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Nanayda Griffin 2

Ich spielte am Bügel meiner Sonnenbrille herum und nickte an dem alkoholfreier Fruchtcocktail, während ich von meiner Sonnenliege aus den hübschen Kellner beobachtete, der zwischen den Tischen hin und her hetzte. Er schien allein zu bedienen und ziemlich im Stress zu sein, dennoch schaffte er es, alle fünf Minuten in meine Richtung zu sehen. Ich trug einen geblümten Bikini und einen dünnen Wickelrock. Die riesige Sonnenbrille hatte ich mir an Bord gekauft, da ich meine eigene zuhause vergessen hatte, aber sie stand mir recht gut.

Ich schob gedankenverloren die Eiswürfel in meinem Glas hin und her und wandte den Kopf nach rechts um auf das hellblaue, ruhige Meer zu blicken. Wir hatten ziemlich Glück mit dem Wetter, dafür dass es schon Anfang Oktober war, aber immerhin befanden wir uns auch in der Karibik.

„Nay, du bist!“

Die Stimme meiner kleinen Bruders riss mich aus meiner gemütlichen Nichtstuerei und ich sah auf das Schachbrett, das auf dem kleinen Tisch zwischen unseren Liegen stand.

„Johnny, du kannst den König keine zwei Felder auf einmal bewegen“, seufzte ich und er schob die Unterlippe vor.

„Wieso nicht? Immerhin ist er der König.“

„Und wahrscheinlich ist er deshalb auch so faul.“

Johnny gab ein herzallerliebstes Kichern von sich und korrigierte seinen Zug.

„Also dann…“, murmelte ich und rückte mit meiner Dame drei Felder nach rechts. „Schach.“

Ich griff nach meinem Handy, das neben dem Schachbrett war und warf einen Blick darauf.

„Meldet sich dein Freund immer noch nicht?“, fragte Johnny und verzog sein unschuldiges Gesicht, da die Sonne ihm in die Augen schien.

„Der ist nur beschäftigt“, murmelte ich und nahm meinen Strohhut ab, um ihn meinem Bruder aufzusetzen.

„Und warum rufst du ihn dann nicht an?“

„Weil ich ihm nicht hinterher rennen will“, sagte ich und musste mit Entsetzen zusehen, wie Johnny mir mit einem völlig korrekten Zug meine Dame abknöpfte.

„Hey“, machte ich und er klatschte fröhlich in die Hände. „Ich hab dir das Spiel erst vor ein paar Stunden erklärt und jetzt bist du kurz davor mich zu schlagen.“

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“

Ich sah auf und erkannte den Kellner vor uns stehen.

„Nay, kann ich ein Eis haben?“, fragte Johnny langgezogen.

„Aber nur wenn du mich besiegst, sonst esse ich es auf“, meinte ich grinsend. „Und für mich bitte nochmal so ein… was auch immer das war.“

„Kommt sofort.“

Natürlich ließ ich Johnny am Ende doch gewinnen und war dann ganz froh, als er seinen Gameboy einschaltete, anstatt um eine neue Runde zu betteln.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Auch wenn ich nach außen hin ruhig war, tobte in mir ein mächtiges Gefühlschaos. Einerseits war ich glücklicher, als sonst jemand, denn ich hatte einen wundervollen Freund. Andererseits war ich total verwirrt, denn besagter Freund meldete sich seit zwei Tagen nicht mehr. Ich musste grinsen, als ich an Samstagnacht dachte, als wir uns stundenlang geküsst und miteinander geredet hatten. Er hatte mir gestanden, dass er mich schon seit unserem ersten Treffen nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte und es sich nur nicht eingestehen konnte. Gefühle waren nämlich etwas Neues für Nick, der eigentlich ein waschechter Playboy war und keine Beziehungen zu haben pflegte. Aber dieses Mal war es anders, das hatte er mir geschworen.

Mein Herz klopfte schneller, als ich daran dachte, wie er mich am nächsten Morgen zum Auto gebracht und die schrägen Blicke von unseren Mitschülern komplett ignoriert hatte.

Und wir hatten telefoniert. Am Sonntagabend, am Montagabend und am Dienstagabend. Sonntag und Dienstag hatte ich ihn angerufen und am Montag er mich, aber heute war Donnerstag und er hatte sich noch nicht gemeldet. Hier in der Karibik war es fünf Stunden früher als in England und mittlerweile war Nachmittag. Aber es hatte ja nichts zu bedeuten. Nick war keine Klette und ich war keins dieser Mädchen, die wegen so einer Kleinigkeit ausflippten.

„Nay, ich will in den Pool!“

„Du hast doch gerade erst was gegessen, Kleiner“, murmelte ich, ließ die Augen aber geschlossen.

„Bitteee!“

Ich gähnte und streckte mich.

„Noch eine Viertelstunde, okay? Ich komm dann auch mit.“

Nachdem die Zeit, die Johnny eher quengelnd als geduldig verbrachte, verstrichen war, machten wir uns auf den Weg.

Das Schiff war riesig. Als ich auf dem Sonnendeck an der Spitze des Kreuzers neben einem dem Pools stand und nach vorn blickte, schoss mir die berühmte Szene aus Titanic durch den Kopf. Ich mochte solche Filme nicht und ich hatte auch nicht vergessen warum, aber plötzlich wünschte ich mir, Nick wäre hier.

Beim Abendessen im schicken Bordrestaurant unterhielten sich meine Eltern darüber, was wir morgen beim Landgang unternehmen sollten, ohne wirklich mit einander zu sprechen. Es war unerträglich, wie sie die ganze Zeit an einander vorbei redeten und irgendwann unterbrach ich sie einfach.

„Ich habe übrigens wieder Klavierunterricht.“

„Tatsächlich? Bei wem?“, hakte meine Mutter misstrauisch nach.

„Meinem Sportlehrer“, gab ich zu.

„Was hat er dann bitte für Referenzen?“

Der nörgelnde Unterton in der Stimme meiner Mutter ließ mich die Stirn runzeln. Aber ich würde hier nicht ausrasten. Nicht vor den ganzen Passagieren und schon gar nicht vor Johnny. Er musste in letzter Zeit schon genug Streit in der Familie aushalten.

„Er spielt wirklich gut. Sein Name ist Jackson Finning, er war auf eurem Wohltätigkeitsball neulich.“

„Der Junge von Anton?“, schaltete mein Vater sich ein. „Ein guter Mann, gute Firma. Ich erinnere mich an einen…“

„Du musst nicht auch noch während dem Essen von der Arbeit reden, meinst du nicht auch, Schatz?“, zischte meine Mutter mit aufgesetztem Lächeln.

„Ich rede nicht über die Arbeit, sondern über den Klavierlehrer deiner Tochter, Miranda“, stellte mein Vater fest und griff nach seinem Weinglas.

„Dein wievieltes Glas ist das jetzt? Nur weil wir im Urlaub sind, heißt das nicht, dass du dich so gehen lassen musst“, fauchte meine Mutter, doch mein Vater hob nur ruhig die Augenbrauen.

„Glaubst du, du bist in der Position mir etwas über Anzahlen von Gläsern zu sagen?“

„Dad!“, keuchte ich und meine Mutter wurde blass.

„Sei still, Nanayda, deine Mutter und ich unterhalten uns.“

Ich biss mir auf die Lippen.

„Dürfen Johnny und ich aufstehen?“, fragte ich dennoch und mein Vater machte nur eine zustimmende Bewegung mit der Hand.

„Danke. Komm, Johnny“, wisperte ich und zog meinen Bruder an der Hand nach draußen.

„Was hat Dad gerade gemeint, Nay?“

„Gar nichts“, murmelte ich und warf einen Blick auf mein Handy. „Es ist schon ganz schön spät für dich. Sollten wir dich vielleicht mal ins Bett bringen?“

„Aber es sind Ferien!“

„Das macht dich auch nicht älter, Kleiner“, sagte ich zwinkernd.

Ich verließ unsere Kabine wieder, nachdem Johnny mit geputzen Zähnen im Schlafanzug im Bett lag, und ging hoch an Deck. Der kühle Nachtwind spielte mit meinen Haaren und ich schluckte hart. Dann nahm ich mein Handy und wählte Nicks Nummer.

„Ich schlafe“, grummelte mir vom anderen Ende der Leitung eine raue Stimme entgegen.

„T-tut mir leid“, presste ich hervor und wischte mir automatisch die Tränen weg, die in Strömen über meine Wangen liefen.

„Nay? Hey, was ist denn los?“

Nicks Stimme klang schon viel wacher und ich konnte mein Schluchzen nicht länger zurückhalten.

„Oh Gott, Süße, was ist passiert?“, fragte er. „Bitte wein doch nicht am Telefon, wenn ich dich nicht in die Arme nehmen kann.“

Ich atmete so gut es ging tief durch und sagte dann: „Es sind nur… meine Eltern und sie… streiten die ganze Zeit. Und mein Vater sagt so schlimme Sachen.“

Meine Stimme brach und ich presste mir eine Hand auf den Mund, um mein Schluchzen zu unterdrücken.

„Hey, schhh Nay, beruhig dich erstmal, okay? Ganz ruhig.“

Er redete noch eine Weile auf mich ein, bis ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.

„Ich wünschte, die Ferien wären schon vorbei“, murmelte ich und lehnte mich gegen die Reling.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich auch.“

Ich lächelte in die Nacht hinaus und fuhr mir noch mal übers Gesicht.

„Ich lass dich dann mal weiter schlafen.“

„Okay. Lass dich nicht unterkriegen, Nay.“

„Ja. Gute Nacht.“

Ich seufzte und schloss kurz die Augen.

„Ach hier bist du.“

Ich fuhr herum und sah meine Mutter auf mich zu kommen.

„Hey“, machte ich verunsichert durch ihre ruhige Mimik.

„Wie geht es dir?“, fragte sie und schien es ernst zu meinen.

„Ich… gut.“

„Lüg mich nicht an, Nanayda. Du bist verheult.“

Ich zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme.

Meine Mutter seufzte und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Ich weiß, es hat sich in den letzten Jahren ziemlich viel verändert. Seitdem du ein Teenager bist kann man… fällt es mir einfach schwer, mit dir zu reden. Du hast dich verändert, ich habe mich verändert, dein Vater sowieso und dann ist da auch noch Johnny.“

Ich runzelte die Stirn und überlegte, was sie versuchte, mir mitzuteilen.

„Du uns Johnny telefoniert oft, nicht wahr?“

„Klar“, meinte ich einsilbig und sie lächelte.

„Ich weiß, du willst dich um ihn kümmern. Das hast du schon von dem Tag an getan, als er auf der Welt war und jetzt seid ihr getrennt, aber Nanayda, ich bin seine Mutter und ich passe auf ihn auf. Zwischen deinem Vater und mir läuft es nicht mehr so gut wie früher, aber du musst dir doch keine Sorgen machen, dass ich deinen kleinen Bruder vergesse.“

„Das behaupte ich doch gar nicht“, widersprach ich stur.

„Aber du denkst es. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.“ Ich sah wir schwer es ihr fiel, weiterzusprechen, doch sie tat es. „Ich trinke nicht mehr, falls dich das beruhigt. Ich bin keine schlechte Mutter, auch wenn wir gerade nur noch streiten. Du wirst immer mein kleines Mädchen sein und…“

In ihren Augen standen Tränen und ich zog sie in eine Umarmung.

„Schon gut, Mum, schon gut“, murmelte ich und konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich sie zuletzt so berührt hatte.

Ich hatte ein Déjà-Vu.

Wieder fuhr ich an einem Sonntagabend durch den strömenden Regen auf den Hof des Internats. Besser gesagt Herr Parkins war natürlich derjenige, der fuhr, auch genau, wie beim letzten Mal.

Dieses Mal hatte ich natürlich nicht so viel Gepäck, nur meinen vollgestopften Rucksack.

Sobald Herr Parkin angehalten hatte, lehnte ich mich vor und verabschiedete mich hastig, damit er nicht bei dem Wetter aussteigen musste, und versicherte ihm, dass ich von hier aus allein klar kommen würde. Dann stieg ich aus und rannte über den Hof zum Eingang des Internats.

Als ich die Tür hinter mir schloss, war ich trotzdem völlig durchnässt und meine Zähne klapperten. Es war schon zu spät fürs Abendessen und ich beeilte mich direkt auf mein Zimmer zu kommen. Oben auf dem Flur war einiges los, da die anderen Schüler wohl auch erst in den vergangenen Stunden zurückgekehrt waren und sich alle durch die Türen unterhielten.

„Hey Nay, wie ist das Wetter so?“, rief Ram mir zur Begrüßung zu und ich streckte ihm die Zunge raus.

Ich hielt mich nicht damit auf, meinen Freunden Hallo zu sagen, denn im Moment wollte ich einfach nur aus den nassen Klamotten raus.

Trotz des Déjà-Vus oder vielleicht auch gerade deshalb, warf ich zuerst einen Blick auf Nicks Bett, bevor ich mir die Jacke und die Jeans vom Körper schälte. Meine Schuhe hatte ich nur achtlos in die Ecke gekickt und gerade wollte ich mir das T-Shirt über den Kopf ziehen, als Nick das Zimmer betrat.

„Mir war, als hätte ich deinen Namen im Gang gehört“, sagte er und grinste mich an. „Du musst dich zur Begrüßung aber nicht gleich ausziehen.“

„Du bist ein Idiot“, murmelte ich und wurde rot.

„Sorry“, grinste er und legte die Hände an meine Taille, um mich an sich zu ziehen und dann zu küssen.

Mein Herz machte einen Salto und ich lehnte mich gegen ihn. Wenn das so weiter ging, musste ich mir einen Herzschrittmacher zulegen.

„Hi“, sagte er leise, als unsere Lippen sich wieder voneinander getrennt hatten.

„Hey“, wisperte ich etwas atemlos. „Ich hab dich vermisst.“

„Ja, ich dich auch.“

„Wie waren die Ferien?“

„Weißt du doch“, sagte er grinsend. „Wie war die Kreuzfahrt?“

„Weißt du doch“, wiederholte ich seine Worte und setzte mich auf mein Bett.

Nick ließ sich neben mich sinken und musterte mich.

„Offensichtlich sehr sonnig“, meinte er und spielte damit auf meine leicht gebräunte Haut und das ausgeblichene Rot meiner Haare an.

„Und warm! Ich glaube, ich hatte tagsüber nie mehr als ein Kleidungsstück an“, sagte ich und sah naserümpfend aus dem Fenster.

„Das hätte ich doch zu gern gesehen.“

„Und einen Bikini!“, schob ich hinter her und Nick verdrehte die Augen.

„Trotzdem.“

Ich verdrehte die Augen, doch bevor ich mich beschweren konnte, hatte Nick sich zu mir gebeugt und küsste mich erneut.

„Ich habe so lange darauf gewartet, das einfach so tun zu können, und dann fährst du einfach eine Woche weg“, sagte er gespielt beleidigt, doch ich war nicht in der geistigen Verfassung antworten zu können.

Nick schien das zu bemerken, denn er küsste mich weiter und irgendwann gab ich ihm nach und ließ mich von ihm in die Matratze drücken.

Ich weiß nicht, wie lange wir schon knutschend so da lagen, als seine Hand den Saum meines T-Shirts fand und darunter schlüpfte. Erschrocken hielt ich sie fest und Nick hörte auf mich zu küssen, doch zu meiner Überraschung lächelte er.

„Sorry. Muss ich mich erst noch dran gewöhnen, dass es bei uns langsamer geht.“

Normalerweise hätte ich seine Worte anders empfunden, aber in diesem Moment fand ich sie sogar süß und die Tatsache, dass nicht einmal ich es hatte ansprechen müssen, sondern dass er von selbst gesagt hatte, dass wir es langsam angehen würden, beruhigte mich ungemein.

Nick zog seine Hand zurück und stützte sich damit neben mir ab.

„Du machst es mir nur so ungeheuer schwer.“

„Was mache ich denn?“, fragte ich und Nick grinste schief.

„Du bist so… echt.“

„Wie bitte?“

Echt? Was sollte das denn jetzt heißen?

„Du spielst mir nichts vor, das alles… was du fühlst, ist echt. Die meisten Mädchen, die ich kenne, verstellen sich die ganze Zeit und da man sowieso nie weiß, was sie tatsächlich wollen, geht man auch nicht auf sie ein, aber du bist einfach so ehrlich. Und dass ich dich nur berühren muss, um dich in… so einen Zustand zu versetzen, ist ziemlich…“

„… echt?“, ergänzte ich ihn, da er offensichtlich nach einem passenden Wort suchte.

„Ja. Ja, es ist echt. Findest du das albern?“

„Eher erschreckend. Es macht das ganze so real“, wisperte ich, denn mir wurde klar, wie sehr er mich verletzen konnte.

„Vergiss unsere Abmachung nicht“, meinte er jetzt wieder im Spaß. „Wir brechen uns nicht die Herzen, es kann also gar nichts passieren.“

Auch wenn er es nur so daher sagte, fühlte ich mich dennoch umso angreifbarer. Denn mir das Herz zu brechen, wäre für ihn jetzt nur allzu einfach.

 

Nick und ich waren uns einig gewesen, dass wir keins dieser Klammerpärchen sein wollten, die ihre Beziehung immer und überall zur Schau stellen mussten, aber irgendwie wollte das einfach nicht funktionieren.

Am Montag standen wir in der ersten Pause zwischen Physik und Chemie knutschend auf dem Schulhof, doch keiner unserer Mitschüler schien sich ein dummes Kommentar zu erlauben, was mich ehrlich wunderte. Als ich Nick danach fragte, zuckte er nur grinsend mit den Schultern und nach einer Weile wurde mir klar, dass das Basketballteam auf jeden losging, der uns irgendwas hinterher rief. Bisher war es mir nie aufgefallen, aber die Sportler schienen auch an dieser Schule das Sagen zu haben.

In Chemie bekamen wir unsere Arbeiten zurück und Felix und ich hatten volle Punktzahl.

„Zum Glück“, schnaubte ich. „So viel Arbeit wie das war.“

„Hm, ja“, meinte Felix. „Sag mal, stimmt das eigentlich, dass du und Nick…“

Er beendete den Satz nicht und ich legte den Kopf schief.

„Wir sind zusammen, falls du das meinst.“

„Ach so, okay“, murmelte er und wandte sich seinem Block zu.

Nachmittags schneite ich wie gewöhnlich in die Bandprobe rein, um mich auf dem Sofa einzunisten und Hausaufgaben zu machen. In einer kurzen Pause schlenderte Jason mit umgehängter Gitarre zu mir herüber.

„Hey, wie waren die Ferien?“, begrüßte ich ihn strahlend, da wir noch keine Gelegenheit gehabt hatten, uns zu unterhalten.

„Ganz gut“, meinte er schulterzuckend. „Und wie ich höre hat mein Bruder dich doch rumgekriegt.“

„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte ich mit gehobenen Augenbrauen.

„Na, du weißt schon…“

Ich schüttelte den Kopf, verwirrt über Jasons Schroffheit.

„Ich schätz ich kann mir eine Wiederholung meiner Er-nutzt-dich-nur-aus-Rede sparen, oder?“

„Also… Also wirklich, Jason! Ihr mögt ja eure Probleme haben, aber wie kannst du nur so über deinen Bruder reden?!“, rief ich und sprang auf. „Und über mich! Ganz ehrlich, dann halt mich eben für eine Schlampe, ist mir doch egal“, fauchte ich und stürmte davon.

„Hey, so hab ich das nicht gemeint!“, rief er mir nach, doch ich hörte nicht hin.

Fassungslos, dass ich mir sowas von einem meiner Freunde, anstatt von irgendeinem Idiot hatte anhören müssen, ging ich zu Ram, um mich dort über Jason zu beschweren. Ich war so wütend, dass ich nicht mal anklopfte, was ich besser getan hätte, denn er war nicht allein. Chris stand in seinem Zimmer ans Fenstersims gelehnt und schien etwas durcheinander, ebenso wie Ram, der auf dem Bett saß und ihm eben aufmerksam zugehört zu haben schien.

„Ähm, störe ich?“, fragte ich.

Beide sahen perplex zu mir und ich runzelte die Stirn.

„Ich geh einfach wieder…“, sagte ich, doch Ram sprang auf.

„Nein, nein, komm schon rein.“

„Okay“, machte ich gedehnt zwischen Ram und Chris hin und her sehend.

Ich hatte das Gefühl in eine seltsame Unterhaltung hinein geraten zu sein, bei der ich nicht willkommen war.

„Also, was gibt’s?“, fragte Ram, unsicher in der Mitte des Raums stehend, während Chris kein Wort sagte.

„Ich… Sicher, dass ich nicht einfach wieder gehen soll?“

Beide nickten und ich räusperte mich.

„Ich hatte gerade eine echt dumme Unterhaltung mit Jason“, begann ich. „Auch schon vor den Ferien. Er zieht Nick die ganze Zeit in den Dreck und ich hab das Gefühl, er hält mich für eine Schlampe, weil ich mit ihm zusammen bin.“ Meine Wut von vorhin kehrte zurück und versetzte mich in Rage. „Ich versteh einfach nicht, warum er so von mir denken sollte! Wir sind doch Freunde und Nick ist verdammt noch mal sein Bruder. Jason hat echt ernsthafte Probleme“, schnaubte ich und ließ mich auf Rams Bett fallen.

„Er ist offensichtlich eifersüchtig, weil er auf dich steht“, stellte Chris fest.

„Tut er nicht“, tat Ram die Aussage sofort ab.

„Ganz sicher nicht, ich meine…“ Aber tatsächlich gab es schon das eine oder andere Anzeichen. Ich runzelte die Stirn. Irgendwie verhielt er sich schon wie ein eifersüchtiger Gockel, aber wie wahrscheinlich war es schon, dass beide Shettlers auf mich standen?

„Das wäre schon ziemlich blöd. Und unwahrscheinlich“, endete ich lahm.

„Komm schon, so wie der Kleine dir hinterher rennt, hat er es wohl schon vor Nick kapiert“, schnaubte Chris und schien dabei nicht halb so desinteressiert wie sonst.

„Was kapiert?“

„Dass du heiß bist. Wenn man auf sowas steht.“

Rams Mundwinkel zuckten, als müsste er ein Lachen unterdrücken und mein Blick zuckte zwischen den beiden Jungs hin und her. Konnte es sein, dass Chris sich eben geoutet hatte, als ich herein gekommen war?

„Also.“ Etwas anderes fiel mir darauf nicht ein und ich hielt den Mund.

„Es war trotzdem nicht sehr nett“, schlussfolgerte Ram für mich und ich nickte zustimmend.

„Und was mache ich jetzt?“

„Jetzt wartest du, bis er angekrochen kommt, um sich zu entschuldigen und dann ist alles wieder gut.“

„Es klang nicht so, als hätte er vor, seine Meinung über Nick und mich zu ändern“, meinte ich unglücklich.

„Und wenn schon. Einen der Brüder hast du zumindest in der Tasche“, grinste er.

„Ich habe Nick nicht in der Tasche“, äffte ich ihn lachend nach.

„Natürlich hast du das. Die Frauen haben ihre Kerle immer in der Tasche“, sagte Ram felsenfest überzeugt und setzte sich neben mich.

 

„Und wie waren deine Ferien?“, begrüßte Jackson Finning mich am Dienstagabend im Musikzimmer.

„Gut und Ihre?“

Er nahm neben mir auf dem zweiten Klavierhockerplatz und hielt ein dünnes Notenheft hoch.

„Ich habe hier ein Stück für dich, etwas klassisches. Die Mondscheinsonate.“

„Von Beethoven? Ist die nicht zu schwer für mich?“, fragte ich überrascht und schlug das Heft auf.

„Nein. Zumindest der erste Satz dürfte absolut kein Problem sein.“

Ich stellte die Noten ab und musterte die ersten Takte. So schwierig sah es tatsächlich nicht aus, es waren nur so viele Noten…

„Also, was für eine Tonart haben wir denn hier?“

„Äh, Cis Moll“, sagte ich, nachdem ich die Vorzeichen gezählt hatte. „Und es ist ein zwei Halbe Takt, deshalb muss man darauf achten, dass die Achtel schnell genug sind, damit man überhaupt so zählen kann.“

„Mh, ja, sehr gut. Hast du schon mal was von Beethoven gespielt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Na dann wird es jetzt Zeit.“

Einen Großteil der Stunde besprachen wir nur den Aufbau des Stückes und Herr Finning erklärte mir, worauf ich beim Üben besonders achten musste. Dann reichte es nur noch für die ersten vier Takte und die Zeit war um. Ich bedankte mich höflich für die Noten und verabschiedete mich. Auf dem Weg in mein Zimmer prickelten meine Finger und am liebsten hätte ich die ganze Nacht durchgespielt.

Nick lag auf dem Bett und machte Mathehausaufgaben. Er begrüßte mich mit einem kurzen „Hey“ und mir kam in den Sinn, dass es möglicherweise nicht wirklich vorteilhaft für unsere Beziehung war, dass wir die ganze Zeit auf so engem Raum zusammen waren. Gut, Vorteile brachte das schon mit sich, aber wir würden kaum Zeit für uns selbst haben und uns nicht aus dem Weg gehen können, falls wir uns stritten.

Wieso dachte ich überhaupt an Streit? Wir waren kaum eineinhalb Wochen zusammen, warum sollten wir uns schon streiten?

„Ist Mathe viel?“, fragte ich und zog meinen Ordner aus meiner Tasche.

„Nein, geht eigentlich“, murmelte er und warf mir ein kurzes Lächeln zu.

Da er ja schon mir angefangen hatte, war Nick auch vor mir fertig und während ich immer noch an der dritten Aufgabe hing, setzte er sich zu mir auf mein Bett und legte die Arme um meine Taille.

„Das ist falsch“, raunte er mir ins Ohr und ich bekam eine Gänsehaut. „Du hast das Vorzeichen da vergessen.“

„Oh“, machte ich und korrigierte mich hastig.

„Weißt du noch, in unserer ersten Physikstunde?“

Ich lief rot an, denn ich wusste genau, was er meinte.

„Du warst schon damals so sehr von mir fasziniert, dass du nicht mal richtig abschreiben konntest.“

„Ich war überhaupt nicht…“ Naja, eigentlich schon. „Bild dir bloß nichts darauf ein.“

„Das ist unglaublich schwer“, murmelte er belustigt und ich spürte seine Lippen auf meinem Hals.

„Nick… Nick, ich will das hier fertig machen…“

„Dann mach doch.“

„Wie soll ich das wenn du mich ablenkst?“, lachte ich und zwang mich dazu seinen Kopf wegzuschieben.

„Du könntest von mir abschreiben“, sagte er grinsend und ich verdrehte die Augen.

„Dabei lerne ich aber nichts.“

„Was lernst du bitte, wenn du die ganze Zeit den gleichen Fehler machst?“

Ich warf verwirrt einen Blick auf mein Blatt.

„Vorzeichen.“

„Oh Mist“, fluchte ich und verbesserte es schnell.

„Außerdem könntest deine Zeit dann auch dafür verwenden, etwas anderes zu lernen.“

„Und was?“, fragte ich verwirrt, doch dann ging mir ein Licht auf und zum zweiten Mal in kürzester Zeit wurde ich rot. „Ach so.“

„Aber sowas macht Nanayda Griffin nicht. Nanayda Griffin erledigt gewissenhaft ihre Hausaufgaben“, meinte Nick grinsend und stand auf. „Ich bin dann mal im Bad.“

„Mhmm“, seufzte ich und starrte die Badezimmertür an, die er nicht abgeschlossen hatte.

Ich verbannte jeglichen Gedanken, der sich nicht auf Mathe bezog, aus meinem Kopf und bemühte mich, die Aufgaben fehlerfrei zu lösen.

 

Jason ging mir am nächsten Tag so offensichtlich aus dem Weg, dass es mir fast schon wehtat. Dabei hatte ich doch rein gar nichts falsch gemacht.

Ich beobachtete ihn und Ben beim Mittagessen in der Kantine und lauschte nur mit halbem Ohr Rams und Chris‘ Unterhaltung.

„Hast du schon mit Nick darüber geredet, Nay?“

„Was?“

Ich blinzelte Ram verwirrt an und der Blonde verdrehte die Augen.

„Über Jason.“

„Ach so. Nein, keine Ahnung, hat sich nicht ergeben“, meinte ich schulterzuckend.

„Vielleicht weiß er ja, was mit ihm nicht stimmt.“

„Ja, vielleicht. Ich verstehe Jason einfach nicht“, seufzte ich und stocherte in meinem Auflauf herum.

„Wahrscheinlich ist er einfach nur angespannt“, mutmaßte Chris. „Wegen dem Schwimmwettkampf. Wäre ich auch, wenn ich mitmachen dürfte, immerhin ist die Vorauswahl schon in fünfeinhalb Wochen.“

„Stimmt, das ist echt nicht mehr lang“, stellte ich erstaunt fest. „Aber ich dachte, es wäre sicher, dass er gewinnt.“

„Du vergisst, dass seine Zeit unter den besten 500 aller Teilnehmer sein muss, damit er reinkommt. Das mit den zwei besten pro Schule gilt nur, falls mehr als zwei unter den 500 sind.“

„Ist das nicht unfair?“, fragte ich verwirrt.

Chris zuckte mit den Schultern.

„Find ich auch, aber der Titel geht ja auch an die Schule und die wollen nicht, dass eine größere Chancen hat.“

Ich verdrehte die Augen und aß weiter.

„Und außerdem geht der Wettbewerb von der neunten bis zur zwölften Klasse. Er ist unter den jüngsten“, merkte Ram an und ich hob eine Augenbraue.

„Du bist Vollblut-Basketballer, wieso weißt du das?“, fragte ich mit vollem Mund.

„Und du bist sogar graziös, wenn dir essen aus dem Mund fällt“, gab er zurück.

„Ich weiß, das ist eine Gabe.“

 

*Nick*

 

Ich rubbelte mir mit meinem Handtuch über meine feuchten Haare und warf es dann in den Wäschekorb der Umkleide. Das Training war anstrengend aber gut gewesen. Dieser Finning war doch nicht so nervig, wie die meisten von uns anfangs angenommen hatten und er hatte einiges drauf. Und laut Nay war ein Gott am Klavier. Ich schnaubte. Es gefiel mir nicht, wie sie über ihn redete, obwohl es lächerlich war, schließlich war er nur ihr Lehrer und nicht ihr Schwarm. Was mich viel mehr störte, war ihre Vertrautheit mit Ram. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mit ihm über mich redete, was ja an sich kein Verbrechen war, aber warum hatte sie sich ausgerechnet diesen Trottel aussuchen müssen? Der Blondschopf war der einzige aus dem Team, den ich nicht mochte und ausgerechnet er war Nays bester Freund. Er und dieser Chris.

Im Anbetracht der Tatsache, dass sie auf dieser Schule sowieso nur männliche Freunde haben konnte, sollte ich mir das mit der Eifersucht wohl schnellstens abgewöhnen.

Kopfschüttelnd nahm ich meine Tasche und verließ gleichzeitig mit Mike die Umkleide.

„Wirklich zu schade, dass Nay nicht mehr bei uns duscht“, sagte er grinsend und ich runzelte die Stirn.

„Hör auf, Alter, sie ist meine Freundin“, knurrte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nur ärgern wollte.

„Jetzt bist du der einzige von uns, der mit ihr duschen kann.“

Ich verdrehte die Augen, sagte aber nichts. Mike wusste nicht, dass Nay und ich es langsam angingen und ich dachte nicht daran, es ihm zu erzählen.

„Und dabei wird sie sicher keinen Bikini tragen.“

Ich setzte ein Grinsen auf.

„Ja, es ist ziemlich praktisch, ein Mädchen im gleichen… Oh.“

Ich verstummte augenblicklich, als ich Nay oben an der Treppe stehen sah. Sie hielt ihr Handy in der Hand, als würde sie gerade eine SMS schreiben und sah uns mit gehobenen Augenbrauen an.

„Im gleichen was, Nick?“, fragte sie ruhig und Mike machte sich lachend aus dem Staub.

„Äh“, machte ich und blieb vor ihr stehen. „Hast du auf mich gewartet?“

Sie stieß genervt Luft aus und warf ihre roten Haare über die Schulter.

„Klar“, murmelte sie und betrat die nächste Treppe.

„Nay, das war nicht… Ich hab nur…“, rief ich und ging ihr nach.

„Schon klar“, sagte sie augenverdrehend und stieß unsere Zimmertür auf.

War sie jetzt sauer oder nicht? Sie sah zumindest nur genervt und nicht wütend aus.

„Das eben war nur dummes Gerede“, erklärte ich und sie drehte sich zu mir um.

„Ich weiß. Lass mich mal durch, ich muss duschen. Allein.“

Das klang zwar nicht sauer, aber es konnte zumindest so gemeint sein.

Ich trat zur Seite und sie verschwand im Bad, um mich grübelnd zurück zu lassen.

Als sie kurz darauf wieder heraus, sah sie noch immer so nachdenklich und genervt aus, dass ich nicht daraus schlau wurde.

„Wir müssen reden“, sagte sie ernst und setzte sich auf ihr Bett.

Mir rutschte das Herz in die Hose.

„Ich wollte dich wirklich nicht… beleidigen oder so, aber du weißt ja wie Mike ist und…“

„Ach, jetzt vergiss das doch mal für eine Sekunde, das ist doch unwichtig“, sagte sie und wedelte mit der Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.

Okay? Was hatte ich sonst noch angestellt?

„Es geht um Jason.“

Aha, also war es gar nicht meine Schuld! Erleichtert lehnte ich mich zurück.

„Was ist mit ihm?“

„Wohl eher, was ist mit euch? Ihr seid doch Brüder und ich dachte, ihr würdet euch verstehen. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall, also sag mir, was da zwischen euch steht.“

Sie fixierte mich ernst und ich runzelte die Stirn.

„Was hat er gemacht?“

„Er hat mich im Prinzip als Schlampe bezeichnet und redet nicht mehr mit mir, aber das ist nicht der Punkt! Der Punkt ist, dass er über dich redet, als wärst du ein Verbrecher und es dich nicht im Geringsten kümmert, dass er gewaltige Probleme mit diesen Ty hat. Brüder verhalten sich nicht grundlos so.“

„Er hat dich eine Schlampe genannt?“, fragte ich verärgert und überlegte, was mit diesem Spinner jetzt schon wieder falsch lief.

„Ja, aber darum geht es wie gesagt nicht. Komm schon, Nick. Was ist da passiert? Liegt es… Liegt es vielleicht an mir?“, wollte sie verunsichert wissen.

„Du meinst, weil er auf dich steht? Könnte sein, aber hey, weinst du?“

„Noch nicht“, sagte sie trotzig und ich stand auf, um mich neben sie zu setzen.

„Du musst dich nicht schuldig fühlen, Nay“, sagte ich sanft. „Mein Bruder reagiert ständig über und selbst wenn du dieses Mal der Grund dafür bist, dann kannst du nichts dafür.“

„Aber das macht doch keinen Sinn“, seufzte sie und fuhr sich durch die Haare.

„Hör zu, Jason und ich haben keine so enge Bindung wie du und dein Bruder und daran wird sich wohl auch so schnell nichts ändern, aber dass er auf dich sauer ist, das vergeht.“

„Wie können sich Geschwister denn so voneinander entfernen?“

Mir wurde klar, dass es mittlerweile nicht mehr um Jason ging, deshalb zog ich es erst gar nicht in Betracht unsere Familienfehde auszugraben und zog sie an mich.

„Dir und Johnny wird das nicht passieren, glaub mir. Ihr seht euch vielleicht nicht mehr so oft, aber das was ihr habt, zerbricht nicht so leicht.“

 

*Nay*

Ich war unzufrieden. Irgendwie war ich bei meinem Gespräch mit Nick gestern total aus der Bahn gekommen und ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas verschwieg.

Als ich nach Französisch allein zu Mittag aß, setzte sich plötzlich jemand zu mir.

Verwirrt wandte ich den Kopf und sah einen niedergeschlagenen Jason.

„Äh, hi?“, sagte ich vorsichtig.

„Hör zu, es tut mir leid, okay? Ich rechtfertige mich jetzt erst gar nicht, weil es total unsinnig war, aber es tut mir leid.“

Er sah aus wie ein geprügelter Hund und ich konnte einfach keine Sekunde länger auf ihn sauer sein.

„Schon gut“, meinte ich und schob ihm zur Bekräftigung meiner Worte meinen Nachtisch zu.

„Also… Wie läuft’s so?“, fragte er.

„Willst du das wirklich wissen?“

„Klar. Wir sind doch Freunde“, sagte er, unsicher, ob das überhaupt noch der Fall war.

„Na gut. Ehrlich gesagt… Ich meine, es ist toll. Es ist wirklich toll, aber ich habe irgendwie das Gefühl, er weicht mir aus. Als ich im Urlaub war haben wir zwar jeden Tag telefoniert, aber es ging irgendwie immer nur um mich. Es ist so, als ob er jedes Mal, wenn das Gespräch in seine Richtung geht, es wieder zu mir zurückstößt…“

„Hm. Das ist typisch Nick. Er verhält sich so oberflächlich, dass alle denken, er wär’s auch und sobald jemand das Gegenteil herausfinden will, wehrt er sich mit Händen und Füßen.“

„Aber warum denn nur? Das kann doch unmöglich schon immer so gewesen sein“, murmelte ich.

„Wenn du mich fragst, dann geht das jetzt schon so lange, dass er sich selbst für oberflächlich hält.“

Nachdenklich musterte ich die Tischplatte. Nick wusste fast alles über mich, während ich ihn eigentlich kaum kannte. Und dennoch war ich in ihn verliebt.

Aber vielleicht brauchte er ja einfach nur Zeit, um sich zu öffnen.

Ich verbrachte den Nachmittag in der Bibliothek, um zu lernen und abends fühlte ich mich ziemlich ausgelaugt. Ich ging nach draußen hinter die Schule, wo ich wie erwartet Chris beim Rauchen antraf.

„Hey“, machte ich und setzte mich zu ihm.

„Raucher sterben nicht an Lungenkrebs, sondern an Erfrierung“, sagte er anstelle einer Begrüßung und zog die Jacke enger um sich.

„Was gibt’s sonst neues?“, fragte ich.

Er schwieg eine Weile und blies blauen Rauch in die dunkle Nacht.

„Ich hab’s Ram erzählt“, murmelte er schließlich ohne mich anzusehen.

„Dann war es das, in das ich neulich reingeplatzt bin?“

„Ähm… Ja, so ungefähr.“

„Aber jedenfalls hat sich nichts geändert, stimmt’s? Du musst also keine Angst haben dich zu outen!“

Chris verdrehte die Augen und trat seine Zigarette aus.

„Das war aber nur Ram. Wenn die ganzen Idioten hier das rausfinden, reagieren sie ganz anders. Sieh dir nur Nick an…“

„Naja, gut, aber du hast ihn auch ziemlich überrascht.“

Chris sprang auf.

„Ich will nicht mehr darüber reden“, knurrte er und ging nach drinnen.

Ich blieb noch eine Weile sitzen, bis ich nach drinnen ging.

„Wo warst du?“, wollte Nick beiläufig wissen und ich antwortete im gleichen Tonfall: „Nur draußen.“

Ich kickte meine Schuhe von den Füßen und sah Nick nachdenklich an.

„Denkst du, der Direx verlegt mich in ein anderes Zimmer, wenn er rausfinden sollte, dass wir zusammen sind?“

„Warum sollte er das tun?“

„Na, weil er so ein unzüchtiges Verhalten an seiner Schule ganz sicher nicht dulden würde“, meinte ich unschuldig und zog mir langsam mein Oberteil aus.

Nick schluckte und stand auf.

„Ich hoffe, ich missdeute das jetzt nicht“, murmelte er und zog mich an sich.

Knutschend landeten wir in seinem Bett und irgendwann lagen wir nur noch an einander geschmiegt da und lauschten dem Herzschlag des anderen.

„Nick?“, murmelte ich irgendwann. „Warum hattest du nie eine richtige Beziehung?“

„Wer sagt denn, dass ich nie eine hatte?“

Verwirrt hob ich den Kopf.

„Du? Also zumindest habe ich das so verstanden, ich meine…“

„Ist ja schon gut“, meinte er belustigt. „Ich schätze es hat mit meiner Mutter zu tun.“

Ich horchte auf.

„Was ist denn mit ihr?“

„Ach, das ist nicht so interessant“, murmelte er und wollte mich wieder küssen, doch ich wich zurück und sah ihn vorwurfsvoll an.

Nick stöhnte genervt und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.

„Vielleicht hatte ich auch nur keine Freundin, weil ihr Frauen immer erwartet, dass man euch jede noch so kleine Handlung begründet.“

„Was? Ich hab dir nur eine kleine Frage gestellt!“

„Machen wir jetzt rum oder willst du lieber streiten?“

Mir klappte der Mund auf und Nick wandte den Blick ab.

„Nick. Sieh mich an“, sagte ich ernst. „Sieh mich an. Du brauchst das erst gar nicht zu versuchen. Ich weiß nämlich schon, dass du nicht so bist, also brauchst du erst gar nicht so zu tun, als ob du ein Arsch wärst.“

„Woher willst du das denn wissen?“, meinte er niedergeschlagen.

„Weil du an dem Abend, als wir zusammen gekommen sind, genauso Angst hattest wie ich, dass dir dein Herz gebrochen wird. Und auch wenn du es einem wirklich schwer machst, etwas über dich zu erfahren, weiß ich, dass du ein Herz hast.“

Nick schwieg, aber die schlechte Stimmung war gänzlich verflogen. Ich kuschelte mich wieder an ihn und schloss die Augen.

 

Als wir genauso am Freitagmorgen aufwachten, dachte ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nach, die Schule zu schwänzen. Nick sah einfach so friedlich und süß aus, wenn er schlief. Ich konnte es kaum fassen, dass wir jetzt erst zwei Wochen zusammen waren – es kam mir so vor, als hätten wir schon von Anfang an zusammen gehört.

Okay, stopp, was war mit mir los? Dieses Mädchen-Gesülze passte gar nicht zu mir und die rosa rote Brille schon gar nicht!

Allerdings war Nick wirklich zuckersüß…

Ich stand noch vor dem Weckerklingeln auf und ging ins Bad, um mich fertig zu machen.

Der Vormittag verging wie im Flug und am Nachmittag rief ich zuhause an, um zu hören, wie es Johnny ging.

„Hey Kleiner“, begrüßte ich ihn. „Was gibt’s so neues?“

„Eigentlich nichts“, kam es vom anderen Ende der Leitung und ich setzte mich auf die Treppe, die runter zur Sporthalle führte.

„Und wie geht’s Mum und Dad?“

„Keine Ahnung, aber Dad will mir am Wochenende zeigen, wie man angelt!“

„Das ist ja toll“, sagte ich etwas verwirrt und hörte mir alles an, was Johnny bisher über Fische wusste.

Er wusste ziemlich viel, deshalb dauerte es auch eine Weile und als er fertig war, gab mein Akku das Signal, dass er demnächst leer war.

„Alles klar, Johnny gibst du mir Mama mal?“

„Klar. Mach’s gut, Nay!“

„Viel Spaß beim Angeln.“

Es raschelte in der Leitung, dann meldete sich meine Mutter.

„Nanayda.“

Sie klang nicht so kühl wie sonst, aber unser Gespräch im Urlaub hatte sie ihre Reserviertheit nicht vergessen lassen.

„Was macht die Schule?“

„Ganz okay.“

„Schreibst du gute Noten?“

„Klar“, seufzte ich.

„Sei nicht so gelangweilt. Deine ganze Zukunft hängt von deinen Noten ab, vielleicht solltest du dich ein bisschen mehr engagieren und die weniger von deinem Freund ablenken lassen.“

„Meinem Freund?“, hakte ich überrascht nach.

Woher wusste sie denn von Nick?

„Mach mir nur nichts vor, ich hab doch gemerkt, wie ihr jeden Tag telefoniert habt.“

„Ach so, äh ja…“

„Wann lernen wir den jungen Mann denn endlich kennen?“

„Mum, wir sind erst zwei Wochen zusammen, ich weiß nicht…“

„Ruinier das nur nicht. Ich finde es zwar nicht gut, dass du schon einen Freund hast, aber wenn es denn sein muss, dann belass es für deine restliche Schulzeit auch bei ihm. Ich will nicht, dass du den Ruf eines Flittchens bekommst.“

Ich stöhnte genervt und legte einfach auf. Immerhin hatte keiner von uns geschrien. Das war doch eigentlich ein Fortschritt.

Gerade als ich aufstand, kam Jason die Treppe hoch. Sein Haar war nass und ich wusste sofort, dass er eben trainiert hatte. Sein Blick war unaufmerksam und er stolperte erst halb an mir vorbei, bevor er mich erkannte.

„Alles klar?“, fragte ich verwirrt.

„Mhmm…“, murmelte er und stand etwas verloren in der Halle, als hätte er vergessen, wo er hinwollte.

Was war nur los mit den Jungs?

Ich wedelte mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum.

„Hallo, Jason? Bist du noch da drin?“, fragte ich leicht spöttisch und Jason fing meine Hand ein.

„Mann, Nay“, sagte er und rang sich ein Grinsen ab.

„Was ist denn los?“

„Nichts, nur…“ Er warf einen verklärten Blick in Richtung Treppe, dann schüttelte er den Kopf. „Es ist nichts.“

„Das kannst du von mir aus deiner Oma erzählen, aber nicht mir.“

„Mir ist grad nur was echt schräges passiert“, murmelte er, doch bevor ich weiter nachhaken konnte, kamen Nick und Mike die Treppe herunter und mit ihnen noch ein paar andere, die in die Cafeteria strömten.

Nick legte im Vorbeigehen beiläufig einen Arm um mich, um mich mitzuziehen, doch ich machte mich schnell mit einem „Ich komme gleich nach“ los.

Jason hob die Augenbrauen.

„Was?“

„Vielleicht solltest du ihn nicht einfach so stehen lassen.“

„Hab ich doch gar nicht“, meinte ich verwirrt und sah über die Schulter, doch Nick war schon außerhalb meines Blickfeldes.

„Das sieht er womöglich anders.“

Ich verdrehte die Augen.

„Lenk nicht vom Thema ab. Was ist dir gerade passiert?“

„Ach, lass gut sein“, schnappte er und ließ mich stehen.

„Wa..?“

Entgeistert stand ich da und sah ihm nach. Eine unterschwellige Wut kam in mir hoch, über die Unverständlichkeit der Jungs, doch dann sah ich Chris von der Schwimmhalle hochkommen und seine Haare waren genauso nass, wie die von Jason.

„Hey!“, rief ich, doch er achtete nicht auf mich und verschwand mit düsterem Blick nach draußen.

„Chris, warte!“

Ich rannte ihm nach und fand ihn an seiner üblichen Raucherstelle. Er zündete sich gerade eine Zigarette an, doch ich nahm sie ihm einfach aus der Hand und zertrat sie.

„Spinnst du?“, fragte er völlig ruhig und ich wurde rot.

„Nein, aber ihr! Alle miteinander. Was war das eben mit Jason?“

Zu meiner Überraschung wurde auch er rot und mir fiel die Kinnlade herunter.

„Nein“, wisperte ich grinsend und lachte los. „Oh mein Gott, ich fass es nicht, na los, gib mir Einzelheiten!“

„Nay, du bist blöd. Was für Einzelheiten bitteschön?“, knurrte er und sah zu Boden.

„Na, von dir und Jason. Seid ihr etwa zusammen? Wie lange schon? Was…?“

„Stopp, Nay! Wir sind nicht zusammen“, sagte er kalt und mein Lächeln erstarb.

„Oh. Aber was ist es denn dann?“

„Naja, wir haben… Also einmal… Ach Nay, ich will nicht darüber reden“, murrte er, doch das Glitzern in seinen Augen konnte er nicht verstecken.

Ich verschränkte die Arme und wartete schweigend ab. Der eisige Novemberwind fegte über meine Haut und Chris gab mir seine Jacke, als er sah, wie kalt mir war.

„Nein, du erkältest dich noch, du hast doch nasse Haare“, murmelte ich, doch er zuckte nur mit den Schultern.

Ich schlüpfte in die Jacke und nachdem ich den Reißverschluss geschlossen hatte, huschte Chris ein schwaches Grinsen über das Gesicht.

„Im letzten Trainingslager“, begann er zerknirscht. „Das war in den Pfingstferien, also da haben wir… Da hab ich ihm einen…“

Er machte eine wage Handbewegung und ich schlug mir die Hand vor den Mund.

„Nein“, quietschte ich durch meine Finger und Chris zuckte mit den Schultern.

„Doch.“

„Aber… Ist Jason denn überhaupt schwul?“

„Keine Ahnung, das war nicht… Es hat sich irgendwie ergeben und dann haben wir nicht mehr darüber geredet, verstehst du?“

Nein, ich verstand nicht. Ich verstand gar nichts mehr. Also gut, eigentlich schon, aber ich war komplett entgeistert. Wenn auch im positiven Sinne.

„Ja und dann?“, drängte ich weiter.

„Naja dann… Hat sich das ein paar Mal wiederholt“, gab er leise zu und wurde knallrot.

„Und ihr habt nie geredet?!“

„Nein“, meinte er gequält und fuhr sich durch die Haare.

„Bis vorhin?“

„Nein, da haben wir auch nicht geredet, also nicht wirklich, ich hab nur… Ich hab ihn geküsst.“

Verwirrt runzelte ich die Stirn.

„Und was war daran so besonders?“

„Es war das erste Mal.“

„Moment, ihr habt… sowas gemacht, aber ihr habt euch nie geküsst?!“

„Wir sind doch keine Mädchen“, schnaubte Chris genervt und ich hob eine Augenbraue. „Es war für ihn eben mehr so… so eine Sache und nicht… irgendwas Romantisches.“

„Aber für dich schon?“

„Keine Ahnung“, knurrte er und nahm sich eine neue Zigarette.

 

*Jason*

 

Als Chris in die Halle kam, hatte ich schon eine Stunde Training hinter mir. Ich hielt am Ende meiner Bahn an und beobachtete, wie er mir schräg gegenüber ins Wasser stieg. Unsere Blicken trafen sich für eine Sekunde, dann tauchte er unter.

Ich konzentrierte mich wieder auf meine Bahn und kraulte los. Jetzt, wo ich nicht mehr allein war, konnte ich mich nicht mehr im Wasser verlieren und in Gedanken ein neues Gitarrenriff einstudieren. Jetzt war ich angespannt, achtete auf jede Bewegung und sah immer wieder zu Chris hinüber.

Als ich gekommen war hatte ich das Licht nicht eingeschaltet und Chris hatte es auch ausgelassen und so schwammen wir allein in der Dunkelheit durchs Wasser. Wie immer, wenn ich meinem Co-Captain allein begegnete, spürte ich diese seltsame Spannung, dieses Brennen in den Fingerspitzen.

Schließlich hatte es keinen Sinn mehr und ich wuchtete mich leise fluchend aus dem Becken. Was war nur los mit mir? Ich war immerhin nicht schwul, ich war in Nay verliebt. Zumindest glaubte ich das, sicher war ich nicht.

Aber ich war nicht schwul. Und Chris war es auch nicht. Oder vielleicht ja doch, woher sollte ich das schon wissen. Obwohl wir uns schon lange kannten und die besten Schwimmer am Harrison Springer waren, unterhielten wir uns so gut wie nie. Und das im Trainingslager und das danach, das war einfach nur so passiert. Daran war ja auch nichts schwul, wir hatten ja nicht rumgeknutscht oder so…

Ich schüttelte heftig den Kopf und betrat die Gemeinschaftsdusche. Ich wollte nicht darüber nachdenken, das tat ich nie. Es passierte und ich schob es von mir weg. Und wenn Ty dann so einen Kommentar abließ… Mein Blut begann zu kochen und ich schlug etwas zu heftig auf den Hahn der Dusche.

Nicht denken, nichts war wichtig…

„Jase?“

Ich zuckte zusammen und riss die Augen auf. Chris lehnte in der Tür, ein Handtuch um den Nacken gehängt. Seine schwarzen Haare lockten sich sogar im nassen Zustand noch und von seinen dunklen Wimpern tropfte Wasser, als er blinzelte.

„Hi“, murmelte ich. „Bin gleich fertig…“

„Nein, äh, lass dir Zeit“, sagte er, rührte sich aber nicht vom Fleck.

Wir starten uns an und ich bemerkte kaum, wie die Dusche sich automatisch wieder abstellte. Eine seltsame Ruhe durchströmte mich, während wir so da standen und ich wagte es nicht, auch nur den kleinen Finger zu rühren, aus Angst, die Ruhe zu durchbrechen. Chris schien diese Angst nicht zu spüren, denn plötzlich stieß er sich von der Wand ab und kam auf mich zu.

„Was…“, krächzte ich, doch da landeten seine Lippen schon auf meinen.

Sie waren hart und weich zugleich und mein Gehirn machte Sendepause, bis er sich wieder von mir löste.

Ich starrte Chris an und er mich. Dann drehte ich mich um und ging.

Ich flüchtete beinahe in Trance aus der Halle und nach oben. Nay saß auf der Treppe, doch ich nahm sie kaum wahr, bis sie mich ansprach.

„Alles klar?“

„Mhmm…“, murmelte ich, obwohl ich mir da nicht so sicher war.

„Hallo, Jason? Bist du noch da drin?“, lachte Nay und wedelte vor meine Gesicht herum.

Ich riss mich zusammen und fing meine Hand ein.

„Mann, Nay“, sagte ich, um Zeit zu schinden.

„Was ist denn los?“

„Nichts, nur… Es ist nichts.“

„Das kannst du von mir aus deiner Oma erzählen, aber nicht mir.“

„Mir ist grad nur was echt schräges passiert“, entkam es mir.

Was sollte ich tun? Mit ihr reden? Nein, auf keinen Fall. Am besten verzog ich mich so schnell wie möglich.

In diesem Moment kamen die ersten hungrigen Schüler die Treppe nach unten und mit ihnen auch mein Bruder Nick und Mike. Nick wollte Nay mit sich ziehen, doch sie machte sich los und blieb neben mir stehen.

„Was?“, fragte sie, da sie meine Überraschung bemerkt hatte.

„Vielleicht solltest du ihn nicht einfach so stehen lassen“, sagte ich vorsichtig.

Nick vertrug es nicht wirklich, ignoriert zu werden. Das war schon immer so gewesen.

„Hab ich doch gar nicht“, meinte Nay und warf einen Blick über die Schulter.

„Das sieht er womöglich anders“, warf ich ein und hoffte, sie würde auf den Themawechsel eingehen, doch das tat sie dieses Mal leider nicht.

„Lenk nicht vom Thema ab. Was ist dir gerade passiert?“

Meine Güte, wurde man dieses Mädchen denn nie los?

„Ach, lass gut sein“, schnappte ich und drehte mich um.

Ich rannte beinahe in den ersten Stock, obwohl ich mir sicher war, dass Nay mir nicht folgen würde. Meine Füße führten mich automatisch ins Musikzimmer, wo meine Gitarre in ihrem Koffer ruhte und auf mich wartete.

Wenn ich mich zwischen dem Schwimmen und dem Musikmachen hätte entscheiden müssen, hätte ich sicher keine richtige Wahl treffen können. Die beiden Dinge gehörten mittlerweile so fest zu meinem Leben, dass ich mir es ohne sie nicht vorstellen konnte. Im Wasser fühlte ich mich zuhause und wenn ich eine Gitarre in der Hand hatte machte alles einen Sinn…

Fast alles. Denn als ich sie jetzt hochnahm, war es mir noch immer schleierhaft was zur Hölle mir da eben passiert war.

*Nay*

 

Es war schon spät, als ich ins Zimmer kam. Nick saß auf dem Bett und musterte mich, als ich eintrat.

„Hey“, sagte ich irritiert. „Ist irgendwas?“

„Hast du nicht was vergessen?“

Verwirrt sah ich an, dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

„Oh“, rief ich erschrocken aus. „Verdammt, ich hab das Training total vergessen. War Coach Klein sauer?“

Nick zuckte mit den Schultern.

„Schon. Immerhin ist morgen dein erstes Spiel.“

„Oh Mist“, seufzte ich und ließ mich aufs Bett fallen. „Tut mir echt leid.“

„Bei mir musst du dich da nicht entschuldigen“, meinte Nick und ging ins Bad.

Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. War Nick jetzt eingeschnappt, weil ich nicht da gewesen war, oder war es ihm wirklich egal?

Und dass morgen das Spiel war hatte ich auch komplett vergessen. Es war ein Heimspiel und das Team redete seit Tagen von nichts anderem. Wenn wir wegen mir verlören, würde ich mir damit keine Freunde machen. Außer beim gegnerischen Team vielleicht.

Als Nick aus dem Bad kam, beugte er sich über mich und küsste mich.

„Du riechst nach Rauch“, meinte er.

„Mh“, machte ich müde.

„Warum? Hast du geraucht?“

Er war völlig ruhig, fast einfühlsam und dennoch teilnahmslos.

„Nein“, murmelte ich und mir fielen die Augen zu.

 

Er hatte mich nicht geweckt. Nick war ohne mich zum Frühstück gegangen und jetzt war es bereits neun Uhr. Um zehn begann das Spiel.

Ich trug bereits mein Trikot und stolperte aus dem Zimmer, als Ram mir entgegen kam.

„Nay, da bist du ja! Na los, komm schon, wir wollen uns aufwärmen und du hast noch nicht mal gegessen!“

„Ja, tut mir leid. Nick hat mich irgendwie nicht geweckt“, murmelte ich und schob mich an ihm vorbei.

„Ist bei euch alles okay?“, fraget Ram, als er mir die Treppe hinunter folgte.

Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare.

„Keine Ahnung, eigentlich schon. Ich glaube wir haben einfach… Kommunikationsprobleme.“

„Aha“, machte Ram nicht besonders überzeugt.

„Vergiss es einfach, das wird schon wieder“, sagte ich und setzte ein Lächeln auf.

Ich stopfte ein Brötchen in mich hinein, dann gingen wir nach unten in die Sporthalle.

Es waren Tribünen aufgebaut worden, die das Feld eingrenzten. Die gegnerische Mannschaft und die Fans aus ihrer Schule waren noch nicht da und auch von unseren Schülern war niemand zu sehen.

Das Team stand in der Mitte des Feldes, wo Coach Klein eine Ansprache hielt. Wir bekamen nichts mehr davon mit und ich fühlte mich auch nicht sonderlich motiviert als Coach Klein mich mit einem düsteren Blick beiseite nahm.

„Was soll das Nay? Du kommst zu spät und gestern warst du überhaupt nicht da.“

„Ich, ja, es tut mir leid, ich hab verschlafen und gestern…“

„Ich will es gar nicht wissen“, unterbrach mich der Coach. „Was mich interessiert ist, ob du in Form bist. Das wird dein erstes Spiel und du wirst dich behaupten müssen. Und nach der Mühe, die es mich gekostet hat, dir das überhaupt zu ermöglichen, will ich dich jetzt nicht auf die Bank verfrachten.“

„Das weiß ich zu schätzen“, beteuerte ich. „Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

„Das hoffe ich für dich“, knurrte er und schickte mich zurück zu den anderen zum Aufwärmen.

Die Halle füllte sich schon bald und das andere Team und ihre Fans wirkten etwas einschüchternd auf mich. Die Basket Kids wurden ihrem Namen absolut nicht gerecht, da sie alle groß und breit wie Schränke waren.

„Und die gehen noch zur Schule?“, murmelte ich Ram halb scherzhaft halb verunsichert zu.

„Keine Sorge, Nay, die sind alle dumm wie Stroh, auch wenn sie ein paar nette Würfe drauf haben. Pass einfach auf, dass du keinen Ellenbogen ins Gesicht kriegst.“

„Haha“, schnaubte ich und Ram zwinkerte mir aufmunternd zu, bevor er sich auf seine Position verzog.

Der Kapitän des gegnerischen Teams schlenderte herüber. Sein Kopf war quadratisch und leicht eingedrückt, als hätte er einen Basketball zu viel ins Gesicht gekriegt. Er war knapp zwei Meter groß und ich hatte das Gefühl, den Kopf in den Nacken legen zu müssen, um ihn anzusehen.

Er gab Nick, unserem Kapitän, unter den Augen der Coaches die Hand und Nick verzog keine Miene, als der andere Junge seine Hand quetschte.

Der Anpfiff ertönte und die Halle explodierte im Tumult.

Mein Puls schoss in die Höhe und ich fixierte den Ball. Einer aus der gegnerischen Mannschaft preschte mit dem Ball nach vorn und als er Mike auswich, schaffte ich es ihm den Ball abzunehmen. Ich passte zu Nick, der sofort von unseren Gegnern in Beschlag genommen wurde. Er versuchte sich freizulaufen, doch unsere Gegner versperrten ihm die Sicht.

„Hier, Rückpass“, rief ich, da ich noch freistand, doch er schien mich nicht zu hören.

Stattdessen passte er zu Mike, dem der Ball allerdings abgenommen wurde und kurz darauf waren wir im Rückstand.

Noch ein paar Mal schaffte ich es den Ball zu bekommen, doch jedes Mal musste ich sofort abgeben und Nick, der oft die Möglichkeit hatte, spielte mich absolut nie an. So war ich in der ersten Pause ziemlich geladen und das restliche Team auch. Wir hatten einige Treffer landen können, doch wir lagen mit fünf Punkten zurück.

„Nick, was soll das? Traust du mir nicht zu einen Ball zu fangen?“, fragte ich ihn leise, als wir zur Bank gingen.

„Nein“, sagte er und runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

Ich schüttelte den Kopf und machte meinen Zopf neu. Vielleicht hatte ich es mir ja auch nur eingebildet.

Nach der Pause lief es gut an. Wir waren schnell im Ballbesitz und ich stand ideal vor dem Korb.

„Nick!“, rief ich, der den Ball hatte, doch der passte zu Ram, der nur halb so günstig wie ich stand und nicht traf.

„Scheint wohl, ihr habt da kleine Differenzen in eurer Mannschaft“, sagte einer der gegnerischen Schüler im Vorbeigehen und grinste mich herablassend an.

„Klappe“, knurrte ich und konzentrierte mich wieder aufs Spiel.

Ich warf drei Körbe und danach bekam ich den Ball gar nicht mehr in die Finger. Als es in die zweite Pause ging, war ich mehr als geladen. Ich war wütend.

„Was soll das, Nick? Willst du, dass ich vor dem Team schlecht dastehe? Wenn nicht mal mein Freund mir was zu traut, dann tun es die anderen schon gleich gar nicht“, zischte ich ihm zu.

„Verdammt, Nay. Was ist eigentlich dein Problem?“

„Mein Problem ist, dass du so tust, als wäre ich vom gegnerischen Team! Du spielst gegen mich, nicht mit mir.“

Nick starrte mich an dann zuckte er mit den Schultern.

„Keine Ahnung, tut mir leid.“

Er grinste schief und drückte mir einen Kuss auf den Mund.

„Schauen wir einfach, dass wir die Punkte wieder reinholen.“

„Okay“, murmelte ich etwas versöhnlicher.                     

Der Pfiff ertönte und wir machten uns bereit für das Finale.

Es lief jetzt deutlich besser, auch wenn Nick mir eher selten den Ball zu passte. Allerdings bemerkte ich, dass er das allgemein so machte, und das regte mich zwar auf, machte mich aber nicht wütend. Außerdem hatte ich gar keine Zeit mir groß den Kopf zu zerbrechen, denn das Spiel wurde nervenaufreibend spannend und die Körbe fielen nahezu im Sekundentakt. Wir hatten nur noch dreißig Sekunden zu spielen und waren mit dem gegnerischen Team gleich auf, als ich den Ball in die Finger bekam. Ich preschte vor und dachte schon jeden Moment das Pfeifen des Schiedsrichters zu hören, doch es ertönte erst, als der Ball bereits durch das Netz gefallen war.

Mit offenem Mund stand ich da, als ich auch schon von meiner johlenden Mannschaft umgeben war, die mich auf ihre Schultern hoben und singend durch die Halle trugen.

Ich lachte berauscht, als sich mich herunter ließen und fiel Nick direkt in die Arme.

„Das war klasse“, rief er und kurz dachte ich, er meine es gar nicht so, doch da küsste er mich schon stürmisch.

„Hey Shettler! Deine kleine Schlampe hat auch nur aus Glück getroffen.“

Der Ruf des Kapitäns der gegnerischen Mannschaft, ließ uns auseinander fahren.

„Wie bitte?“, fragte Nick mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen.

„Hey, Nick, lass es gut sein“, murmelte ich und legte ihm eine Hand auf den Arm.

„Wow, du stehst ja ganz unter ihrer Fuchtel“, meint der Typ giftig und Nick riss sich los.

Noch bevor ich eingreifen konnte, hatte er ausgeholt und dem anderen Kapitän einen Schlag verpasst. Blut spritzte aus dessen Nase und er stürzte sich mit einem wütenden Brüllen auf Nick.

„Spinnt ihr?! Hört sofort auf!“, schrie ich und versuchte dazwischen zu gehen, doch im Gegensatz zu unserem Coach konnte ich nichts ausrichten.

„Verdammt noch mal, was ist hier los!“, rief Coach Klein und stürmte auf die zwei prügelnden Jungs zu.

Er und der andere Coach schafften es schließlich sie zu trennen.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, zischte Coach Klein, als wir in seinem Büro saßen, wo er Nick ein Cool Pack für seine aufgeplatzte Lippe gegeben hatte.

„Ja, Nick, was sollte das?“, schaltete ich mich wütend ein.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er nicht ernsthaft verletzt war, war ich – erneut – wütend geworden. Wie kam er dazu sich wegen so etwas albernen zu prügeln? Wieso prügelte er sich überhaupt?

„Halt dich zurück, Nay, soweit ich weiß, warst du auch in die Sache verwickelt!“

„Wie bitte?!“, keuchte ich fassungslos, doch Coach Klein warf mir nur einen vernichtenden Blick zu und ich verstummte.

„Ich dulde keine Gewalt in meiner Halle. Habt ihr verstanden?“

Wir schwiegen.

„Ihr seid bis auf weiteres vom Training und von den Spielen suspendiert. Geht jetzt.“

„Was? Aber der andere hat doch angefangen!“, sagte ich entrüstet.

„Nanayda, ich will mich nicht wiederholen!“, donnerte Coach Klein.

Sprachlos sah ich zu Nick, doch der hatte den Blick gesenkt. Wütend sprang ich auf und verließ das Büro.

Ich hörte Nicks Schritte hinter mir und lief etwas schneller. Ich wollte jetzt nicht mit ihm reden. Sicher konnte er nichts dafür, dass der Coach auch mich suspendiert hatte, aber hätte er nicht diese alberne Prügelei angefangen, wäre das alles nicht passiert.

„Nay, warte.“

Nick hatte mich eingeholt und griff nach meiner Hand. Ich zog sie weg und schüttelte den Kopf.

„Nicht. Wenn ich jetzt mit dir rede, sage ich nur etwas, was ich später bereuen würde.“

Nick blieb stehen und starrte mich mit undurchdringlicher Miene an. Ich wandte mich ab und ging davon.

Die Siegesfeier ließ ich aus, da ich keine Lust auf die anderen Jungs hatte. Ich wollte ihnen nicht erzählen, was passiert war und warum ich nicht mehr am Training teilnehmen würde. Ich wollte nicht mal mit Jason oder Chris reden, die nicht mal beim Spiel gewesen waren und von der Sache womöglich noch gar nicht gehört hatten. Stattdessen setzte ich mich in die leere Cafeteria und rief zuhause an.

Es ging keiner ran und ich legte enttäuscht auf. Wahrscheinlich waren sie übers Wochenende weggefahren, Johnny hatte doch irgendwas von angeln gesagt...

Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch und ließ meinen Kopf sinken.

Eine Weile saß ich einfach nur so da und schaffte es jeglichen Gedanken an mein Leben aus meinem Kopf zu verdrängen. Warum musste nur alles immer so schrecklich kompliziert sein?

Irgendwann würde das Abendessen hergerichtet und Schüler strömten in di Cafeteria. Ich stand auf und verzog mich in die Bibliothek, wo ich versuchte, mich irgendwie auf den Physik Test am Monat vorzubereiten, doch ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Dabei dachte ich nicht mal an irgendetwas Bestimmtes. Ich dachte nicht an meine verkorkste Familie, an die verkorkste Sache zwischen Chris und Jason, an das verkorkste Basketballspiel und auch nicht an meine verkorkste Beziehung mit Nick, die irgendwie nicht ganz so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Dennoch, meine Konzentration war gleich null und ich fühlte mich aufgewühlt und unwohl. Am liebsten hätte ich alles einfach vergessen und geschlafen.

Ich stand auf und beschloss aufs Zimmer zu gehen und zu versuchen diesen Plan in die Tat umzusetzen.

Doch oben auf dem Flur wurde ich aufgehalten.

„Na wenn das nicht meine Herzdame ist.“

Ich kniff die Augen zusammen.

„Das ist kein guter Zeitpunkt um mich zu nerven, Jake“, knurrte ich und musterte den Jungen, der mir den Weg versperrte.

„Ach komm schon. Wir haben uns seit Halloween nicht mehr gesehen.“

„Welch wundervolle Zeit das war.“

Jake grinste ohne sich von meinen Worten einschüchtern zu lassen.

Ich seufzte müde und fuhr mir durchs Haar.

„Ganz ehrlich, was willst du von mir? Wir kennen uns gar nicht. Außerdem hab ich einen Freund.“

„Ja, davon hab ich auch schon gehört.“

Ich verdrehte genervt die Augen und schob mich an ihm vorbei.

Im dunklen Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen und machte mir nicht mal die Mühe, das Licht anzuschalten. Ich wollte gerade mein Handy auf den Nachttisch legen, als das Display hell aufleuchtete. Verwirrt stellte ich fest, dass ich eine Nachricht von Johnny gekriegt hatte.

Es war ein Foto von ihm, Dad und einem großen Fisch, den sie stolz in die Höhe hoben. Mein Vater und mein Bruder lächelten offen in die Kamera.

Ich schluckte schwer, denn ich erinnerte mich nicht, wann ich meinen Vater zuletzt so gesehen hatte.

Johnny hatte unter das Bild geschrieben: Schade, dass du nicht da warst.

Ich legte mein Handy weg und fuhr mir übers Gesicht.

„Ja, wirklich Schade, Johnny“, wisperte ich und drängte die Tränen zurück.

„Hey.“

Ich hob den Kopf. Nick stand vor mir, er musste gerade eben ins Zimmer gekommen sein. Sein Blick war ernst, aber auch verschlossen und ich sah schnell wieder weg.

„Hör mal, wegen vorhin…“

„Ach, lass uns einfach nicht darüber reden“, seufzte ich.

Nick setzt sich neben mich.

„Alles klar?“, fragte er nach kurzem Zögern.

„Ja, ja... es ist nur… Ich habe das Gefühl ich verliere über alles die Kontrolle!“, schluchzte ich.

Jetzt rollten die Tränen doch über meine Wangen und ich schämte mich dafür. Ich wollte nicht weinen, ich wollte stark sein und vor allem wollte ich, dass jetzt alles wieder in Ordnung war.

„Nay, wir sollten reden.“

Ich erstarrte. Wollte er etwas schlussmachen? Ich hatte noch nie eine Beziehung gehabt, aber ich wusste sehr wohl, was dieser Satz bedeutete.

„Nein, ich…“

Verzweifelt wischte ich mir über die Wangen und drehte mich zu ihm.

„Hey ganz ruhig, okay?“, murmelte Nick und legte mir eine Hand auf den Arm. „Aber so kann es doch nicht weiter gehen.“

Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich mich zu ihm herüber gelehnt und meinen Mund auf seinen gedrückt.

„Nay, was…“

„Lass uns heute nicht mehr reden“, wisperte ich und vergrub die Hände in seinem Haar.

Ich lehnte mich gegen ihn und nach einem Augenblick gab er nach und ließ sich von mir aufs Bett drücken.

Auch wenn es gerade vielleicht nicht so gut zwischen uns lief, wusste ich doch, dass ich Nick liebte. Und deshalb würde ich nicht zulassen, dass er mit mir schlussmachte.

 

Ich stand am Sonntag sehr früh auf. Nick schlief noch fest und ich tappte auf Zehenspitzen ins Bad, um ihn nicht zu wecken. Nachdem ich mich hastig angezogen und in meine Turnschuhe geschlüpft war, verließ ich das Zimmer, Auf den Fluren war es noch totenstill – nichts Ungewöhnliches für einen Sonntagmorgen. Ich verließ das Gebäude und joggte los.

Ich war in den Sommerferien zuletzt richtig joggen gewesen und als ich jetzt am äußeren Rand des Schulgeländes entlang lief bekam ich das zu spüren. Meine Lunge brannte schon nach wenigen Minuten von der kalten Luft und meine Beine fühlten sich bleischwer an.

Während meine Füße auf den harten Boden trommelten, bahnten sich die Erinnerungen an letzte Nacht einen Weg in meine Gedanken. Ich hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und sah doch nichts, was vor mir lag. Ich fühlte mich seltsam, irgendwie leer. Als sollte ich etwas Bestimmtes fühlen, nur wusste ich einfach nicht was das war.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch am Horizont kündigte sie sich bereits durch einen hellen Streifen an. Es war Mitte November. Ich war kaum zwei Monate hier und trotzdem hatte ich am Harrison Springer mehr erlebt als in den vergangenen Jahren auf meiner alten Schule. Wieder dachte ich an letzte Nacht.

Etwas hatte sich verändert. Als ich ihn geküsst hatte, bis er nicht mehr weiter gesprochen hatte, hatte das etwas verändert. Wann hatte ich mich so verändert? Wann war mir eine marode Beziehung so wichtig geworden, dass ich mit allen Kräften um sie kämpfte? Und dann noch nicht mal anständig, indem ich Probleme aus der Welt schaffte, sondern indem ich sie ignorierte. Allgemein schien das in letzter Zeit zu meinem Verhaltensmuster zu gehören. Probleme zu ignorieren.

Der Zusammenstoß mit einer anderen Person riss mich schmerzhaft aus meinen Gedanken und ich landete auf dem Hosenboden.

„Meine Güte, alles in Ordnung, Nanayda? Tut mir leid, ich hab dich nicht gesehen.“

Ich ergriff die Hand, die sich mir entgegenstreckte und stand auf.

„Meine Schuld, Mann“, brummte ich und hob den Blick. „Oh Gott, Entschuldigung“, rief ich erschrocken aus, denn ich stand hier nicht vor einem Mitschüler, sondern vor Jackson Finning.

„Schon gut“, meinte er schmunzelnd. „Was machst du so früh hier draußen?“

„Ich versuche den Kopf freizukriegen“, gestand ich wahrheitsgemäß. „Und Sie?“

„Im Grunde dasselbe.“

Wir sahen uns einen Moment lang an, dann fragte er: „Bist du sicher, dass er dir gut geht? Du siehst ein bisschen schwindelig aus.“

„Mh“, machte ich und blinzelte gegen die sich drehende Welt an.

„Hast du schon etwas gegessen?“, fragte der Sportlehrer alarmiert.

„Nicht wirklich.“

„Na komm schon“, seufzte er. „Ich bring dich rein.“

Ich ließ zu, dass er mich stützte, während wir langsam zurück zum Gebäude gingen.

„Du bist doch nicht auf einer dieser neumodischen Diäten oder?“, fragte Herr Finning. „Denn vor dem Sport nichts zu essen, um abzunehmen, ist keine wirksame Methode und schadet deinem …“

„Ganz ruhig, ich mach keine Diäten. Oder finden Sie ich hätte eine nötig?“, unterbrach ich ihn sarkastisch.

„Natürlich nicht.“

Er hielt mir die Eingangstür auf und führte mich dann in die Cafeteria, wo bereits das kalte Frühstück bereitstand.

„Na los, setz dich. Was ist du? Vollkorn, Sesam …?“

„Das ganz normale“, murmelte ich und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

Auch jetzt hatte ich noch dieses schwankende Gefühl und mein Magen fühlte sich definitiv nicht nach essen an.

Herr Finning kam zurück und stellte ein Tablett mit Orangensaft und einem Sandwich zurück. Da er mich mit einem Blick bedachte, der keinen Widerspruch duldete, begann ich appetitlos an dem Sandwich zu knabbern. Es half tatsächlich und ich aß es schweigsam auf.

„Also, willst du mir sagen, was mit dir los ist?“

Der Lehrer musterte mich aufmerksam und ich griff nach meinem Saft.

„Was meinen Sie?“

„Naja, du verpasst das Training, beim Spiel gestern warst du auch nicht so ganz auf der Höhe und heute joggst du ohne etwas im Magen bis dir schwindlig wird.“

„Sieht aus, als würde das mit mir und dem Sport nicht mehr so gut laufen“, sagte ich und versuchte zu grinsen, aber es gelang mir irgendwie nicht.

„Ich habe das Gefühl, da steckt mehr dahinter.“

Ich schwieg. Er hatte ja Recht. Aber einsehen wollte ich das jetzt nicht wirklich…

„Also gut“, seufzte er und stand auf. „Falls du mal mit einem Erwachsenen über irgendetwas reden möchtest, dann kannst du zu mir kommen.“

„Danke“, murmelte ich leise.

„Pass auf dich auf“, sagte er und stand auf.

Ich beobachtete wie er aus der Cafeteria schlenderte und einen Augenblick, nachdem er draußen war, kam Nick herein.

„Hey“, meinte Nick unsicher und kam auf mich zu.

Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und seine Haare waren noch vom Schlaf zerwühlt.

„Alles klar?“, fragte er, als er vor mir stand. „Ich bin aufgewacht und du warst nicht da. Ich hab mir Sorgen gemacht.“

„Ja, alles in Ordnung“, sagte ich und setzte ein Lächeln auf. „Ich war nur joggen.“

„Ich wusste gar nicht, dass du joggst.“

Er setzte sich neben mich und zog mich an sich, um mir einen sanften Kuss auf den Mund zu geben.

„Ich mach es auch nicht oft“, murmelte ich mit klopfendem Herzen.

Er küsste mich erneut, dann fragte er leise: „Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja, klar.“

Ich löste mich von ihm und stand auf.

„Ich geh mal lieber duschen. Bis nachher.“

„Bis nachher.“

Ich konnte seinen verwirrten Blick förmlich auf mir spüren als ich aus der Cafeteria hastete.

Oben unter der Dusche hätte ich mich für meine Flucht schlagen können, aber sein plötzliches Auftauchen hatte mich so nervös gemacht. Wie verhielt ich mich ihm gegenüber denn jetzt am besten?

Ich hatte nicht besonders viel Zeit mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn als ich aus dem Bad kam, stürmte Ram in mein Zimmer. Als er mich sah grinste er breit und sagte schwundvoll: „Ich hoffe, du bist noch nicht wieder ganz trocken, das Schwimmteam hat uns nämlich offiziell zu ihrer geheimen Mannschaftsparty eingeladen.“

„Schwimmteam? Mannschaftsparty?“, wiederholte ich mit gehobenen Augenbrauen, doch er riss nur meinen Schrank auf, schnappte sich meinen Bikini und bugsierte mich dann aus dem Zimmer.

„Ist es nicht etwas zu früh für eine Party?“, kicherte ich, als wir den Flur entlang hasteten.

„Nein, überhaupt nicht. Die machen das ständig.“

„Wo wollt ihr denn so schnell hin?“

Nick stand am Fuß der Treppe. Er schien eben aus der Cafeteria gekommen zu sein.

„Tut mir leid, Shettler, aber das ist eine Party, auf die du nicht eingeladen bist“, sagte Ram im Vorbeigehen feixend.

Nick hob eine Augenbraue und ich blieb kurz stehen.

„Er hat mich überrascht. Wir gehen nur in die Schwimmhalle.“

„Ich versteh schon“, meinte Nick und lächelte schief.

Ich wollte mich gerade auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen, doch Ram schnappte sich meine Hand und zog mich mit sich.

„Komm schon, Nay, wir haben es eilig.“

Ich ließ mich kichernd mitziehen, warf aber noch einen Blick über die Schulter, um sicher zu gehen, dass Nick auch wirklich nur belustigt und nicht genervt war.

Er zwinkerte mir zu, dann waren wir schon auf der Treppe nach unten und aus seinem Blickfeld verschwunden.

In der Schwimmhalle war es laut. Gelächter und das Summen von Gesprächen hob sich von der Musik ab, die aus den Lautsprechern dröhnte. Die Mannschaft hatte ein Wasserballnetz im Becken gespannt und Jason beanspruchte mich sofort für sein Team.

Außer Ram und mir waren nur wenige da, die nicht zum Schwimmteam gehörten. Zu meiner Überraschung hatte irgendjemand auch Jake eingeladen. Ich wollte ihn erst ignorieren, doch dann bezog er direkt gegenüber von mir im Becken Stellung und warf mir ein aufforderndes Grinsen zu. Ich verdrehte genervt die Augen.

„Was macht der denn hier?“, fragte ich Jason leise.

„Hm“, knurrte Jason. „Chris hat ihn mitgebracht.“

„Chris? Jake und Chris sind Freunde?“

Über diese Neuigkeit staunte ich nicht schlecht. Immerhin war Jake der größte Arsch der Schule und ich verstand nicht was Chris mit ihm zu schaffen hatte.

Das Spiel ging los. Ich hatte noch nicht besonders oft Wasserball gespielt, doch es stellte sich heraus, dass es nicht besonders schwer war. Ich landete einige gute Treffer. Allerdings war Jake ziemlich gut in dem Spiel und nach einigen Minuten entwickelte sich eine seltsame Spannung zwischen uns. Wir schmetterten die Bälle einander entgegen und ich wurde immer wütender dabei. Schließlich schlug ich so hart auf den Ball, dass der Neuntklässler, der ihn an den Kopf bekam, aussetzen musste.

„Nur die Ruhe, Griffin“, rief Jake mir grinsend zu. „Du musst uns nicht umbringen, um uns zu besiegen.“

Ich spürte wie mein Gesicht heiß wurde. Vor Scham und vor Wut. Was bildete sicher dieser Typ eigentlich ein? Ich hatte ihm nichts getan, aber er tauchte einfach ständig auf und nervte mich!

„Hey, Nay“, raunte mir Jason plötzlich zu.

In der Annahme, dass er mich besänftigen wollte, fuhr ich zu ihm herum, doch er schien Jakes Kommentar gar nicht gehört zu haben. Stattdessen deutete er auf den Eingang der Schwimmhalle.

„Was zum…“

Nick stand in der Tür und wenn mich nicht alles täuschte, dann lugte hinter ihm mein kleiner Bruder Johnny hervor.

„Entschuldige mich“, murmelte ich und verließ das Becken nahezu fluchtartig.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich mit gedämpfter Stimme, als ich bei den beiden Jungs ankam, von denen der eine doppelt so groß wie der andere war.

 

*Nick*

 

Nachdem Nay in die Schwimmhalle verschwunden war, stand ich noch ein paar Minuten ratlos in der Halle herum. Offensichtlich war alles in Ordnung. Oder?

Klar war ich stutzig gewesen, als Nay heute Morgen nicht da gewesen war, aber immerhin redete sie noch mit mir. Manchmal war es eben schwer sie zu verstehen, aber das legte sich dann immer wieder.

Ich atmete tief durch und nickte leicht, um meine eigenen Gedanken zu bestätigen. Es war alles in Ordnung.

„Alter, was treibst du denn da, Nick?“

Mike polterte die Treppe herunter und ich fuhr mir durchs Haar.

„Nichts.“

Mein bester Freund runzelte die Stirn und kam vor mir zum Stehen.

„Und wie ist es gestern mit Nay gelaufen? Du wolltest doch nach dem Spiel noch mit ihr reden …“

„Also geredet haben wir nicht wirklich“, murmelte ich.

Mike stieß einen anerkennenden Pfiff aus und grinste.

„Habt das Ganze wohl auf die altmodische Art geregelt, was?“

„Ach halt doch die Klappe“, knurrte ich. „Komm, lass uns frühstücken gehen.“

„Na sicher doch, Tiger“, feixte Mike und ich fuhr zu ihm herum, doch ich kam nicht dazu, ihn anzuschnauzen, denn in diesem Moment schob sich ein kleiner Junge durch die Eingangstür in die Halle.

Mike folgte meinem Blick.

„Was will der denn hier?“

Der Junge stand kurz unsicher da, dann sah er mich und kam zielsicher auf mich zu. Irgendwie kam er mir bekannt vor …

„Hallo“, sagte der Junge, als er bei uns angekommen war und streckte seine kleine Hand aus. „Ich bin John Griffin, aber meine Freunde nennen mich Johnny.“

Als wir ihn nur dumm anstarrten, hob er die Augenbrauen auf die gleiche Art, wie Nay es immer tat und fragte: „Du bist doch der Freund von meiner Schwester oder?“

„Ich … Ach du … Ja, ja klar, ich bin Nick“, sagte ich und ergriff etwas perplex seine immer noch ausgestreckte Hand. „Was machst du denn hier Johnny? Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“

Der kleine Junge lächelte schuldbewusst und schüttelte den Kopf.

„Oh je“, seufzte ich. „Na komm, ich bring dich erstmal zu deiner Schwester.“

Ich ließ Mike stehen und ging mit Johnny an der Hand runter zur Schwimmhalle.

Nay stand mit dem Rücken zu uns im Becken. Auf der anderen Seite des Wasserballnetzes stand Jake. Ich runzelte die Stirn. Was hatte der hier verloren? Und warum grinste er Nay so unverschämt an?

In diesem Moment drehte Nay sich um. Ein Ausdruck bloßer Verwirrung lag auf ihrem Gesicht und sie starrte uns an, als wären wir vom Himmel gefallen. Ohne viel Zeit zu verlieren verließ sie das Becken und kam hastig zu uns herüber.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie bestürzt, als sie bei uns ankam und drängte sich an mir vorbei zu Johnny.

„Ich wollte dich sehen“, erklärte der kleine Junge mit leuchtenden Augen.

„Aber du kannst doch nicht einfach so herkommen!“, wisperte Nay. „Wissen Mum und Dad, dass du hier bist? Und wie bist du überhaupt hier hergekommen?“

„Mit dem Taxi“, sagte Johnny leise und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

So langsam musste ihm aufgehen, dass er etwas falsches getan hatte.

„Okay…“, sagte Nay und fuhr sich durch ihr nasses Haar. „Okay, ich hol schnell meine Sachen und dann schauen wir weiter …“ Sie drehte sich hilfesuchend zu mir um. „Kannst du ihn in unser Zimmer bringen ohne dass ein Lehrer ihn sieht? Ich will nicht noch mehr Ärger riskieren.“

„Ja, na klar. Bis gleich.“

Sie nickte und hastete in Richtung Umkleide davon.

„Du?“, fragte Johnny und sah zu mir hoch. „Ist Nay jetzt sauer?“

„Ich glaube du hast sie nur ein bisschen überrascht“, sagte ich beruhigend. „Los, ich zeig dir mal unser Zimmer. Aber wir müssen vorsichtig sein, damit die Lehrer uns nicht sehen, okay?“

„Wie Spione!“, rief Johnny begeistert und ich musste grinsen.

„Ja, so in etwa.“

Wir schlichen uns unbemerkt nach oben, wobei Johnny einen riesen Spaß hatte, indem er immer erst umständlich um die nächste Ecke spähte, bevor er weiter ging.

Da wir auf diese Weise etwas länger brauchten, mussten wir keine Minute auf Nay warten. Sie hatte sich nicht abgetrocknet bevor sie sich angezogen hatte, und jetzt klebte ihre Kleidung an ihrem Körper. Ich tat mein bestes sie nicht anzustarren.

Als sie eintrat stürmte ihr kleiner Bruder ihr entgegen und schloss sie in die Arme.

„Hey, ist ja gut“, lachte sie. „Ich hab dich auch vermisst. Aber hör mal, du kannst nicht einfach so von zuhause weglaufen! Mum und Dad machen sich doch Sorgen, wenn du auf einmal nicht mehr da bist. Und außerdem ist das auch nicht ganz ungefährlich, das weißt du doch oder?“

Johnny sah zu ihr hoch und nickte.

„Also gut. Ich ruf jetzt schnell zuhause an und sag, dass es dir gut geht. Alles klar?“

„Okay, Nay.“

Sie warf mir einen erschöpften Blick zu, schnappte sich ihr Handy und trat auf den Flur.

Ich stand etwas planlos im Zimmer herum. Ich setzte mich auf mein Bett und musterte Johnny. Ich hatte keine Ahnung von kleinen Kindern. Was sollte ich denn jetzt zu ihm sagen? Das einzige was mir einfiel, war die Tatsache, dass er seiner großen Schwester fast erschreckend ähnlich sah.

„Wann bist du eigentlich losgefahren? Ihr wohnt doch ziemlich weit weg, oder?“, fragte ich schließlich.

„Ich bin einfach zur Türe rausgegangen“, sagte Johnny schulterzuckend und setzte sich mir gegenüber auf Nays Bett. „Mum und Dad streiten sowieso seit Dad und ich gestern vom Angeln heimgekommen sind. Ich hab soo einen großen Fisch gefangen!“, sagte er begeistert und streckte die Arme weit aus.

„Das ist aber toll“, murmelte ich.

Ich wusste ja, dass Nays Eltern Probleme hatten, aber dass es so schlimm war, davon hatte ich keine Ahnung gehabt. Hatten sie wirklich die ganze Nacht gestritten und nicht mal auf ihr eigenes Kind geachtet?

„Ich bin gleich wieder da, Johnny“, sagte ich schnell und stand auf.

Ich nach draußen zu Nay, die immer noch telefonierte. Als sie meinen Blick sah, sagte sie: „Warte kurz.“

Dann ließ sie das Handy sinken und sah mich erwartungsvoll an.

„Johnny meint, eure Eltern hätten die ganze Nacht gestritten und er wäre dann einfach zur Türe raus“, sagte ich mit gedämpfter Stimme. „Er sieht gar nicht so aus, als würde es ihn besonders mitnehmen, aber ich habe das Gefühl, er ist nicht nur gekommen, um dich zu besuchen. Ich glaube er wollte einfach weglaufen.“

Nays Gesicht wurde aschfahl. Einen Moment sah sie so aus, als würde sie in Tränen ausbrechen, dann wurde ihre Miene steinhart. Sie hob wieder ihr Handy ans Ohr.

„Mum, was zur Hölle ist los bei euch?“, sagte sie mühsam kontrolliert.

Ich spürte, dass ich diese Unterhaltung nicht mit anhören sollte und ging wieder ins Zimmer, obwohl es mir schwer fiel, Nay jetzt allein zu lassen.

Johnny war auf die Matratze gesunken und lag mit geschlossenen Augen ruhig atmend da. Ich seufzte leise und hob erst seine Beine aufs Bett, dann deckte ich ihn zu.

Zehn Minuten später kam Nay herein. Sie war immer noch total blass.

„Hey, alles klar?“, wisperte ich.

Sie öffnete den Mund, aber ihr schien keine Antwort einzufallen, also schloss sie ihn wieder.

„Sollen wir raus gehen? Er schläft jetzt.“

Nay nickte und wir gingen zurück auf den Flur. Dort ließ sich Nay an der Wand hinab gleiten und ich setzte mich neben sie.

„Also, was ist los?“, fragte ich nach einer Weile.

Ich wollte nach ihrer Hand greifen, doch in dem Moment in dem ich meine ausstreckte, zog sie ihre weg.

„Ich will nicht mit dir darüber reden“, sagte sie leise.

Ihre Worte versetzten mir einen Stich und obwohl es das Letzte war, worüber sie jetzt wohl nachdachte, machte ich mir plötzlich wieder Sorgen, dass das, was letzte Nacht geschehen war, doch etwas verändert hatte.

„Soll ich gehen?“, fragte ich dennoch vorsichtig, denn ich wollte einfach nur das tun, was für Nay jetzt am besten war.

Sie schüttelte den Kopf und zog die Beine an. Dann ließ sie ihren Kopf auf die Knie sinken und sagte: „Ich will da nicht rein gehen und ihn aufwecken.“

Was konnte denn so schlimm sein, dass es Nay derartig aus der Fassung brachte?

„Dann bleiben wir einfach noch ein bisschen hier sitzen.“

Sie drehte den Kopf und sah mich an.

„Aber irgendwann muss ich ihm doch sagen, dass sie sich scheiden lassen.“

Wir saßen noch eine Weile im Flur, dann stand Nay auf und ging ins Zimmer. Sie wirkte so stark und gleichzeitig auch so zerbrechlich. Mir wurde das Herz schwer und ich brachte es nicht fertig aufzustehen. Ich hatte sowieso keine Idee, wo ich sonst hin sollte.

Also saß ich einfach da und lauschte Nays gedämpfter Stimme, die leise durch die Tür drang. Plötzlich hatte ich ein Déjà-vu. Nur das in der Erinnerung ich der heulende kleine Junge war und meine Eltern sich nicht hatten scheiden lassen. Zumindest nicht so wie Nays. Zum ersten Mal seit langem hatte ich das Bedürfnis meine Mum anzurufen und ich zog bereits das Handy aus der Hosentasche, als mir einfiel, dass sie ja in Frankreich war.

Ich stand auf und überlegte kurz, ob ich ins Zimmer reingehen sollte, aber Nay wollte jetzt sicher allein mit ihrem Bruder sein. Also beschloss ich nach meinem zu suchen. Ich vermutete, dass er immer noch in der Schwimmhalle war, doch als ich die Treppe runter kam, sah ich ihn in der Eingangshalle stehen. Und zwar zusammen mit Chris Berry.

Die beiden unterhielten sich leise und standen dicht bei einander, dennoch schienen sie in einen heftigen Streit verwickelt.

„Hey alles klar hier?“, fragte ich und ging zu ihnen.

Chris, der mit dem Rücken zu mir gestanden hatte, wirbelte herum und funkelte mich wütend an.

„Na, bei so einem Bruder ist es ja kein Wunder, wie du dich aufführst“, zischte er in meine Richtung, doch ich glaubte, er meinte Jason.

Dann stürmte er nach draußen.

„Was war das denn für eine Drama Queen?“, fragte ich irritiert.

„Wie meinst du das?!“, wollte Jason bestürzt wissen und ich runzelte die Stirn.

„Äh…“ Ich wandte mich wieder zu ihm um und mir fiel ein, dass Jason ja gar nicht wusste, dass Chris schwul war. „Nur so, keine Ahnung.“

„Sag mal, war das vorhin Nays Bruder?“, fragte Jason nach einigen Minuten peinlichem Schweigen.

„Jap.“

„Und was macht der hier?“

Ich war mir sicher, dass Nay nicht wollte, dass jeder über ihre Situation Bescheid wusste, aber immerhin gehörte Jason ja zu ihrer Clique … oder wie auch immer man die Zusammensetzung von Ram, Jason, Chris und ihr bezeichnen wollte.

„Gibt Stress zuhause.“

„Sollten wir… dann nicht zu ihr hoch gehen?“

Ich schüttelte den Kopf und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Mir fiel auf, wie selten mein kleiner Bruder und ich uns in letzter Zeit unterhielten. Und wie viel zwischen uns stand.

„Äh hör mal, Jaz, es tut mir leid wegen Nay. Wegen dem, was deshalb zwischen uns war.“

Jasons Augenbrauen hoben sich.

„Ich fürchte Nay war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, denkst du nicht? Und ein genuscheltes „tut mir leid“ – wie selten so was aus deinem Mund auch ist – macht das nicht mehr gut!“

Ich senkte den Blick.

„Ich meine es aber ernst. Außerdem haben wir uns doch in den Sommerferien wieder ganz gut vertragen. Ich dachte …“

„Und genau das ist das Problem. Wenn du versuchst zu denken“, knurrte Jason und ich hob den Kopf.

„Hey was soll die Scheiße jetzt, Mann!“

„Das weißt du ganz genau. Das mit Mum ist vielleicht in deiner Erinnerung schon so lange her, dass du wieder nur an dich denken kannst, aber ich hake sowas nicht einfach wieder ab!“

Jason wirbelte herum und stürmte in Richtung Tür, wie Chris zuvor.

„Warte doch, Jaz, du weißt doch gar nicht was ich damals…“, rief ich, doch die Tür fiel bereits ins Schloss. „Gefühlt hab“, beendete ich meinen Satz leise.

 

*Nay*

 

Es war leichter gewesen als gedacht, Johnny alles zu erklären. Eigentlich war er nach dem ersten Schock sogar erleichtert gewesen. Und da es ihm einigermaßen gut ging, fühlte ich mich auch schon besser.

Anscheinend war das Wochenende, dass Dad alleine mit Johnny verbracht hatte, der Auslöser für einen Streit gewesen, an dessen Ende der überfällige Beschluss einer Scheidung stand. Das sah ich ein.

Ich hatte nochmal zuhause angerufen und hatte mich mit meinen Eltern geeinigt, dass es das Beste wäre, wenn Johnny erstmal zu unseren Großeltern gehen würde, bis meine Eltern sich über die Wohnsituation geeinigt hatten. Sie hatten jetzt Herrn Parkin mit der Limousine geschickt und er würde demnächst ankommen. Ich hatte ihn angerufen und gebeten, ein Stückchen vor dem Internat zu halten, damit ich Johnny rausschmuggeln konnte, ohne dass die Lehrer etwas bemerkten. Ich hatte keine Lust auf Ärger und wollte niemand die Situation meiner Familie erklären, denn ehrlich gesagt schämte ich mich für meine Eltern.

Irgendwann gegen Abend kam Nick wieder ins Zimmer.

„Stör ich?“, fragte er und fuhr sich zögerlich durch sein verwuscheltes Haar.

„Nein, komm rein“, sagte ich.

Johnny lag mit dem Bauch auf meinen Oberschenkeln und spielte ein Spiel auf meinem Handy. Er hatte sich Kopfhörer in die Ohren gestöpselt und schien nichts von der Welt mitzubekommen.

Nick hob seine Füße an, um sich neben mich aufs Bett setzen zu können und Johnny kicherte leise in Richtung Handy.

„Wo warst du?“, fragte ich leise.

„Nur ein bisschen draußen. Ich dachte ihr wollt vielleicht ein bisschen Privatsphäre.“

Ich lächelte.

„Danke.“

„Und wie hat er’s aufgenommen?“, flüsterte Nick.

„Ganz gut denke ich“, murmelte ich und strich meinem kleinen Bruder durchs Haar.

„Und wie geht’s dir?“

Ich drehte den Kopf und sah in seine grünen Augen. Irgendetwas lag in seinem Blick, das ich nicht verstand. War es Zurückhaltung?

„Auch ganz gut. Es muss eben sein.“

Er nickte verständnisvoll.

Draußen war es bereits stock finster und auf dem Gang waren Schritte zu hören, von den Leuten, die gerade zum Abendessen gingen.

„Und was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Nick.

„Parkin, unser Chauffeur, bringt ihn zu unseren Großeltern. Jetzt muss ich ihn nur noch unbemerkt rausschmuggeln.“

„Wir“, korrigierte mich Nick.

„Was?“

„Wir müssen ihn rausschmuggeln. Den Spaß überlass ich dir nicht alleine“, sagte Nick mit einem schiefen Lächeln.

„Nick… das ist wirklich süß, aber du hast schon genug Ärger wegen mir wegen dem Basketball. Wenn sie dich erwischen, wie du dich abends vom Gelände schleichst…“

„Also erstens hast du genauso viel Ärger wegen mir und zweitens sind wir schließlich zusammen. Also machen wir das auch zusammen. Oder?“

Ich zögerte kurz. Wieso fragte er das? Und wieso klang er dabei so zweifelnd? Wollte er etwa doch schlussmachen?

„Ja, klar“, sagte ich schließlich ein paar Sekunden verspätet und wandte den Blick ab. „Dann warten wir am besten, bis es auf dem Gang ruhiger geworden ist und dann bringen wir ihn raus.“

Wir mussten nicht mehr lange warten. Als es auf dem Gang still war und vermutlich die gesamte Schule beim Abendessen saß, nahm ich Johnny das Handy weg und stand auf.

„Also gut, dann los.“

„Johnny, wir spielen wieder Spione“, sagte Nick zu Johnny und ich runzelte verwirrt die Stirn, doch Johnnys Augen leuchteten.

„Ich will vorgehen“, jauchzte er sofort, doch Nick schüttelte den Kopf.

„Nein, dieses Mal gehe ich vor und schaue nach, ob die Luft rein ist. Und dann kommst du und schmuggelst die Prinzessin hinterher.“

„Prinzessin?“, wiederholte ich skeptisch und Nick grinste.

„Nay, jetzt spiel doch mal mit!“, wies Johnny mich halb genervt an und ich musste auch grinsen, als Nick sich zur Tür schlich.

Es war wirklich süß wie er mit Johnny umging.

Vielleicht ließ ich mich von unserem „Spiel“ etwas zu sehr mitreißen, aber das Herz schlug mir bis zum Hals als wir endlich draußen waren und über den dunklen Hof zur Straße eilten. Erst als wir das Internat hinter uns gelassen hatten und am Straßenrand entlang gingen, wurde ich ruhiger.

„Das war so cool!“, quietschte Johnny vergnügt neben mir und ließ meine Hand los um stattdessen die von Nick zu ergreifen. „Das müssen wir unbedingt nochmal machen!“

Nick wirkte etwas überrascht, machte aber mit.

„Ja, aber vielleicht nicht hier in der Schule.“

„Okay!“

Als wir beim vereinbarten Treffpunkt waren – ein Parkstreifen neben der Straße – war Herr Parkin nirgends zu sehen und es waren auch keine Autos zu hören.

„Ist dir warm genug?“, fragte ich Johnny fröstelnd, doch der Kleine nickte nur beiläufig und setzte sich auf den Boden.

„Hey, da ist es nass“, sagte ich und zog ihn hoch.

„Aber ich bin so müde!“, jammerte Johnny.

Ich sah auf die Uhr. Es war bereits nach acht, also ziemlich spät für ihn.

„Na, komm schon, ich trag dich“, sagte Nick und hob ihn kurzer Hand auf die Arme.

Johnny krallte sich an ihm fest wie ein kleines Äffchen und legte seinen Kopf auf seine Schulter. Es schien, als wäre er sofort eingeschlafen.

„Ist er nicht zu schwer?“, fragte ich leise.

Nick hob nur gespielt angeberisch eine Augenbraue und ich musste lachen. Ich legte eine Hand auf meinen Mund, um Johnny nicht wieder zu wecken und schüttelte den Kopf.

Aber eigentlich sah es einfach nur wahnsinnig süß aus. Ich hatte sonst nichts übrig für diese Bilder, wo irgendwelche heißen Typen Babys auf dem Arm hielten, aber das hier hatte schon was und es gelang mir nicht wirklich die mir von der Evolution vorgegebenen Gefühle zu unterdrücken.

In diesem Moment tauchten Scheinwerfer auf und erhellten die Straße. Die Limousine hielt vor uns und Herr Parkin stieg aus.

„Ich bitte um Verzeihung, es gab einen Stau“, sagte er, während er um den Wagen herumging, um die Tür zu öffnen.

„Kein Problem, wir sind auch eben erst gekommen“, meinte ich und Nick setzte Johnny auf die Rückbank.

Ich trat an seine Stelle und schnallte meinen dösenden Bruder an.

„Nay“, murmelte er leise und streckte eine Hand nach meinen Haaren aus.

„Schlaf weiter, Herr Parkin bringt dich jetzt zu Grandma“, wisperte ich.

„Hab dich lieb“, sagte Johnny, dann fielen seine Augen endgültig zu.

„Ich dich auch“, murmelte ich und schloss die Autotür leise.

„Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten“, sagte ich zu Herrn Parkin und er nickte.

„Selbstverständlich. Soll ich Sie auch noch…“

„Nein, nein“, unterbrach ich ihn hastig. „Schon gut. Bringen Sie einfach Johnny zu unseren Großeltern.“

Er nickte wieder und verabschiedete sich. Dann stieg er wieder ins Auto und fuhr davon.

Ich sah den Scheinwerfern nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, dann überlief mich ein Schauer. Ich schlang meine Arme um mich und bemerkte erst jetzt wie kalt es doch eigentlich war. Es musste bereits Minusgrade haben.

„Gehen wir“, sagte ich zu Nick und setzte mich in Bewegung.

„Hey, nimm meine Jacke“, bot Nick sofort an, da er merkte wie kalt mir war. „Du erfrierst ja noch.“

„Aber dann erfrierst du ja“, sagte ich.

„Ach was.“

Er reichte mir seine Jacke und ich nahm sie wiederstrebend an.

„Wir hatten diese Unterhaltung schon mal, weißt du noch?“, fragte Nick und ein schwaches Lächeln glitt über meine Lippen.

„Allerdings waren die Umstände etwas erfreulicher.“

„Ja, es hat angefangen zu regnen und mein T-Shirt wurde durchsichtig. Du hast mich angestarrt, als …“

„Erfreulicher in dem Sinne, dass es in der Pause war und nicht nachts nachdem wir meinen kleinen Bruder nach draußen geschmuggelt haben“, schnappte ich, doch bei der Erinnerung wurde ich trotzdem rot.

Zum Glück konnte Nick das in der Dunkelheit nicht sehen.

„Du hast recht, tut mir leid.“

Seine Stimme verriet, dass der Anflug von guter Laune verschwunden war und ich bekam ein schlechtes Gewissen.

„Schon gut“, murmelte ich und grinste. „Den Anblick werde ich nie vergessen.“

„Sicher? Wir könnten ihn ja gleich nochmal auffrischen.“

Tadaa, da war sie wieder. Ich erwiderte nichts und visierte stattdessen die Mauern um das Internatsgelände an, die eben in Sicht gekommen waren.

„Nay?“, fragte Nick plötzlich unsicher. „Wegen gestern …“

„Hm?“

Meine Herzfrequenz beschleunigte sich um das Dreifache.

„Also, ich dachte, wir sollten vielleicht darüber reden, immerhin war das ziemlich… spontan und…“

„Sag mal, haben die das Tor zugemacht?!“

„Was? Oh Scheiße…“ Nick trat neben mich und rüttelte an dem Tor. „Waren wir echt so lange weg? Um neun wird immer zu geschlossen.“

„Wieso hast du mir das nicht gesagt? Dann hätten wir uns mehr beeilen können!“, zischte ich.

„Hey ganz ruhig, wir klettern einfach drüber“, meinte Nick völlig entspannt.

Ich starrte ihn entgeistert an und dann wieder das Tor. Es war mindestens zwei Meter hoch und hatte oben spitze Metallverzierungen.

„Schau nicht so, ich hab das schon öfter gemacht.“

„Aha“, brummte ich. „Na dann.“

Nick lehnte sich an das Tor und machte eine Räuberleiter.

„Ich fasse es nicht, dass ich das tue“, murmelte ich, dann packte ich die kalten Gitterstäbe und kletterte an Nick hoch.

Meine Handflächen brannten und ich wäre beinahe von Nicks Schultern gerutscht, aber schließlich kauerte ich oben auf dem spitzen Geländer und sah zu, wie Nick sich hochzog, als würde er das jeden Tag machen.

„So“, sagte er, als er neben mir saß. „Jetzt müssen wir nur noch runter springen.“

„Bist du irre? Da bricht man sich doch alle Knochen.“

Nick grinste breit, dann stieß er sich ab.

Mit einem leisen Rumsen schlug er auf dem Boden auf. Dann drehte er sich zu mir um und streckte die Hände aus.

„Nichts passiert!“

„Du spinnst doch!“, keuchte ich.

„Komm schon, Nay, ich fang dich auf.“

„Oh Gott“, stöhnte ich.

Dann schloss ich die Augen und sprang.

Ich stieß ein erschrockenes Quietschen aus, als ich ein Ratschen hörte, dann lag ich schon in Nicks Armen.

„Oh Gott!“, wiederholte ich atemlos und klammerte mich an ihm fest.

„Du darfst auch Nick zu mir sagen.“

Ich starrte ihn an. Das Kichern kroch mir völlig grundlos den Hals hinauf, doch dann konnte ich mich einfach nicht mehr zusammen reißen und die Lachsalve schüttelte meinen gesamten Körper durch.

Nick schnaubte nur und verdrehte die Augen, doch auch er grinste.

„Ich glaub, deine Jacke ist kaputt“, japste ich.

„Schon gut“, meinte Nick kopfschüttelnd und stellte mich auf die Füße. „Komm schon, gehen wir rein, bevor uns hier jemand sieht. Oder hört.“

„Ist die Tür nicht auch abgeschlossen?“, fragte ich, als ich ihm folgte und versuchte meine Schnappatmung unter Kontrolle zu kriegen.

„Nein, das dürfen die nicht. Brandschutz und so“, murmelte Nick und drückte leise die Klinke herunter.

In der Eingangshalle war es still und ich hatte Mühe mich zusammenzureißen und nicht weiter zu kichern. Nick hielt meine Hand und zog mich in Richtung Treppe, wobei ich fast gestolpert wäre.

„Was macht ihr zwei denn noch hier?“

Wir fuhren herum. Jackson Finning trat gerade aus der Bibliothek.

„Äh…“, machte ich.

„Romantischer Spaziergang im Mondlicht“, log Nick eiskalt ohne eine Miene zu verziehen.

Der Coach hob eine Augenbraue.

„Ah ja. Dann macht, dass ihr auf eure Zimmer kommt, gleich ist zehn Uhr.“

„Gute Nacht, Herr Finning“, sagte ich lächelnd und schob Nick die Treppe hoch.

„Was war das denn?“, fragte Nick, als wir im Zimmer waren.

„Was?“

„Dein Gute Nacht Gesäusel?!“

„Ach halt doch die Klappe“, meinte ich augenverdrehend und ging ins Bad.

 

Ich wachte am Montag früh auf. Nick schlief noch und ich wusste nicht, ob ich es tat, weil ich ihm aus dem Weg gehen wollte, oder weil ich wirklich einfach nur wach war, aber ich stand auf und machte mich fertig.

Leise stopfte ich mein Schulzeug in meine Tasche und verließ das Zimmer, noch bevor Nicks Wecker ihn aus dem Schlaf klingelte.

Ich schlenderte durch den Flur und wusste nicht so recht, wo ich hin sollte. Die Cafeteria machte erst in einer halben Stunde auf und die meisten Schüler schliefen noch. Ich setzte mich auf die oberen Stufen der Treppe, die zur Halle führte. Heute erwarteten mich Physik, Chemie und Sport. Nicht unbedingt meine liebste Zusammenstellung, aber auch nicht die schlimmste. Nur auf Sport hatte ich keine Lust. Ich nahm es Coach Klein immer noch übel, dass er mich aus dem Team ausgeschlossen hatte. Vielleicht sollte ich nachher noch einmal mit ihm reden und ihm die Situation von Samstag erklären, sodass er mich wieder ins Team ließ. Aber ich glaubte nicht, dass der Coach seine Meinung ändern würde. Er hatte ziemlich entschlossen geklungen, als er uns rauswarf. Warum hatte Nick sich auch unbedingt mit dem Typ von den Basket Kids anlegen müssen? Nur weil der ihn provoziert hatte …

Ich kramte mein Physikzeug aus der Tasche und las mir die neusten Aufschriebe durch. Der Test, der heute anstand, sollte eigentlich kein Problem sein, aber ich wollte mich ablenken.

Nach einigen Minuten wurde ich von diesem Vorhaben allerdings abgehalten, denn Jason kam den Gang entlang auf mich zu.

„Hey, wie geht’s?“, fragte er und setzte sich neben mich.

„Naja“, meinte ich und zuckte mit den Schultern.

Er nickte verständnisvoll und sagte nichts weiter. Wahrscheinlich hatte Nick ihm gesagt, was los war oder er ahnte es zumindest. Auf jeden Fall schien er meinen Wunsch zu spüren, nicht über die Sache zu reden.

„Und wie geht es dir?“, fragte ich.

Ein Lächeln zuckte über Jasons Gesicht doch irgendetwas stimmte damit nicht. Es wirkte so … traurig und auch verwirrt.

„Was ist los? Ist etwas passiert?“, fragte ich besorgt.

Ich witterte eine neue Entwicklung in dem Chris-Jason-Drama. Wenn Jungs doch einfach nur mal den Mund aufbekämen! Manchmal half es einfach, über die Dinge zu reden.

Es kam mir ironisch vor, dass gerade ich das dachte, doch ich schob den Gedanken beiseite.

„Ach, weißt du …“, seufzte Jason und fuhr sich durch sein blondes Haar.

Ich konnte sehen, wie er mit sich rang.

„Wir haben uns gestritten … Also, ich meine, ich würde es nicht Streit nennen, wir sind ja keine Freunde …“

Er schien automatisch anzunehmen, dass ich wusste, von wem er sprach. Was ich ja auch tat, immerhin hatte Chris mir einiges erzählt. Wovon Jason allerdings nichts wusste, aber wahrscheinlich war es ihm sowieso egal, ob ich ihn verstand, er schien mehr zu sich selbst zu sprechen.

„Wir reden ja auch eigentlich nicht miteinander“, fuhr er fort. „Zumindest nicht darüber. Ich versteh gar nicht, warum er plötzlich damit angefangen hat …“

„Vielleicht ist es ja ganz gut mal darüber zu reden“, meine ich leise.

„Aber … Ich meine, ich habe das nie … in Betracht gezogen.“ Jason schien mit sich zu ringen.

„Das muss nichts heißen“, sagte ich vorsichtig.

Es tat mir weh ihn so gequält zu sehen, doch ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte.

Plötzlich sprang er auf und begann auf dem Treppenabsatz hin und her zu gehen. Ich stand ebenfalls auf.

„Jason, was kann ich tun“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.

„Ich bin nicht schwul!“, rief er.

Fast schon verzweifelt starrte er mich an. Seine Schultern bebten.

„Hey, ganz ruhig. Vielleicht bist du es nicht, vielleicht aber auch schon. Es wäre doch nicht schlimm. Das ist nichts wofür man sich schämen muss, Jason“, sagte ich ruhig und nahm seine Hände in meine.

„Aber ich bin doch in dich verliebt“, seufzte er kraftlos.

„Versuchst du mich oder dich zu überzeugen?“, fragte ich sanft.

„Nay …“

„Hey, ist schon gut, okay?“

Ich legte meine Hände auf seine Schultern und sah ihm tief in die Augen. Er erwiderte meinen Blick erstaunt und hielt komplett still, während ich mich vorbeugte und meine Lippen auf seine legte.

Einen Augenblick lang geschah gar nichts und wir standen nur so da, Mund auf Mund mit geschlossenen Augen.

Dann zerriss ein wütender Ruf die Stille und Jason wurde von mir gestoßen.

„Jason!“, rief ich erschrocken, doch es war zu spät.

Meine Hände griffen in die Luft und Jason rollte die Treppe hinunter. Unten auf dem Boden blieb er reglos liegen, sein rechter Arm seltsam verdreht und abgespreizt.

„Oh Gott“, keuchte ich und rannte die Stufen hinunter.

„Jason! Jason, bist du okay?“, schrie ich panisch und ging neben ihm in die Knie.

Ich wagte nicht ihn zu bewegen, falls seine Wirbelsäule verletzt war. Seine Augen waren geschlossen, doch bis auf den Arm konnte ich keine weiteren Verletzungen erkennen.

Ich hob den Kopf und sah nach oben, wo Nick wie eine Statue mit aufgerissen Augen und ausgestreckten Händen stand. In seinem Gesicht stand das pure Entsetzen, doch ich nahm es kaum war.

„Ruf einen Krankenwagen, verdammt!“, schrie ich, dann wandte ich mich wieder Jason zu.

Die nächste halbe Stunde nahm ich nur verschwommen war. Mein Herz raste und pumpte Adrenalin durch meine Adern, während erst eine Sekretärin, dann die Schulkrankenschwester und schließlich Lehrer und Schüler in die Halle stürmten. Dann war endlich der Krankenwagen da und Jason wurde auf eine Trage gepackt.

Die Sanitäter waren mir völlig egal, ich drängte mich einfach hinter Nick in den Wagen und schließlich mussten sie mich mitnehmen. Mit Sirenen rauschten wir ins nächste Krankenhaus, dann war Jason schließlich weg und Nick und ich saßen in irgendeinem Gang im flackernden Licht der Neonröhren.

Wir saßen stundenlang so da, ohne uns zu rühren. Vielleicht waren es auch nur Minuten oder Sekunden. Jedenfalls kam irgendwann Direktor Fisten durch den Gang auf uns zu gepoltert.

„Könnt ihr mir mal erklären, was in Gottes Namen hier geschehen ist?“, wetterte er.

Nick, der weiß wie eine Wand war, schien unfähig zu sprechen, also öffnete ich meinen Mund und das erste was heraus kam, war: „Geht es ihm gut?“

Der Schulleiter schien sich etwas zu beruhigen, denn er sagte schroff: „Er hat wohl eine Gehirnerschütterung, die ist nur halb so schlimm, aber der rechte Arm ist mehrmals gebrochen und der Ellenbogen ausgekugelt. Er wird noch operiert. Dein Vater ist auf dem Weg“, fügte er an Nick gewandt hinzu, doch dieser zeigte kaum eine Reaktion.

Direktor Fisten setzte sich schließlich neben uns und dann schwiegen wir wieder, bis eine Krankenschwester zu uns kam und sagte, dass wir jetzt zu Jason konnten.

Er sah gar nicht so schlimm aus, wie er da zwischen den Kissen lag, von der Narkose noch etwas neben der Spur und den rechten Arm bis zur Schulter in dicken Bandagen.

„Hey, wie geht es dir?“, fragte ich mit automatisch gesenkter Stimme.

„Ist okay“, murmelte er leise und grinste schief. „Schmerzmittel.“

Ich lächelte gequält und setzte mich auf die Bettkante.

„Das wird schon wieder“, wisperte ich und strich ihm das verschwitzte Haar aus der Stirn. „Das kommt wieder in Ordnung.“

„Und wenn nicht?“

Hinter dem verwirrten Grinsen sah ich nackte Angst in seinen Augen. Als ich daran dachte, dass es für Jason als Schwimmer und Musiker wohl nichts Schlimmeres als einen kaputten Arm gab, wurde mir ganz schlecht.

„Denk nicht darüber nach. Das wird wieder“, sagte ich mit brüchiger Stimme.

„Jaz …“

Es war das erste Mal, dass Nick überhaupt etwas sagte und ich drehte mich zu ihm um. Er war immer noch kreideweiß und schien unter Schock zu stehen. Die Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch ich empfand kein Mitleid. Nicht einen Funken.

„Es tut mir so leid“, sagte Nick kaum hörbar.

Jason starrte seinen großen Bruder fast genauso hilflos an, wie der ihn. Dennoch lag in seinem Blick eine kalte Distanz, die mir einen Schauer über den Rücken jagte.

„Ist okay“, wiederholte er. „Ich weiß.“

„Ich habe das nicht …“

„Ich weiß.“

Es schien als wäre alles gesagt und Nick stand hilflos mitten im Raum.

Die aufgehende Tür rettete ihn, und Chris trat ein. Wir alle – er eingeschlossen – waren überrascht ihn zu sehen, doch ich war die einzige, die reagierte.

Ich stand auf, warf Jason noch ein aufmunterndes Lächeln zu und schob Nick aus dem Raum.

„Was macht der denn hier?“, fragte Nick, als sich die Tür hinter uns geschlossen hatte.

„Das geht dich ja wohl nichts an“, erwiderte ich eisig.

Nick drehte sich zu mir um und sah mir zum ersten Mal seit wir hier waren in die Augen.

„Nay, es tut mir so leid, ich habe das nicht gewollt!“

„Ich denke, ich bin die falsche Person, wenn du dich dafür entschuldigen willst.“

„Ich schwöre, ich wollte ihn nur von dir wegziehen“, beteuerte Nick. „Er ist mir … Warum hat er dich auch geküsst?!“

„Er hat mich nicht geküsst“, sagte ich mit schneidender Stimme. „Ich habe ihn geküsst.“

Nick sah aus, als hätte ich ihn geohrfeigt.

„Warum hast du das getan?“, fragte er tonlos.

Ich stöhnte auf und raufte mir die Haare.

„Wie kannst du das jetzt fragen? Das ist doch jetzt völlig egal! Deine ewige Eifersucht treibt mich in den Wahnsinn! Und sieh, wohin sie Jason gebracht hat“, fauchte ich. „Du hast deinen eigenen Bruder die Treppe hinunter gestoßen!“

„Gott, ich habe es doch nicht gewollt!“, rief Nick verzweifelt. „Und es ist nicht egal! Wieso hast du überhaupt mit mir geschlafen, wenn du dich bei der nächstbesten Gelegenheit meinem Bruder an den Hals wirfst?“

Ich trat einen Schritt zurück. Mein Hals war zugeschnürt und mir wurde ganz heiß. Jetzt war ich es, die sich geohrfeigt fühlte.

„Ich habe mich ihm nicht an den Hals geworfen“, sagte ich, doch meine Stimme brach in der Mitte des Satzes.

„Ach ja? Seit dem wir …“ Nick räusperte sich und fuhr sich übers Gesicht. Dann fuhr er leiser fort. „Du hast seit Samstagnacht kaum noch mit mir geredet. Dabei … dabei ist es doch von dir ausgegangen. Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe, ich erkenne nur … Du verhältst dich genauso, wie ich es früher immer getan habe.“

Meine Lunge fühlte sich an, als hätte sich die Luft in ihr in Beton verwandelt.

„Du denkst, jetzt wo wir Sex hatten, will ich nichts mehr von dir?“, fragte ich erstickt.

„Ich weiß es nicht! Warum, Nay? Warum hast du mit mir geschlafen?“

Der Beton in meiner Lunge zersprang wie Glas und die Splitter bohrten sich durch mein Herz.

„Wenn du das nicht weißt, kann ich dir auch nicht helfen“, sagte ich kalt.

Wir starrten uns an und ich spürte, dass es vorbei war. Dies war unser letzter Streit. Die Bogen waren überspannt worden und zerbrochen.

„Dann war’s das jetzt?“, fragte Nick ungläubig.

„Dann war’s das jetzt.“

 

„Ihr hattet Sex?!“

„Ja“, bestätigte ich Rams entsetzte Frage zum gefühlten hundertsten Mal und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte knallen.

„Warum hast du denn nichts gesagt?“, bohrte er weiter.

Ich hob den Kopf.

„Was hätte ich denn sagen sollen? Hey ich dachte mein Freund will mit mir schlussmachen, deshalb habe ich mit ihm geschlafen und obwohl ich nicht wirklich bereit dafür war und die Motivation definitiv die falsche, hat es mir trotzdem gefallen, denn ich liebe ihn und er ist perfekt und wundervoll, aber leider ist er ein Arsch und scheiße und deshalb haben wir zwei Tage später schlussgemacht?“

Ich holte tief Luft und Ram musterte mich.

„Hast recht“, meinte er schließlich und ich ließ meine Stirn wieder auf das kühle Holz sinken.

„Und was jetzt?“

„Was soll schon sein?“, nuschelte ich gegen die Tischplatte. „Morgen endet sein Schulverweis und dann kommt er wieder.“

„Und was wirst du tun?“

Ich antwortete nicht, da ich es selbst nicht wusste. Stattdessen sagte ich: „Sind fünf Tage nicht irgendwie sehr wenig, für das was er getan hat?“

„Es war ja mehr oder weniger ein Unfall. Außerdem kann man hier nicht länger verwiesen werden. Die nächsthöhere Strafe wäre der Rausschmiss.“

„Hm“, brumme ich. „Wann kommt Jason eigentlich?“

„Müsste in ein paar Minuten hier sein. Mann, es wird mir so schwer fallen keinen dummen Kommentar über das glücklich Paar zu machen“, sagte er grinsend und ich richtete mich auf.

„Ram, die beiden werden es schwer genug haben, wenn das rauskommt. Zeig Größe und sei nicht so ein Arsch wie das restliche homophobe Pack hier.“

Ram verdrehte die Augen.

„Jetzt sei nicht immer gleich so ernst. Ich meine es doch gar nicht so.“

„Trotzdem. Sei vorbildlich.“

„Ja, ist ja gut“, murmelte Ram und stand auf.

Wir hatten den Samstagnachmittag in der leeren Cafeteria verbracht und auf Jasons Rückkehr aus dem Krankenhaus gewartet. Chris war mit dem Taxi hingefahren – so wie an jedem Tag in der vergangenen Woche. Tatsächlich hatte der Vorfall, oder besser gesagt der Kuss von Jason und mir einiges geändert. Denn das alles hatte die beiden dazu gebracht endlich offen über ihre Gefühle zu reden. Und seither waren sie ein paar. Ich hatte sie noch nicht zusammen erlebt und Chris schwieg sich über die Sache aus, daher kannten wir keine Einzelheiten, doch wann immer Ram ihn darauf ansprach wurde er feuerrot und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Jetzt war ich jedenfalls sehr gespannt wie sie sich in der Schule verhalten würden. Leicht würden sie es nicht haben ein einem fast reinen Jungeninternat, aber sie hatten uns: Ram, mich und Ben und Charles, Jasons Bandkollegen.

Ich stand ebenfalls auf und folgte Ram, der aus der Cafeteria in Richtung Eingangstür schlenderte. Wir traten gerade auf den Hof, als das Taxi vorfuhr.

Chris stieg als erster aus. Er trug die Tasche mit Jasons Sachen. Dieser kämpfte sich vom Rücksitz hoch und warf uns einen spöttischen Blick zu.

„Ihr seid aber ein klägliches Empfangskomitee“, rief er uns entgegen und ich verdrehte die Augen.

„Schön, dass du wieder da bist“, sagte ich und umarmte ihn, wobei ich aufpasste, nicht seinen eingegipsten Arm zu berühren.

„Find ich auch. Mein Dad hat schon angefangen zu nerven. Er wollte gar nicht mehr aus dem Krankenhaus verschwinden“, schnaubte Jason.

Wir gingen alle nach drinnen und begleiten Jason zu seinem Zimmer. Zumindest wollten wir das, doch ich wurde in der Halle von einer Sekretärin abgefangen und zum Direktor zitiert.

„Ich komm gleich nach“, sagte ich zu den anderen und folgte ihr ins Büro des Schulleiters.

„Nanayda, gut, dass du da bist“ begrüßte er mich, als würden wir uns zufällig treffen.

„Nimm Platz. Nun denn, nach reiflichem Überlegen, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass du in ein Einzelzimmer kommen solltest. Die jetzige Situation ist möglicherweise eher … suboptimal.“

Ich sagte nichts. Suboptimal war noch sehr beschönigend. Aber ich war sehr erleichtert, dass ich mir nicht mehr mit Nick ein Zimmer teilen musste. Es wäre mehr als schwierig für uns beide geworden.

Da er die vergangenen Tage nicht in der Schule gewesen war, hatte ich nicht über ihn nachdenken oder mich mit unserer Trennung konfrontieren müssen. Tatsächlich hatte mir der Schock über Jasons Sturz und die Tatsache, dass Nick ihn wegen mir so angerempelt hatte, noch so in den Knochen gesteckt, dass ich kaum realisiert hatte, was danach geschehen war. Ich fühlte mich taub und dumpf und in meiner Brust schien ein seltsames gefühlsloses Loch zu klaffen.

Eigentlich hatte ich noch nicht mal geweint.

„Du wirst das Zimmer mit Dean Thomlin tauschen. Er hat gerade ein Einzelzimmer.“

„Dean Thomlin?“, fragte ich verwirrt. „Den kenne ich gar nicht.“

„Das liegt daran, dass er einen Jahrgang über dir ist. Du wirst dann im Flur der Elftklässler sein, aber ich denke, das sollte nicht das Problem sein“ erklärte Herr Fisten und faltete die Hände über dem dicken Bauch.

„Nein, natürlich nicht.“

Ich fand es immer noch seltsam, dass die vier Stufen des Harrison Springer in unterschiedlichen Teilen des Obergeschosses untergebracht waren. Bisher war ich natürlich nur in den Teilen der Zehner und Neuner, wo Jason wohnte und der Musikraum war, gewesen. Die Elfer und Zwölfer wohnten auf der anderen Seite der Treppe und die Seiten vermischten sich selten. Tatsächlich hatte mir Ram erzählt, dass sie sich am ersten April gegenseitig böse Streiche spielten.

„Gut, ich habe dem Jungen schon bescheid gesagt. Ihr habt heute noch Zeit in Ruhe zu packen und morgen früh zieht ihr um.“

„Okay“, sagte ich und stand auf.

Als ich nach oben ging, verzog ich genervt das Gesicht, da mir einfiel, dass Jake ein Elftklässler war. Hoffentlich würden wir uns nicht allzu häufig im Flur über den Weg laufen.

 

*Jason*

 

„Hey.“

Chris beugte sich ohne Umschweife zu mir herunter und drückte mir einen rauen Kuss auf den Mund. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz dabei einen Salto schlug. Doch jetzt musste ich es ja auch nicht mehr.

„Hey“, meinte ich und räusperte mich.

Chris‘ Gesicht war die gleiche düstere Maske wie immer. Ich grinste.

„Holst du mich mit der Kutsche ab und fährst mich zu unserem Schloss?“, meinte ich und konnte einen gewissen Spott nicht zurückhalten.

Chris Lippen zuckten, als wolle er eine besonders genervte Antwort geben, doch er sagte nur: „Bin mit dem Taxi da.“

„‘kay.“

Ich stand vom Krankenhausbett auf und augenblicklich begann die Welt um mich herum sich zu drehen und ich taumelte gegen Chris. Er hielt mich fest und grinste schief.

„Musst mir nicht gleich in die Arme fallen“, sagte er und ich erwiderte das Grinsen.

„Wer ist denn zuerst wem in die Arme gefallen?“

„Wer hat sich denn im Trainingscamp einen runterholen lassen?“

Ich wurde rot und senkte den Blick.

„Nicht, dass das eine Schande wäre“, fügte Chris hinzu und zog mich noch näher, um mich erneut zu küssen.

Er ließ mich nicht mehr los und ich vergrub meine Hände in seinen schwarzen Locken.

Am Anfang war das so seltsam gewesen, doch jetzt konnte ich gar nicht fassen, wie dumm ich gewesen. Das alles hätte ich schon viel früher haben können, wenn ich nicht so ein Dummkopf gewesen wäre.

„Aber jetzt hast du mich ja“, sagte Chris leise, nachdem er sich von mir gelöst hatte.

„Ich hab doch gar nichts gesagt“, meinte ich verwirrt und etwas atemlos von unserem Kuss.

„Mein Glück, dass du so durchschaubar bist, Shettler.“

„Du bist auch nicht grade ein Buch mit sieben Siegeln, Berry“, knurrte ich.

„Doch, das bin ich“, sagte Chris schlicht. „Und jetzt lass uns gehen. Das Taxameter läuft.“

Wir hielten nicht Händchen, als wir aus dem Krankenhaus schlenderten, wir waren schließlich keine Mädchen, doch Chris trug meine Tasche und von den Blicken, die er mir immer wieder zu warf, wurde mir heiß.

Dennoch war es mir unangenehm. Ich fühlte mich, als würde eine Leuchtreklame uns als Pärchen ausweisen und als ob uns alle Leute anstarren würden.

„Hast du Angst?“, fragte Chris leise, als das Taxi auf den Hof des Internats fuhr.

„Nein“, log ich.

„Ich schon.“

Überrascht sah ich ihn an. Chris war der wohl verschlossenste Mensch, den ich kannte. Im Training sprach er eigentlich nie, wenn er es nicht musste, und ängstlich war er mir auch nie vorgekommen.

Sein sonst stets teilnahmsloses Gesicht zeigte einen Augenblick lag Wärme, als er mich anlächelte.

„Wird schon“, meinte er und stieg aus.

Ich kämpfte mich einarmig aus dem Wagen und sah Ram und Nay am Eingang des Gebäudes stehen.

„Ihr seid aber ein klägliches Empfangskomitee“, rief ich, als Nay auf uns zu kam.

„Schön, dass du wieder da bist“, sagte sie und umarmte mich.

Chris hatte mir erzählt, dass sie ein bisschen durchgedreht war, nachdem ich die Treppe runtergefallen war, und auch dass sie mit Nick schlussgemacht hatte. Darüber musste ich sowieso noch mit ihr reden, aber nicht jetzt.

„Find ich auch. Mein Dad hat schon angefangen zu nerven. Er wollte gar nicht mehr aus dem Krankenhaus verschwinden“, meinte ich.

Tatsächlich war mein alter Herr kaum von meinem Bett gewichen, was relativ untypisch für ihn war, da Nick und ich nicht umsonst auf ein Internat gingen. Aber gestern war er zum Glück wieder abgereist und hatte mich in Frieden gelassen – noch bevor er etwas über Chris und mich hatte erfahren können.

Nachdem ich auch Ram begrüßt hatte, gingen wir nach drinnen, wo Nay zum Schulleiter zitiert wurde. Ich nahm an, dass es um meinen Bruder ging, der morgen aus seinen unfreiwilligen Ferien zurückkehren würde.

Ich hatte Nick nicht mehr gesehen, seitdem er am Montag nach seinem Streit mit Nay aus dem Krankenhaus geflüchtet war. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich zu ihm sagen sollte. Ich wusste es immer noch nicht. All die aufgestaute Wut, die ich seit Mums Erkrankung mit mir herumgetragen hatte, war verpufft. Sie war gewichen und zurückgeblieben war … nichts.

Allerdings hatte ich die letzten Tage auch damit verbracht hinter dem Rücken meines Vaters mit Chris rumzumachen, der sein Möglichstes getan hatte, um mich davon abzuhalten, an meinen Arm zu denken.

Jetzt wo das Ding nutzlos im Gibbs lag, wusste ich nichts damit anzufangen. Es war, als wäre der Arm kein Teil meines Körpers mehr.

Ben war nicht da, als wir bei meinem Zimmer ankamen und auch Ram machte sich schnell aus dem Staub. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er keinen dummen Witz gerissen hatte, aber wahrscheinlich war das Nays Verdienst.

Ich schälte mich umständlich aus meiner Jacke und warf sie genervt aufs Bett. Mein Blick fiel auf den Kalender an der Wand. Ich runzelte die Stirn.

„Alles klar?“, fragte Chris, der am Schreibtisch lehnte und mich mit verschränkten Armen musterte.

„Hm“, machte ich nichtssagend und setzte mich aufs Bett.

Chris schwieg, wie es eben so seine Art war und wartete darauf, dass ich bereit war zu antworten.

„Es ist wegen dem Wettkampf“, gab ich schließlich nach. „Die Vorausscheidung ist einem Monat und der Arzt meinte es dauert mindestens fünf Wochen bis ich den Arm wieder belasten kann.“

„Jetzt warte erstmal die Untersuchung nächste Woche ab. Wahrscheinlich ist das alles halb so schlimm.“

Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn an.

Nach kurzem Zögern schob er noch leise nach: „Bei mir haben sie auch maßlos übertrieben und jetzt sieh mich an. Ich schwimme immer noch und untergangen bin ich bisher nicht.“

Als er das sagte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Eigentlich wusste ich gar nicht, was genau mit Chris‘ Herz nicht stimmte und wie gefährlich es war, doch ich merkte, dass er jetzt nichts weiter dazu sagen wollte.

„Okay“, seufzte ich schließlich und ließ mich auf die Matratze sinken. „Und was machen wir jetzt?“

Chris grinste schief.

„Ich hätte da die ein oder andere Idee.“

 

*Nay*

 

Ich wollte mich gerade zu Jasons Zimmer aufmachen, als Ram mir entgegen kam.

„Ich dachte, es wäre besser, die zwei erstmal allein zu lassen“, meinte er und zwinkerte mir zu.

„Da könntest du vielleicht recht haben“, meinte ich und schlug den Weg zu meinem Zimmer ein.

„Was wollte der Direx eigentlich von dir?“, fragte Ram, die mir folgte.

„Ich tausche das Zimmer mit einem gewissen Dean Thomlin.“

„Oh“, machte Ram. Nach einer kurzen Pause schob er noch hinterher: „Wahrscheinlich ist es so am besten.“

„Hm. Hilfst du mir beim Packen?“

„Du meinst, ob ich gern in deiner Unterwäsche rumwühlen will? Aber immer doch!“

„Ach halt doch die Klappe“, schnaubte ich augenverdrehend und öffnete die Zimmertür.

Ich gab mir Mühe, Nicks Seite des Zimmers nicht zu beachten und kramte meine Reisetasche unter dem Bett hervor.

Es dauerte nicht lange, bis wir meine Habseligkeiten verstaut und mein Schulzeug in meine Tasche gestopft hatten. Als wir fertig waren, ließen wir uns aufs Bett sinken und starrten an die Decke.

„Und wie geht’s dir so?“, fraget Ram nach einer Weile.

„Ich weiß es nicht“, seufzte ich wahrheitsgemäß.

„Denkst du denn, dass ihr wieder zusammen kommt?“

„Würdest du mir das denn raten?“

„Keine Ahnung.“

„Ich … liebe ihn natürlich, aber im Moment … im Moment geht es einfach nicht“, brachte ich stockend hervor.

Ram legte einen Arm um mich und zog mich an sich.

„Das wird schon wieder“, murmelte er.

Ich drückte mein Gesicht an seine Schulter und endlich brachen die Tränen, die sich in den letzten Tagen angestaut hatten, aus mir heraus.

 

Der nächste Morgen kam viel zu früh. Ram und ich lagen noch immer in meinem Bett, als es an der Tür klopfte.

„Oh Mist“, murmelte ich, während ich mich hoch kämpfte und zur Tür stolperte.

„Hallo“, sagte der Typ reserviert und trat ein.

„Du bist Dean oder? Ich war gerade dabei zu gehen“, sagte ich hastig, als er sein Zeug auf Nicks Bett ablud und mit gehobenen Augenbrauen Ram musterte, der in seinem neuen Bett lag.

„Den Anschein hat es nicht gerade“, meinte Dean kühl.

Ich war zu sehr damit beschäftigt peinlich berührt zu sein, um über seine ungehobelte Art wütend zu werden und machte mich stattdessen daran, Ram aufzuwecken.

„Komm schon, Ram, steh auf“, sagte ich eindringlich und rüttelte an seiner Schulter.

„Was denn?“, brummte er und öffnete blinzelnd die Augen.

„Zeit, zu verschwinden“, sagte ich und er rappelte sich auf.

„Nicht für ungut, Alter“, gähnte er unverblümt in Deans Richtung, schnappte sich meine Schultasche und folgte mir aus dem Zimmer.

„Oh Gott, war das peinlich“, stöhnte ich als wir im Gang standen.

„Ach was, man hat nie richtig gelebt, wenn man nicht mindestens einmal in flagranti erwischt wurde“, meinte Ram gut gelaunt und fuhr sich durch das vom Schlaf zerwühlte Haar.

„Wir waren nicht in flagranti“, zischte ich und nahm ihm meine zweite Tasche ab. „Die kann ich gut selber tragen, danke.“

„Jetzt komm schon Nay, war doch nur ein Witz!“, rief Ram mir nach und ich blieb stehen.

Seufzend strich ich mir die Strähnen, die sich aus dem Nest, das sich meine Haare schimpfte, gelöst hatten, aus dem Gesicht und drehte mich zu ihm um.

„Ja, schon gut. Tut mir leid, ich bin nur müde.“

„Nach der Nacht ist das kein Wunder“, meinte Ram ernst. „Bist du okay?“

Ich zuckte mit den Schultern und setzte ein Lächeln auf.

„Geh ruhig runter und schau, ob du noch Frühstück kriegst. Den Weg zum Zimmer finde ich schon allein.“

Ram sah nicht so aus, als würde er das glauben.

„Kommst du dann nach?“

„Ich weiß noch nicht, eigentlich bin ich nicht wirklich hungrig.“

Ich schenkte ihm noch ein letztes Lächeln, dann drehte ich mich endgültig um und machte mich zu meinem Zimmer auf.

Laut der Sekretärin lag es am hinteren Ende des Ganges. Ich achtete nicht weiter auf die Zimmernummer und öffnete einfach die letzte Tür.

Ein Fehler.

Mitten im Zimmer stand ein Junge. Und er trug nichts weiter als eine schwarze Jeans, die tief auf seiner Hüfte saß.

Als er hörte, wie sich die Tür öffnete, hielt er in der Bewegung inne, sich ein T-Shirt überzuziehen und drehte sich zu mir um.

„Nay“, sagte Jake breit grinsend. „Na, bist du zum Sightseeing hier?“

Ich wandte den Blick von seinem flachen Sixpack ab und starrte stattdessen stur in sein Gesicht.

„Bitte sag mir nicht, dass du mein neuer Zimmernachbar bist“, sagte ich trocken.

Eigentlich hatte ich angenommen, dass die Raumverlegung dazu diente, mich in einem eigenen Zimmer unterzubringen.

„Ich wünschte, ich wäre es. Aber keine Sorge, du bist direkte neben mir.“

Ich atmete erleichtert auf, knallte die Tür zu und wandte mich der Tür links von mir zu.

Dieser Raum war tatsächlich leer und ich stellte erleichtert meine Sachen ab. Doch ich hatte keine zwei Sekunden Ruhe, da schwang die Tür schon wieder auf und Jake trat ein. Dieses Mal mit T-Shirt.

„Wir treffen uns bedeutend oft in letzter Zeit, findest du nicht?“, fragte er grinsend.

„Was willst du, Jake?“, seufzte ich müde.

Sein Grinsen verblasst langsam und er musterte mich ernst.

„Geht es dir … gut?“

„Wie bitte?“, fragte ich perplex.

Konnte es sein, dass sich der Jake, der mir einmal auf dem Flur ein Bein gestellt hatte, sich jetzt um mein Befinden scherte?

„Ich hab gehört was passiert ist. Das du wieder Freiwild bist.“

Ich hob die Augenbrauen. Wie charmant.

„Also falls dir hier einer blöd kommt, sag mir Bescheid und ich kümmre mich darum“, meinte er.

„Aha“, machte ich.

Jake nickte mir noch einmal zu, dann ließ er mich allein.

Was war das denn gewesen? Wollte dieser Typ, vor dem Nick mich gewarnt hatte und der auch sonst noch nie einen guten Charakter bewiesen hatte, mir ernsthaft seine Hilfe anbieten? Und das ohne dabei unverschämt mit mir zu flirten?

Ich beschloss mir nicht länger darüber den Kopf zu zerbrechen und machte mich stattdessen daran, mich in meinem neuen Zimmer einzurichten. Eigentlich fand ich es ganz gut, dass ich jetzt alleine war und meine Ruhe hatte. Vielleicht war es das, was ich jetzt erstmal brauchte. Und Nick wollte ich jetzt nicht unbedingt begegnen.

Als ich fertig mit auspacken war, kramte ich mein Handy hervor und rief bei meinen Großeltern an.

„Ja, guten Tag?“, meldete sich meine Großmutter.

„Hallo Oma, hier ist Nay“, sagte ich und hörte sie lachen.

„Na, das ist aber schön, dass du mal von dir hören lässt!“

„Mh, tut mir leid, ich war ein bisschen beschäftigt“, entschuldigte ich mich kleinlaut.

„Das macht ja nichts. Hauptsache du konzentrierst dich auf deine Schule. Nur vergiss nicht, dass das nicht alles ist, was zählt, egal was man dir sagt.“

Ich ignorierte den Seitenrieb auf ihre Schwiegertochter und fragte nach Johnny.

„Oh ja, es geht ihm gut. Den Umständen entsprechend. Möchtest du mit ihm reden?“

„Ja, bitte.“

Ich wartete einen Augenblick, dann hörte ich auch schon die Stimme meines kleinen Bruders.

„Nay!“

„Hey Kleiner, wie geht’s dir?“, fragte ich erleichtert.

„Gut und dir?“

„Auch gut. Ich war nur ein bisschen beschäftigt, tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe.“

„Macht nichts.“

Vor meinem inneren Auge konnte ich sehen, wie er mit den Schultern zuckte und die Backen aufplusterte.

„Und wie geht es deinem Freund?“

Die Frage traf mich so unvorbereitet, dass ich zusammen zuckte.

„Du meinst Nick“, sagte ich langsam.

„Ja. Ich mag ihn. Er ist toll.“

Ich zwang mich ruhig zu atmen. Ich hätte es nicht zulassen dürfen, dass die beiden sich kennenlernten. Denn jetzt wo sich unsere Eltern scheiden ließen und auch meine Beziehung mit Nick auseinander gebrochen war, würde Johnny vielleicht denken, dass so etwas gar nicht beständig sein konnte.

„Weißt du … Es geht ihm gut“, sagte ich schließlich.

„Das ist toll! Mit ihm kannst du zusammen bleiben.“

„Das ist ja nett, dass du mir deine Erlaubnis gibst.“

Er kicherte und ich schluckte hart. Ich fühlte mich schrecklich dabei, ihn anzulügen.

„Hört zu, Johnny, ich muss jetzt auflegen. Du kannst mich jederzeit anrufen wenn etwas ist, das weißt du?“

„Ja, ich weiß“, sagte er leise.

„Und lauf nicht wieder weg, okay Kleine?“

„Mhmm.“

„Gut. Dann bis bald. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch!“

Nachdem ich aufgelegt hatte, rollte ich mich auf meinem neuen Bett zusammen und blieb eine Weile regungslos liegen. Warum musste das Leben nur immer so anstrengend sein? Warum konnte ich nicht einfach alles vergessen oder zumindest in den hintersten Winkel meiner Gedanken verbannen?

Ich raffte mich auf und ging ins Bad um mich wieder in einen ansehbaren Zustand zu bringen. Dann nahm ich mich zusammen, setzte ein Lächeln auf und ging in die Cafeteria, wo das Mittagessen bereits begonnen hatte.

Das Stimmengewirr schwang augenblicklich zu einem aufgeregten Tuscheln um und ich seufzte genervt. Warum zur Hölle war man auf einem Jungeninternat, wenn dann trotzdem getratscht wurde, wie bei Waschweibern? Der Seufzer blieb mir allerdings im Hals stecken, als meine Augen durch den Raum streiften und Nick fanden. Er saß neben Mike beim Basketball-Team.

Er hob den Blick. Es traf mich wie ein Blitzschlag und ich erstarrte, unfähig mich zu bewegen. Während mein Kopf augenblicklich völlig leer gefegt war, schien in ihm einiges Vorzugehen, denn sein Blick wechselte von überrascht zu traurig und dann zu wütend. Ich öffnete den Mund, obwohl er viel zu weit weg war, als dass er mich hätte hören können.

Jemand rempelte mich von hinten an und ich wurde aus meiner Starre gerissen.

„Hör auf mit der Seifenoper, Griffin, das ist ja peinlich.“

„Lass mich in Ruhe, Jake“, sagte ich, immer noch etwas betäubt.

„Wenn du nicht mehr so im Weg rum stehst. Komm schon, setz dich.“

„Sicher nicht“, meinte ich augenverdrehend und stellte mich bei Essensausgabe an.

Jetzt, wo Nick mich nicht mehr ansah, wurde ich mir den hunderten Augenpaaren bewusst, die meinen Bewegungen folgten. Am liebsten wäre ich sofort wieder aus dem Raum gerannt, weg von Nick und den anderen, doch ich war es leid. Ich hatte einfach keine Lust mehr auf dieses Drama, das sich mein Leben nannte. Also straffte ich die Schultern und schritt hocherhobenen Hauptes zum Tisch meiner Freunde.

„Das war ja grade echt filmreif“, meinte Ram grinsend zur Begrüßung und ich verdrehte die Augen.

„Wie geht’s dir?“, fragte Jason.

„Super.“

Ich rammte meine Gabel enthusiastisch in das Kartoffelpüree und der Teller quietsche.

„Das sieht man“, bemerkte Chris sarkastisch und ich warf ihm einen funkelnden Blick zu.

„Vielleicht solltest du mal mit Nick reden, jetzt wo er wieder da ist“, schlug Jason vor und ich hob die Augenbrauen.

„Hast du denn schon mit ihm geredet?“

Auf meine Frage hin breitete sich eine unangenehme Stille aus und ich senkte den Blick wieder auf das Püree. Der Appetit war mir vergangen und mein schlechtes Gewissen machte sich durch einen dicken Klos im Hals bemerkbar.

„Hör zu, es tut mir leid“, sagte ich nach einigen Sekunden. „Ich wollte dich nicht so anfahren, ich hatte nur so eine miese Woche.“

„Ich auch.“

Zu meiner Erleichterung grinste Jason, als er das sagte und ich lächelte.

„Ich werde meine schlechte Laune in Zukunft nicht mehr an euch aus lassen, versprochen. Überhaupt werde ich überhaupt keine schlechte Laune mehr haben. Das Nick-Nay-Drama ist jetzt offiziell passé.“

Ich strahlte meine Freunde an, die meinen Blick mehr als irritiert erwiderten. Ohne den Blick von mir zu lösen, neigte Ram sich zu Chris und fragte leise: „Meinst du, da ist was mit dem Püree?“

„Sieht so aus.“

Alle drei schoben ihre Tabletts gleichzeitig von sich weg.

„Jaja, macht euch ruhig über mich lustig. Depri-Nay ist jedenfalls Geschichte.“

Ich sollte Recht behalten – zumindest für die nächsten Tage. In Physik setzte ich mich demonstrativ von Nick weg und auch im Sportunterricht schaffte ich es, in eine andere Gruppe eingeteilt zu werden. Am Dienstagvormittag kamen wir uns überhaupt nicht in die Quere und erst abends, als ich mich mit Jackson Finning zum Klavierunterricht traf, wurde ich wieder auf ihn gestoßen. Nachdem unsere Stunde beendet war, hielt der Lehrer mich noch zurück.

„Ich würde gerne noch über etwas mit dir sprechen, Nay.“

„Und zwar?“

„Es geht um Basketball. Ich habe mit Coach Klein geredet und du bist morgen beim Training herzlich willkommen.“

„Darf Nick auch wieder spielen?“, fragte ich nach kurzem Zögern.

„Nein, ich fürchte nicht. Wegen des jüngsten Vorfalls ist er mit Nachsitzen beschäftigt und bis Weihnachten von jeglichen außerschulischen Aktivitäten ausgeschlossen.“

Ich nickte langsam. Obwohl es mir nicht unangemessen erschien, erwischte ich mich doch dabei, Mitleid mit Nick zu haben. Basketball bedeutete ihm wirklich viel.

„Also wie sieht’s aus? Kann ich auf dich zählen?“

Ich fuhr mir durchs Haar und dachte kurz nach. Doch eigentlich stand mein Entschluss schon eine Weile fest.

„Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie sich für mich eingesetzt haben, aber ich fürchte, es war um sonst. Basketball ist nichts mehr für mich.“

Herr Finning runzelte die Stirn.

„Ist es wegen Nick? Ich habe gehört, ihr seid nicht mehr zusammen.“

Was war denn nur los mit dieser Schule? Hatte der Schülertratsch das Lehrerzimmer so schnell erreicht?

„Nein, es liegt nicht an ihm. Mir gehen nur in letzter Zeit so viele Sachen durch den Kopf, ich brauche einfach ein bisschen meine Ruhe.“

„Na gut. Aber falls du mit jemandem reden willst …“

„Danke“, meinte ich lächelnd. „Das ist sehr nett. Aber ich habe auch Freunde.“

„Natürlich.“

Ich machte mich zu meinem Zimmer auf und erwischte mich dabei, wie ich fast in die falsche Richtung ging. In Nicks Richtung. Ein paar seltsame Gefühle, die ich mir nicht ganz erklären konnte, gingen mir nach der Unterhaltung durch den Kopf, aber ich war auch ruhig und entspannt. Es war wohl ein gutes Zeichen, dass ich über Nick reden konnte, ohne in extreme Stimmungsschwankungen versetzt zu werden.

Mein Ausstieg aus dem Team war auch ziemlich gut gewesen. Die Jungs dort waren fast alle Freunde von Nick und es reichte mir schon, dass wir alle Fächer zusammen hatten. Ich wollte ihn nicht auch noch außerhalb des Unterrichts sehen. Und schon gar nicht wollte ich den Eindruck erwecken, als wollte ich ihm seine Freunde wegnehmen.

Leider sahen nicht alle meinen Ausstieg so entspannt wie ich und so standen am nächsten Abend pünktlich um neun Uhr nach Ende des Trainings fünf aufgebrachte Basketballer vor mir, angeführt von Mike, Nicks bestem Freund.

„Wie zur Hölle kommst du nur darauf, aufzuhören?“

„Genau! Du gehörst dazu.“

„Und außerdem bist du richtig gut.“

„Das ist ja echt nett von euch, dass ihr das sagt“, meinte ich beschwichtigend und etwas überfordert. Mit dieser Reaktion hatte ich bestimmt nicht gerechnet. „Aber Basketball ist Nicks Ding. Ich will ihm das nicht wegnehmen.“

„Aber er kann doch bis Weihnachten sowieso nicht spielen! Wir können doch nicht auf einmal zwei unserer besten Spieler verlieren“, wetterte Mike.

„Ihr seid doch alle gut. Und überlegt doch mal, wie schwierig das war, die Erlaubnis zu kriegen, dass ich überhaupt mit machen kann.“

„Ja, aber jetzt hast du sie doch. Es ist dämlich einfach so aufzuhören!“

„Es ist nicht dämlich“, sagte ich bestimmt. „Ich habe mir das gut überlegt und ich habe grade einfach keinen Kopf dafür. Nehmt das bitte nicht persönlich, es liegt wirklich nur an mir.“

„Aber …“, setzte Mike an, doch er wurde von Ram unterbrochen, der eben eingetreten war.

„Lasst sie in Ruhe, Jungs. Sie hat ihre Gründe.“

Unter leisem Murren verzogen sie sich tatsächlich und Ram schloss hinter ihnen die Tür.

„Alles klar?“

Ich nickte und ließ mich aufs Bett sinken.

„Bist du dir sicher, dass du aufhören willst? Du solltest du das von Nick nicht kaputtmachen lassen.“

„Nein, ich habe einfach keine Lust mehr dazu. Allein der Gedanke, in die Sporthalle runter zu gehen, ist mir zu anstrengend“, seufzte ich.

„So kenne ich dich ja gar nicht. Kraftlos-Nay finde ich fast noch gruseliger als Gute-Laune-Nay.“

„Haha“, machte ich gedehnt.

„Du hast grad echt starke Stimmungsschwankungen. Bist du schwanger?“

„Was?!“

Erschrocken schoss ich in die Höhe und strich reflexartig über meinen Bauch.

„Nein!“

Von einer irrationalen Angst gepackt, versuchte ich mich daran zu erinnern, ob ich, seitdem Nick und ich mit einander geschlafen hatten, meine Tage gehabt hatte.

„Nay. Ganz ruhig. Das war ein Scherz. Ihr habt doch verhütet. Oder?“

„Ja, natürlich.“

Ich fuhr mir übers Gesicht und sank wieder aufs Bett.

„Das war nicht witzig. Überleg dir mal, was das für ein Drama gegeben hätte.“

Wir starrten uns an und plötzlich kräuselten sich Rams Lippen und er brach in schallendes Gelächter aus. Irgendwie steckte es mich an und ich begann auch zu lachen, bis mir der Bauch schmerzte und mir Tränen aus den Augenwinkeln rannen.

„Oh Mann“, seufzte ich. „Wir sollten das öfter machen.“

„Schwanger werden?“

„Nein, du Idiot. Lachen bis zum Umfallen.“

 

Am Samstag war wieder Stadtbesuch angesagt, und da in weniger als einem Monat Weihnachten war, hatte uns das Geschenkefieber gepackt. Da Nick das Internatsgelände nicht verlassen durfte, hatte ich überhaupt keinen Grund an ihn zu denken und Ram, Chris, Jason und ich hatten einigen Spaß während wir durch die Läden bummelten und nach passenden Geschenken für unsere Eltern suchten. Mit einem Berg von Plätzchen und Lebkuchen schafften wir es sogar, Jason aufzumuntern, der tags zuvor eine Nachuntersuchung im Krankenhaus gehabt hatte, die wohl nicht so gut gelaufen war. Wie es aussah, würde er auf keinen Fall am Schwimmwettbewerb teilnehmen können. Er hatte es relativ locker abgetan und gemeint, er könne ja im nächsten Jahr immer noch gewinnen, doch wir alle wussten, wie sehr es ihn mitnahm.

Wir hatten nur noch eine Stunde bis unser Bus zurück zum Harrison-Springer fuhr und beschossen in ein Kaffee zu gehen. Es war ziemlich kitschig dekoriert und überall funkelte und glitzerte es, doch ich war so aufgedreht, dass es mir sogar gefiel. Chris war der einzige, der sein typisch angepisstes Pokerface trotz heißer Schokolade aufrechterhalten konnte, doch seine Augen funkelten genauso wie die Christbaumkugeln am Fenster.

„Verbringt ihr alle die Weihnachtsferien mit euren Eltern?“, fragte ich und erntete ein kollektives Nicken.

„Wir fahren nach Schottland zu meinen traditionsverehrenden Großeltern“, meinte Ram gelangweilt. „Da kann man nichts machen. Außer in die Kirche gehen oder sich in den Highlands verirren.“

„Wir gehen nach Frankreich“, sagte Jason und mir fiel ein, dass seine Mutter ja Französin war.

Mein Blick wanderte erwartungsvoll zu Chris, welcher nur schulterzuckend: „Auch“ sagte.

„Ihr könntet doch nach den Feiertagen auch kommen. In der Villa ist genug Platz und es ist garantiert besser als Schottland“, schlug Jason vor und Ram fiel ihm theatralisch um den Hals.

„Du rettest mein Leben, Mann.“

„Was ist mit dir, Nay? Denkst du, du kannst dich von zuhause loseisen?“

„Ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht“, meinte ich ehrlich.

Bis zu diesem Moment war mir gar nicht klar gewesen, dass dies womöglich der erste Festtag war, den meine Familie getrennt verbringen würde.

„Mein Dad ist jedenfalls ausgezogen. Schätze, ich gehe an einem Feiertag zu Mum und am anderen zu ihm. Und Johnny erwartet bestimmt, dass er mich für die ganzen Ferien beanspruchen kann.“

Jason legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter.

„Ich weiß wie das ist, wenn die Familie auseinander gerissen wird. Wirklich scheiße.“

Ich sah ihn nachdenklich an. Soweit ich wusste, waren seine Eltern nicht geschieden, doch Nick hatte einmal ein Problem mit der Mutter erwähnt. Dennoch spürte ich, dass ich nicht einfach danach fragen konnte.

„Wird schon“, meinte ich und schlang meine kalten Hände um die heiße Tasse, die vor mir auf dem Tisch stand. „Wir sollten uns beeilen, der Bus kommt bald.“

Wie sich herausstellte, hätten wir ruhig noch eine halbe Stunde im Café bleiben können. Es hatte begonnen heftig zu schneien und die Busse standen wohl irgendwo im Stau. Die Schüler drängten sich frierend an unserem Treffpunkt zusammen und von Minute zu Minute senkten sich Temperatur und Stimmung. Chris hatte die Arme um Jason gelegt, was ein außerordentlich ungewöhliches Zeichen von Zuneigung in der Öffentlichkeit war. Ich hatte sie in der vergangenen Woche im Schulalltag beobachtet und solange andere in der Nähe waren, hielten sie nicht mal Händchen. Falls sie das überhaupt jemals taten. Jetzt wandte ich schmunzelnd den Blick ab und freute mich, dass sie endlich einzusehen schienen, dass sie sich wie jedes andere Pärchen auch verhalten konnten.

Ich wollte gerade ein Gespräch mit Ram beginnen, als einer der mir unliebsamsten Schüler vor uns trat.

„Dann stimmt es also, Shettler“, sagte Jakes kleiner Bruder und ewiger Rivale von Jason spöttisch. „Du schwimmst jetzt für das pinke Team.“

„Verzieh dich, Ty“, knurrte Jason genervt.

„Was denn? Ich wollte dir nur gratulieren. Schwuchtel.“

Chris‘ Hände verkrampften sich, doch anstatt Ty seine Faust ins Gesicht zu rammen, was er offensichtlich gern getan hätte, hielt er Jason fest, damit der nicht etwas Ähnliches tat.

„Niemand hat nach deiner Meinung gefragt“, sagte ich ruhig.

„Und mit dir redet hier keiner“, schnaubte er und sah mich verächtlich an.

„Okay, Kleiner, du verschwindest jetzt auf der Stelle“, schaltete sich Ram ein und trat vor.

„Sonst was?“

Chris‘ Miene verdüsterte sich und wenn Blicke töten könnten, dann wäre es das für Ty gewesen.

„Dann rede ich mit deinem Bruder“, knurrte er.

Ty schrumpfte einige Zentimeter unter Chris‘ Blick. Als er lachte, klang es eher hysterisch als belustigt.

„Na und? Ihr seid doch alle total durch.“

Er drehte sich um und verzog sich zu seinen Freunden, die uns beobachtet hatten. Er sagte etwas zu ihnen und sie lachten hämisch.

„Wie kann man nur so dumm sein?“, seufzte ich genervt.

„Das ist ein Geheimnis, das ich nicht lüften will“, murmelte Ram.

Endlich kam der Bus, doch die Stimmung hob sich bei der Rückfahrt nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, dass alle über etwas tuschelten, das ausnahmsweise mal nichts mit meinem Liebesleben zu tun hatte.

Als wir zurück ins Internat kamen, wurde es nicht besser. Wir waren alle zusammen nach oben gegangen und dort erwartete uns der nächste Schlag. Jemand hatte etwas mit Filzstift quer über Jasons Zimmertür geschmiert. „Viel Spaß beim Arschficken“ stand da in höhnischen verschmierten Buchstaben.

Jasons Schultern bebten und sein Gesicht war feuerrot vor Wut und Scham.

„Na, das hat sich aber schnell rumgesprochen“, säuselte Ty, der eben hinter uns vorbei ging.

„Ich schwöre, ich bringe ihn um“, presste Jason zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Nein, Jason. Reiß dich zusammen, Gewalt ist keine Lösung. Du solltest zu Direktor Fisten gehen. Sowas kann niemand ungestraft machen.“

„Vergiss es. Fisten mag mich nicht besonders, so oft wie ich schon Schwierigkeiten gemacht habe. Der wirft mich eher raus, als dass er mir hilft.“

„Aber irgendwas müssen wir tun!“, beharrte ich.

„Ja. Wir wischen es ab und vergessen es“, knurrte Jason und stieß die Tür auf um einen Lappen zu holen.

Chris folgte ihm und Ram und ich tauschten einen Blick.

„Wir können doch nicht tatenlos so rumsitzen, während sich diese Idioten über Jason und Chris lustig machen!“, zischte ich.

„Vielleicht ist es so am besten. Wenn sie merken, dass sie nicht darauf reagieren, wird es ihnen bestimmt schnell langweilig und sie hören auf.“

Ich sah meinen Freund unschlüssig an, dann straffte ich die Schultern.

„Also gut.“

Ich ging an Ram vorbei und stürmte den Flur hinunter. Allerdings war mein Ziel nicht mein Zimmer, sondern das daneben. Im Gehen riss ich mir Schal und Mütze herunter, die ich noch immer trug, dann stieß ich die Tür auf ohne anzuklopfen. Eine Angewohnheit, die ich so schnell wie möglich loswerden musste.

„Herrgott, bist du immer halbnackt?“, rief ich und wandte den Blick ab.

Jake schmunzelte belustigt.

„Malst du dir das aus, wenn du neben an im Bett liegst?“

„Nein, da unterdrücke ich viel mehr meinen Würgereiz“, schnappte ich.

„Ist klar. Was willst du?“

Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Jake verkniff sich deutlich eine weitere Anmache und wartete ab.

„Ich will, dass du deinen Bruder unter Kontrolle kriegst.“

„Ty unter Kontrolle“, meinte er belustigt. „Womit hat er dich denn verärgert?“

„Er mobbt Jason.“

Jake zuckte mit den Schultern.

„Schon seit die zwei auf der Schule sind. Na und?“

„Was er abzieht, ist homophobe Scheiße, die im einundzwanzigsten Jahrhundert nichts mehr verloren hat. Außerdem habe ich das Gefühl, dass er auch die anderen gegen Jason und Chris aufbringt.“

„Jason und Chris? Moment, ich glaube, das ist an mir vorbeigegangen. Reden wir hier von Chris Berry?“

„Ja. Er und Jason sind zusammen. Kennst du ihn?“

„Klar, er …“ Jake stockte und ich runzelte die Stirn. „… ist in meiner Klasse.“

„Also“, setzte ich an. „Redest du mit Ty?“

„Was kriege ich dafür?“, meinte er grinsend und ich verdrehte die Augen.

„Das gute Gefühl, ihm die Erziehung zu gewähren, die eure Eltern euch verweigert haben?“

Jake schnaubte. Einen Moment hatte ich das Gefühl, zu weit gegangen zu sein, aber dann wurde mir klar, dass man einen Typen wie Jake nicht mit Eltern-Kommentaren angreifen konnte.

„Ty hat nichts gegen Schwule. Er sucht sich nur gerne Opfer, die er fertig machen kann.“

„Ich sehe nicht, wie das die Sache verbessert.“

„Tut es nicht. Ich meine nur, dass er nicht einfach so aufhört ein Arsch zu sein. Er langweilt sich eben.“

„Wenn du ihn dazu kriegst, Jason in Ruhe zu lassen, hast du was gut bei mir“, versuchte ich es weiter und Jake hob die Augenbrauen.

„Du tust ja wirklich alles für deine Freunde.“

Ich verdrehte die Augen.

„Ein Gefallen von Nanayda Griffin.“ Er grinste. „Betrachte dein Problem als gelöst.“

Mit einem unguten Gefühl verließ ich Jakes Zimmer und ging in mein eigenes. Ich hoffte sehr, dass ich eben keinen Fehler gemacht hatte.

 

*Nick*

 

Ich hatte den langweiligsten Samstagnachmittag aller Zeiten hinter mir und meine Laune war entsprechend im Keller. Da ich nicht mit in die Stadt durfte, war ich so gut wie allein im Internat, doch anstatt mich einfach ein Buch lesen zu lassen, war irgendjemand auf die Idee gekommen, ich könnte zusätzlich zum Nachsitzen auch noch dem Hausmeister helfen, und so hatte ich die Toiletten der Sporthalle geputzt. Jetzt stank ich nach Reinigungsmittel und mein Rücken und meine Knie schmerzten. Immerhin war ich davon abgelenkt worden und hatte nicht wie so oft über gewisse Personen nachgedacht.

Als ich wieder in meinem Zimmer war und mir nichts sehnlicher wünschte, als eine heiße Dusche, war das Bad von Dean blockiert. Ich hörte das Wasser rauschen und seufzte. Genervt hämmerte ich gegen die Tür.

„Lass mir noch heißes Wasser übrig, du Mädchen“, rief ich und bekam keine Antwort.

Der Vergleich war eigentlich unpassend, denn Nay hatte nie solang unter der Dusche gebraucht. Der Gedanke an Nay unter der Dusche drängte sich bildlich in mein Bewusstsein und ich sank mit einem frustrierten Stöhnen aufs Bett.

„Idiot, Idiot, Idiot“, murmelte ich und rieb mir übers Gesicht.

Einen Moment lang lag ich so da, dann sprang ich wieder auf und ging zum Schreibtisch, um nach meinem Matheordner zu suchen. Zumindest etwas Sinnvolles musste der Tag noch hergeben. Als ich zwischen den Blättern kramte, bekam ich ein kleines rotes Taschenbuch in die Hände. Es war eine Ausgabe von Herr der Fliegen, das Buch, das wir am Anfang des Schuljahres in Englisch durch genommen hatten. Es war viel zu zerlesen um mir zu gehören und als ich es aufschlug wurde mein Verdacht bestätigt, denn Nays Name stand auf der erste Seite.

Ich wusste, dass sie das Buch mochte und hatte sie mehrere Abende heimlich beim Lesen beobachtet. Sie war so süß wenn sie las. Ihr Gesicht spiegelte alle Emotionen der Hauptcharaktere wieder und sie merkte nicht einmal, wie sie aufgeregt auf ihre Lippe biss. Ihre Lippen …

Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich. Ohne groß darüber nachzudenken, verließ ich das Zimmer wieder und machte mich auf den Weg zu Nay, um ihr das Buch zu bringen.

Als ich an ihrer Tür klopfte, verkrampfte sich mein Magen und mein Herz machte Saltos. Herrgott nochmal, das war ja richtig peinlich. Was war nur los mit mir? Ich hatte es verbockt, es war vorbei. Warum konnte sich mein Körper nicht damit abfinden?

Sie öffnete die Tür und ich hielt unwillkürlich die Luft an. Ihr Haar war nass und glänzte rot, sie musste es gerade nachgefärbt haben. Sie trug eine graue Jogginghose und ein weißes T-Shirt, das viel zu dünn für diese Jahreszeit war.

„Ja?“, fragte sie angespannt, nachdem einige Augenblicke verstrichen waren.

„Ich äh … Das hast du vergessen.“

Ich drückte ihr das Buch in die Hand.

„Oh. Danke.“

Unsere Finger berührten sich für eine Sekunde und sie zuckte zurück. Hasste sie mich so sehr?

„Ja. Kein Problem.“

Einen Moment lang standen wir verlegen da ohne uns anzusehen und ich steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Du riechst nach Putzmittel“, stellte sie schließlich fest.

„Ja, das ist Teil meiner Bestrafung“, gab ich zu und sie hob die Augenbrauen.

„Der Geruch? Das ist allerdings eine Strafe.“

Ich überraschte mich selbst mit meinem Schmunzeln und sagte: „Nein, das Putzen.“

„Ach so.“

Sie musterte mich und schließlich setzten wir im gleichen Augenblick an zu sprechen. Sie gab mir mit einer Handbewegung den Vortritt, und ich begann hektisch.

„Hör zu, Nay, es tut mir leid. Es ist wirklich scheiße gelaufen mit unserer Beziehung und …“ Ich merkte sofort, dass ich die falschen Worte gewählt hatte, denn ihre Miene versteinerte.

„Ich bin wirklich nicht die, bei der du dich entschuldigen solltest. Die Tür, die du suchst, ist in deinem Flur und mit echt fiesem Zeug beschmiert.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Was meinst du?“

„Ist er dir wirklich so egal, dass du nicht mal das mitkriegst?“, fauchte sie.

„Was, nein! Wovon sprichst du?“

„Dein Bruder wird gemobbt. Eventuell solltest du für ihn da sein, aber das ist natürlich deine Sache.“

„Ich … Er spricht doch gar nicht mit mir“, versuchte ich mich zu verteidigen.

„Vielleicht versuchst du es mal mit einer Entschuldigung. Aber wer bin ich, dass ich dir diesen Rat gebe. Wo unsere Beziehung doch so scheiße war.“

Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu und ließ mich im Gang stehen.

Ich sank mit der Stirn gegen das kühle Holz der Tür und schloss die Augen. Sie hatte ja recht. Auch wenn ich mich vielleicht nicht vom Nachdenken über Nay hatte ablenken können, so hatte Nay doch zumindest Jason von meinen Gedanken ferngehalten.

Aber was sollte ich sagen? Keine Entschuldigung konnte die Reue ausdrücken, die ich empfand. Ich hatte meinen kleinen Bruder die Treppe runter gestoßen. Er hätte tot sein können. Das hatte mein Vater mir deutlich vermittelt, als er mich im Krankenhaus so lange angeschrien hatte, bis Security Männer ihn von mir weggezogen hatten.

Aber die Reue reichte nicht aus, um mich von Nay, wegen der ich diesen Schaden erst angerichtet hatte, abzuwenden. Stattdessen dachte ich pausenlos an sie. Meistens in unpassendem Kontext. In gewisser Weise war das wohl auch eine Strafe.

Ich ging zurück und blieb vor Jasons Zimmer stehen. An seiner Tür waren Reste der Schmiererei zusehen, von der Nay gesprochen hatte, doch ich konnte die Worte nicht entziffern.

Ich hatte mich im Krankenhaus hundert Mal entschuldigt, aber noch bevor die Narkosemittel abgeklungen waren und Jason wieder klar war, hatte mein Vater mich rausgeworfen, in den Wagen gesetzt und mich nachhause fahren lassen. Meine Mutter hatte mit mir gesprochen, doch nur um alles über den Zustand meines Bruders zu erfahren. Seitdem sie selbst Patient gewesen war, betrat sie keine Krankenhäuser mehr, doch ich hatte gesehen, wie kurz davor sie gewesen war, das zu ändern.

Ich verstand sie ja. Ich verstand die Wut meines Vaters, die Abweisung meiner Mutter und Jasons Kälte. Und ich verstand Nays Hass. Gott, ich hasste mich ja selbst. Und deshalb brachte ich es auch nicht über mich, jetzt an Jasons Tür zu klopfen. Ich erwartete nicht, dass er mir jemals verzeihen würde. Ich konnte nur hoffen, dass sein Arm wieder vollständig in Ordnung kam und ich nicht das Leben meines Bruders zerstört hatte.

 

*Nay*

 

Nachdem ich Nick die Tür vor der Nase zu geschlagen hatte, starrte ich das Holz noch einen Moment lang nachdenklich an. Ja, ich war wütend. Ja, ich fand es immer noch schrecklich, was Nick getan hatte. Aber er schien ebenso zu empfinden. Obwohl er nichts gesagt hatte, hatte ich doch das Gefühl, dass es Nick noch viel schlechter als mir ging. Etwas in seinem Blick war anders. Er war nicht mehr so unbeschwert und selbstsicher, sondern beinahe gebrochen, als würde er sich selbst nicht verzeihen können.

Ich schüttelte den Kopf. Nick Shettler war jetzt nicht mein Problem. Egal, was ich noch für ihn empfand, ich sollte mich jetzt erst mal auf Jason konzentrieren. Ich musste für meinen Freund da sein und ich würde Nick auf keinen Fall näherkommen. Zumindest nicht bis Jason die Beziehung zu seinem Bruder wieder geregelt hatte. Solange er ihm nicht verzieh, konnte ich es auch nicht tun. Immerhin war es meine Schuld, dass Nick so ausgerastet war und das getan hatte.

 

Der Sonntag zog sich dahin. Ram hatte sich aus dem Internat geschlichen, um seine Freundin zu besuchen und Chris und Jason hatten sich in der hintersten Ecke der Bibliothek eingerichtet, wo niemand sie beim Knutschen störte. Da ich sie dabei natürlich auch nicht stören wollte, blieb ich die meiste Zeit in meinem Zimmer.

Eigentlich war ich sehr zufrieden mit unserer kleinen Clique, aber wie mir jetzt auffiel hatte ich außer den dreien eigentlich keine Freunde im Internat. Natürlich gab es da noch Ben und Charles, Jasons Bandkollegen, aber mit denen hatte ich eigentlich nur wegen Jason zu tun. Mit Felix und seinen Freunden hatte ich seit unserem Chemieprojekt eigentlich gar nicht mehr geredet und die Jungs aus dem Basketballteam wollte ich Nick nicht wegnehmen. Der irrsinnige Gedanke, mich mit Jake anzufreunden, brachte mich zum Lachen und schließlich griff ich nach meinem Telefon, um meine Mutter anzurufen.

Sie meldete sich nach dem siebten Klingeln mit einem hellen „Hallo?!“.

„Hey Mum, ich bin’s.“

„Nanayda! Einen Moment bitte.“

Sie sprach leise mit jemand im Hintergrund und ich runzelte die Stirn als ich sie kichern hörte. Meine Mutter kicherte nicht. Niemals.

„So, Schatz, jetzt bin ich ganz für dich da. Was ist los?“

„Also“, begann ich verwirrt. „Ich wollte eigentlich fragen, wie es aussieht. Wegen Weihnachten.“

„Na, du kommst nachhause. Das ist doch ganz klar.“

„Aber …“ Sie hörte sich so aufgesetzt fröhlich an, dass ich mir nicht sicher war, wie ich mich ausdrücken sollte. War sie betrunken? Und wer war da bei ihr? „Also ich meine, in unserem Haus bist ja nur du. Und wo Dad jetzt wohnt, weiß ich überhaupt nicht. Und Johnny ist bei Dads Eltern und …“

„Nanayda, wenn ich dich daran erinnern darf: Weihnachten ist ein Familienfest und es wird mit der Familie gefeiert.“

Der scharfe Tonfall klang schon viel mehr nach meiner Mutter.

„Naja, aber ich meine … Kommt Johnny denn überhaupt?“

„Wie meinst du das denn?“

„Weil er doch weggelaufen ist“, meinte ich kleinlaut. Ich wollte ihr die Schuld nicht direkt in die Schuhe schieben. „Ich meine … Werden Oma und Opa ihn nicht bei sich behalten?“

Einen Moment lang war es still. Ich dachte schon, sie würde wortlos auflegen, aber dann tönte ihre schneidende Stimme wieder an mein Ohr.

„Ich werde mir nicht von meiner eigenen Tochter sagen lassen, dass ich meinen Sohn vernachlässigt habe. Er ist nicht vor mir weggelaufen! Und egal was deine Großeltern oder dein Vater denken mögen, ich kann mich um meine Kinder kümmern! Und das werde ich auch. Dein Vater hat John genauso wenig aufgehalten. Glaub ja nicht, dass er diese Sache im Sorgerechtsstreit gegen mich verwenden kann. Ich bin immer noch eure Mutter.“ Ihre Stimme bebte vor Wut, aber ausnahmsweise wurde ich nicht wütend von dem, was sie sagte. Ich hatte viel mehr das Bedürfnis sie zu trösten.

„Natürlich bist du das“, sagte ich leise. „Ich will ja auch das Weihnachten wie immer wird. Aber Dad wird doch nicht kommen oder?“

„Dein Dad“, sie zog das Wort abfällig in die Länge. „wird sicherlich im Büro sein. So würde er es zumindest formulieren. Eigentlich meint er damit natürlich in seiner Sekretärin.“

Mir klappte der Mund auf und ich ließ fast mein Telefon fallen.

„Wie bitte?“

„Tut mir leid, das hätte ich nicht zu dir sagen sollen. Aber so ist es nun einmal. Wie dem auch sei, Johnny wird an Weihnachten hier sein und ich hoffe, du bist es auch. Was dein Vater macht, ist mir allerdings egal.“

„Okay“, seufzte ich. „Ich … Ich ruf dann vorher nochmal an. Mach’s gut, Mum.“

Ich saß einen Moment unschlüssig auf meinem Bett, dann rief ich meinen Vater an. Er ging nicht an sein Handy, was aber nichts heißen musste, weil er auch oft sonntags arbeitete. Ich hinterließ ihm eine Nachricht.

Als ich aufgelegt hatte, klopfte es an der Tür.

„Ja?“, rief ich und Jake trat ein.

„Hast du mit Ty geredet?“, fragte ich sofort.

„Hallo Nay, ich freue mich auch dich zu sehen, wie geht es dir? Gut? Mir auch, danke der Nachfrage.“

„Ha-ha“, machte ich. „Also?“

„Ja, habe ich. Für die anderen Idioten dieser Schule kann ich nicht garantieren.“

Er fuhr sich durch sein kurzes schwarzes Haar.

„Ich freue mich schon sehr darauf den Gefallen bei dir einzulösen.“

„Was wird das sein?“, fragte ich skeptisch.

„Lass dich überraschen, Rotkäppchen.“

Er zwinkerte mir zu und verließ den Raum.

„Rotkäppchen? Dein verdammter Ernst?!“, rief ich ihm nach, doch da war er schon weg.

 

Die nächste Woche war seltsam. Wir verbrachten die meiste Zeit zusammen in unserer Clique (solange Chris und Jason sich nicht verzogen, um alleine zu sein), aber ansonsten hatte keiner von uns vier mit unseren Mitschülern zu tun. Ich merkte, dass Ram sich von dem Basketballteam ebenfalls abgewandt hatte, die nach Nicks und meiner Trennung natürlich alle zu meinem Exfreund hielten, nachdem sich die Aufregung wegen Jasons Sturz gelegt hatte. Dieser schien ebenfalls nichts mehr mit seinen alten Freunden zu tun zu haben, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass es an ihm lag. Auf dem Flur bekam ich mit, dass Ben und Charles nach einem neuen Gitarristen für die Band suchten und ich sah sie auch nicht mehr zusammen mit Jason. Chris hatte vor der Sache sowieso keine Freunde gehabt, doch jetzt wichen die Leute regelrecht vor ihm zurück und wo immer wir vorbeikamen, breitet sich eine Welle von Flüsterlauten aus.

Ram machte sich die meiste Zeit über das Verhalten der anderen lustig, doch ich wusste, dass er viel zu gesellig war, um unsere Isolation auf die leichte Schulter zu nehmen. Dennoch hielt er zu Jason und Chris und wann immer jemand eine abfällige Bemerkung über die beiden machte, konnte diese Person nur beten, dass Ram es nicht gehört hatte.

Das Paar selbst ließ sich nichts anmerken. Obwohl man auf fast jeder öffentlichen Toilette im Internat dumme Schmierereien über die beiden fand, schien es sie nicht zu interessieren. Obwohl sie sich in der Öffentlichkeit kein bisschen wie ein richtiges Pärchen verhielten, wussten es alle und verhielten sich auch so. Beziehungsweise, sie verhielten sie sich so, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Dennoch war ich die einzige, die sich wirklich darüber aufregte. Die Wut über diese geballte Dummheit und Intoleranz staute sich in mir auf und schließlich kochte sie über.

Wir saßen am Freitag beim Mittagessen und die Tische in unserer Nähe waren alle so gut wie leer. Ich spürte die Blicke meiner Mitschüler auf mir. Ram, Chris und Jason unterhielten sich über irgendwelche Vokabeln und so fuhren sie umso überraschter auseinander, als ich plötzlich vor Zorn bebend auf den Tisch kletterte.

„Hey!“, rief ich wütend durch die Cafeteria.

Das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, weil uns ja sowieso schon alle anstarrten, doch ich wollte meinem Ärger Luft machen.

„Was stimmt denn nicht mit euch?“, fuhr ich fort und erwiderte erbarmungslos die Blicke. „Ihr könnt doch nicht alle homophobe Arschlöcher sein! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, verdammt noch mal! Wovor habt ihr bitte Angst? Dass sie euch anstecken, wenn ihr ihnen zu nahe kommt? Dass man euch auch für schwul hält, wenn ihr sie wie die normalen Menschen behandelt, die sie sind? Gott, ich hasse das. Dieses beschissene Mitläufertum. Nur weil manche von euch dumme Arschlöcher sind, die es offensichtlich nicht besser wissen“, mein Blick streifte Ty, „müsst ihr euch nicht auch so verhalten. Ihr kennt Chris und Jason. Nichts hat sich an ihnen verändert, nur weil ihr jetzt wisst, dass sie eben auf Jungs stehen, anstatt auf Mädchen. Warum behandelt ihr sie dann anders? Das ist einfach nur lächerlich. Und ich würde auch darüber lachen, wenn es mich nicht so unglaublich ankotzen würde. Schaltet doch einfach mal euer Hirn an und denkt nur eine Sekunde nach.“

Eine Hand umfasste meinen Arm und ich unterbrach meine wutschäumende Rede, um nach unten zu sehen. Mein Physiklehrer Herr Fluid stand da und sah mich streng an.

„Komm da runter, Nanayda. Na los.“

Ich sah wieder zu den Schülern, die mich alle entgeistert anstarrten. Erst jetzt bemerkte, wie schnell mein Herz raste und spürte den Schweiß auf meinen Handflächen. Ich schluckte und warf meine feuerroten Haare über die Schulter. Dann kletterte ich von Tisch und folgte Herr Fluid zum Büro des Direktors ohne mich noch einmal umzusehen.

Direktor Fisten ließ mich eine halbe Stunde lang warten, bis er mich mit seiner Anwesenheit segnete. Doch nicht das Herumsitzen war es, was mich quälte, sondern die Erkenntnis, die mich traf, sobald meine Wut verraucht war.

Ich stimmte nach wie vor mit dem überein, was ich eben meinen Mitschülern an den Kopf geworfen hatte, doch meine mehr oder minder vulgäre Ausdrucksweise und das strukturlose Aneinanderreihen meiner Gedanken waren nicht unbedingt die besten Stilmittel für eine Rede. Vermutlich hatte ich mich nur noch mehr zum Gespött gemacht, aber irgendwie war es mir auch egal. Ich war weit über den Punkt hinaus, an dem es mich gekümmert hatte, was andere über mich denken mochten. Ich konnte nur hoffen, dass ich Chris und Jason nicht noch mehr in Ungnade hatte fallen lassen.

Als Direktor Fisten eintrat, sah er sehr angespannt und nachdenklich aus, als wüsste er nicht genau, wie er mir beibringen sollte, was ihm durch den Kopf ging.

„Nanayda“, begann er und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

„Es ist mir bewusst, dass das nicht meine beste Rede war“, unterbrach ich ihn einsichtig. „Es tut mir leid, dass ich alle angeschrien und beleidigt habe, aber ich war einfach so wütend über ihr Verhalten.“

Überrascht sah mich Direktor Fisten an und nickte wohlwollend.

„Ich bin froh, dass du das erkannt hast. Dann muss ich dir also nicht noch sagen, dass du deine Meinung zu diesem Thema bitte in Zukunft für dich behältst.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Ich werde nie meine Meinung zu irgendetwas zurückhalten. Die Redefreiheit ist dazu da um von ihr Gebrauch zu machen.“

Direktor Fisten räusperte sich.

„Dennoch ist diese Schule kein Ort für politische Tiraden und ich verbitte mir diese in Zukunft.“

„Aber …“

„Nanayda!“

Ich zuckte bei seiner erhobenen Stimme zusammen und schloss den Mund.

„Ich werde dich hierfür nicht suspendieren und auch nicht deine Eltern informieren, trotz deines groben und Manieren losen Fehlverhaltens. Und ich hoffe du zeigst dich dafür erkenntlich, indem du so etwas in Zukunft unterlässt. Zur Strafe ist dir das Verlassen des Internats bis zu den Ferien nicht gestattet und du wirst dich eine Woche lang beim Nachsitzen mit deinem Verhalten beschäftigen können. Ich denke wir haben uns verstanden?“

Ich biss mir auf die Zunge. Das hatte ich nicht erwartet.

„Ja, Herr Direktor.“

„Gut. Du kannst jetzt gehen.“

Mutlos und frustriert verließ ich sein Büro. Die Halle draußen war leer bis auf drei Jungen die gespannt auf den Treppenstufen saßen und mich erwarteten.

Ich grub meine Hände in meine Hosentaschen und ging mit gesenktem Kopf auf meine Freunde zu.

„Hi“, machte ich, als ich vor ihnen stand.

„Und? Wurdest du rausgeschmissen?“, fragte Ram sofort ohne jegliche Rücksicht.

„Schlimmer. Mir wurde offiziell der Mund verboten“, schnappte ich.

„Na, das ist ein Verbot, das du zwangsweise brechen wirst“, grinste Ram und ich verdrehte die Augen.

„Im Ernst, das war der Hammer. Ich erinnere mich nicht, je so einen Aufstand im Harrison-Springer erlebt zu haben.“

„Das war jetzt nicht unbedingt einer meiner Glanzmomente“, brummte ich. „Tut mir leid, falls ich euch blamiert habe.“

Jason legte eine Hand auf meine Schulter.

„Machst du Witze?“, fragte er sanft. „Das war wirklich süß, Nay. Findet Chris auch, obwohl er natürlich viel zu cool ist, um so ein Wort in den Mund zu nehmen.“

Chris ließ sich zu der Andeutung eines schiefen Lächelns herab und ich verdrehte grinsend die Augen.

 

Als einige Stunden später mein Handy klingelte und ich die Nummer meines Dads erkannte, dachte ich für einen Moment, dass Direktor Fisten ihn doch angerufen hatte. Doch dann fiel mir ein, dass ich ja am Sonntag versucht hatte, ihn zu erreichen und dies sein verspäteter Rückruf war.

„Hallo?“

„Hallo Nanayda. Melde dich bitte mit deinem Namen am Telefon, das ist unhöflich.“

Ich schloss seufzend die Augen.

„Hi Dad.“

„Nun, du hattest angerufen?“

„Ja, vor fünf Tagen. Was hast du die ganze Woche gemacht?“

„Meine Sekretärin hat vergessen, mich an dich zu erinnern. Ich habe es vergessen.“

Ich biss mir auf die Zunge und spürte die gleiche Wut in mir hochkochen, die Mum empfunden haben musste, als sie mir von Dads Affäre erzählt hatte.

„Man könnte meinen, du schaffst es selbst, an deine eigene Tochter zu denken.“

„Was soll das, Nay?“, fragte er unwirsch. „Ich habe zu tun.“

Ich atmete tief durch um mich wieder zu beruhigen.

„Tut mir leid, Dad. Ich wollte eigentlich nur nach deinen Plänen für Weihnachten fragen.“

„Was gibt es da zu fragen? Du und Johnny kommt zu mir. Ich habe ein Apartment in der Stadt gemietet, nachdem eure Mutter sich weigert auszuziehen. Johnny wird außerdem bei mir einziehen. Meine Wohnung ist nahe an seiner Schule.“

„Das ist … gut“, sagte ich überrascht. „Aber Mum will, dass wir an Heilig Abend bei ihr zuhause sind und …“

„Nanayda“, unterbrach mich mein Vater fest. „Du bist alt genug, um zu erkennen, was für Probleme deine Mutter hat. Nach allem was passiert ist, hältst du es für angebracht, Johnny in ihre Nähe zu lassen?“

Ich schluckte schwer.

„Also … es geht ihr doch wieder besser.“

„Jetzt sei doch nicht so naiv.“

„Ich …“, begann ich, doch obwohl ich es wirklich wusste, konnte ich meine Mutter nicht verteidigen. Immerhin hatte ich ihr gegenüber genau die gleichen Vorbehalte geäußert wie Dad.

„Parkin holt dich am dreiundzwanzigsten um achtzehn Uhr ab.“

„Okay“, meinte ich überfahren.

„Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Bis dann.“

„Bis dann, Dad“, murmelte ich, doch er hatte bereits aufgelegt.

Mein Hals war zugeschnürt und meine Augen brannten wie verrückt. Ich fühlte mich schrecklich, doch ich wollte nicht weinen. Ich hatte genug geweint. Zittrig atmete ich tief ein und aus, in der Hoffnung meinen Herzschlag zu beruhigen. Meine Mutter tat mir so leid und auch Johnny und irgendwie tat ich mir auch selbst leid. Warum musste es ausgerechnet meine Familie sein, die zerbrach?

Es klopfte an der Tür und ich stand auf um zu öffnen.

„Nick.“

War es Zufall, dass er genau in diesem Moment zu mir gekommen war? Letztendlich war es egal, denn er schien zu wissen, wie es mir ging und ich wusste, dass ich ihn jetzt nicht wegschicken konnte. Ich ließ ihn eintreten und schloss die Tür hinter ihm.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte er leise und blieb dicht vor mir stehen.

Ich starrte auf seine Brust.

„Wie kommst du darauf, dass es nicht so ist?“, fragte ich tonlos.

„Naja.“ Er fuhr sich durch seine Haare und legte die Hand dann wie zufällig auf meinen Arm. „Du bist ein ziemlicher Rebell, aber mitten beim Essen auf den Tisch zu springen und rumzuschreien ist sogar für dich extrem. Und außerdem siehst du aus, als würdest du jeden Moment anfangen zu weinen.“

Ich atmete tief durch den Mund ein. Mir war schwindlig. Wo seine Hand meinen Arm berührte, stand meine Haut in Flammen und sein Geruch brachte mich um den Verstand. Wie in Trance machte ich einen Schritt auf ihn zu. Nicht mehr als ein Zentimeter trennte mich jetzt von seinem Körper.

„Geh einfach nicht weg, okay?“

„Okay“, sagte er kaum hörbar.

Ob es von ihm oder von mir ausging, wusste ich nicht, doch plötzlich lagen unsere Lippen aufeinander. Die Sehnsucht brach über mir wie eine Welle zusammen und ich presste mich an ihn.

Nick hob mich in seiner Umarmung hoch und ich schlang meine Beine um ihn. Mein Rücken rumste gegen die Tür, doch ich spürte es kaum, während ich meine Finger in Nicks Haaren vergrub und unseren Kuss vertiefte.

„Kondome?“, raunte Nick atemlos gegen meinen Mund.

„Nachttisch“, gab ich ebenso außer Atem zurück und wir taumelten zum Bett.

 

Der Mond schien durchs Fenster auf mein Bett. Mein Kopf ruhte auf Nicks Brust und er hatte seine Arme auch im Schlaf noch um mich geschlungen und hielt mich fest. Ich drückte mein Gesicht gegen seine Haut und versuchte die quälenden Gedanken, die auf mich einstürmten, aus meinem Kopf zu verbannen. Ein Teil von mir fühlte sich durch Nick getröstet, aber ein anderer fühlte sich noch viel schlimmer als zuvor. Noch dämpfte die Müdigkeit das volle Ausmaß meiner Tat und legte Taubheit auf meinen Körper, doch ich wusste, dass ich morgen mit Nick reden musste. Ob ich wollte oder nicht.

 

Der Morgen kam schneller als gedacht, obwohl ich die meiste Zeit nur im Halbschlaf gewesen war. Als die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster fielen, kletterte ich umständlich über Nick hinweg, um ihn nicht zu wecken. Ich wollte zwar wirklich mit ihm sprechen, aber noch wusste ich nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Bevor ich ins Bad ging, drehte ich mich nochmal zu ihm um. Er sah so friedlich aus. Seine Züge waren entspannt und seine Brust hob und senkte sich langsam. Eine tiefe Ruhe ergriff mich, als ich ihn beobachtete und eine leise Stimme in meinem Inneren flüsterte mir zu, dass alles wieder gut werden würde. Irgendwie.

 

*Jason*

 

Seufzend starrte ich auf die quadratische Gleichung in meinem Heft, doch solange ich sie auch mit meinen Blicken malträtierte, sie wollte sich einfach nicht lösen. Immerhin musste ich ihr zugestehen, dass es nicht ihr Fehler war. Es lag an mir. Ich war nicht daran gewöhnt an einem Samstagvormittag an meinem Schreibtisch zu sitzen. Denn Samstagvormittag war Schwimmtraining und das war schon so lange so, dass ich mich an keinen Samstag ohne Wasser erinnerte. Aber ein Samstag ohne Schwimmen wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn ich ihn mit Chris verbracht hätte. Der nahm nur leider trotzdem am Training teil. Nicht, dass ich es ihm hätte verdenken können, immerhin liebte er das Schwimmen genauso sehr wie ich, und wäre seine Krankheit nicht gewesen, wäre er vermutlich sogar besser als ich.

Ich klappte mein Heft zu und stand auf. Dabei fiel mein Blick auf meine Gitarre. Für eine Sekunde wallte eine ungeheure Wut durch meinen Körper. Meine Finger zitterten und vor meinem inneren Auge sah ich mich die Gitarre an der Wand zerschmettern. Dann verschwand das Bild und mir wurde klar, dass ich das mit einer Hand gar nicht tun konnte. Schnaubend verließ ich das Zimmer und machte mich auf den Weg zu Nays Zimmer.

Als ich eintrat weiteten sich ihre Augen erschrocken.

„Was ist?“, fragte ich verwirrte, doch ich wartete die Antwort nicht ab. „Mir ist langweilig, ich kann einfach nichts machen. Und Chris ist beim Training weshalb ich dachte, ich schaue mal hier vorbei. Meine Güte Nay, du siehst echt fertig aus, was hast du heute Nacht getrieben?“

„Ich … schlecht geschlafen“, nuschelte sie und wandte den Blick ab, als ich mich auf ihr Bett setzte.

„Wegen gestern Mittag? Hör mal Nay, die Aktion war vielleicht impulsiv, aber du hast nur das ausgesprochen, was wir alle denken. Und ich habe das Gefühl, ein paar haben es sich zu Herzen genommen.“

Sie nickte langsam, doch es sah nicht so aus, als wäre sie bei der Sache.

„Wie läuft es mit Ben und Charles?“, fragte sie, bevor ich erneut nachhaken konnte, was nicht stimmte.

Ich rümpfte die Nase und zuckte mit den Schultern.

„Sie haben mir gesagt, dass der neue Gitarrist nur als Vertretung ist. Aber ich glaube das mit Chris … hat sie irgendwie überrascht. Ich hätte ihnen vielleicht sagen sollen, dass ich schwul bin, bevor ich einen Außenseiter aus der 11. date.“

„Du weißt, dass das nicht deine Schuld ist.“

Jetzt war ich derjenige, der weg sah.

„Ja. Weißt du, eigentlich müsste ich Nick dankbar sein, dass er mich die Treppe runter geschubst hat. Sonst wären wir jetzt nicht zusammen.“

„Du machst Witze. Ein gutes Zeichen.“

Ich verdrehte die Augen und grinste ironisch.

„Galgenhumor.“

„Also … hast du vor, dich mit Nick auszusprechen?“

„Ich wüsste ehrlich gesagt nicht was ich zu ihm sagen sollte. Eigentlich bin ich froh, dass ich gerade nichts mit ihm zu tun habe. Und Nay, ich will nicht asozial sein, aber ganz im Ernst, ich bin auch froh, dass du mit ihm Schluss gemacht hast. Nicht wegen der ganzen Sache, sondern weil er dir früher oder später vermutlich sowieso das Herz gebrochen hätte. Nick ist nicht unbedingt das, was ich loyal nennen würde.“

„Er ist immerhin dein Bruder.“

„Verteidigst du ihn etwa? Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“

„Auf deiner natürlich. Ich habe nur das Gefühl, dass ich an dem ganzen Drama schuld bin“, sagte sie leise und sofort tat es mir leid.

„Das bist du nicht. Zwischen Nick und mir läuft schon seit langem einiges nicht mehr so, wie es sollte. Und eigentlich bin ich auch gar nicht wütend, ich weiß ja, dass er mich nicht verletzen wollte. Aber das ist das Problem mit Nick. Er denkt nicht darüber nach bevor er etwas tut. Es sei denn es geht um ihn. Dann kann er ziemlich gut denken.“

Sie schwieg und ich spürte den Drang, mich weiter zu rechtfertigen.

„Ich bin einfach durch mit ihm. Verstehst du? Ich muss mich nicht mit ihm aussprechen, weil ich ihm einfach nichts mehr zu sagen habe.“

Sie sah aus, als wollte sie wiedersprechen, doch dann straffte sie die Schultern.

„Also gut. Dann reden wir nicht mehr über ihn.“

 

Chris kam erst kurz vor dem Mittagessen aus der Schwimmhalle. Ich traf ihn in der Eingangshalle als er die Stufen hochkam, das schwarze Haar noch nass und einen zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht.

„Hey. Was hast du so lange gemacht?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Extra Training.“

„Aber warum?“

Chris vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans und musterte mich abschätzend.

„Mir wurde dein Platz beim Turnier angeboten.“

Einen Moment lang starrte ich ihn verständnislos an, bis die Worte zu mir durchgedrungen waren.

„Aber du darfst doch an keinen Turnieren teilnehmen.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Es geht mir gut. Und ich hab echte Chancen.“

„Aber … nein“, sagte ich nur verwirrt.

„Ich dachte du freust dich vielleicht für mich.“

„Dass du meinen Platz einnimmst und ein dummes Risiko eingehst, obwohl du nicht mal richtig trainieren kannst? Warum sollte mich das freuen?“

Chris hob die Augenbrauen.

„Wow.“

Dann drehte er sich um und ging davon.

„Hey, warte, so war es nicht gemeint!“

Doch Chris sah nicht zurück und so stand ich verlassen in der Halle wie bestellt und nicht abgeholt.

„Na, Ärger im Paradies?“, sagte eine höhnische Stimme hinter mir.

 

*Nay*

 

Ich verbrachte das Wochenende damit auf die anstehende Physikarbeit zu lernen und hatte keine Gelegenheit mit Nick zu sprechen. Seit dem Gespräch mit Jason stand eine Versöhnung außer Frage. Obwohl Jason das nicht so sah, fühlte ich mich immer noch verantwortlich für das was geschehen war. Jason war mein Freund und Nick … Ich hatte keine Ahnung was Nick für mich war, aber ich wusste, dass die Nacht, die wir zusammen verbracht hatten ein Fehler gewesen war. Wir beiden waren wandelnde Katastrophen und abgesehen davon, dass ein weiterer Versuch eine Beziehung zu führen vermutlich schon schwer genug war, würde es sicher nicht funktionieren, wenn meine Freunde gegen ihn waren. Und wenn Jason ihn nicht in seinem Leben wollte, dann durfte ich ihn nicht dazu zwingen. Auch wenn er versuchte es zu verbergen, so spürte ich doch, dass es ihm schlecht ging. Er hatte schon genug falsche Freunde in den letzten Tagen verloren, ich durfte ihn nicht auch noch verraten.

 

Am Montag nach dem Mittagessen war das erste Nachsitzen. Zwei Stunden lang sollten die aktuellen Sträflinge schweigend dem Aufsichtslehrer beim Zeitunglesen zu sehen. Ich wusste, dass Nick auch da sein würde, allerdings war ich überrascht Jason und Ty zu sehen, als ich den Raum betrat.

„Was hast du angestellt?“, fragte ich Jason und er hob die linke Hand deren Knöchel leicht gerötet waren.

„Das Übliche.“

„Jason …“, setzte ich an, doch in diesem Moment kam der Lehrer und wies uns an unsere Plätze einzunehmen.

Es wurden die längsten zwei Stunden meines Lebens. Jason hing genervt in seinem Stuhl und starrte zu Boden, während Ty sich feixend köstlich zu amüsieren schien. Doch das schlimmste war Nick, der hinter mir saß und dessen Blick ich mir nur allzu bewusst war.

Als wir endlich gehen durften, waren meine Schultern verspannter als jemals zuvor und ich hatte es ziemlich eilig aus dem Raum zu kommen. Leider war ich nicht schnell genug. Nick holte mich auf dem Flur ein.

„Nay. Hey, jetzt warte doch mal.“

Ich wollte schon weiter gehen, doch da zog er mich in ein Klassenzimmer, an dem wir gerade vorbei kamen und schloss die Tür hinter sich.

Okay. Kein Fluchtweg.

Ich verschränkte die Arme und sah ihn abwartend an.

„Bist du sauer weil ich Samstag einfach gegangen bin? Du warst so lang im Bad, dass ich dachte, du willst deine Ruhe.“

„Nein, ich bin nicht sauer“, sagte ich verwirrt.

„Warum hast du mich dann die letzten zwei Tage so ignoriert?“

„Ich … hab mich nicht anders verhalten als sonst“, meinte ich abwehrend.

„Ich dachte wir wären wieder … zusammen.“

„Moment, was?“

„Naja, nach Freitag …“

„Okay, stopp!“ Ich hob abwehrend die Hände um ihn zum Schweigen zu bringen. „Am Freitag war ich traurig und durcheinander und das was zwischen uns passiert ist, war ein Fehler. Es tut mir leid, aber ich hätte nie gedacht, dass gerade du das falsch verstehst“, gab ich verwundert zu.

Nicks Züge wurden hart.

„Klar. Weil ich mit jedem einfach so schlafe.“

Ich biss mir auf die Zunge und Nick schien das gleiche zu tun. Einen Moment lang starrten wir uns nur an.

„Na gut, vielleicht hab ich das mal gemacht“, sagte Nick schließlich. „Aber du nicht. Du hättest das niemals getan, wenn du nichts mehr für mich empfinden würdest.“

„Ach, tatsächlich?“, fauchte ich. Eine unerklärliche Wut wallte plötzlich in mir auf. Wieso war es jetzt meine Schuld? Wieso trug ich auf einmal für alles die Verantwortung? „Im Krankenhaus warst du dir da nicht so sicher. Deshalb hast du doch mit mir Schluss gemacht.“

„Du warst diejenige, die Schluss gemacht hat.“

Ich kniff die Lippen zusammen und verschränkte die Arme. Nick seufzte und raufte sich die Haare.

„Wer auch immer Schluss gemacht hat oder warum auch immer. Es ist mir egal. Ich will dich zurück.“

Ich schluckte schwer.

„Das geht nicht“, sagte ich mit rauer Stimme.

„Warum nicht? Wir müssen es niemandem sagen. Wir müssen es nicht mal Beziehung nennen. Ich möchte einfach nur bei dir sein. Du fehlst mir.“

Während er sprach, kam er näher und legte die Hände an meine Hüfte.

„Spiel nicht mit mir“, sagte ich mit erstickter Stimme.

„Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich das nicht tue.“

Bevor ich noch etwas einwenden konnte, beugte er sich zu mir herunter und legte seine Lippen sanft auf meine.

 

 

 

Glaubt ihr an die heile Welt oder steuern die beiden nur wieder auf ein Chaos zu?

Immer her mit eurer Meinung, die intressiert mich sehr. Wann's weiter geht, erfahrt ihr wie immer in meiner Gruppe "Bücher von Clara S."

Impressum

Texte: Clara Schilling
Bildmaterialien: Die Cara :D
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine allerliebsten Leser. Danke, dass ihr Nay noch treu seid und danke für eure Unterstützung!

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