beiden ergriffen die Flucht.

Ich war versucht ihnen zu folgen.

„Du weißt es also schon?“

„Natürlich weiß ich es. Liah, was hast du getan?“, fragte sie mit mühsam kontrollierter Stimme.

„Nichts weiter. Ich habe Szensa nur klar gemacht, dass er der einzige ist, der Entscheidungen über sein persönliches Glück fällen darf.“

„Oh nein! Du hast getan, was du tun musstest, um diese äußerst wichtige Verbindung zu sabotieren und ich fasse es nicht. Ich fasse es nicht!“

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich habe zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Aber es war das richtige. Er ist verliebt. Wahrscheinlich wäre er früher oder später auch ohne mich zum gleichen Ergebnis gekommen. Stell dir das mal vor, vielleicht hätte er mich am Altar stehen lassen. Das wäre doch mal ein Affront.“

„Findest du das witzig?“

Ich biss mir auf die Zunge.

„Liah, das ist kein Spiel, das ist Politik.“

„Es ist nicht meine Politik. Wenn dir eine Verbindung zum Osten so wichtig ist, dann heirate du doch jemanden von dort. Du bist doch noch jung.“

Unter der Maske aus Wut flackerte kurz ein Ausdruck über das Gesicht meiner Mutter, den ich nicht recht einzuordnen wusste. Sie drehte sich um und trat ans Fenster.

„Diese Ehe sollte eine neue Zukunft einleiten. Ich stehe bereits mit einem Fuß in der Vergangenheit. Du bist der helle Stern am Himmel dieses Königreiches, du hast dieses Volk gerettet. Ich bin nur eine alte Frau, die versagt hat.“

„Was? Aber … du bist doch nicht alt“, war das einzige, was die Bestürzung über ihre Worte zuließ.

Sie seufzte tief und auf einmal klang sie unendlich müde.

„Ich bin etwas älter als du denkst. Wir Elfen altern etwas langsamer, sobald wir das Ende der Adoleszenz erreicht haben, da wir auch bis zu dreimal so alt wie Menschen werden können. Es ist die Magie, die uns das ermöglicht.“

Das hatte ich zwar gewusst, dennoch hatte ich immer angenommen, dass meine Mutter wirklich erst Ende dreißig war.

„Lalak und ich waren schon eine Weile verheiratet, bis wir ein Kind bekamen. Elfen sind nicht sehr fruchtbar und es ist eigentlich normal, dass es zwanzig Jahre dauern kann, bis man schwanger wird.“

„Zwanzig Jahre?“, rief ich erschrocken. „Aber dann musst du ja mindestens …“

„Ich bin sechzig, Liah. Doch die sechzehn Jahre, die ich in der magielosesten aller Welten verbracht habe, und der Bann unter den ich nach meiner Rückkehr stand haben mir viel Kraft entzogen. Ich denke nicht, dass ich über hundert Jahre alt werde.“

„Aber …“, stammelte ich mit erstickter Stimme. „Aber das sind doch noch vierzig Jahre.“

Sie lächelte traurig.

„Es ist Tradition, dass ein Elfenkönig abdankt, wenn er spürt, dass er nur noch wenige Jahrzehnte zu leben hat, um seinen Nachfolger in dessen ersten Jahren anzuleiten und unterstützen zu können. Es war mein Plan, dich so schnell wie möglich auf die Krönung vorzubereiten, sodass du an deinem einundzwanzigsten Geburtstag meinen Platz einnehmen kannst. Ich hoffe du verstehst nun, warum ich immer so einen Druck auf die ausübe.“

Ja, ich verstand nun. Doch gleichzeitig verstand ich die ganze Welt nicht mehr. Dass meine Mutter von ihrem eigenen Tod sprach, verstörte mich noch viel mehr, als die Tatsache, dass ich in fünf Jahren Königin sein sollte.

„Wieso hast du mir das nicht schon früher gesagt?“, fragte ich leise, als ich mich wieder einigermaßen gesammelt hatte.

„Ich schätze auch ich denke nicht gern an meine eigene Sterblichkeit. Ich hoffe, du kannst mir vergeben“, sagte sie und trat zu mir.

„Natürlich“, murmelte ich und umarmte sie zögerlich. „Aber du musst auch verstehen, dass ich bei so großen Sachen nicht immer machen kann, was du willst.“

„Ich schätze dein starker Wille spricht für dich als Herrscherin.“

Ich sah betreten zu Boden.

„Gibt es denn niemanden außer mir, der in Frage kommt? Jemand mit mehr Erfahrung?“

„Es gibt niemanden mit einem so guten, reinen Herzen, Liah. Ich höre viel über dich und ich sehe wie du mit den Menschen umgehst. Das Volk will seine Pachanda.“

„Übrigens“, setzte ich an und wich etwas zurück, um mir selbst Zeit zu geben, die richtigen Worte zu finden. „Das Mädchen von gestern Abend …“

„Mach dir keine Gedanken. Du wirst immer wieder Leuten begegnen, die Angst haben und fantasieren.“

„Ja, aber das ist das Problem. Ich bin mir nicht sicher … Ich will es ja auch nicht glauben, aber ich habe in den letzten Wochen einige Dinge aufgeschnappt.“

„Was für Dinge?“

„Erst letzte Woche haben deine Berater darüber gesprochen, dass im Land wahllos Menschen verschwinden und Jibita hat das auch gesagt.“

„Liah, wir hatten Krieg. Sechzehn Jahre lang. So sehr wir uns auch bemühen, dem normalen Alltag wieder Einzug zu gewähren, es gibt immer noch Leute, die Angst haben und Weglaufen. Vielleicht gerade vor der Normalität.“

Ich runzelte die Stirn und fuhr mit den Fingern über die pochenden Wunden auf meiner Handfläche.

„Ich glaube, ich selbst habe etwas gesehen.“ Ich holte tief Luft und sagte: „Ich denke, ich hatte eine Vision von einer schrecklichen Zukunft, die uns bevorsteht.“

Ich schloss die Augen und wartete auf die bestürzte Reaktion, wartete darauf, dass meine Mutter endlich mit dem, was sie vor mir verbarg, herausrücken würde. Denn da war eindeutig etwas, und unter den Umständen konnte es nichts anderes sein, als eine weitere Bedrohung, ein weiteres Schattenwesen, dass diese Welt heimsuchen würde. Eine weitere Prophezeiung, irgendetwas.

„Liah“, sagte meine Mutter sanft und ich schlug überrascht die Augen auf. „Du hast schreckliche Dinge erlebt. Dinge, auf die du nicht vorbereitet warst. Du hast große Ängste ausgestanden, noch größeren Mut bewiesen und was am allerwichtigsten ist: du warst erfolgreich. Und jetzt bist du sicher.“

„Aber ich sehe Dinge!“, unterbrach ich ihre Beschwichtigungen.

„Ich fürchte, ich habe das Trauma, dass du erlitten haben musst, unterschätzt. Dass dein Geist deine Magie blockiert, hätte der erste Hinweis sein müssen. Ich werde nach einem speziellen Heiler schicken, der sich das morgen ansieht.“

„Ich bin nicht krank“, sagte ich.

Je mehr ich mit ihr argumentierte, umso mehr wurde es auch mir klar. Ich hatte es eigentlich schon die ganze Zeit gewusst, ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen und alle Zeichen ignoriert.

„Leg dich ein bisschen hin und ruh dich aus. Ich verspreche, es wird alles wieder gut.“

Sie ließ einen Diener kommen, der mich in mein Zimmer brachte und dort allein ließ. Unruhig ging ich auf und ab und versuchte mir darüber klarzuwerden, was ich tun sollte. Die Elfenheiler kannten besondere magische Techniken und ich war mir sicher, dass er die Wunde an meiner Hand als das identifizieren würde, was sie war. Blutzauber war verboten. Was, wenn sie Meja finden und dafür bestrafen würde? Ich konnte nicht zulassen, dass jemand ihr etwas tat, ohne sie wäre Sam immerhin nicht mehr am Leben. Und an wen sollte ich mich wenden wegen meiner dunklen Visionen? Gab es eine Möglichkeit zu den Rittern der Ewigkeit zu gehen? Allerdings glaubte ich nicht, dass ich ihre Festung allein finden konnte, jetzt wo der Schnee getaut war und alles ganz anders aussah als bei meinem ersten Besuch. Außerdem würde meine Mutter mich jetzt sicher nicht aus den Augen lassen.

Ich ging zu meinem Nachttisch und öffnete ein Kästchen, das darauf stand. Darin lag der Dolch, den Lord Bertang mir einst geschenkt hatte. Ich nahm ihn heraus und setzte mich damit aufs Bett. Es musste einen Weg geben. Irgendetwas musste ich unternehmen.

12. Kapitel

Ich musste eingeschlafen sein, denn das nächste was ich spürte, war der Waldboden unter meinen nackten Füßen. Die Blätter der Bäume, die dicht an dicht standen, raschelten leise im Wind. Ich konnte keine Tiere ausmachen, doch das Unterholz knackte um mich  herum. Dunkelgrünes Licht fiel auf den mit alten Nadeln und Moos bedeckten Boden und die Luft war schwer und feucht. Ich sah mich um. Der Ort erschien mir seltsam vertraut und dennoch erkannte ich nichts wieder, was ich sah.

Irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich, dass dies nicht die Wirklichkeit war und ich auf meinem Bett im Palast lag, doch die Information war nicht greifbar für mein Bewusstsein.

„Hallo?“, rief ich. „Ist da jemand?“

Das Dickicht schluckte meine Worte ohne eine Antwort zu geben.

Das Gelände war leicht abfallend und ich ging etwas bergab, in der Hoffnung im Tal den Rand des Waldes zu finden. Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, da mein Weg mich immer tiefer in die Dunkelheit führte, bis ich nicht einmal mehr ausmachen konnte, ob es Tag oder Nacht war.

Ich hörte etwas hinter mir mit einem dumpfen Schlag zu Boden fallen und fuhr herum.

„Wer ist da?“, rief ich. „Zeig dich!“

„Sie ist keinen Deut höflicher geworden“, ächzte eine uralte Stimme zu meiner linken und ich wirbelte herum, doch da stand nur ein Baum.

„Wo bist du?“, verlangte ich zu wissen.

„Und schlauer auch nicht unbedingt“, brummte eine tiefe Stimme hinter mir und ich zuckte zusammen.

„Nana, lasst ihr etwas Zeit. Sie ist nur aus der Übung“, krächzte eine dritte Stimme und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Ich kannte diesen Wald, weil ich schon einmal hier gewesen war. Damals hatte nur alles anderes ausgesehen und es war eiskalt gewesen, weil ich mit Sportschuhen und Regenjacke nicht unbedingt für den Winter ausgerüstet gewesen war.

Dies war der Fleidr Wald, in dem sich das Portal zu den anderen Welten befand und der Boden so von Magie durchtränkt war, dass angeblich die Bäume sprechen konnten.

„Ihr seid der Geist des Waldes“, sprach ich meine Schlussfolgerung aus und ein zustimmendes Husten ertönte.

„Das hat ja auch lang genug gedauert“, gähnte die tiefe Stimme und ich runzelte die Stirn.

„Das hier ist eine Vision, richtig? Ich bin wirklich hier.“

„Du bist hier und gleichzeitig bist du auch nicht hier“, krächzte die dritte Stimme des Geistes. „Und nach wie vor bist du auch der Suche und gleichzeitig …“

„… hast du es aufgegeben zu suchen“, endete die erste Stimme müde.

„Weil ich eine Aufgabe gefunden habe“, widersprach ich, denn ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Ich helfe den Menschen.“

„Du hilfst ein paar Menschen.“

„Deine wahre Aufgabe ist weitaus größer.“

„Sie erstreckt sich auf alle Wesen dieser Welt.“

Die Stimmen wechselten sich so schnell ab, dass die Anfänge und Enden ihrer Sätze in einander verschwammen.

„Wartet!“, unterbrach ich sie. „Dann ist es wahr? Gibt es eine weitere Bedrohung da draußen?“

„Ja, die gibt es“, seufzte die tiefe Stimme. „Du musst sie aufhalten. Du hast sie gesehen.“

„Und sie hat dich gesehen.“

„Ihr seid verbunden.“

„Du bist ihr Anker!“

„Hört auf!“, rief ich und riss abwehrend die Hände hoch. „Erklärt, was ihr meint!“

Ein seltsamer Geruch stieg mir in die Nase. Das Knacken und Knistern des Unterholzes wurde immer lauter und die dunkelgrüne Luft färbte sich rot. Gedämpfte Schreie drangen an meine Ohren und das Klirren von Schwertern.

„Was geschieht hier?“, schrie ich und sah den Ring aus Feuer, der sich um mich herum zuzog und auf seinem Weg alles verschlang.

„Du musst das Kind befreien und Sam Ray-San suchen.“

„Er braucht dich. Auch sein Geist ist angegriffen.“

„Er kennt den Weg!“

„Welchen Weg?“, rief ich verzweifelt. Das Feuer hatte mich nun fast erreicht und der ganze Wald stand in Flammen.

„Zu den Rittern der Ewigkeit.“

Die Worte erreichten mich von weiter Ferne, dann verschlang mich die Hitze und ich wachte auf.

Die Balken meines Himmelbettes brannten lichterloh und das Feuer verschlang bereits die Laken.

„Stopp!“, rief ich und kämpfte mich hoch.

Ich wusste, dass das Feuer mich nicht verletzten würde und ich zwang mein pochendes Herz zur Ruhe. Es bestand keinerlei Gefahr, es war alles in Ordnung …

Die Flammen verschwanden und ließen verkohltes Holz zurück.

Ich stand auf, verhedderte mich dabei in dem zerstörten Bettzeug und fiel der Länge nach auf den Boden.

„Verdammt“, murmelte ich.

Wie sollte ich das nur meiner Mutter erklären? Sie würde sich sicher freuen, dass ich wieder Magie ausgeübt hatte, aber die Tatsache, dass ich in meinem Kontrollverlust das ganze Stockwerk hätte abfackeln können, war mehr als beunruhigend.

Genau wie das Gespräch mit dem Geist des Waldes. Ich betete verzweifelt, dass ich den Fleidr Wald nicht wirklich in Brand gesetzt hatte, sondern nur mein Bett, immerhin war ich physisch nicht dort gewesen. Aber wer wusste schon, wie genau Magie funktionierte? Ich sicher nicht.

Ich sprang auf und hatte das starke Bedürfnis jemanden zu alarmieren, doch da war niemand. Die einzige Person, die mich nicht für verrückt erklären würde, war Diana und die konnte mir nicht helfen.

Ich musste tun was die Bäume mir gesagt hatten. Ich hatte nach einem Weg gesucht und sie hatten mir ihn gezeigt. Wenn meine Mutter mir nicht glaubte, dann musste ich die Sache selbst in die Hand nehmen. In meinem Kopf entstand ein Plan, der sowohl waghalsig als auch irrsinnig war, doch das kümmerte mich nicht. Ich läutete an meiner Dienstbotenklingel, dann stürzte ich zu meinem Schreibtisch und kritzelte eine Notiz auf ein Stück Pergament. Wenige Augenblicke nachdem ich fertig war, trat Diana ein.

„Liah, was ist … bei den Geistern, was ist mit deinem Bett geschehen?“

„Diana, du musst mir jetzt unbedingt vertrauen. Vertraust du mir?“, fragte ich eindringlich.

„Ja, natürlich.“

„Gut. Dann nimm diesen Zettel. Vor dem Osttor der Stadt campiert der Zirkus Sarkasa. Dort gibt es einen Artisten namens B’reva. Du musst ihm diese Nachricht übermitteln, und zwar nur ihm.“

„Reist der Zirkus nicht morgen ab?“, fragte Diana verwirrt.

„Das war auch mein Gedanke. Ich habe es gehört, als ich zuletzt in der Stadt war. Deshalb ist es so wichtig, dass B’reva diese Nachricht noch heute erhält.“

„Du kannst dich auf mich verlassen“, sagte Diana und ich nickte.

„Das weiß ich.“

„Was hast du vor, Liah?“, fragte sie und ich konnte Sorge in ihren Augen erkennen.

Ich wog kurz meine Optionen ab, dann sagte ich: „Es ist besser, wenn du so wenig wie möglich weißt. Sie werden dich sicher nach mir fragen, wenn ich weg bin.“

„Du gehst? Ich werde dich begleiten.“

Ihre Entschlossenheit berührte mich zutiefst, dennoch schüttelte ich den Kopf.

„Das ist zu gefährlich. Du musst hier bleiben. Ich denke, in der Hauptstadt ist es am sichersten.“

Sie setzte zu weiteren Fragen ab, doch ich hob die Hand.

„Dafür ist jetzt keine Zeit. Du musst zu B’reva und ich muss meine Abreise vorbereiten.“

„Also gut. Was immer du tust, ich weiß es ist das Richtige. Nur versprich mir, vorsichtig zu sein.“

„Wenn du mir dasselbe versprichst.“

Sie nickte und nach kurzem Zögern umarmte ich sie fest.

„Triff mich um Mitternacht bei den Ställen.“

„Ich werde da sein“, sagte sie, dann verschwand sie durch die Dienstbotentür.

Es war bereits später Nachmittag und ich hatte noch einiges vorzubereiten. Als erstes stellte ich sicher, dass vor meinem Zimmer keine Wache postiert war. Doch das ganze Schloss schien mit der Abreise der restlichen Gäste beschäftigt und so war der Flügel, in dem ich untergebracht war, so gut wie ausgestorben. Ich ging in mein Ankleidezimmer und öffnete zielstrebig die unterste Schublade des hintersten Schrankes. Dort lag die Kleidung, die ich während meiner Mission getragen hatte. Doch die Stiefel und das Hemd waren die einzigen Teile, die mir etwas nützten, denn für Fellhose und –jacke war es mittlerweile eindeutig zu warm. Ich musste also unter meiner königlichen Garderobe etwas Robustes finden, indem ich gleichzeitig auch nicht auffallen würde. Ich fand einen langen Reiseumhang, dessen ausladenden Stoffbahnen verbergen würden, was sich darunter befand, und unter dessen weiter Kapuze ich meine Haare verstecken konnte. Außerdem stieß ich auf eine hellbraune Hose, deren Elastizität es mir möglich machen würde, in ihr zu kämpfen, falls notwendig. Mein alter Wasserschlauch war ebenfalls noch da. Wenn alles gut ging, würde ich zwar weder ihn noch sonst irgendwelche Verpflegung brauchen, aber ich wollte auf das schlimmste vorbereitet sein. Aus diesem Grund legte ich auch meine Geldbörse auf den Haufen mit Kleidung, auf dem der Dolch von Fürst Bertang bereits lag. Als mein Blick die Waffe streifte, fiel mir noch der letzte Gegenstand ein, der sich in meinem Besitz befand und den ich nicht zurücklassen konnte. Ich ging zurück zu dem hinteren Schrank und öffnete eine Schublade, die mit Handschuhen gefüllt war. Ganz am Boden dieser Schublade, in einem paar Fellhandschuhen versteckt, lag der Dolch aus den Schmieden Sagara Adhini Sitis, der Stadt unter dem Meer.

Nach meiner Ankunft in Migrass hatte ich dieses Relikt an den Schatzmeister der Krone abgegeben, der es sicher verwahren sollte. Doch etwas in mir sah mich als den alleinigen Besitzer des Dolches und ich hatte es nicht ertragen, ihn nicht in meiner Verantwortung zu wissen. Also hatte ich mich in die Schatzkammer geschlichen und in mein Zimmer gebracht. Die Tatsache, dass bis jetzt noch niemand sein Verschwinden bemerkt hatte, bestärkte mich in der Richtigkeit meiner Handlung. Die Klinge glühte nicht, als ich sie aufnahm, und auch die zwei feinen weißen Narben auf meinen Unterarmen blieben kalt. Ich steckte den Dolch zurück in die Handschuhe und warf auch sie auf den Haufen. Jetzt blieb nur noch die Frage, wie ich die Sachen zum Stall bringen sollte, ohne gesehen zu werden.

Ich hatte mich dazu entschlossen mit meiner Mutter zu Abend zu essen. Das tat ich nur sehr selten, doch ich hatte die leise Hoffnung, sie vielleicht doch noch überzeugen zu können. Doch als ich ihr Speisezimmer betrat, beschlich mich die Vorahnung, dass wir uns über etwas anderes unterhalten würden. Neben ihr am Tisch saß ein junger Mann, den ich als den Sohn eines Elfenfürsten aus dem Osten erkannte.

„Liah“, sagte meine Mutter mit einem kühlen Lächeln. „Komm, setz dich zu uns.“

Ich blieb stehen.

„Ich dachte, dieses Thema wäre erledigt“, meinte ich tonlos.

Ich konnte es nicht fassen, dass sie nach allem was war, immer noch an nichts anderes dachte, als mich zu verheiraten.

„Setz dich“, orderte sie, doch ich tat es nicht.

Ich konnte die Anspannung der Diener, die auf der anderen Seite des Tischs an der Wand standen förmlich spüren. Auch der junge Elf schien sich unwohl zu fühlen. Durch die Verweigerung des direkten Befehls hatte ich etwas angestoßen, das meine Mutter so nicht vor ihren Untergebenen stehen lassen konnte, doch es war mir egal. Noch heute Morgen hatte sie mir gesagt, mein starker Wille für mich sprach und etwas in mir wehrte sich nun dagegen ihr nachzugeben.

„Ich weiß, dass das für dich sehr wichtig ist, aber nach unserem Gespräch hatte ich gedacht, auch du würdest mich verstehen.“

„Liah, dies ist weder die Zeit noch der Ort für deine Aufsässigkeit. Du wirst in vier Jahren Königin sein und so langsam solltest du deine kleine rebellische Phase überwinden.“

„Das ist keine Phase“, sagte ich kontrolliert.

„Hinaus. Ihr alle“, befahl sie und alle verließen den Raum.

„Ja, das gefällt dir. Andere herumschubsen. Aber stell dir vor, mir kannst du nichts befehlen.“

„Ganz davon abgesehen, dass ich deine Königin bin, was du offensichtlich nicht zu respektieren scheinst“, zischte sie und erhob sich vom Tisch. „Ich bin deine Mutter, Liah. Und es gab eine Zeit, in der das bedeutet hat, dass du machst, was ich dir sage. Weil ich es besser weiß.“

„Das tust du nicht! Das bist du nicht!“, rief ich und eine Erkenntnis packte mich, die meine Wut in Trauer verwandelte.

„Du hast es eben selbst gesagt. Ich respektiere dich nicht. Du bist nicht meine Königin. Du kannst mir nichts befehlen."

Sie schnaubte verächtlich.

„Das sind nicht deine Worte. Es ist der Einfluss eines Gesetzlosen, der aus dir spricht. Norlos hätte diesen Halbling niemals in deine Nähe lassen sollen.“

Mein Magen zog sich zu einem heißen Knoten zusammen und als ich meine nächsten Worte sprach, musste ich die Zähne zusammenbeißen, um nicht aus vollem Halse zu schreien.

„Du bist so voller Hass. Ich verabscheue dich“, presste ich hervor.

Ihr Gesicht wurde weiß vor Zorn.

„Ich bin deine Mutter!“, rief sie.

Ich schüttelte den Kopf.

„Das bist du nicht. Ich weiß nicht, wer du bist, aber du bist nicht die Frau, die mich groß gezogen hat und mich Toleranz und Rücksicht und Liebe gelehrt hat. Du bist aus Eis. Du interessierst dich nur für deine unwichtige Politik und es ist dir egal, ob dein Land leidet oder nicht, solange du nur deine Macht behältst!“

„Du weißt nicht, wovon du sprichst. Du hast keine Ahnung, was es heißt, Königin zu sein!“

„Menschen verschwinden!“, übertönte ich ihre wütenden Worte verzweifelt. „Sie hungern und leiden und alles deutet darauf hin, dass noch viel größeres Unheil auf sie wartet und dir ist das egal!“

„Weil es Lügen sind! Lügen von meinen Feinden! Und du bist blind, wenn du das nicht sehen kannst!“, schrie sie und ihre Stimme überschlug sich dabei.

Ich wich zurück und schüttelte leicht den Kopf.

„Nein. Du bist blind. Und das wird dein Untergang sein“, sagte ich ruhig.

„Auf dein Zimmer!“, brüllte sie und ein gewaltiger Windstoß erfasste mich und fegte mich aus dem Raum.

Hinter mir schlugen die Türen zu und ließen mich auf dem Gang allein zurück.

Für einen Augenblick saß ich reglos auf dem Boden. Der Schock, über das, was soeben geschehen war, lähmte mich. Nach all den progressiven Unterhaltungen, die wir gehabt hatten, nach all den Momenten der Hoffnung, dass ich meine Mutter zurückbekommen würde, hatte ich heute Abend das wahre Gesicht der Frau gesehen, die dieses Land regierte. Es war hässlich und verdorben.

„Gib Menschen Macht und du siehst, wer sie sind“, wisperte ich und rappelte mich auf.

War überhaupt ein einziges Wort wahr gewesen, was jemals ihren Mund verlassen hatte? Hatte sie mir ihr Verständnis und ihre Verletzlichkeit, die sie mir in den letzten Tagen gezeigt hatte, nur vorgespielt?

Doch das alles spielte nun keine Rolle mehr. Heute Nacht würde ich von hier verschwinden und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Das war ich dieser Welt schuldig. Immerhin war es mein eigen Fleisch und Blut, das sie dem Untergang immer näher brachte.

Zurück in meinem Zimmer packte ich die Dinge, die ich mitnehmen würde, wickelte sie in den dunklen Reisemantel und verließ den Raum durch den Dienstbotenausgang. Mit mehr Glück als Verstand erreichte ich ungesehen den Stall. Er war um diese Zeit verlassen und still. Nur eine Fackel steckte in einer Halterung am vorderen Ende des Ganges. Ich eilte an ihr vorbei zu Eisblitz‘ Box, wo ich mein Paket unter dem Stroh versteckte.

„Na du?“, begrüßte ich den Hengst leise.

Meine Hände zitterten vom Adrenalin und ich vergrub sie in seiner Mähne.

„Wir zwei werden heute Nacht verschwinden. Aber davor muss ich noch einen dritten Flüchtling befreien.“

Er schnaubte leise und drückte den Kopf an meine Seite.

„Freust du dich, hier raus zu kommen?“

Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann holte ich sein Sattelzeug und machte ihn bereit.

„So. Lauf nicht weg, ja? Ich bin bald wieder da“, flüsterte ich, dann machte ich mich auf den Weg zu den Kerkern.

Vor der langen Wendeltreppe, die zu den Zellen führte, stand eine Wache. Der Mann sah eher weniger begeistert aus, zu dieser Stunde an der zugige Stelle herumstehen zu müssen, obwohl doch offensichtlich keine Gefahr herrschte.

„Falsch gedacht“, knurrte ich in Gedanken und schlich mich lautlos durch die Schatten an. Er stand so an der Ecke des Flurs, dass er mich nicht sehen konnte und so bemerkte er mich nicht, bis ich direkt hinter ihm stand und mich räusperte.

Erschrocken zuckte er zusammen und fuhr herum – direkt in meine Faust, die ihn gezielt an der Schläfe traf. Der Mann sackte zu Boden und ich schüttelte meine schmerzende Hand aus.

„Tut mir leid. Ist nichts Persönliches“, murmelte ich, dann rannte ich so schnell ich konnte die Treppe hinunter.

Die zwei Wachen, die die Zellen bewachten, sprangen auf, als ich zu ihnen stürzte und ich ließ mich gegen einen der beiden fallen.

„Kumari!“, rief er bestürzt. „Was ist geschehen?“

Ich legte meine eine Hand auf seine Brust, während ich mit der anderen den Schlüsselbund von seinem Gürtel zog.

„Die Wache oben wurde nieder geschlagen. Bitte, schnell!“

Sie stürmten los und kaum hatten sie mir den Rücken zu gekehrt, rannte ich zu der Zelle, in der Jibita saß. Ich schloss sie auf und zerrte das kleine Mädchen von der Pritsche hoch.

„Schnell, wir haben nicht viel Zeit!“, wisperte ich.

Ohne Erklärungen zu verlangen folgte sie mir nach oben. Von den Wachen war keine Spur, sie suchten sicher nach dem Angreifer, doch in wenigen Momenten würde es hier nur so von ihnen wimmeln. Wir rannten zurück zum Stall, wo ich Jibita in Eisblitz‘ Box zerrte.

„Sie werden bald entdecken, dass ich dich befreit habe. Wir müssen uns beeilen“, keuchte ich und schlüpfte aus meiner feinen Kleidung, um sie gegen die robuste Reisekleidung zu tauschen.

„Bist du sicher, dass dein Plan so genial war? Jetzt, wo sie nach einem Eindringling suchen, wird die ganze Palastwache auf den Beinen sein“, erläuterte das kleine Mädchen.

„Ich habe nie gesagt, dass der Plan gut ist.“

Sie hob die Augenbrauen und ich befestigte den Wasserschlauch und die Handschuhe, in denen der Dolch war, an meinem Gürtel. Dann warf ich den Umhang über und trat aus der Box.

Es schlug Mitternacht, Diana musste jederzeit auftauchen.

„Was ist mit Hana?“, fragte Jibita.

„Ich konnte nur eine Person rausholen. Du hast selbst gesagt, mein Plan war nicht sonderlich gut. Sie lassen sie sicher in ein paar Tagen gehen.“

Zumindest hoffte ich das. Jibita saß überraschend ruhig auf dem Boden der Pferdebox. Es schien sie nicht sonderlich zu kümmern, dass ihre Amme noch immer in Gefangenschaft war.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich vorsichtig.

„Du hast Recht. Das Risiko ist zu groß“, sagte sie schulterzuckend. „Wie ist jetzt dein Plan uns hier rauszubringen? Magie?“

„Nein, keine Magie“, murmelte ich und hielt weiter nach Diana Ausschau.

„Ich will ja nicht drängen, aber …“

„Ja. Ja.“

Ich riss mich von dem dunklen Hof los, dann begann ich die Pferdeboxen zu öffnen. Ich packte die Fackel und kehrte zurück zu Eisblitz und Jibita.

„Was hast du vor?“, fragte das Mädchen.

„Ich sorge für Ablenkung. Bleib dicht bei mir, verstanden?“

Sie nickte und ich wandte mich zu Eisblitz. Nicht zum ersten Mal betete ich, dass es stimmte, dass er verstand, was ich ihm sagte.

„Du musste mit den anderen Pferden durch das Tor nach draußen galoppierten. Wenn ihr in einer Herde seid, kann euch keiner aufhalten. Wir sehen uns auf der anderen Seite.“

Der Hengst wieherte zustimmend und scharrte mit den Hufen im Stroh.

„Komm.“

Ich ging zum hinteren Ende des Stalls und Jibita folgte mir.

„Hier, klettere durch das Fenster. Ich bin gleich hinter dir.“

Sie befolgte meine Anweisung überraschend behände. Ich warf die Fackel auf einen Heuballen, dann stürzte ich ihr nach. Ich hörte das Getrappel der Hufe als die Pferde auf der anderen Seite des Stalls auf den Hof galoppierten, während der Stall in Flammen aufging.

„Lauf!“, rief ich und nahm Jibita an der Hand.

Wir rannten durch den dunklen Hinterhof, über den ich in den letzten Nächten so oft verkleidet als Ke’u na gehuscht war, zum Tor, das die Dienerschaft benutzte, um den Palast zu verlassen. Ich rüttelte an dem schweren Metallriegel, doch er bewegte sich nicht.

„Was ist los?“, keuchte Jibita außer Atem.

„Jemand muss hier abgeschlossen haben, weil ein Eindringling im Schloss ist. Wir kommen nicht raus“, stellte ich verzweifelt fest und suchte die Mauer nach einer Möglichkeit ab, um sie zu überwinden.

„Ich kenne einen Weg“, sagte Jibita.

„Woher?“

„Wir haben keine Zeit für Erklärungen, wir müssen hier weg, bevor man uns findet.“

Damit hatte sie Recht und so folgte ich ihr in den Schlossgarten. Das Gras dämpfte unsere Schritte und wir verschmolzen mit der Dunkelheit. Ich fragte mich, wohin Jibita mich führte, als wir auf den kleinen Fluss stießen, der sich durch den Park zog. Wir folgten seinem Lauf, bis wir an der Stelle ankamen, an der er unter der Mauer verschwand, um auf der anderen Seite in die Nanuk zu fließen, der Fluss, der sich durch die ganze Stadt zog.

„Hier, wir können unter der Mauer hindurchtauchen und sind frei“, sagte Jibita und schickte sich an, ins Wasser zu steigen.

„Warte“, presste ich hervor. „Das geht nicht.“

Meine Eingeweide verkrampften sich schmerzhaft und ein Schwindelgefühl packte mich.

„Elfen können nicht schwimmen.“

Jibita drehte sich um und sah mich verständnislos an.

„Liah, es steht zu viel auf dem Spiel! Reiß dich zusammen und spring ins Wasser. Es ist nicht tief und die Strömung bringt dich auch so ans Ziel.“

Es hatte etwas Bizarres an sich, von einem Kind gemaßregelt zu werden, doch sie hatte Recht. Dennoch schaffte es die Rationalität nicht, überhand zu gewinnen.

„Ich kann das nicht tun“, stöhnte ich und fühlte wie jede Faser meines Körpers sich auflehnte.

„Du musst!“, sagte Jibita und packte mich an der Hand.

Mit einer erstaunlichen Kraft zog sie mich zum Rand des Flusses. Noch immer an mich geklammert sprang sie hinein und ihr Gewicht riss mich mit ins Wasser.

Die Kälte umschloss mich augenblicklich und drückte mir die Luft aus den Lungen. Keuchend strampelte ich mit den Beinen und kämpfte mich an die Oberfläche, doch die Strömung zerrte an meinen bleiernen Gliedern.

Die Mauer kam immer näher und ich schaffte es irgendwie den Kopf über Wasser zu halten. Ich konnte eine Gestalt ausmachen, eine Frau, die auf mich zu gerannt kam. Es war Diana, sie hatte es doch geschafft, nur zu spät. Sie würde uns nicht mehr erreichen können. Diese Erkenntnis schien auch sie zu haben, denn sie blieb stehen. Die Mauer war fast erreicht, gleich würde ich unter die zwei Meter dicken steinernen Wände gezogen, da sah ich etwas hinter Diana. Es war als würde die Luft hinter hier auseinander brechen. Die materielle Welt krümmte sich und ein dunkles, grauenhaftes Nichts tat sich auf, dass meine Netzhaut nicht erfassen konnte. Instinktiv wusste ich, was es war und ich wollte Diana mit einem Schrei warnen, doch Wasser lief in meinen Mund. Das Nichts dehnte sich aus, wie ein sich öffnender Schlund und mit einer lautlosen Stille verschlang es Diana im selben Moment, in dem mein Kopf gegen die Mauer prallte und das Wasser mich in die Tiefe zog.

13. Kapitel

Ein Schraubstock schien sich um meinen Schädel gelegt zu haben. Ich hielt die Augen fest geschlossen, aus Angst, sie könnten sonst aus ihren Höhlen gedrückt werden. Die Strömung wirbelte mich hin und her und schon nach wenigen Sekunden hatte ich keine Ahnung mehr wo oben und unten war. Hilflos wie ein Blatt im Wind wurde ich weiter gerissen. Meine Lungen brannten. Ich brauchte Sauerstoff, ich musste an die Oberfläche gelangen …

Eine riesige dunkle Silhouette bahnte sich auf mich zu. Meine Sicht war zu schlecht, um auszumachen, ob es sich dabei um Freund oder Feind handelte. Verzweifelt versuchte ich den Dolch aus den Handschuhen an meinem Gürtel zu befreien, doch da krachte ich auch schon gegen den Torso des Wesens. Meine Finger verfingen sich in dicken Strähnen. Ein Huf trat mein Schienbein.

Eisblitz!

Ich schlang die Arme um den Hals meines Retters und das Pferd machte sich daran mich nach oben zu ziehen. Sekunden später brach mein Kopf aus dem Wasser und ich schnappte keuchend nach Luft. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte und meine Muskeln pochten schmerzhaft.

„Danke. Danke“, presste ich zwischen dem Husten, der mich schüttelte, hervor und klammerte mich fest an Eisblitz, bis wir das Ufer des Flusses erreichten.

Ich fiel ins hohe Gras wie ein Sack Kartoffeln. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Schock meine Knochen verlassen hatte und ich mich wieder einigermaßen gesammelt hatte. Ich setzte mich auf und Eisblitz warmes Maul fuhr über meine Stirn, als würde er fragen, ob es mir gut ging.

„Alles bestens. Das war gerade noch rechtzeitig“, murmelte ich und stand mit wackligen Knien auf. „Wo ist Jibita?“

Noch bevor mich die Angst packen konnte sah ich sie zwanzig Meter flussaufwärts in der Böschung sitzen. Neben ihr lag Eisblitz‘ Sattel.

Ich ging zu ihr hinüber, mein Pferd auf den Fersen. Wir waren weiter von der Palastmauer entfernt als ich gedacht hatte, dennoch aber nicht weit genug. Wir mussten uns beeilen hier wegzukommen.

„Ich schätze bei dir sollte ich mich auch bedanken?“, fragte ich Jibita, als ich sie erreichte.

Sie neigte leicht den Kopf.

„Er wäre sowieso ins Wasser gesprungen. Ich dachte nur ich nehme ihm vorher den Sattel ab“, meinte sie.

„Trotzdem. Danke“, sagte ich ernst.

Ich rubbelte Eisblitz‘ Fell so gut trocken, wie es auf die Schnelle möglich war. Dann sattelte ich ihn wieder. Mein Reiseumhang triefte vor Nässe, auch nach mehrmaligem auswringen. Da es trotz der späten Stunde noch sehr warm war, würde ich mir wenigstens keine Erkältung holen.

„Wir sollten los“, stellte Jibita fest. „Wenn sie den ganzen Palast durchsuchen wird es nicht lange dauern, bis sie feststellen, dass wir beide nicht da sind wo wir sein sollten. Wahrscheinlich werden sie in weniger als einer Stunde beginnen, die Stadt zu durchkämmen.“

Ich nickte und hob Jibita hoch, damit sie aufsitzen konnte. Mein Blick wanderte zur Palastmauer. Das Bild, wie Diana vom Nichts verschluckt worden war, drängte sich mit einer Endgültigkeit in meinen Geist, dass es mir für einen Moment den Atem verschlug.

„Wir müssen …“, krächzte ich, doch Jibita unterbrach mich.

„… hier weg! Wenn wir geschnappt werden, können wir niemandem mehr helfe.“

Mein Blick wanderte zu dem seltsamen kleinen Mädchen auf dem Rücken meines Pferdes. Sie hatte Recht. Es gab nichts, was ich im Augenblick für Diana tun konnte. Blieb nur zu hoffen, dass sie noch am Leben war, wenn sich das änderte.

Wie in Trance griff ich nach Eisblitz‘ Zügeln und führte ihn zur Straße. Die Stadt lag still da, noch in Unwissen über den Tumult im Palast. Wir erreichten das Osttor noch vor der ersten Dämmerung und die verschlafenen Wachen ließen uns ohne Einwand passieren. Vorsicht wurde seit dem Ende des Krieges wohl nicht mehr groß geschrieben.

Das große Zelt des Zirkusses war bereits abgebaut, doch die Karawanensiedlung war trotzdem unverkennbar. Ich sah einen kleinen Elefanten friedlich grasen und den Geräuschen nach zu urteilen, war er nicht der einzige Vierbeiner hier. Ich machte einen Bogen um die Tiergehege aus Angst, sie könnten uns wittern und unsere Ankunft verraten. Ich hatte keine Ahnung, wo B’reva mich erwartete – falls er mich erwartete. Selbst wenn er meine Botschaft erhalten haben sollte, musste das nicht heißen, dass er mir auch helfen würde.

Wir näherten uns den kleinen Zelten, in denen die Akrobaten und Künstler untergebracht sein mussten. Es war keine Menschenseele zu sehen. Wahrscheinlich schliefen sie alle, um für den Aufbruch morgen ausgeruht zu sein.

„Psst.“

Das leise Zischen ließ mich herumfahren. Im Schatten eines Planwagens bewegte sich etwas. Meine rechte Hand zuckte in Richtung des Dolchs, der sich in meinem Stiefel verbarg, doch in der nächsten Sekunde erkannte ich B’reva.

Ich trat zu ihm hinter die Plane.

„Dann hat meine Botschaft dich erreicht?“, stellte ich unnötigerweise fest.

Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.

Seine Augen und Zähnen glommen weiß in der Dunkelheit, als er grinste.

„Sicher. Auch wenn ich sehr überrascht war. Ku-“

„Stopp!“, unterbrach ich ihn und warf einen nervösen Blick über die Schulter. „Benutze dieses Wort niemals! Niemand darf wissen, wer ich bin.“

B’reva zuckte leicht mit den Schultern.

„Wie soll ich dich dann nennen?“

Ich überlegte einen Moment.

„Wie wäre es mit … Ke’u na?“

B’revas Lippen zuckten.

„Sicher. Und wer ist deine kleine Freundin?“

Zum ersten Mal wandte er den Blick Jibita zu. Sie sah zu mir.

„Vertraust du diesem Mann?“

Überraschung machte sich in B’revas Gesicht breit, als er den reifen Ton des Kindes hörte.

Als sie diese Frage stellte, wurde mir erstmals bewusst, dass ich keinen Grund hatte B’reva zu vertrauen. Er hatte mich nicht verletzt, als wir uns kennengelernt hatten. Aber das bedeutete nicht, dass er mich nicht ausliefern würde, falls die Krone eine Belohnung auf meine Rückkehr aussetzen würde. Andererseits hatte er mich La’ita cula genannt. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber es gab mir das Gefühl, dass wir etwas gemeinsam hatten. Auch wenn mir nicht klar war, worum es sich dabei handelte.

„Ja“, sagte ich schließlich und Jibita nickte.

„Dann nenn mich Dekha.“

Dekha. Das Wort für sehen in der alten Sprache. Jibita schien nicht nur den Verstand eines Erwachsenen sondern auch dessen Wissen zu haben.

„Dekha“, wiederholte B’reva. „Mein Name ist B’reva. Und wenn ich die Damen nun bitten dürfte.“

Er hob die Plane des Wagens an.

„Bleibt hier drin und gebt keinen Laut von euch bis wir heute Nachmittag die nächste Stadt erreicht haben.“

„Ist das sicher?“, fragte ich nach kurzem Zögern.

„Dies ist mein Wagen und ich versichere dir, dass ihn niemand anrühren wird. Dein Pferd bringe ich zu den anderen. Es wird unter den Zirkustieren nicht auffallen.“

In Ermangelung einer besseren Möglichkeit stimmte ich zu. Ich hob Jibita von Eisblitz herunter und sie kletterte in den Wagen, während ich den weißen Schimmel absattelte.

„Mach’s gut. Wir sehen uns später“, wisperte ich zu.

Das Pferd schnaubte leise und schubste mich gegen die Schulter.

Ich folgte Jibita und B’reva ließ die Plane hinter mir zufallen. Wir waren in absolute Dunkelheit gehüllt. Ich tastete über den Boden, auf dem mehrere Decken lagen. B’reva musste hier schlafen. Ich versuchte es mir einigermaßen gemütlich zu machen und lauschte nach Geräuschen von draußen. Doch außer dem gelegentlichen Rascheln, das von den Tiergehegen herüber wehte, blieb es still.

„Alles in Ordnung bei dir?“, flüsterte ich.

„Ja“, gab Jibita hörbar erschöpft zurück. „Und bei dir?“

Ich rekapitulierte die letzten Stunden. Ich hatte einen schrecklichen Streit mit meiner ignoranten Mutter gehabt, woraufhin ich gewissermaßen vor ihr fliehen musste. Die Zukunft dieses Landes war vermutlich düsterer als zu Kristallas Zeiten und es lag an mir, diese Zukunft abzuwenden. Außerdem war ich fast ertrunken und hatte mit angesehen, wie meine beste und einzige Freundin von einem großen Nichts verschluckt wurde.

„Auch“, log ich. „Versuch etwas zu schlafen.“

Da ich keine Antwort erhielt, ging ich davon aus, dass sie das bereits tat. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Auch ich war müde und erschöpft. Mein Kopf pulsierte schmerzhaft und die Schatten meiner Alpträume drängten sich vor meine Augen.

An Schlaf war nicht zu denken. Also dachte ich an die einzige Sache, die mich im Moment davon abhielt, in Tränen auszubrechen. Ich würde Sam wiedersehen. Und das schon bald.

Das Lager um uns erwachte mit dem ersten Licht der Dämmerung. Zeltstangen klirrten und Planen raschelten, während die Zirkusleute alles abbauten und verstauten. Ich konnte ihre Stimmen hören. Jeden Moment erwartete ich, dass jemand die Plane zurückriss und uns entdeckte.

Jibita schlief noch, doch ich bemerkte wie sie zunehmend unruhiger wurde. Sie warf ihren Kopf und das lange weiße Haar hin und her. Die wenigen Lichtstrahlen, die sich durch die Nähte der Plane geschlichen hatten, fielen auf ihr verkrampftes Gesicht. Ein leises Wimmern drang aus ihrem Mund und ich zuckte zusammen. Eben hatten sich Schritte dem Wagen genäherten und waren nun verstummt.

„Hast du das gehört?“, fragte ein Mann und ich hielt den Atem an.

„Nein, was denn?“

„Ein … Geräusch. Aus dem Wagen. Hat sich angehört wie eine Frau oder so.“

Jibita wimmerte erneut und ich presste ihr schnell eine Hand auf den Mund.

„Da, schon wieder!“, rief der Mann.

Der andere lachte.

„Wahrscheinlich hat B’reva da drinnen gerade Spaß mit einer Magd aus der Stadt und du vermasselst ihm mit deinem Gerede die Tour. Lass uns weiter gehen.“

„Aber so hat es sich nicht angehört“, beharrte Nummer eins und ich hörte ihn näher kommen.

„Woher willst du denn wissen, wie es sich anhören sollte? Wann hast du zuletzt überhaupt eine Frau gesehen?“, höhnte Nummer zwei.

„Erst gestern!“, empörte sich Nummer eins.

Die Männer entfernten sich, vertieft in die Diskussion über ihre letzten Frauenbekanntschaften.

Ich atmete erleichtert auf und packte Jibita sanft an der Schulter. Ihr Alptraum schien sich immer tiefer aufzusaugen, die Qual stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.

„Wach auf, Jibita“, wisperte ich. „Es ist alles in Ordnung, wach auf.“

Sie schlug die Augen auf und ich zuckte zurück. Ihre Augäpfel waren schwarz wie die eines Käfers. Dann zog sich die Schwärze zusammen, bis sie nur noch ihre Pupillen ausfüllte und Jibita sah mich an.

„Was ist los?“, fragte sie heiser.

„Du hast schlecht geträumt.“

„Das war kein Traum, Liah. Ich träume nie.“

Ein heißer Klumpen formte sich in meinem Magen. Diana hatte gesagt, dass meine Augen kurz nach einer Vision schwarz gewesen waren.

„Du meinst …“, setzte ich an und sie nickte.

„Es war nichts Neues. Nur Tod und Verderben“, murmelte sie und schloss wieder die Augen.

Ich wusste nicht, ob sie wieder eingeschlafen war, aber sie blieb still und so tat ich es ihr gleich. Es dauerte nicht mehr lang, dann hörte ich wie vorne jemand auf den Kutschbock aufstieg und wir setzten uns in Bewegung. Mit einem sanften Rumpeln bahnte sich der Wagen seinen Weg, umringt von der Geräuschkulisse der ganzen Karawane. Wir bewegten uns nach Südosten.

In der ländlichen Gegend würde ich weit weniger auffallen, wenn ich mich unter die Zirkusleute mischte, daher war das mein Plan, bis wir Rigi erreicht hatten. Rigi war die nächste Großstadt und ein paar Tagesreisen von Migrass entfernt. Sie lag an der Nanuk und grenzte an das nördliche Ende der Drachenwüste. Dort würde ich eine Schiffspassage nach Dorado buchen, der Handelshauptstadt des Wüstenvolks. Wenn Sam schon außerhalb der Wüste bekannt war, dann würde es dort sicher nicht lang dauern, bis ich jemanden traf, der mir seinen Aufenthaltsort verraten konnte.

Ich hatte diese Reise schon vor Wochen geplant, bevor ich überhaupt gewusst hatte, dass ich sie tatsächlich antreten würde. Nachdem Sam gegangen war, hatte ich einfach wissen müssen, wie ich ihn erreichen konnte. Und wenige Stunden in der königlichen Bibliothek später, stand mein Plan fest.

Der Tag zog sich dahin und ich wurde von Stunde zu Stunde gereizter, weil ich nicht sehen konnte, wo wir uns befanden. Nicht nur, weil ich den Anblick des Landes während meiner Zeit in Migrass vermisst hatte, sondern auch, weil ich möglichen Gefahren gegenüber blind war. Auch die königliche Garde, die mittlerweile nach mir suchen musste, würde ich nicht kommen sehen.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, doch letztendlich hielt die Karawane an. Ich setzte mich auf. Jibita lag immer noch seelenruhig zusammengerollt neben mir, doch ich konnte nicht länger still halten.

„Ke’u na“, hörte ich B’revas Stimme endlich vom vorderen Ende des Wagens.

Ich kroch bis zur Plane und linste durch den schmalen Spalt nach draußen.

„Ich gehe ein paar Dinge besorgen. Bei Einbruch der Dunkelheit bin ich zurück und kümmere mich um euch. Lasst euch solang nicht finden.“

Er zwinkerte mir zu und ich verdrehte genervt die Augen. Dann war er verschwunden und ließ mich wieder allein zurück. Mein Kopf juckte und meine Knie schmerzten. Ich wollte endlich hier raus, doch ich durfte mit meiner Ungeduld nicht meine Tarnung auffliegen lassen. B’reva hatte anscheinend einen Plan und ich musste darauf vertrauen, dass er funktionieren würde.

Jibita gab immer noch keinen Laut von sich. Ich seufzte lautlos und setzte mich in den Schneidersitz. Wenn ich schon hier festsaß, konnte ich die Zeit auch produktiv nutzen. Dass ich mein Bett während eines Alptraums in Flammen hatte aufgehen lassen, beunruhigte mich zutiefst. Sollte mir das auf meiner Reise passieren, würde ich nicht nur augenblicklich auffliegen, sondern auch alle in meiner näheren Umgebung, darunter Jibita, in große Gefahr bringen. Wenn ich schon meine Träume nicht kontrollieren konnte, dann wenigstens meine Magie.

Ich schloss die Augen und atmete langsam ein und aus. Durch Meditation hatte ich lernen sollen, meine Magie mit meinem Verstand und nicht mit meinen Gefühlen zu kontrollieren. Letzteres hatte ich in der Vergangenheit getan, doch auf mein Unterbewusstsein war kein Verlass mehr. Wenn ich es endlich schaffte, zu meiner Magie durchzudringen, würde ich sie vielleicht davon abhalten können, aus mir herauszubrechen, wenn ich mich nicht kontrollierte. Möglicherweise würde ich meine Magie auch wieder benutzen können, auch wenn ich nicht wusste, was Feuer gegen die menschenverschlingenden schwarzen Löcher ausrichten konnte.

Ich versuchte alles von mir abfallen zu lassen, doch wie immer drängten sich sofort die Bilder in meinen Geist, die ich so verzweifelt zu vergessen versuchte.

„Was machst du da?“

Ich riss die Augen auf und begegnete Jibitas aufmerksamen Blick. Sie hatte also doch nicht geschlafen.

„Nichts“, wisperte ich.

„Versuchst du zu meditieren?“

Ihr Flüstern klang neutral, doch ihre Augen funkelten belustigt in der Dunkelheit.

Ich schwieg und wandte den Blick ab. Ich wollte mich nicht vor einem Kind rechtfertigen, dass streng genommen keine zwei Jahre alt war.

„Du hast den Zugang zu deiner Magie verloren“, stellte sie unvermittelt fest.

Unvermittelt biss ich mir auf die Zunge. Ich musste aufhören, sie zu unterschätzen.

„Ich habe ihn nicht verloren. Aber ich habe meine Magie bisher nur impulsiv benutzt.“

Jibita runzelte ihre Stirn.

„Und in der Zeit im Palast haben sie dir nichts beigebracht?“

Ich schnaubte leise und linste durch den Spalt in der Plane nach draußen. Die Zirkusleute hatten etwas entfernt begonnen ihr Lager aufzuschlagen.

„Es ist nicht so, als ob sie es nicht versucht hätten“, meinte ich.

„Aber?“, bohrte sie weiter.

„Ich schätze, der Ansatz der Elfen passt einfach nicht zu mir. Und da sie keinen anderen unterrichten …“

Jibita gab einen undefinierbaren Laut von sich.

„Was?“, fragte ich und drehte mich wieder zu ihr um.

„Dir ist klar, dass wir uns auf einer gefährlichen Mission befinden? Dass du früher oder später wieder kämpfen musst?“

„Dafür habe ich den hier“, knurrte ich und zog den Dolch von Fürst Bertang ein paar Zentimeter weit aus meinem Stiefel.

„Magie wird unabdinglich sein. Ich bin davon ausgegangen, dass das kein Problem für dich wird“, meinte sie missbilligend.

„Ich arbeite ja daran“, seufzte ich.

Wenn meine Mutter das zu mir gesagt hätte, wäre ich wahrscheinlich augenblicklich explodiert, dort Jibita sorgte nur dafür, dass ich mich unwohl und schuldig fühlte. Wer war ich schon, dass ich erneut diese Welt retten sollte? Ein kleines Mädchen aus einer anderen Welt. Aber ich war kein kleines Mädchen mehr. Nicht nach dem, was in den letzten Monaten geschehen war. Und mit dem Beginn meines Lebens hier, hatte die Welt, aus der ich gekommen war, jegliche Bedeutung für mich verloren. Doch auch hier hatte ich keine Heimat.

Ich versuchte mir vorzustellen, was Sam sagen jetzt sagen würde, doch ich konnte es nicht. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, seitdem ich ihn zuletzt gesehen hatte. Was, wenn er mich gar nicht wieder sehen wollte? Was, wenn er mich vergessen hatte?

„Hast du zu Sam auch so eine Verbindung wie zu mir?“, fragte ich leise aus einem plötzlichen Impuls heraus.

Jibita schüttelte den Kopf.

„Es war der Blutzauber, der meinen Geist für dich geöffnet hat. An dem war er nicht beteiligt.“

Die Hoffnung verpuffte so schnell wie sie gekommen war.

„Also sind wir auf dem Weg zu Sam?“, fragte Jibita unvermittelt.

Mir fiel erst jetzt auf, dass ich ihr meinen Plan noch gar nicht erklärt hatte.

„Ja. Er lebt bei den Nomaden der Drachenwüste. Er ist dort ein Soldat, ein Offizier oder so etwas. Er kennt den Weg zu den Rittern der Ewigkeit.“

Jibita sog scharf Luft ein.

„Das sind mächtige Verbündete.“

Ich runzelte die Stirn.

„Was hattest du denn vor? Wir können eine Dämonenarmee nicht alleine bekämpfen. Außerdem überwachen die Ritter das Portal. Sie müssen wissen, was vor sich geht.“

Jibita nickte.

„Ich hatte keinen genauen Plan. Ich bin nur hier, um dich auf deinen Kampf vorzubereiten.“

„Und wie willst du das tun? Kennst du einen Zauberspruch oder eine magische Waffe mit der man Kristalla und ihren Herrn erledigen kann?“

Jibita öffnete gerade den Mund, um zu antworten, als jemand die Plane beiseite zog. Wir fuhren gleichzeitig herum, doch es war nur B’reva. Er kroch zu uns in den Wagen und schenkte uns ein gewinnendes Grinsen.

„Ich habe eine wundervolle Verkleidung für dich gefunden, Ke’u na“, meinte er und ich hob die Augenbrauen.

„Für Jibita auch?“

„Wie es scheint, hat sich euer Verschwinden bereits herumgesprochen. Ein kleines Mädchen ist auffälliger als eine junge Frau. Es wäre besser, wenn sie niemand zu Gesicht bekommt.“

Jibita nickte zustimmend. Sie schien diesem Plan nichts entgegenzusetzten zu haben.

Nachdem das geklärt war, aßen wir die Vorräte, die B’reva mitgebracht hatte. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und schmeckte kaum den Unterschied zum teuren Essen, das ich im Elfenpalast genossen hatte.

Als wir fertig waren, warf B’reva einen Blick nach draußen und sobald die Luft rein war folgte ich ihm in meinen Mantel gehüllt zu einer kleinen Baumgruppe. In der Dunkelheit stolperte ich über mehr als eine Wurzel, doch B’revas Schritte waren unbeirrt. Als wir einen kleinen Bach erreichten blieb er stehen.

„Was machen wir hier?“, fragte ich und sah mich um.

Wir waren außer Hörweite des Lagers und nur der Mond schimmerte milchig weiß am Himmel.

„Wir müssen deine Haare färben.“

Ich nickte und zog meinen Mantel aus. Abschätzend musterte ich B’reva, dann kniete ich mich an den Bach um meine Haare nass zu machen.

„Vielleicht solltest du dein Hemd auch ausziehen“, schlug B’reva vor und ich schnaubte.

„Gib mir die Farbe und dreh dich um.“

„Sicher?“, schnurrte er und reichte mir eine braune Dose.

Nachdem ich die halbe Nacht und den gesamten Tag in dem Planwagen verbracht hatte, war mir nicht besonders nach Späßen zu Mute. Aber ich riss mich zusammen, immerhin hatte B’reva ein hohes Risiko auf sich genommen, als er mich mitgenommen hatte.

„Ganz sicher“, sagte ich knapp und griff nach dem Saum meines Hemds.

B’reva setzte sich mit dem Rücken zu mir auf einen Fels.

„Zu Schade. Eine wie dich hatte ich noch nie.“

Er klang nicht sonderlich enttäuscht und ich konnte nur die Augen verdrehen.

„Eine wie mich?“, fragte ich und zog mir mein Hemd über den Kopf. „Eine Prinzessin? Eine Elfe?“

Er lachte leise und ich begann mir die Paste in die Haare zu massieren.

„Du siehst gar nicht so sehr wie eine Elfe aus, weißt du das?“

„Das liegt daran, dass ich in einer Welt ohne Magie aufgewachsen bin. Bevor ich hier her gekommen bin, sah ich noch menschlicher aus als jetzt.“

Ich war immer noch überrascht, wenn ich in den Spiegel sah und meine veränderten Gesichtszüge bemerkte. Dennoch hatte er recht, im Vergleich zu den Elfen im Palast konnte ich fast noch als Mensch durchgehen.

„Tatsächlich? Jedenfalls habe ich deine Art gemeint. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie du.“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und gab nur ein unverständliches Brummen von mir.

„Du bist bestimmt gut im Bett“, meinte B’reva und ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören.

„Tja, ich fürchte, das wirst du nie erfahren.“

B’reva lachte laut auf. Nervös sah ich mich um, doch wir waren allein.

„Du hast gesagt, ihr wart in letzter Zeit hauptsächlich im Norden, richtig? Geht ihr dann als nächstes nach Rigi?“, wechselte ich das Thema.

B’reva nickte.

„Dann wirst du mich dort los.“

„Wohin willst du eigentlich? Und warum bist du aus dem Palast geflohen?“

Ich verteilte die restliche Paste auf meinen Haaren und wusch mir die Hände im Fluss.

„Allein die Tatsache, dass ich fliehen musste, um weggehen zu können, ist Grund genug.“

„Hm. Stimmt wohl“, meinte B’reva leise. „Offiziell wurde die Kleine übrigens von Rebellen befreit und du entführt. Glauben sie das wirklich oder ist das wieder nur so eine Geschichte?“

Ich runzelte die Stirn.

„Nein, ein paar Wachen haben mich gesehen. Ich schätze, meine Mutter will nur nicht zugeben, dass sie nicht mal ihre eigene Tochter kontrollieren kann.“

B’reva lachte.

„Ich finde man sollte niemanden etwas vorwerfen, der dich nicht unter Kontrolle hat. Du scheinst nur dir selbst zu folgen.“

Ich neigte leicht den Kopf.

„Ich weiß nicht“, sagte ich leise.

So hatte ich noch nie darüber nachgedacht.

„Gehst du zum Wüstenvolk?“

Ich erstarrte. Wie kam er darauf? B’reva sollte nicht wissen, was mein Ziel war. Dieses Wissen würde ihn in Gefahr bringen. Und er sollte nicht für mich lügen müssen, falls ihn jemand finden und befragen würde.

„Nein. Wie kommst du darauf?“, fragte ich bemüht beifällig.

„Das ist der Ort für Aussteiger aus der Gesellschaft.“

„Ich steige nicht aus“, versicherte ich ihm.

Tatsächlich hatte ich viel mehr das Gefühl wieder einzusteigen. Plötzlich hatte ich eine Idee.

„Ich will weiter nach Süden. Mein Vater war von dort. Jibita ist aus einem Dorf im Süden. Ich bringe sie nachhause und dann will ich mein zuhause finden.“

„Kanntest du deinen Vater überhaupt?“

„Nein. Aber wie sich herausgestellt hat, kannte ich meine Mutter eigentlich auch nicht.“

Dieser Plan hörte sich ganz glaubhaft an. Ich hätte viel früher anfangen sollen, eine falsche Fährte zu legen. Mein einziger anderer Bezugspunkt außerhalb des Palastes war Sam. Natürlich würden sie dort nach mir suchen. Es sei denn sie vermuteten mich an einem anderen Ort.

„Sie haben sicher eine Belohnung auf Hinweise zu meinem Aufenthaltsort ausgesetzt, oder?“

B’revas Schultern spannten sich an.

„Ich würde dich nie verraten. Schon gar nicht für Geld.“

„Tu es. Gib mir in Rigi einen Tag Vorsprung und dann gehst du zum Stadthalter oder wem auch immer und sagst ihnen das, was ich dir gerade gesagt habe. Dann kriegst du keine Schwierigkeiten, falls sie herausfinden, dass ich mit dem Zirkus gegangen bin. Ich denke zwar nicht, dass sie das tun, aber sicher ist sicher. Sag einfach, du hast mich erst erkannt, als ich schon weg war.“

„Aber dann finden sie dich doch“, widersprach B’reva verwirrt.

„Im Süden werden sie mich so oder so finden. Aber wenn ich es zu den Elfen dort schaffe und ihnen alles erkläre, dann lassen sie mich vielleicht bleiben.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich B’reva völlig überzeugt hatte, aber schien wenigstens gewillt zu tun, was ich sagte.

Ich stand auf und öffnete meinen Gürtel.

„Dreh dich nicht um, klar?“

„Zu Befehl, Eure Hoheit“, antwortete er belustigt.

Ich zog mich aus und stieg in den Bach. Nachdem ich mich gewaschen und die braune Pampe aus meinen Haaren gespült hatte, trocknete ich mich provisorisch mit meinem Hemd ab.

„Zieh das hier an“, sagte B’reva und warf ein Stück Stoff über die Schulter.

„Was ist das?“, wollte ich wissen.

„Deine Verkleidung.“

Es handelte sich dabei um ein Kleid. Allerdings nicht irgendein Kleid. Es war tief ausgeschnitten und am Bauch und Rücken waren längliche Trapeze ausgeschnitten, um so viel Haut wie möglich zu zeigen. Der Rock war dafür Bodenlang und weit, sodass man ihn leicht nach oben raffen konnte.

„Meine Verkleidung ist eine Hure?“, fragte ich trocken.

„Es ist genial, nicht wahr?“, meinte B’reva ehrlich.

Ich hob verständnislos die Augenbrauen.

„Niemand wird nach deiner Herkunft fragen. Wir sagen einfach, du suchst ein neues Betriebsklima und hast dich für eine sichere Reise in die nächste Stadt uns angeschlossen. Außerdem wird niemand auf dein Elfengesicht achten, solange du das Kleid anhast.“

Ich musste zugeben, dass sein Plan gar nicht so schlecht war. Also zog ich das Kleid an.

„Gut. Wie sehe ich aus?“, fragte ich und trat vor ihn.

B’revas Augen weiteten sich und er fuhr sich über das Gesicht.

„Ich bin wirklich genial“, meinte er.

„Sicher“, gab ich augenverdrehend zurück und sammelte meine restliche Kleidung ein.

Praktischerweise war das Kleid lang genug um meine Stiefel und den Dolch zu verbergen. Seltsamerweise hätte ich mich ohne den Dolch nackter gefühlt, als ohne anständige Kleidung.

Zurück am Planwagen verstaute ich meine Sachen. Jibita schlief, zumindest hatte es den Anschein.

„Wie willst du heißen, meine Teure?“, fragte B’reva.

„Such dir was aus“, seufzte ich und beäugte misstrauisch das entfernte Lagerfeuer, wo sich die Zirkusleute tummelten.

Tatsächlich erkannte ich mindestens drei Frauen, deren Aufzug meinem glich. Ich würde wirklich nicht auffallen.

„Also gut … Nana. Dann lass mich dich mal vorstellen.“

Grinsend bot er mir seinen Arm an und ich hakte mich unter, bevor wir uns dem Feuer näherten.

*

Ich weiß, es ist lang her. Danke an alle Kommentarschreiber, die mich so motiviert haben, hier endlich weiterzumachen!

 

Freue mich über all die Leser, die jetzt bei Teil 2 wieder dabei sind!! Hoffe, dieser Band gefällt euch ebenfalls! Lasst mir doch ein Kommentar da ;)

Wann's weiter geht, erfahrt ihr wie immer in meiner Gruppe "Bücher von Clara S."

Impressum

Texte: Clara Schilling
Bildmaterialien: ThousandpointoneMusicFreak
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all die Weltenwanderer, die Liah und mich durch dieses Abenteuer begleiten.

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