Cover

Prolog

Atme

Lebe

Brenne

Stirb

Quasi una fantasia

1. Kapitel

Die Stille durchdrang die dunkle Wohnung stärker, als vollaufgedrehte Rockmusik es gekonnt hätte. Nicht, dass Mr. und Mrs. Cumber jemals Rockmusik hören würden. Oder überhaupt Musik. Soweit ich wusste besaßen sie nicht einmal ein Radio und die kleine Büchersammlung, die in den Regalen im Flur vor sich hin verstaubte, bestand auch nur aus Wörterbüchern und Atlanten.

Leblos, schoss es mir durch den Kopf, während meine Augen durch den Raum wanderten. Die weißen Wände schienen durch das Laternenlicht, das durch das zur Straße gewandte Fenster drang, schon fast klinisch, genau wie die gerahmten Fotografien. Sie wirkten stumpf und hatten nichts von eingefangenen, besonderen Momenten an sich.

Zittrig holte ich tief Luft, um Ruhe zu bewahren. Ich hob den Kopf etwas an, um einen Blick auf die blau leuchtenden Ziffern des Weckers zu werfen. Zweiundzwanzig Uhr dreizehn.

Ich ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. Die glatten Laken brannten förmlich auf meiner Haut. Nicht mehr lange. In genau siebzehn Minuten würden die Cumbers tief und fest schlafen, um erst um Punkt halb sieben morgen früh wieder in ihr geordnetes Leben zurückzukehren. Doch dann würde ich schon nicht mehr hier sein.

„Nenn mich Lisa, und das ist mein Mann Paul.“

Den Klang von tiefgekühlter Freundlichkeit in Mrs. Cumbers Stimme, als sie und ihr Ehemann mich abgeholt hatten, hatte ich noch genauso gut in den Ohren wie ihre Worte. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, lange genug bei diesen Leuten zu wohnen, als dass ich sie beim Vornamen hätte nennen können.

Nein, in diesem kalten, toten Teil von London hielt ich es nicht aus. Eigentlich liebte ich diese Stadt, schließlich hatte ich mein ganzes Leben, bis auf ein paar kurze Urlaube an der Küste, nur hier verbracht. Aber wenn ich aus dieser Wohnung weglief, dann würde ich auch die Stadt verlassen müssen.

Außerdem war sie ja auch nicht mehr hier. Ich würde sie wiederfinden, irgendwie, und dann könnten wir weiter machen wie früher.

Es war erstaunlich wie sehr mein Leben sich in den letzten zwei Wochen umgekrempelt hatte. Was ja auch verständlich war. Schließlich war ich sechzehn geworden. Und hatte meine Mutter verloren.

Nein, verloren war das falsche Wort, es war das Wort, das die Polizei benutzte. Ich wusste es besser. Sie war nur verschwunden und ich würde sie wieder finden. Aber dazu musste ich in unsere alte Wohnung und deshalb musste ich zu allererst hier raus.

Ich hörte eine entfernte Turmuhr schlagen. Ein mal, zwei mal. Es war soweit.

Ruckartig setzte ich mich auf und schlug die Decke zurück. Ich hatte mich gar nicht erst umgezogen, Vorbereitung war alles.

Nochmal ließ ich meinen Blick durchs Zimmer gleiten. Ich verstand wirklich nicht, warum in Gottes Namen diese Leute ein Pflegekind aufgenommen hatten. Möglicherweise um bei ihren Freunden mit ihrer sozialen Ader punkten zu können. Oder einfach nur um sich selbst besser zu fühlen…

Ich zog die Nase kraus. Wie fies sich das anhörte. War ich schon vorher so gemein gewesen? Ich sollte doch dankbar sein, dass sie mich überhaupt genommen hatten. Allerdings waren sie mir so unsympathisch, dass mir sogar das schwer fiel.

Noch einmal atmete ich tief durch, dann trat ich leise auf den Flur. Ich spürte meine Halsschlagader pulsieren und hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Mein Herz pochte so laut, dass ich Angst hatte, es könnte Mr. und Mrs. Cumber wecken.

Leise schlich ich am Schlafzimmer meiner Pflegeeltern vorbei und ging in Zeitlupe die Treppe hinunter. Die vorletzte Stufe gab ein Knarzen von sich, das in meinen Ohren so sehr dröhnte, dass ich panisch den Kopf einzog und zehn Sekunden reglos lauschend verharrte.

Schließlich wagte ich mich weiter. Als ich in der Küche die grüne Keksdose aus dem Regal nahm, stellte sich jedes einzelne Härchen auf meinen Armen auf und während ich die Geldscheine herausfischte, machte sich nun doch mein schlechtes Gewissen bemerkbar. Aber ich nahm ja nicht viel, nur ein bisschen für eine Fahrkarte nachhause und die Cumbers konnten es bestimmt verschmerzen.

An der Garderobe schnappte ich mir meine schwarze Regenjacke und schlüpfte in meine Sportschuhe ohne sie zuzubinden. Dann trat ich hastig nach draußen in die kühle Mainacht und zog die Tür hinter mir zu.

Geschafft.

Ich rannte los und das Adrenalin verlieh meinen Füßen Flügel.

Mein ganzer Körper schien zu vibrieren und ich bekam kaum Luft, als ich die Stufen zur Tubestation hinunter ging. Dennoch zwang ich mich dazu, ruhig zu atmen. Ich war so kurz vor dem Ziel und ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich ziehen.

Während ich am Schalter auf meine Karte wartete, schloss ich meine schwarze Jacke, obwohl mir der Schweiß den Rücken hinunter lief.

In der Tube waren außer mir nur zwei Penner, die sich wohl hier schlafen gelegt hatten. Ich genoss das vertraute Ruckeln der Bahn und den Fahrtwind, der durch die halb geöffneten Fenster drang. Allmählich beruhigte ich mich. Wenn die Cumbers sich morgen früh wundern würden, warum ich nicht auf den Schulbus hetzte, würde ich längst nicht mehr in London sein.

 

Neun Haltestellen später stieg ich aus und spätestens jetzt fühlte ich mich wohler. Hier kannte ich jede einzelne Fließe auf dem Boden und sogar die abgestandene Luft roch vertrauter.

Die Wohnung lag nur drei Minuten von der Station entfernt und ich zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht, für den Fall, dass einer der neugierigen Anwohner aus dem Fenster linste.

Natürlich hatte ich keinen Schlüssel, aber das war nicht schlimm. In dem Blumentopf, der durch die frostigen Winternächte schon voller Risse war, hatte meine Mutter einen Ersatzschlüssel versteckt, nachdem ich als Kind einmal früher von der Schule nachhause gekommen war und eine Stunde im Regen hatte stehen müssen, weil sie noch nicht da gewesen war.

Meine Finger tasteten über die trockene Erde, bis sie gegen das kühle Metall stießen. Grinsend nahm ich den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss.

Drinnen ließ ich meine Jacke an und ging direkt in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich fand mich zum Glück auch ohne Licht zurück, da alles noch genauso war, wie vor zwei Wochen, als die Polizei geklingelt hatte.

Es war spät abends gewesen und ich hatte ferngesehen, während ich gewartet hatte. Meine Mutter kam normalerweise nie später von der Arbeit. Nur an diesem Tag war sie nicht aufgetaucht. Als ich die Klingel gehört hatte, war ich davon ausgegangen, dass sie es war, doch als ich dann plötzlich den zwei fremden Männern gegenüber gestanden hatte, war mir klar geworden, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Es hat einen Brand gegeben… Die Leichen sind noch nicht identifiziert… Wir nehmen an, dass deine Mutter darunter ist… Dein Verlust tut uns Leid…

Ich schnaubte wütend und löste die verkrampften Finger von dem Wasserglas. Sie waren einfach davon ausgegangen, dass sie tot war. Und hatten mich in diese scheiß leblose Familie gesteckt, als wäre dort jetzt mein Platz. Aber mein Platz war bei meiner Mutter und die war nicht tot, da war ich mir sicher. Sie wäre nie auch nur eine Sekunde länger im Büro geblieben, als ihre Arbeitszeiten es ihr vorschrieben, denn sie hasste ihre Job. Und der Brand war eine Stunde nach ihrem Feierabend ausgebrochen. Deshalb weigerte ich mich zu trauern, deshalb akzeptierte ich es nicht herumzusitzen und zu warten, bis die Polizei irgendetwas bestätigt hatte.

Meine Mutter hatte mir erzählt, dass sie vor meiner Geburt fast jedes Jahr umgezogen war und erst mit mir zur Ruhe hatte kommen können. Trotzdem war sie manchmal so sprunghaft und in letzter Zeit war sie mir ganz unkonzentriert vorgekommen. Vielleicht war sie ja einfach in einen Zug gestiegen und sonst wohin gefahren… Ans Meer vielleicht. Wir konnten beide nicht schwimmen und doch war sie ebenso wie ich fasziniert von den unendlichen grauen Massen.

Den Gedanken, dass sie mich zurück gelassen hatte, ließ ich nicht zu. Es gab einen Grund, warum sie ohne mich gegangen war. Außerdem war da ja noch der Zettel. Der Auslöser meiner Flucht.

Ich hatte niemandem davon erzählt. Es ging ja auch niemanden etwas an. Da war keiner außer meiner Mutter, der sich je um mich gekümmert hatte.

Er hatte heute Morgen im Briefkasten der Cumbers gelegen und ich hatte ihn zum Glück vor ihnen entdeckt. Ich tastete über die Hosentasche meiner Jeans, um zu fühlen, ob er noch da war. Ich musste ihn nicht herausholen, denn die drei Worte hatten sich auf meine Netzhaut gebrannt, wie ein Licht, das man direkt angesehen hat.

Komm nachhause, Liah.

Und jetzt war ich zuhause, aber sie war nicht hier. Natürlich nicht, das hatte ich auch nicht erwartet. Aber irgendwo hier musste ein Hinweis sein, der mir sagte, wohin meine Mutter verschwunden war.

Ich strich mir meine schulterlangen, rotblonden Haare aus dem Gesicht und ging ins Arbeitszimmer meiner Mutter.

Der Schreibtisch war im Chaos versunken, so wie sonst und an der Pinnwand hingen tausende von Postkarten.

„Wo bist du nur?“, murmelte ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme.

Nervös sah ich mich im Zimmer um, aber natürlich war niemand außer mir hier. Mir war heiß und ich öffnete meine Jacke. Die Luft kam mir stickiger als sonst vor, aber ich wagte es nicht, ein Fenster zu öffnen.

Seufzend fuhr ich mit den Händen durch die Zettelwirtschaft meiner Mutter und hatte schon Angst, die ganze Nacht mit meiner Hinweissuche verbringen zu müssen, als meine linke Hand gegen etwas Hartes stieß.

Verwirrt zog ich es unter den Papieren hervor und stellte fest, dass es sich um ein schmales Kästchen handelte, dass kaum höher als meine Faust war und dreimal so breit. Ich hatte es noch nie gesehen und strich fasziniert über die Rillen in der Oderfläche, die einen verschnörkelten Triskel bildeten. Neugierig klappte ich das Kästchen auf.

Es war als würde eine Art Druckwelle herausschießen. Auf meine Ohren legte sich ein Druck und mein ganzer Körper war plötzlich taub. Ich konnte die Augen gar nicht mehr von dem Inhalt des Kästchens abwenden. Es handelte sich dabei um einen geschliffenen Glasstein oder einen Diamanten und er schien irgendein Licht zu reflektieren. Oder nein, das Licht schien in ihm zu leuchten und sich zu brechen, um sich in tausend Farbnuancen an den Kanten des Steins widerzuspiegeln.

Mein Herz klopfte laut und schwer in meiner Brust. Der Stein übte eine Art Anziehungskraft auf mich aus, der ich nicht gewachsen war. Ich hob meine freie Hand und noch während meine Finger sich auf den Stein zu bewegten, wurde mir klar, dass es nicht mein Wunsch war, ihn zu berühren, sondern seiner.

Dann berührte ich die Oberfläche, die wie aus Eis war und ein Sog riss mich nach vorn in ein Vakuum.

Gleisend helles Licht verbrannte meine Augen, doch ich nahm sie gar nicht mehr war, mein ganzer Körper war wie aufgelöst in winzige Atome und ich schwebte durch einen Regenbogen, nicht fähig etwas zu empfinden oder auch nur einen Gedanken zu fassen.

Nur einen Wimpernschlag später hörte es auf und ein lauter Schrei, der von Todesangst zeugte, ertönte. Er hallte noch in meinen Ohren, als mir klar wurde, dass es mein eigener gewesen war.

Ich war nach vorn gefallen und meine Knie schmerzten. Vor meinen Augen tanzten Punkte und mein Kopf war schwer, als hätte ich Fieber.

Etwas war anders. Wind streifte meine Haut und es roch nach Kälte und Schnee. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und mir wurde klar, dass ich nicht mehr zuhause war.

Was war geschehen?

Ich fröstelte und hob meine kribbelnden Hände, um sie zu reiben, und bemerkte erst jetzt, dass sie auf kaltem Stein geruht hatten.

Langsam stand ich auf und drehte mich um die eigene Achse.

Ich stand auf einer Lichtung in einem Wald. Die Bäume waren hoch und sonderbar verdreht gewachsen. Die Wiese war schneebedeckt, dabei war es doch Mitte Mai…

Eine Eule schrie in der Ferne und ich schrak zusammen.

Wo zur Hölle war ich? Denn dieser Ort war nicht London und schon gar nicht die Wohnung, in der ich vor ein paar Sekunden noch gestanden hatte.

War ich hingefallen und hatte mir den Kopf gestoßen? War das alles nur ein Traum oder eine Halluzination?

Aber es fühlte sich so echt an. Der Himmel und die Sterne über mir schienen realer und lebhafter als die Wohnung der Cumbers.

„Hallo?“, flüsterte ich heiser und räusperte mich nervös.

„Hallo? Ist da jemand? Hallo?!“, rief ich.

Meine Stimme halte in den Bäume nach. Dann Stille.

Ich hatte ein kribbeliges Gefühl im Nacken. Mit pochendem Herz wirbelte ich herum, konnte aber nichts außer Bäumen entdecken.

Schweiß rann mir über den Körper, trotz der eisigen Kälte und meiner dünnen Kleidung. Ich war in einem Wald. Bei Nacht. Und es war offensichtlich Winter. Außerdem hatte ich keine Ahnung wie ich hier her gekommen war, geschweige denn wie ich hier wieder raus finden sollte.

„Hallo?!“, schrie ich verzweifelt, doch es kam keine Antwort.

„Tief durchatmen, Liah. Keine Panik, es gibt eine Erklärung und eine Lösung für das alles“, wisperte ich.

Vorsichtig musterte ich meine Umgebung genauer.

Ich kniete auf einer runden Steinplatte, in die ein Triskel gemeiselt war. Der gleiche, wie auf dem Holzkästchen! Was hatte das zu bedeuten?

Anscheinend befand ich mich auf einer Art Podest, denn der Boden war zwei Meter entfernt, wie ich jetzt erkannte. Erschrocken rang ich nach Luft und versuchte mit aller Macht zu vergessen, dass ich Höhenangst hatte.

„Oh mein Gott“, ächzte ich nervös und sprang kurzerhand nach unten, denn vor dem Fallen hatte ich weit weniger Angst, als vor dem Hinabblicken.

Der Schnee knirschte leise und dämpfte meine Landung zusehends. Ich erhob mich schwankend und versuchte das eisige Nass von meiner Kleidung zu klopfen, bevor es schmolz und sie durchdrang.

Verdammte Scheiße, wenn nicht bald etwas passierte, dann würde ich erfrieren.

Wie sollte ich hier weg kommen? Ich hob den Blick erneut zum Himmel beim hoffnungslosen Versuch, mich an den Sternen zu orientieren. Hoffnungslos deshalb, weil ich keinen einzigen erkannte. Und das nicht, weil ich keine Ahnung hatte, sondern weil der Himmel ein anderer zu sein schien.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Das war nicht möglich. Überhaupt nichts war hier möglich. Und dennoch spürte ich die Realität genauso wie das Stechen der kalten Luft in meinen Lungen.

Auf einmal knackte es im Unterholz und ich zuckte zusammen. Nervös spähte ich in die Dunkelheit, doch es war nichts zu sehen.

„Ist da jemand?“ Meine Stimme zitterte stärker als beabsichtigt. „Hallo? Hallo?“

Wieder knackte es. Diesmal rechts von mir. Ich fuhr herum, doch wieder konnte ich rein gar nichts erkennen.

„Wer ist da?“, rief ich etwas lauter. „Das ist nicht witzig! Sei ein Mann und zeig dich!“

Die dumme Provokation verlieh mir Mut.

„Ich bin kein Mann.“

Ich schrie auf und wirbelte herum.

Na gut, vielleicht doch kein Mut.

Vor mir stand ein hellgrauer Wolf. Ein großer hellgrauer Wolf, und ich war mir sicher, dass er gerade etwas gesagt hatte.

Meine Kehle war staubtrocken. Ich wollte erneut schreien und einfach nur weglaufen, doch ich war wie gelähmt.

Jetzt traten weitere Wolfe zwischen den Bäumen hervor. Ich zählte zwölf Stück.

„Ach du heilige Scheiße“, wisperte ich und stolperte zurück.

„Mein Name ist Norlos. Ich bin der Alpha dieses Rudels“, stellte sich der hellgraue Wolf vor und mir klappte die Kinnlade herunter.

„Liah… Jones“, krächzte ich eher perplex als verängstigt.

Ich hatte das Gefühl, dass er das schon wusste und auf mich gewartet hatte. Verdammt, das war krank.

„Wo bin ich?“, fragte ich nervös und rieb mir über die Arme.

„Das kann doch nur ein Witz sein!“, rief plötzlich ein schiefergrauer Wolf.

Unruhe kam unter den Wölfen auf.

Ein hysterisches Lachen kroch meine Kehle hinauf, doch ich wagte nicht es über meine Zunge kommen zu lassen. Diese Tiere konnten sprechen. Und jetzt waren sie anscheinend auch noch verärgert.

„Sie ist ein kleines Mädchen, wie soll sie uns helfen?“, knurrte jetzt eine schwarze Wölfin. „Es ist eine Schande überhaupt um Hilfe zu bitten!“

Der hellgraue Wolf Norlos stieß ein dunkles Knurren aus und ich musste mir die Hand auf den Mund legen, um nicht zu schreien. Dann wurde mir klar, dass er damit nur sein Rudel zurechtgewiesen hatte.

„Du bist im Land zwischen den Zeiten“, grollte er. „In der Mittelwelt.“

„Was…? Wie…? Und warum?!“, stammelte ich und ein braungrauer Wolf trat vor. An seiner Stimme erkannte ich, dass er weiblich war.

„Die Mittelwelt ist das Verbindungsstück zwischen allen anderen Welten. Und sie ist in Gefahr.“

„Und was hab ich dann hier verloren?“, wollte ich entgeistert wissen.

„Du bist Teil einer uralten Prophezeiung, die von einem Orakel stammt, das meiner Meinung nach nicht sehr vertrauenswürdig ist“, knurrte der schiefergraue Wolf und zog die Lefzen hoch.

Ich war mir nicht sicher, ob er mich bedrohte oder nur grinste, deshalb wandte ich schnell den Blick ab.

„Also ich weiß nichts von einer Prophezeiung oder einem Orakel“, meinte ich und grub nervös meine Finger in meine Regenjacke. „Aber da wo ich herkomme, gibt es sowas nicht. Also wie wäre es wenn ihr mich einfach wieder zurückschickt und…“

„Das ist nicht möglich“, fauchte die schwarze Wölfin und ich zuckte zusammen. „Seht sie euch nur an! Sie ist unwissend. Und ein Mensch noch dazu. Sie kann nicht unsere Rettung sein!“

„Es ist, wie es ist“, stellte Norlos mit ruhiger und fester Stimme klar. „Die Prophezeiung besagt, dass der Retter in der 22. Nacht des fünften Mondes im Jahre 42748 nach Evelants Geburt kommen wird. Er wird aus einer anderen Welt kommen und er wird anders sein. Anders als alle Helden zuvor, und er wird die Mittelwelt vor der dunklen Gefahr retten, die dann drohend über ihr schweben wird.

Es wird zu der Zeit sein, in der die Bauern abends nicht mehr in den Stall gehen und das Haus nicht mehr verlassen wenn es dunkel wird. Es wird die Zeit sein, in der die Mütter ihre Kinder nicht mehr aus den Augen lassen und in der kein vernünftiger Wanderer im Freien schläft.

Diese Zeit ist angebrochen und du wirst sie beenden.“

Völlig benommen von der Ankündigung starrte ich den Wolf an.

„Ähm. Ist das… Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Ich meine, eure Situation tut mir ja leid, aber ich bin gerade mal sechzehn Jahre alt und habe bisher noch nie etwas von eurer Welt gehört“, sagte ich vorsichtig.

„Du wirst deinen Kampf nicht allein kämpfen. Und nun folge uns!“

„Was für einen Kampf? Hey, jetzt wartet doch mal, gegen wen überhaupt?“, rief ich verstört, während die Wölfe vor meinen Augen ins Unterholz abtauchten.

„Verflucht“, brummte ich und rannte ihnen nach.

Lieber würde ich mit sprechenden Wölfen durch einen Wald hetzen, als alleine auf der Lichtung zu erfrieren.

Hastig kletterte ich über die Wurzeln und umgestürzten Bäume. Meine Kleidung verfing sich immer wieder im Gestrüpp und ich veranstaltete einen Heiden Lärm, während die Wölfe vor mir elegant über die Hindernisse hinweg setzten.

„Wartet doch mal, ich bin nicht so schnell“, keuchte ich und fiel fast auf den gefrorenen Boden.

Ein Wolf lief tatsächlich langsamer und gesellte sich zu mir. Ich gab mir Mühe trotzdem nicht nachzulassen und mein Tempo zu halten. Der Wolf beobachtete mich von der Seite und ich warf ihm einen abschätzenden Blick zu. Sein Fell war fast gänzlich braun und er machte irgendwie keinen so furchteinflößenden Eindruck wie die anderen.

„Man nennt mich Solos“, sagte er plötzlich.

„Nett dich kennen zu lernen“, keuchte ich und versuchte den Sarkasmus der mir auf der Zunge brannte, zu vermeiden.

In was für eine groteske Situation war ich hier nur geraten?

Endlich wurden die Wölfe langsamer und blieben an einer Stelle, an der die Bäume weiter voneinander entfernt standen und das Gestrüpp fast verschwunden war, stehen. Ein paar schnüffelten an den Bäumen und Büschen, doch Norlos und zwei andere ließen sich etwas abseits nieder und obwohl ich nichts hörte, hatte ich das Gefühl, als unterhielten sie sich.

„Was ist jetzt los?“, fragte ich keuchend.

Ich rannte schnell und ausdauernd, aber mit Wölfen konnte ich trotzdem nicht mithalten und dieses Querfeldein war sie schon gleich gar nicht gewohnt. Mein Herz trommelte hart gegen meine Brust und ich fühlte, dass dies kein Traum sein konnte. Trotz allen Merkwürdigkeiten war dies wirklich die Realität.

„Sie beratschlagen wie es weiter geht“, erklärte Solos und ich wandte ihm den Blick zu.

„Was sind denn die Möglichkeiten?“

„Ich glaube, sie wollen nicht im Wald bleiben, zumindest nicht an einer Stelle. Aber wir sind schon lange unterwegs und viele brauchen eine Pause. Vor allem du.“

Ich hatte keine Kraft mehr, um mich über die leichte Belustigung in seiner Stimme aufzuregen. Ich war verschwitzt und fror erbärmlich. Das Adrenalin allein ermöglichte es mir, aufrecht stehen zu bleiben.

„Was ist das denn für ein Wald?“

„Der Fleidr Wald. Er ist von Magie so durchtränkt, dass die Bäume angeblich sprechen und hören können.“

„Echt jetzt?“, fragte ich ungläubig.

„Zumindest sagen das die Barden. Aber wenn du mich fragst, dann glaube nie etwas, das dir ein Barde erzählt.“

„Aha“, machte ich verwirrt.

Ich fuhr mir durch die Haare und pflügte Zweige und Blätter heraus. Zum ersten Mal war ich froh, dass ich nicht die Locken meiner Mutter geerbt, sondern ganz glattes Haar hatte. Meine Jeans war klatsch nass und meine Füße fühlten sich in den Turnschuhen wie Eiszapfen an.

„Solos, ich muss mich irgendwie aufwärmen“, murmelte ich und schlang zitternd die Arme um meinen Körper.

„He, Mädchen, komm mit!“

Am Waldrand stand die schwarze Wölfin. Was jetzt? Unsicher sah ich zu Solos.

„Was willst du, Osta?“, fragte er und stellte sich zwischen uns.

„Vertraust du deiner eigenen Sippe nicht mehr?“, fragte Osta spöttisch. „Ich habe dahinten etwas Thersra gefunden. Das ist für Menschen essbares Kraut“, erklärte sie mir herablassend. „Es sei denn, du bist schon zu müde.“

Osta zog die Wörter verächtlich in die Länge und ich schnaubte. Ich hasste Provokation. Und obwohl es vielleicht einfach nur dämlich war, zuckte ich mit den Schultern.

„Schon okay, Solos.“

„Okay?“ Er sprach das Wort aus, als hätte er es noch nie gehört.

„Das heißt in Ordnung“, grinste ich und ging so selbstbewusst und aufrecht wie möglich auf die Wölfin zu.

Dass einige Begriffe aus meiner Welt hier nicht so geläufig waren, war eigentlich nur logisch. Ich überlegte, welche Wörter hier noch unbekannt sein könnten, und verlor die Wölfin kurz aus den Augen.

„Moment!“ Ich rannte ihr nach, obwohl meine Muskeln wie Espenlaub zitterten.

Ein Fehler, wie ich bemerkte. Ich hatte sich etwas von der Lichtung entfernt und wusste nicht mehr aus welcher Richtung ich gekommen war. Jeder Baum sah gleich aus und die Wölfin war auch verschwunden.

„Hallo?“, rief ich leise.

Neben mir raschelte es.

„Was soll denn der Blödsinn?“, murmelte ich und wandte mich nach rechts.

Noch ein Rascheln. Diesmal hinter mir.

„Wo bist du? Hör auf damit und komm raus!“

Ich wirbelte herum und knallte direkt gegen einen Baum.

2. Kapitel

„Verdammt“, fluchte ich und rieb mir stöhnend den Kopf.

Ich hätte schwören können, dass da eben noch kein Baum gestanden hatte.

„Willst du dich nicht entschuldigen?“, fragte plötzlich eine uralte Stimme, die wie das Knarzen eines Baumes im Wind klang.

„Was?“, stammelte ich verwirrt.

„Ungeschickt und dann auch noch unhöflich. Ist das zu fassen?“, meinte eine kratzige Stimme, die direkt aus dem Boden zu kommen schien.

„Wer ist da?“, fragte ich verwirrt und machte erschrocken einige Schritte zurück.

Ich hatte angenommen, dass Solos nur gescherzt hatte, als er meinte, die Bäume hier könnten sprechen. Doch jetzt überkam mich ein ungutes Gefühl, was das anging.

„Immer wieder fragt sie, wer man ist! Wo man ist! Kann es sein, dass du auf der Suche bist?“, fragte nun eine dritte tiefe Stimme.

„Ich suche eine Wölfin. Schwarzes Fell.“

Nervös zuckten meine Augen hin und her, aber auf den Bäumen waren auch keine Gesichter, so wie in schlechten Horrorfilmen.

„Die suchst du vielleicht jetzt, aber nur weil du nicht weißt, wie du zurück zur Lichtung kommst!“, meinte die erste Stimme.

„Die Frage ist, was du wirklich suchst“, stellte jetzt die kratzige Stimme fest.

„Ich suche gar nichts! Und jetzt sagt mir, wer ihr seid!“, forderte ich genervt.

Die ganze Situation war so albern… Und ich hatte das Gefühl, wer auch immer machte sich über mich lustig.

„So unhöflich!“, wiederholte die kratzige Stimme.

„Also gut“, seufzte ich. „Mein Name ist Liah Jones. Ich habe mich hier verirrt und ich würde gerne wissen, wer ihr seid und vor allem wie ich wieder zurück zu den Wölfen komme! Könntet ihr mir bitte helfen?“

„Na das ist jetzt eher mein Geschmack“, verkündete die kratzige Stimme.

„Gut, Liah Jones. Die Wölfin namens Osta ist längst zurück auf der Lichtung“, erklärte die alte Stimme. „Du musst nur gerade aus und nach kurzer Zeit bist du da.“

„Ähm, danke.“

„Liah Jones, ich spüre, dass du auf der Suche bist. Deshalb helfe ich dir“, verkündete die erste Stimme wissend.

„Was meinst du damit? Was suche ich? Und wer seid ihr überhaupt?“

„Wir sind der Wald, Liah Jones“, meinte die kratzige Stimme.

„Ja, wir sind der Geist des Waldes. Besser gesagt, die Geister des Waldes. Wir sind die Wächter der Reisenden und die Wächter des Steins der Ankunft“, sagte die tiefe Stimme.

Ich runzelte die Stirn.

„Was ist der Stein der Ankunft? Das Ding, auf dem ich gelandet bin?“

„Genug gefragt, Suchende. Geh zurück zur Lichtung!“, befahl die kratzige Stimme gebieterisch.

Plötzlich taten sich die Zeige auf und ich konnte vor sich einen Pfad erkennen.

Meine Güte, war das abgefahren. Ich kam mir ein bisschen vor wie Alice im Wunderland, nur dass ich noch normal groß und kurz vor dem Erfrieren war.

„Einen Rat will ich dir geben, Liah Jones!“, rief die alte Stimme. „Du wirst viele Abenteuer erleben, Prüfungen absolvieren und Kämpfe ausfechten, doch am Ende wirst du finden, was du suchst.“

Die Stimme wurde leiser und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, wieder allein zu sein.

„Danke“, murmelte ich trotzdem.

Alles war still, viel zu still für einen Wald. Schnell ging ich den Pfad entlang und wie der Geist gesagt hatte, war ich schon bald wieder auf der Lichtung.

„Da bist du ja“, knurrte Osta genervt und ließ mir ein Maul voller kleiner Kräuterstängel auf die Füße fallen. „Dein Orientierungssinn ist wohl auch nicht zu gebrauchen.“

Ich sah davon ab, sie wütend anzufahren, da ihre Zähne doch ziemlich einschüchternd auf mich wirkten, und hob unsicher die Stängel auf, sobald die Wölfin sich verzogen hatte.

„Keine Sorge, du kannst das essen“, versprach Solos mir, der eben neben mir aufgetaucht war.

„Mhmm“, murmelte ich müde und ließ mich in den Schneidersitz sinken.

Ich musterte das grüne Zeug in meinen Händen und nachdem ich lang genug über Krankheiten und Bakterien gerätselt hatte, biss ich vorsichtig ein paar Blätter ab.

„Gibt es das in deiner Welt nicht?“, wollte der Wolf wissen und ich schüttelte den Kopf.

Da es nicht schlecht schmeckte und ich durch das ganze Gerenne in der Kälte ziemlich hungrig war, schlang ich es schnell herunter und stellte erfreut fest, dass es auch meinen Durst löschte.

Auf einmal veränderte sich die Atmosphäre. Die Wölfe sprangen auf und stellten ihre Nackenhaare auf. Eine knisternde Spannung elektrisierte die Luft und legte sich um meine Brust, sodass ich kaum atmen konnte. Der Geruch von totem Fleisch und Verwesung drang in meine Nase. Die Äste der Bäume um uns herum knackten und die Blätter raschelten.

„Was ist los?“, fragte ich mit gedämpfter Stimme.

Bewegung kam in die Wölfe und ich erhob mich leicht schwankend. Ein einziges Wort verließ Solos‘ Maul.

„Lauf!“

Ich rannte los.

Es erschien mir wie ein Wunder, dass ich mit den Wölfen Schritt hielt. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper und gab mir eine Kraft, von der ich noch nie etwas geahnt hatte. Ich wusste nicht, wovor wir davonliefen, aber eine gewisse Panik ließ sich nicht vermeiden. Dies war eine fremde Welt und wenn hier Wölfe und Bäume sprechen konnten, dann wollte ich gar nicht wissen, was alles hinter uns her sein konnte.

Ein Klirren, wie von Waffen, die gegen Rüstungen schlugen, schwoll an. Was auch immer schien näher zu kommen. Was war das nur, dass es diese Wölfe in die Flucht jagte?

Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und meinen Atem keuchen. Meine Muskeln protestierten bei jeder weiteren Bewegung mit der ich durch das Unterholz jagte.

Dann fiel etwas in einem roten Panzer von einem Baum und riss mich mit sich. Ich konnte einen Schrei nicht unterdrücken und versuchte das Ding, das sich wie ein Eisklotz anfühlte, von mir abzuschütteln, doch es war zu schwer. Das Ding trug einen blutroten, kantigen Helm, durch dessen Augenschlitz mich nichts als dunkle Leere anstarrte. Es hatte dünne, aber kräftige Arme und Beine, mit verhältnismäßig großen Händen und Füßen. Die dünnen spitzen Finger legten sich auf meine Brust und bohrten sich durch meine dünne Jacke. Ein ungeheurer Druck legte sich um mein Herz und ich schrie vor Schmerz auf. Es fühlte sich an, als würde mein Blut in Flammen stehen.

Ein Ruck ging durch das Blechbüchsenwesen und es wurde von mir herunter gerissen. Ein Wolf hatte seine Zähne in seinen plumpen Rumpf geschlagen und schüttelte es hin und her. Das Metall riss mit einem Kreischen und schwarzer Rauch stieg daraus hervor. Der Wolf ließ die leere Rüstung fallen und stürzte sich auf den nächsten Gegner.

Ich sprang auf und sah mich um. Die roten Dinger waren überall und mit Speeren bewaffnet. Sie reichten mir kaum bis zur Schulter, doch sie kämpften gut. Und sie waren in der Überzahl.

Die Wölfe hatten sich ringförmig um mich formiert und verteidigten mich so gut sie konnten. Doch kaum eine der Blechbüchsen fiel, und drei Wölfe waren verletzt und hatten blutende Wunden. Sie konnten nicht gewinnen.

Ich sah mich verzweifelt nach Rettung um. Ich wusste nichts über die Dinger und hatte keine Ahnung was sie überhaupt waren. Also wusste ich auch nicht was für Schwachstellen sie hatten oder wie man ihnen entkommen konnte.

Meine Hände zitterten. Das hier war keine Geschichte, kein Film, den man ausschalten konnte. Es ging um Leben und Tod.

„Es gibt eine Lösung“, murmelte ich und sah mich hektisch um.

Der Kampfschauplatz lag komplett im Dunkeln, doch da hinten, zwischen den Ästen, da ging die Sonne auf. Das bedeutete, dass erstens ein neuer Tag anbrach und es zweitens nicht mehr weit aus dem Wald heraus war, die Bäume also lichter standen. Ich hatte eine Idee, doch keine Ahnung, ob sie zutraf und wie ich sie umsetzen sollte. Die Kampfgeräusche machten mich wahnsinnig und ich konnte nicht klar denken, aber ich hatte keine Zeit mehr. Die Überlegung war schwachsinnig, aber wenn sie stimmte, dann brauchten wir einfach nur die Sonne.

Ausgerechnet in diesem Moment drang ein Lichtstrahl durch die Äste und fiel auf eins der roten Dinger. Es jaulte auf und stob davon, tiefer in den Wald. Ich sah nach oben. Da war ein Ast. Wenn ich den abbrachen könnte…

Aber das war zu hoch. Verdammt, verdammte Höhenangst, ich konnte doch hier niemanden sterben lassen! Ich rannte auf den Baum zu und zog mich an einem untern Ast hoch.

Nicht nach unten schauen, nur nicht nach unten schauen, das ist der Trick, redete ich mir in Gedanken zu.

Der Lärm des Kampfes dröhnte mir in den Ohren, während ich immer höher kletterte.

Dann war ich schon an dem großen, oberen Ast angelangt, der dem Sieg im Weg stand. Er war zu dick um ihn abzubrechen, aber zu dünn, als dass er mich hätte tragen können. Ich trat so fest ich konnte gegen ihn, doch außer Schmerzen brachte mir das nichts. Ich warf einen Blick nach unten. Die Wölfe sahen von hier viel kleiner aus… Und die Gegner erschienen noch übermächtiger.

„Fallen ist nicht so schlimm, wie runter schauen“, murmelte ich und verzog das Gesicht. „Oh, Scheiße!“

Ich verzog das Gesicht, dann kroch ich auf den Ast. Er schwankte bedrohlich. Ich klammerte mich daran, dann trat ich gegen den Stamm und brachte den Ast so zum Schwingen. Es knackte. Ich kniff die Augen zusammen und trat nochmal. Der Ast brach und ich stürzte nach unten.

Die niedrigeren Äste peitschten mir ins Gesicht, hinter ließen Kratzer und blaue Flecken, doch das war nichts gegen den Aufprall auf dem Boden. Alle Luft wich aus meinen Lungen und ich fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trocken. Ich hörte nichts, vor meinen Augen tanzten Sterne. Aber es war nichts gebrochen, zumindest fühlte es sich nicht so an. Endlich bekam ich wieder Luft und krabbelte keuchend unter dem Ast hervor, obwohl jede Bewegung Schmerzen auslöste.

Es war hell und gleißendes Sonnenlicht strahlte auf uns herab. Die Blechbüchsen kreischten, eine fiel beim Versuch zu fliehen, in sich zusammen und schmolz. Die anderen rasten unter Getöse zurück in den Wald, dorthin, wo er so tief war, dass vermutlich nie ein Lichtstrahl bis zum Boden drang.

Nach einer Ewigkeit wurde das Klirren leiser und ich setzte sich hustend auf den Hosenboden.

„Vielleicht ist runter schauen doch nicht schlimmer als fallen“, keuchte ich und eine feuchte Schnauze stieß gegen meine Wange.

„Siehst du Osta, sie kann sehr wohl kämpfen“, stellte Solos fest. „Geht es dir gut?“

Ich nickte.

„Woher wusstest du das mit dem Licht?“

„Pures Glück“, presste ich hervor und stand auf.

Mir tat alles weh und es war furchtbar kalt. Ich wollte jetzt nichts weiter, als ein warmes Bett und Ruhe und Frieden.

„Wir sollten den Wald so schnell wie möglich verlassen, noch sind wir nicht in Sicherheit“, sagte Norlos und die Wölfe setzten sich sofort in Bewegung.

„Geht schon“, meinte ich leise auf Solos‘ fragenden Blick, aber am liebsten hätte ich mich heulend zusammen gerollt. Nicht wegen den Schmerzen, sondern wegen der Erschöpfung und der Frustration immer noch weiter gehen zu müssen.

Netter Weise blieben die Wölfe im Schritttempo.

„Was zur Hölle war das?“, brachte ich total erschöpft hervor, als wir endlich aus dem Wald raus waren und um uns herum nichts außer einer hügeligen, seicht verschneiten Landschaft war.

„Das waren die Herzstehler“, meinte Norlos trocken.

„Aha“, machte ich. „Und noch mal: Was zur Hölle war das?“

Eigentlich wollte ich es gar nicht wirklich wissen, ich wollte nur noch schlafen. Vielleicht auch etwas essen und trinken. Und vor allem ins Warme.

„Seht ihr, was ich meine? Sie hat von nichts eine Ahnung!“, fauchte Osta wütend.

„Ruhe!“ Norlos Stimme klang gebieterisch und Augenblicklich waren alle leise.

Ich verstand, warum ausgerechnet er der Alphawolf war.

„Die Herzstehler“, begann eine Wölfin, die Westa hieß. „sind keine natürlichen Wesen. Kristalla hat sie erschaffen.“

„Und wer ist Kristalla?“, nuschelte ich. Meine Lippen waren taub und meine Knie zitterten.

„Ich glaube, wir sollten uns erst mal eine Unterkunft suchen. Sie ist am Ende ihrer Kräfte“, meinte Solos unruhig. „Und auch wir brauchen eine Pause. Es gibt Verletzte.“

Gutes Stichwort. Ich stolperte im Stehen über meine eigenen Füße, fiel hin und übergab mich in den Schnee.

„Hier in der Nähe wohnt ein Bauer, er wird uns Unterschlupf gewähren“, verkündete Norlos und ich schloss kurz die Augen.

Das war die verrückteste Nacht, die ich je erlebt hatte und auch die anstrengendste. Nur noch ein paar Schritte, dann konnte ich mich ausruhen.

Ich stemmte mich hoch und ging langsam, aber zielstrebig neben Solos her.

Wir schlängelten uns zwischen den Hügeln hin und her und ich fühlte mich wie im Delirium. Morgen würde ich vermutlich todkrank sein und an Grippe sterben, weil diese Freaks hier keine Antibiotika hatten.

Norlos hatte gemeint, wir wären auf dem Weg zu einem Bauern, aber welcher Schwachkopf würde in dieser Eiswüste etwas anbauen? Vielleicht gab es hier ja irgendwelchen Kram, der auch bei Kälte wuchs.

Und dann endlich, als wir einen weiteren Hügel umrundet hatten, sah ich die Scheune. Gleich daneben ein Haus, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Wärme! Heureka…

Ich kletterte über den Holzzaun, der das Grundstück umgab, während die Wölfe unten durch krabbelten. Dann schwang die Tür auf und ein Mann kam uns entgegen gerannt. Er fing mich gerade noch rechtzeitig auf.

 

Im Haus war es wunderbar warm und nachdem ich in einer kleinen Kammer meine nassen Klamotten gegen ein Wollkleid, das die Frau des Bauers mir netterweise geliehen hatte, eingetauscht hatte, fühlte ich mich schon etwas besser. Ich wankte zurück in die Stube, wo ich mich auf eine Holzbank an einen Tisch setzte. Ein Feuer prasselte im Kamin und die Bäuerin, die Herna hieß, stellte mir eine Schale Suppe hin.

„Danke“, sagte ich und die Bäuerin lächelte gutmütig.

„Das ist doch das Mindeste, was wir tun können.“

Ich verstand nicht richtig, was Herna damit meinte, aber es war mir im Moment auch egal. Meine Augen fielen mir immer wieder zu und ich löffelte die Suppe träge in mich hinein, ohne etwas von ihrem Geschmack mitzubekommen.

Norlos und Westa, eine Wölfin mit weißem Fell, dass nur an Schnauze, Ohren und Schwanzspitze schwarz verfärbt war, waren die einzigen Wölfe die ins Haus gekommen waren, die anderen lagen alle in der Scheune und schliefend den Schlaf der Gerechten. Doch das schien mir noch nicht vergönnt. Hätte ich einfach mal die Klappe gehalten und diese Kristalla einfach Kristalla sein lassen…

„Ich denke, das Beste ist, wenn wir weit ausholen, dann können wir dir auch erklären, warum du hier bist“, sagte Westa und mir kam es so vor, als würde die Wölfin lächeln. „Am besten erkläre ich dir zuerst, wer wir überhaupt sind.“

„Find ich gut“, murmelte ich und biss ein Stück von der Scheibe Brot ab, die Herna mir gegeben hatte.

Die Bäuerin hatte die Stube verlassen, um nach ihren Kindern zu sehen, doch Akko, ihr Mann, saß auf einem Stuhl in der Ecke und hörte aufmerksam zu. Laut Norlos war er auf „unserer“ Seite und außerdem war sein Ziehsohn bei den Rittern der Ewigkeit. Was immer das bedeutete.

„Wir sind die Himmelswächter der Zwischenwelt, obwohl wir nicht wirklich etwas mit dem Himmel zu tun haben.“

„Klar“, brummte ich und ein Kichern drang aus meinem Mund, als ich mir vorstellte, wie die Wölfe mit seltsamen Schwimmbewegungen durch die Luft flogen.

Meine Güte, ich musste ins Bett.

„Normalerweise sind wir Wölfe nicht im Rudel unterwegs, sondern zu dritt, und patrouillieren durch das Land. Ich im Westen, Osta im Osten, Norlos im Norden und Solos im Süden. Das heißt wir sind die Wächter. Jeder von uns wird von zwei Kämpfern begleitet, die eigens für diesen Zweck ausgebildet wurden.

Die Zwischenwelt ist eine eigene Welt, so wie die, aus der du kommst. Sie ist die wichtigste von allen und braucht deshalb einen guten Schutz. Es gibt noch andere Welten und wenn man von der einen in die andere will, muss man zuerst durch diese. Sie ist eine Art Verbindungsstück zwischen allen anderen. Deshalb wird die Zwischenwelt auch das Land zwischen den Zeiten genannt.“

Aha. Wolfkämpferausbilder wär ja mal ein interessanter Beruf, überlegte ich und erkannte den Spott in meinen Gedanken. Aber die Situation war auch irgendwie schräg.

„Doch die Zwischenwelt ist in großer Gefahr und es wurde prophezeit, dass in dieser Nacht ein Held, ein Auserwählter aus einer anderen Welt kommen würde, und den Kampf gegen das Böse antreten wird.“

„Sollten wir dann nicht nach diesem Auserwählten suchen?“, brummte ich und zog die Beine an.

„Liah Jones, du bist diese Auserwählte“, meinte Norlos.

„Ja, aber es könnte doch sein, das an irgendeinem anderen Ort hier jemand angekommen ist…“

„Das Portal zwischen den Welten öffnet sich nur im Fleidr Wald auf dem Stein der Ankunft. Du bist die Auserwählte, glaub uns“, sagte Westa bestimmt.

„Und was ist dieses unheilvolle Böse? Und was hat das alles mit diesen Herzstehlern und Kristalla zu tun?“

„Das kommt jetzt“, fuhr Westa fort. „Vor 24 Jahren begann der Winterkrieg. Die Armee der Zwischenwelt kämpfte gegen die von Kristalla. Kristalla ist eine mächtige Magierin, sie beherrscht die Kälte und das Eis. Seitdem sie den Krieg begonnen hat, hatten wir keinen richtigen Sommer mehr.

Unsere Königin wurde aus Sicherheitsgründen evakuiert. Vor kurzem kam sie jedoch zurück um sich Kristalla zu stellen. Sie verlor, denn Kristalla schaffte es einen Bann auf sie zu legen, sodass unsere Königin wie tot ist. Sie wird erst wieder erwachen, wenn Kristallas Einfluss gebrochen wird.

Diese war vom Kampf geschwächt und zog sich nach Dragon zurück, eine Stadt im Mirakurgebirge. Dort befindet sich auch ihre Festung. Du bist auserwählt, sie zu töten.“

Ich schluckte. Das klang alles sehr gefährlich und brutal.

„Ich glaube nicht, dass ich irgendjemand töten werde. Ich bin nicht…“

„Es wurde prophezeit und das Orakel irrt sich nicht“, begann Norlos, doch ich unterbrach ihn.

„Aber was, wenn ich nicht will? Vielleicht habt ihr euer Orakel auch nur falsch interpretiert! Außerdem, wenn es so einfach ist dahin zu kommen, dann schickt doch um Himmels Willen einen ausgebildeten Krieger hin!“

„Es geht nicht darum, was wir im einzelnen wollen“, sagte Norlos düster. „Es geht darum, wofür wir bestimmt sind und welche Aufgabe das Schicksal uns zuweist.“

Ich atmete tief durch. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun?

„Ihr habt immer noch nicht genau gesagt, was Herzstehler sind“, erinnerte ich schließlich die Wölfe.

„Die Herzstehler wurden von Kristalla durch schwarze Magie erschaffen. Sie bestehen aus einer Metallrüstung, die mit einem magischen Bann belegt ist. Dieser Bann verstärkt die Rüstung zum einen, aber er bewirkt auch, dass die Dämonen, die in der Rüstung eingesperrt sind, nicht heraus können.“

Ich sog scharf Luft ein. Kristalla hatte Dämonen in Rüstungen eingesperrt? Ich wusste, dass Dämonen böse Geister waren. Zumindest stand es so in jedem Fantasy-Roman, den ich gelesen hatte.

„Dämonen sind Geschöpfe, die aus dem Hass und der Wut Sterbender entstehen. Wenn ein Wesen stirbt werden alle negativen Energien, die es in diesem Moment in sich trägt, gesammelt. Meistens sind das nicht viele, eine kleine unbedeutende Menge, die nicht genug Masse hat um sich selbst zu erhalten. Nach kurzer Zeit gehen sie wie die positiven Energien in den Kreislauf des Ganzen über. Wenn es jedoch mehr negative Energie gibt, als normalerweise, schließt sie sich in eine Art leuchtende Kugel zusammen. Da sie keinen Körper haben, durch den sie die Energie abbauen kann, schwirrt die Kugel einfach durch die Luft, bis sie durch einen Bann an einen Körper gebunden werden. Allerdings sind die Rüstungen keine Körper aus Fleisch und Blut sondern nur leere Hüllen. Das führt dazu, dass die Energie einfach nur weiter existiert und sich im schlimmsten Fall vermehrt“, schloss Norlos seine Erklärung.

Ich legte meinen Kopf auf die Knie. Das hörte sich gar nicht gut an.

„Warum heißen sie denn überhaupt Herzstehler?“, fragte ich.

„Weil sie dir das Herz herausreisen, um dich zu töten“, sagte der Bauer Akko düster, der bis eben geschwiegen hatte.

Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter.

„Aber wenn Kristallas Blechbüchsen hier sind, ist sie dann auch in der Nähe?“

„Nein, sie ist in Dragon in ihrer Festung um sich zu stärken. Sie schickt Patrouillen durch das Land, um zu wissen was vor sich geht. Sie plündern die Dörfer und versetzen ihre Bewohner in Angst und Schrecken. Unsere Krieger kommen kaum gegen sie an.“

„Und was passiert, wenn Kristalla sich gestärkt hat?“

„Wir wollen mit deiner Hilfe verhindern, dass es soweit kommt. Wir werden nach Dragon gehen und dort wird alles ein Ende nehmen!“, erklärte Norlos mit großer Überzeugung in der Stimme.

Ob es ein gutes oder ein schlechtes Ende nahm, lag jetzt wohl in meiner Hand. Und das gefiel mir gar nicht.

3. Kapitel

Die Sonne schien erbarmungslos vom Himmel herab. Vermutlich würde ich schneeblind, wenn wir nicht bald aus dieser weißen Wüste kamen.

Immerhin würde ich aber nicht erfrieren, denn Akko und Herna hatten mir alte Kleidung von ihrem Ziehsohn geschenkt, wofür ich ihnen unendlich dankbar war. Die mit Fell gefütterte Hose und das Hemd, das ich über meinem Langarmshirt trug, waren zwar etwas zu weit, aber die Stiefel und die Felljacke passten ziemlich gut.

Meine Regenjacke hatte ich mir um die Schultern geschlungen wie ein Cape und meine Jeans hatte ich mir wie einen Turban um den Kopf gewunden. Das sah zwar dämlich aus, aber es hielt warm. Meine Sportschuhe hatte ich mir über die Hände gestülpt und ich konnte mich so wunderbar abfangen, wenn ich ausrutschte, was nicht gerade selten der Fall war.

Ich erinnerte mich an den Abschied nach dem Frühstück. Das Ehepaar hatte mir versichert, dass jeder rechtschaffene Bürger mir zur Seite stehen würde und ich hätte am liebsten gefragt, was sie sich denn von einem hilflosen Mädchen versprachen, wo sie doch eigene Krieger hatten. Doch die Hoffnung in den Augen der drei kleinen Kinder hatte mich verstummen und zuversichtlich lächeln lassen.

Ein Windstoß fegte über uns hinweg und ich kniff die Augen zusammen. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper schmerzte und ich konnte wirklich nicht mehr. Ich hatte Hunger, war müde und wünschte mich sehnlichst nach London zurück, wo es jetzt bestimmt 20 Grad hatte.

„Ich kann nicht mehr“, ächzte ich und blieb einfach stehen.

Die Wölfe drehten sich zögerlich nach mir um, aber es war mir scheiß egal was sie von mir dachten. Wir waren schon den ganzen Vormittag unterwegs und ich wusste nicht mal wohin.

„Also gut, eine kurze Pause“, verkündete Norlos schließlich und das Rudel ließ sich im Schnee nieder.

Ich setzte mich auf meine Regenjacke, damit meine Hose nicht durchweichte und beobachtete, wie Osta und der schiefergraue Wolf sich aneinander drängten und immer wieder zu mir herüber spähten.

„Wer ist der Wolf neben Osta?“, fragte ich wispernd Solos.

Er hob den Kopf und folgte meinem Blick.

„Das ist Gryf. Er ist einer von Ostas Kämpfern und ihr Gefährte. Gryf ist etwas … speziell, genau wie Osta. Die zwei passen perfekt zusammen.“

„Sie mögen mich wohl nicht besonders“, murmelte ich.

„Du musst sie verstehen. Osta vertraut nicht so schnell. Sie nimmt Sachen lieber selbst in die Hand. Und sie versteht nicht wie ein kleines Mädchen uns retten soll.“

„Na dann wären wir ja schon mal zu zweit“, brummte ich.

Ich legte meinen Kopf auf meinen Knien ab und unterdrückte ein Gähnen.

„Sieht aus als bekämen wir schlechtes Wetter“, meinte Solos plötzlich düster und ich hob den Blick leicht.

Rechts von uns türmte sich eine schwarze Wolkenfront. Das sah gar nicht gut aus.

Auch die anderen schienen unruhig zu werden. Ich bekam das miese Gefühl, dass es sich hier nicht nur um ein paar Schauer mit leichten Böen handelte.

„Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch nach Orm“, hörte Norlos rufen und rappelte mich mühsam hoch.

„Bitte sag mir, dass Orm eine Stadt mit beheizten Häusern ist“, meinte ich frustriert an Solos gewandt.

„Es ist ein Dorf, aber wir werden dort Unterschlupf finden.“

Stöhnend stolperte ich ihm hinter her.

„Es regnet hier nur selten. Die Unwetter, die es hier gibt, sind daher sehr stark“, erklärte er mir und warf einen Blick über die Schulter.

Eine schmale, hellbraune Wölfin, die mir bis jetzt noch nicht aufgefallen war, gesellte sich zu uns.

„Liah, das ist Scar. Sie sieht zwar nett und unschuldig aus, ist aber eine gefährliche Kämpferin.“

Nun, so freundlich sah Scar in meinen Augen nicht aus. Ihr schmaler Körper, und der schmale Kopf ließen die Schnauze noch länger und die Zähne noch spitzer wirken.

Scar senkte den Kopf leicht und stieß ein Schnauben aus.

„Und das muss ich mir von meinem Gefährten anhören.“

„He, ich hab dir ein Kompliment gemacht!“, verteidigte Solos sich.

„Kompliment? Du sagtest ich wäre EINE gefährliche Kämpferin.“

„Ja, ich nehme es zurück, du bist DIE gefährlichste Kämpferin.“

Scar zog die Lefzen hoch und machte belustigt einen Satz nach vorn. Dann sagte sie zu mir: „Ist er nicht knuffig?“

Mir entfuhr unbeabsichtigt ein Lachen und ich schüttelte grinsend den Kopf. Diese Wölfe waren so… menschlich!

„Knuffig?“, knurrte Solos. „An mir ist überhaupt nichts Knuffiges.“

Das Rudel war mittlerweile in einen leichten Trab gefallen und ich musste joggen. Immerhin blendete der Schnee nicht mehr, da die Sonne von den dunklen Wolken verdeckt wurde. Auch den Wind hatte aufgehört zu wehen und eine unnatürliche Stille hatte sich über der Landschaft ausgebreitet.

„Die Ruhe vor dem Sturm“, knurrte einer der Wölfe düster und als ich mich umdrehte erkannte ich, dass es Gryf war.

Ich stolperte fast und riss den Kopf erschrocken herum. Der Boden unter meinen Füßen war plötzlich viel fester und ich erkannte, dass wir uns auf einer Art Straße befanden.

„Beeilt euch, wir sind schon ganz nah bei Orm!“, rief Norlos und die Wölfe beschleunigten ihr Tempo.

Keuchend gab ich mein Bestes um mitzuhalten, obwohl ich mich halb tot fühlte. Eine Sekunde lang wünschte ich mir, ich wäre bei den Cumbers geblieben. Aber dann fiel mir wieder ein, warum ich abgehauen war.

Komm nachhause, Liah.

Ein verrückter Gedanke manifestierte sich in meinem Kopf. Was, wenn meine Mutter ebenfalls durch diesen Stein unabsichtlich hier her gelangt war? Ich würde es herausfinden. Und ich würde sie wiederfinden.

Ich spürte die erste Tropfen auf meinem Gesicht und plötzlich goss es in Strömen. Verbissen begann ich zu rennen, als ein greller Blitz die düstere Landschaft erhellte und noch in der gleichen Sekunde der Donner ohrenbetäubend laut polterte.

Ich konnte kaum noch etwas sehen, so dicht fiel der Regen hinab. Ich rutschte aus, strauchelte und konnte mich gerade noch rechtzeitig abfangen. Meine Muskeln schrien förmlich und meine Beine wollten sich nicht mehr bewegen. Dann erkannte ich die Schemen von Häusern.

Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und ein heftiger Donnerschlag folgte. Ich schlang meine Regenjacke fester um mich, doch es half nichts, ich war jetzt schon bis auf die Knochen durchnässt.

Endlich wurden die Wölfe langsamer und ich schloss zu ihnen auf. Mein Atem rasselte und wenn ich nicht einen verdammt aufmerksamen Schutzengel hatte, würde ich eine Lungenentzündung kriegen, das stand fest.

Wir passierten das erste Haus, doch wegen des Wetters konnte ich kaum etwas erkennen. Dennoch fühlte ich mich wie in einen Mittelalterfilm versetzt.

Keine Menschen-, oder andere Seele war zu sehen und die Wölfe steuerte eine Scheune an.

„Oh bitte nicht“, wisperte ich.

Ich brauchte ein Bett, ein warmes Essen und Ruhe. Keinen verfallenen Schuppen voll von gammligem Stroh.

„Damin! Finde für Liah ein Zimmer und verhalte dich dort unauffällig. Weiche nicht von ihrer Seite, denn wir können niemandem trauen“, grollte Norlos, während die anderen Wölfe durch einen Spalt in die Scheune schlüpften.

Na Halleluja.

„Warte, ich habe gar kein Geld um zu bezahlen!“, rief ich erschrocken.

„Du findest etwas in deiner Manteltasche“, knurrte der Wolf und folgte seinem Rudel.

Ich sah mich nach diesem Damin um, der mich begleiten sollte.

Sein Fell war grauschwarz und wirkte schmutzig und er war wie Scar gebaut. Seine Augen glänzten die Kohlestücke und er wirkte sowohl bedrohlich als auch irgendwie kindlich auf mich.

„Komm mit.“

Seine Stimme war viel weicher, als ich es erwartet hatte und ich lächelte überrascht.

Ich tapste ihm durch die matschigen Straßen hinter her. Es dauerte keine Minute, da standen wir schon vor einem kleinen Gasthaus. Ich zog mir schnell die Jeans vom Kopf und wickelte sie und die Turnschuhe in meine schwarze Regenjacke, die ich mir wie ein Bündel unter den Arm klemmte.

„Behandle mich da drinnen wie ein normales Tier. Die Leute sollen nicht wissen, dass ich zur Garde gehöre“, wies Damin mich an und ich nickte.

Dann betraten wir den Schankraum.

Obwohl es draußen schon stockfinster war, was vermutlich teilweise auch am Gewitter lag, war es in der kleinen Stube brechend voll.

Männer in schmutzigen Kleidern lachten und tranken vergnügt und veranstalteten einen ziemlichen Lärm, sodass ich mich wunderte, dass ich sie von draußen nicht gehört hatte. Der Geruch von Bier stach mir in die Nase und ich war froh, dass Damin direkt neben mir war.

Ich straffte die Schultern und ging ohne zu zögern auf einen kleinen Tisch in einer dunklen Nische zu. Es war sicher alles andere als normal, dass ein sechzehnjähriges Mädchen allein abends in eine Kneipe kam. Ich musste selbstbewusst wirken und am besten auch älter.

Ich lehnte mich gegen die Wand und versuchte mich etwas zu entspannen. Mein Gesicht lag im Schatten und ich schloss die Augen halb. Noch nie in meinem Leben war ich so müde und hungrig gewesen. Ich genoss die Wärme hier drinnen und atmete tief durch.

Ein dicklicher Mann mit fettiger Schürzte trat an meinen Tisch und ich wandte ihm langsam den Blick zu. Ich verbannte all meine Unsicherheit daraus und starrte ihn direkt an, bis er den Blick senkte.

„‘n Abend“, brummte er in seinen lockigen, kurzen Bart. „Was darf’s denn sein?“

„Ich brauche ein Zimmer für heute Nacht“, sagte ich ruhig. „Eine warme Mahlzeit wäre auch nicht schlecht und bring‘ mir etwas für meinen Hund.“

Er nickte und verschwand brummend.

„Ist das in Ordnung?“, wisperte ich unauffällig an Damin gewandte und sah zu dem Wolf hinab, der sich zu meinen Füßen niedergelassen hatte.

Er nickte kaum merklich mit dem Kopf und seine Augen leuchteten mir entgegen. Es schien so, als wäre er überrascht, dass ich Essen für ihn verlangt hatte, doch ich selbst hatte so einen Hunger, dass ich mir nicht vorstellen konnte, ihm ginge es anders.

Ich fuhr vorsichtig über die Taschen meiner Jacke und spürte tatsächlich einen Lederbeutel darin. Als ich ihn unter dem Tisch öffnete, sog ich scharf Luft ein, als ich die Goldmünzen darin sah. Entweder war Gold hier weniger Wert, oder aber die Bauernfamilie hatte mir ihren kompletten Reichtum vermacht. Ich biss mir auf die Zunge und versuchte mein schlechtes Gewissen zu unterdrücken. Das hatte ich doch nicht verdient…  Was, wenn sie sich jetzt nichts mehr zu essen kaufen konnten? Nur weil sie wegen so einer Prophezeiung total am Austicken waren…

Der Mann kam wieder und stellte eine Schüssel mit Eintopf und Brot vor mir ab. Damin warf er nach kurzem Zögern einen Suppenknochen hin, dann sah er mich erwartungsvoll an. Ich hob die Augenbrauen.

„Das macht dann fünf Silberlinge mit dem Zimmer.“

„Natürlich“, sagte ich und fingerte nervös an dem Lederbeutel herum.

Wie viele Silberlinge waren eine Goldmünze? Ich reichte ihm eine und ihm fielen die Augen aus dem Kopf.

Ich räusperte mich und sah ihn abwartend an, doch mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Oh also, Ihr seid wohl aus der Stadt, nicht wahr?“, stammelte er verwunderte und beeilte sich, mir mein Wechselgeld zu geben.

Zehn Silbermünzen. Ich verstaute sie schnell in dem Beutel und ließ ihn in meiner Jackentasche verschwinden.

„Darf ich fragen, was Euch in unser Nest führt?“, fragte er und strahlte mich schleimig an, wobei er seine gelben Zähne entblößte. „Mein Name ist übrigens Till, ich bin der Wirt hier.“

Na klasse, anscheinend hielt er mich jetzt für eine reiche Kaufmannstochter, die von zuhause ausgebrochen war oder so.

„Ich treffe hier meinen Onkel“, meinte ich nach kurzem Zögern.

„Tatsächlich? Darf ich seinen Namen erfahren, wir in Orm kennen uns alle“, lachte er und fuhr sich über die Glatze.

„Er ist nicht von hier. Wahrscheinlich kommt er wegen des Gewitteres erst morgen an.“

Wie einfach das Lügen auf einmal war, wenn es nicht mehr um einen gemopsten Keks ging.

„Oh ja, sicherlich…“

Um seine Fragerei zu unterbrechen, bevor er von Dingen zu reden begann, die ich sowieso nicht verstand, wandte ich mich meinem Essen zu und ignorierte ihn so lange, bis er wegging.

Ich beobachtete die anderen Gäste, während ich aß und war froh, dass sie mich kaum beachteten.

Hinten im Raum sah ich eine Treppe und im Laufe der Zeit verschwand der eine oder andere Gast dort hinauf, weshalb ich vermutete, dass es dort zu den Zimmern ging.

Nachdem ich aufgegessen hatte, gab ich Damin mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass wir nach oben sollten und er erhob sich sofort.

Als ich zu der Treppe gehen wollte, packte mich plötzlich einer der Gäste am Arm.

„Na, willste dich nich zu uns setzen?“, grunzte er und noch bevor ich etwas sagen konnte, hatte Damin schon ein bedrohliches Knurren ausgestoßen.

„Verdammt! Halt bloß den Köter im Zaum“, murmelte er und wich zurück.

Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, doch da ich ja keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen sollte, begnügte ich mich mit einem eisigen Blick und machte mich dann auf nach oben.

„Wenn Ihr erlaubt…“, säuselte der Wirt und hastete vor mir die Stufen hinauf.

„Danke“, murmelte ich, als er mir oben auf dem Flur eine Kerze anzündete und in einen Halter steckte.

Das Metall hinterließ schwarze Schlieren auf meinen Fingern, doch das war mir egal. Ich war schon so verschwitzt und verdreckt, dass es keinen Unterschied machte. Ob es hier überhaupt Duschen gab?

Der Wirt öffnete mit einer angedeuteten Verbeugung eine der Türen, die vom Flur abgingen und ich betrat das winzige Zimmer.

Auf den abgetreten Dielen lag ein löchriger Teppich und an der Wand stand ein schmales Bett. Ansonsten gab es an Möbeln nur noch einen kleinen Nachttisch, auf dem ich meine Kerze abstellte.

Ich knöpfte bereits meine Jacke auf, als mir auffiel, dass der Wirt immer noch in der Tür stand.

Wollte er ein Trinkgeld fürs aufs Zimmerbringen? Ich wollte Akkos und Hernas  Geld nicht verschwenden. Außerdem war mir das keinen Silberling wert und kleiner Münzen besaß ich nicht.

„Ist noch etwas?“, fragte ich daher, um ihm einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben.

„Äh, nein. Gute Nacht“, stammelte er und zog die Tür hinter sich zu.

Erschöpft stieß ich ein Seufzen aus und ließ mich aufs Bett fallen.

Die Matratze war hart und klumpig, aber es störte mich nicht. Ich wollte nur noch schlafen.

„Hab ich mich gut verhalten?“, fragte ich in Richtung Damin, während ich mir müde meine Stiefel von den Füßen streifte.

„Dafür, dass du keine Ahnung von dieser Welt hast schon. Allerdings hält er dich vermutlich für eine Dame. Die seltsamerweise allein und zu Fuß reist.“

Ich schnaubte belustigt.

„Ist ja auch egal… Ich kann es gar nicht fassen, dass Akko und Herna mir so viel Geld gegeben haben!“, sprach ich meine Verwunderung aus und schälte mich aus meiner Jacke.

„Das Geld ist nicht von ihnen“, sagte Damin und ließ sich auf den Teppichfetzen nieder. „Es ist aus den königlichen Schatzkammern. Wir haben es mitgebracht.“

„Oh“, machte ich verwirrt. „Na dann.“

Da es im Zimmer nicht gerade warm war, behielt ich mein Langarmshirt und meine Hose an. Die anderen Sachen breitete ich so gut es ging auf dem Boden aus, damit sie trocknen konnten.

„Damin?“, fragte ich, nachdem ich unter die Decke gekrochen war und die Kerze ausgeblasen hatte. „Wohin genau sind wir gerade eigentlich unterwegs? Ich meine, wir gehen jetzt doch nicht einfach zu dieser Hexe, oder? Ich habe keine Ahnung, was ihr von mir erwartet.“

Die schwarzen Augen des Wolfs glitzerten in dem schwachen Sternenlicht, das durch das verdreckte Fenster ins Zimmer drang.

„Bist du dir im Klaren, was du für diese Welt… für alle Welten bedeutest?“, fragte er.

Ich schwieg. Sie erwarteten von mir, dass ich diese Kristalla umbrachte, damit ihre Königin wieder aufwachte. Vermutlich würde dadurch auch dieser Winterkrieg enden. Aber wie und warum sollte ich das machen?

„Das Wohlergehen des Landes hängt von dir ab. Von deinen Entscheidungen. Wenn diese Welt in die falschen Hände gerät, dann sind auch alle anderen Welten in Gefahr.“

Ich schluckte schwer.

„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich weiß doch gar nichts über Kristalla.“

„Soll ich dir erzählen, wie das alles angefangen hat?“

Wer wünschte sich denn nicht eine Kriegsgeschichte zum Einschlafen?

Ich vertrieb den Sarkasmus aus meinem Kopf. Das war wichtig. Die Leute hier litten.

„In diesem Land sind die Könige oder Königinnen schon immer Elfen, denn in ihren Adern fließt altes Blut. Evelant, unser erster König, war ein reiner und seine Nachfahren sind welche. Unsere Könige waren gute Könige. Es gab nie Kämpfe um den Thron, da es einem königlichen Ehepaar nicht erlaubt ist mehr als ein Kind zu haben. Doch Halan, der Vater unserer jetzigen Königin, hatte eine uneheliche Tochter. Nur die allerwenigsten wissen davon. Ihr Name war Kristalla.“

„Eure Königin ist die Halbschwester von Kristalla?“, fragte ich verwirrt.

„Genau“, bestätigte Damin düster. „Halan hatte ihre Mutter erpresst, dass er sie und Kristalla töten würde, wenn heraus käme, dass er ein Kind hatte, das nicht von seiner Frau Kiura war. Diese war damals schwanger. Es wäre ein Skandal gewesen. Fortpflanzung ist hier heilig und Kristallas Mutter war außerdem menschlich.“

„Dann ist Kristalla die ältere?“

Das müsste bedeuten, dass sie ein Recht auf den Thron hatte. Zumindest in meiner Welt. Der ältere bekam die Krone.

„So ist es. Doch als Kristallas Mutter auf dem Sterbebett lag, erzählte sie ihrer Tochter alles. Diese wurde wütend. Voller Zorn und Eifersucht auf ihre Halbschwester verließ sie ihre Heimat Dragon und ging nach Migrass, unsere Hauptstadt, um den Thron einzufordern. Halan verleugnete sie natürlich und ließ sie davonjagen, doch sie schwor Rache. Kristalla war machtgierig geworden. Sie wollte Halan stürzen und seine Familie töten. Sie zog sich in den hohen Norden zurück und erlernte dort die Magie der Kälte. Jahre später kehrte sie zurück und manipulierte viele Menschen mit ihrer Macht und mit Drohungen. Sie brandschatzten und versetzten unser Land in Angst und Schrecken. Dann erklärte sie der Krone den offenen Krieg. Unzählige Schlachten mit unvorstellbar vielen Toten folgten. Nach einigen gelang es ihr bis nach Migrass vorzudringen und sie tötete mit ihrer dunkle Magie Halan und Lalak, den Mann unserer jetzigen Königin. Diese wurde sofort evakuiert, da sie die letzte aus dem Königshaus war.

Sechzehn Jahre Winterkrieg folgten und zermürbten unsere Truppen, die nach besten Kräften versuchen die Bürger zu schützen. Doch es sind zu viele Unschuldige gefallen. Zu viele ließen ihr Leben im Kampf gegen die Eishexe. Die Prophezeiung über dich ist unsere letzte Hoffnung, denn Kristalla schart ihre Dämonen um sich. Und wir werden verlieren, wenn die nächste Schlacht anbricht.“

Damins Stimme war kaum mehr als ein Knurren und ich blinzelte erschrocken. Verdammt, das war so grausam und schrecklich…

„Was kann ich tun?“, fragte ich trocken.

„Du allein hast die Macht, die Waffe zu führen, die Kristalla niederstrecken wird.“

„Was ist das für eine Waffe?“, wollte ich wissen.

„Das wirst du alles noch erfahren. Und nun schlaf. Morgen wird ein langer Tag.“

Ziemlich aufgewühlt vergrub ich mein Gesicht in dem Kissen. Es war vielleicht nicht meine Welt, aber es war eine ganze Welt und sie brauchte Hilfe. Wie hätte ich die verweigern können?

4. Kapitel

Etwas warmes, feuchtes stieß gegen meine Hand und ich hob meine bleischweren Lider ein paar Millimeter.

„Was?“, stöhnte ich und ein trockenes Husten entkam mir.

Meine Kehle war völlig ausgetrocknet und jeder einzelne Zentimeter meines Körpers schmerzte. Leider hatte ich über Nacht nicht vergessen wo ich war.

„Liah.“

Ich stöhnte erneut gequält auf und obwohl ich spielendleicht wieder eingeschlafen wäre, zwang ich mich dazu, meine Augen ganz zu öffnen.

„Was ist denn?“, gähnte ich. „Es ist noch nicht mal hell draußen.“

„Die Dämmerung hat bereits begonnen“, informierte Damin mich.

Der Wolf saß vor meinem Bett und blickte mich erwartungsvoll an. Ein frustriertes Lachen, das vermutlich von meiner Müdigkeit herrührte, entfuhr mir und ich setzte mich auf.

Meine Glieder waren völlig steif und ich schlüpfte hastig in meine Kleidung. Sie war über Nacht völlig ausgekühlt, aber immerhin war alles trocken. Schließlich fuhr ich mir noch mit den Fingern durch die Haare und stellte erleichtert fest, dass sie nicht allzu verfilzt waren. Wann sie wohl zum nächsten Mal eine Haarkur sehen würden?

Ich rieb mir mit den Händen fest über Gesicht und Augen, um den Schlaf zu vertreiben, doch es gelang mir nicht sehr gut.

„Bieten die hier ein Frühstück an?“, fraget ich Damin und streckte mich.

Meine Schultern knackten.

„Ja.“

„Na dann los“, brummte ich, schlüpfte in meine Jacke, packte mein Bündel und verließ mit Damin den Raum.

Unten in der Stube war es völlig leer, nur ein kleines Feuer brannte im Kamin.

Ich wollte mich gerade bemerkbar machen, als der Wirt auch schon aus einer Tür kam und mich mit einem breiten Lächeln begrüßte.

„Ich hoffe doch, Ihr hattet eine angenehme Nacht? Darf ich Euch das Frühstück bringen?“

„Ähm, ja“, murmelte ich und setzte mich.

Wie konnte man am frühen Morgen nur schon so aufdringlich und gut gelaunt sein?

Keine halbe Minute später war der Wirt schon zurück und stellte vor mir einen Becher mit roter Flüssigkeit darin und eine Schale Brei vor mir ab.

Ich gab ihm einen Silberling, in der Hoffnung er würde mich in Ruhe lassen. Es wirkte nicht.

„Oh, Ihr seid zu gütig!“, rief er aus und verbeugte sich. „Ist Euer Onkel bereits eingetroffen?“

„Nicht dass ich wüsste“, meinte ich und schob mir einen Löffel von dem Brei in den Mund.

Im ersten Moment dachte ich, es wäre normaler wässriger Milchreis, doch dann viel mir eine fremde Geschmacksnote daran auf, die ich nach kurzer Zeit als Thersra identifizieren konnte.

„Dann werdet Ihr euch noch etwas länger hier aufhalten?“, fragte er scheinbar unschuldig, doch ich schüttelte einfach den Kopf.

Warum ging er nicht? Hatte er nichts Besseres zu tun?

Ich fühlte mich wie eine Betrügerin, die jederzeit entlarvt werden konnte, dabei hatte ich ja gar nichts Falsches getan.

„Oh, nun… Ist der Nascht angenehm?“, erkundigte er sich und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass er den Brei meinte.

„Oh ja, sehr lecker.“

Ich nahm einen Schluck aus dem Becher und hatte Mühe mein Gesicht nicht zu verziehen. Das war Wein! Dünner, schlechter Wein und das zum Frühstück!

Ich aß schnell auf und verabschiedete mich dann von dem Wirt. Als wir aus dem Gasthaus traten, fragte ich Damin: „War ich zu unhöflich?“

Er antwortete nicht und ich runzelte die Stirn. Dann sah ich die vom gestrigen Regen matschige Straße hoch und runter und entdeckte einen Mann, der einen Esel in unsere Richtung zog.

Damin schüttelte leicht den Kopf und bedeutete mir, ihm zu folgen. Es windete nicht mehr und irgendwie kam es mir nicht ganz so kalt wie gestern vor. Vielleicht hatte ich mich nur auch einfach langsam an das winterliche Klima gewöhnt.

Kurze Zeit später standen wir schon vor der Scheune. Auf dem Weg waren wir nicht vielen Menschen begegnet und auch hier waren keine zu sehen. Allerdings war es auch noch nicht wirklich hell.

Damin führte mich zum Tor der Scheune, das nicht verschlossen war und wir traten ein.

Hier drinnen war es irgendwie düster und das Stroh auf dem Boden feucht und roch muffig. Die Wölfe hatten sich in den hinteren Teil der Scheune zurückgezogen und Norlos erhob sich, als wir näher kamen.

„Es ist alles gut gelaufen. Der Wirt denkt jetzt zwar, er hätte Besuch von einer reichen Damen gehabt, aber das lag nur an den Goldmünzen“, erklärte Damin ohne eine Begrüßung auszusprechen und Norlos nickte.

„Gut. Hier im Dorf gibt es keinen Pferdehändler, aber in Thal. Verlasst das Dorf und folgte der Straße nach Süden. Solos wird nach der ersten Biegung zu euch stoßen. Mewa und Toss!“

Eine grauweiß gescheckte Wölfin und ein brauner Wolf mit schwarzem Rücken traten vor.

„Ihr lauft vor und sichert die Straße. Wir anderen folgen euch abseits von ihr. Wir treffen uns kurz vor den Stadtmauern von Thal.“

Alle gaben zustimmende Zeichen von sich und ich nickte etwas überfahren. War es tatsächlich so gefährlich hier, dass man alles derart planen und absichern musste?

„Mach dir keine Sorgen“, raunte Solos mir zu, während die anderen hinten aus der Scheune huschten. „Tagsüber ist man meistens sicher. Bis später!“

„Ja, bis dann“, murmelte ich und rieb mir die Augen.

Damin nickte mir aufmunternd zu und ich folgte ihm wieder aus der Scheune.

Dieses Mal begegneten uns mehr Leute. Sie schienen auf dem Weg zum Dorfmarkt oder zur Arbeit zu sein, denn sie trugen Körbe und Werkzeug mit sich. Ich biss mir fast schon schuldbewusst auf die Zunge, als ich sah, wie abgeschabt ihre Kleidung war und wie hektisch sich die Mütter nach ihren Kindern umsahen.

Dass das schon seit vierundzwanzig Jahren so ging, konnte ich mir gar nicht vorstellen.

Ich wurde etwas ruhiger, als wir das Dorf hinter uns gelassen hatten und schon bald sah ich Solos über durch den Schnee auf uns zu traben.

„Geht es allen Menschen hier so schlecht?“, fragte ich Damin, während ich die Sätze des braunen Wolfs verfolgte.

„Den meisten. In den Städten ist es nicht ganz so schlimm, aber durch die Kälte wächst kaum etwas. Du solltest unser Land im Sommer sehen. Es ist wundervoll.“

„Wie alt bist du denn?“, fragte ich verwirrt und begrüßte Solos, der zu uns aufschloss mit einem Lächeln.

„Älter als ich aussehe“, lachte Damin.

Anscheinend lebten die Tiere, oder zumindest die besonderen, hier länger als bei in meiner Welt. Ansonsten hätte Damin noch keinen Sommer erlebt.

Wir schlugen ein etwas schnelleres Tempo an, doch es war kein Problem für mich, solange ich nicht rennen musste. Mein Muskelkater hätte das sicher nicht zugelassen.

„Ist es weit nach Thal?“, fragte ich nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten.

„Nein, es wird nicht lange dauern“, meinte Solos.

„Und wir kaufen dort ein Pferd?“

„Ja. Du rennst zwar besser als die meisten deiner Art, aber ein Reittier ist auf lange Sicht sinnvoller.“

Damin bestätigte meine Gedanken.

„Wird es sprechen können?“, wollte ich nach kurzem Nachdenken wissen.

„Wenn es das könnte, hätte es ein Selbstbewusstsein und wäre dadurch nicht käuflich. Das wäre ja wie Sklaverei“, schnaubte Solos und ich nickte hastig.

Immerhin schienen die Gedanken der Leute hier nicht so mittelalterlich wie ihre Häuser.

Ich unterdrückte ein Gähnen und konzentrierte mich dann in der nächsten Zeit aufs Laufen.

 

Ich erblickte Thals Stadtmauern schon viel früher als erwartet. Die Sonne hatte noch lange nicht den Zenit erreicht und ich fühlte mich eher wach als erschöpft. Ebenso überrascht war ich, als Solos und Damin mich von der Straße weg in zu einer Baumgruppe führten. Als wir von den Ästen der Kiefern verdeckt waren, fiel mir jedoch wieder ein, dass wir ja hier auf die anderen treffen sollten.

Das Rudel hatte sich bereits versammelt und schien auf uns zu warten. Auch Mewa und Toss waren unter ihnen.

Die grauweiße Wölfin sagte gerade: „Wir haben das Tor eine Weile beobachtet. Um diese Zeit führen sie noch keine großen Kontrollen durch. Liah wird kein Problem haben, nach drinnen zu kommen.“

„Moment. Kommt ihr nicht mit?“, fragte ich erschrocken.

„Damin ist in Orm bei dir geblieben, weil du über Nacht allein warst. Dort in der Stadt sind überall Menschen. Uns werden sie sofort erkennen, doch du wirst keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen.“

„Warum müssen wir überhaupt so vorsichtig sein? Ich dachte, die Leute hier wollen Kristalla alle loswerden“, meinte ich verwirrt und Norlos senkte den Kopf.

„Ihre Späher und Sympathisanten sind überall“, erklärte er. „Auch sie weiß von der Prophezeiung. Sie will deinen Tod mehr als alles andere. Unser Vorteil ist, dass sie nichts über dich weiß und vermutlich auch etwas anderes erwarten wird.“

Nervös biss ich mir auf die Zunge und runzelte die Stirn. Ich sollte allein in eine fremde Stadt, in der es von Kristallas Häschern nur so wimmelte?

„Kann nichts wenigstens Damin wieder mitkommen?“, fragte ich.

Ein Schnauben ertönte und ich wandte den Kopf.

„Sie hat Angst vor ihrem eigenen Schatten“, knurrte Osta.

„Nur vor den Schatten, die ihr mir eingeredet habt“, fauchte ich zurück.

Langsam reichte es mir. Ich hatte schließlich nicht um diesen ganzen Müll gebeten.

„Ruhe“, gebot Norlos. „Wir würden dich nicht allein reinlassen, wenn es so nicht am besten wäre. Du bist zu wichtig.“

Ein Hoch auf den Auserwählten-Bonus.

Ich kniff leicht die Augen zusammen, unterbrach ihn aber nicht, während er mir genauere Anweisungen gab.

Ich sollte die Stadt durch das Nordtor betreten und mich dann auf der Hauptstraße halten. Norlos erzählte mir von einem Händler namens Knut, nach dem ich fragen sollte. Er würde ein anständiges Geschäft machen.

Sobald ich das Pferd hatte, sollte ich mir noch einen Trinkschlauch und etwas Dörrfleisch für unterwegs besorgen und die Stadt dann durch das Südtor verlassen.

„Bleib einfach auf der Straße, wir stoßen dann zu dir“, erinnerte Norlos mich noch einmal, dann verließ ich mit einem mulmigen Gefühl die Baumgruppe und kehrte zur Straße zurück.

Mir war nicht ganz wohl, aber wenn ich ehrlich war, dann war es wirklich keine große Sache. Vielleicht lag Osta mit ihrem Spott gar nicht so falsch.

Ich straffte die Schultern und schlug einen schnelleren Schritt an. Ich war sechzehn Jahre alt, da würde ich mir ja wohl noch allein ein Pferd kaufen können.

Oben auf dem Stadttor konnte ich zwei Wachen entdecken und unten in einer Nische im Durchgang hockte ein Pförtner hinter einem Tisch. Er kritzelte auf einigen Papierbögen herum und winkte mich einfach durch, als er sah, dass ich keine Ware mit mir führte.

Die Straßen waren grob gepflastert und die Häuser an der Hauptstraße hatten verwittertes Fachwerk. Von überall her drangen Menschenstimmen. Männer zerrten Karren über die Straßen und Frauen standen in ihren Haustüren und kehrten Staub nach draußen. Alle trugen altmodische Kleidung wie ich und ich war überwältigt von dieser Authentizität. Ich fühlte mich wie eine Zeitreisende.

Hier und da waren Geschäfte und Gaststätten. Da ich schließlich ein Stadtkind und in der coolsten Stadt überhaupt aufgewachsen war, fühlte ich mich hier irgendwie wohler, als draußen in der Landschaft. Schnell fiel die Nervosität von mir ab und ich ließ mich die Straße nach oben treiben. Ich sog jeden Anblick in mich auf und war ehe ich es mich versah beim Marktplatz angekommen. Händler priesen hier ihre Waren an und in der Mitte des Platzes stand eine Art Kirche. Sie hatte einen Turm mit einer Glocke, die man durch die großen, offenen Fenster sehen konnte, das Kirchenschiff war jedoch völlig leer, wie ich durch das große Eingangstor sehen konnte.

Das Gebäude übte eine Anziehungskraft auf mich aus, der ich liebend gern nachgegeben hätte, doch ich wagte es nicht. Stattdessen betrachtete ich nur das Relief in der Fassade. Es stellte vier geisterhafte Gestalten dar und ich fragte mich, was für Religionen es hier wohl gab.

Ich beobachtete die Menschen um mich herum und überlegte, wie Elfen wohl aussahen und ob es weniger von ihnen als von den Menschen hier gab. Wenn ja, verstand ich nicht wodurch sie ihre Herrschaft legitimierten. Vielleicht auch durch Religion, wie es früher in Europa gewesen war?

Ein Mann vor einem Brunnen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er trug nichts bis auf eine schwarze Stoffhose und ich dachte erst er müsste kurz vor dem Erfrieren sein, doch er tanzte und seine Muskeln bewegten sich geschmeidig unter seiner kaffeebraunen Haut.

Als ich fasziniert näher trat, erkannte ich die blauen Flammen, die über seinen Oberkörper leckten.

„Wie macht er das nur?“, wisperte ich völlig gebannt von dem Schauspiel.

„Ein einfacher Taschenspielertrick. Ich kann dir zeigen, wie er funktioniert.“

Die verführerische Stimme ließ mich erschrocken zusammen zucken und herum wirbeln.

Der Mann vor mir hatte schwarzes, kurzes Haar und über sein rechtes Auge zog sich eine feine Narbe. Er grinste mich unverhohlen an und ich wollte ihm gerade eine Abfuhr an den Kopf werfen, als eine zweite Stimme mich erneut herumfahren ließ.

„Such dir eine Gassendirne, Jon, und lass das Mädchen in Ruhe.“

„Warum? Damit du sie für dich haben kannst, Sam?“

Die beiden Männer funkelten sich an, dann drehte Jon sich um und ging davon.

Obwohl ich eher groß für mein Alter war, überragte mein „Retter“ mich um mehr als einen Kopf. Unter der abgeschabten, gefütterten Jacke aus braunem Leder ließen sich breite Schultern und schlanke Muskeln erahnen. Sein blondes Haar, das ihm bis zum Kinn reichte, war sandfarben und seine Gesichtszüge markant, doch es waren seine dunkelgrünen Augen, die mich fesselten. Nicht nur die ungewöhnlich satte Farbe faszinierte mich, nein, da war noch etwas anderes.

In Büchern blicken die Protagonisten einander in die Augen und sehen viel mehr als deren Farbe. Sie sehen Gefühle, Schmerz, Wut, Trauer. Im echten Leben ist das nicht so, zumindest hatte ich bisher immer „nur“ Augen gesehen. Doch als ich diesem Mann in die Augen sah und er meinen Blick viel direkter erwiderte, als es jemals zuvor jemand getan hätte, da sah ich mehr. Und ich konnte den Blick nicht abwenden.

„Alles in Ordnung?“

„Ähm, ja. Danke, aber ich wäre schon allein mit dem Kerl fertig geworden“, meinte ich zurückhaltend und blinzelte nervös.

Ein schiefes Lächeln glitt über sein Gesicht.

„Tatsächlich“, sagte er.

„Jedenfalls kannst du deinem Freund folgen, ich bin nicht interessiert“, meinte ich mit Nachdruck und riss mich endlich von seinen Augen los.

Aus seinem Lächeln wurde ein spöttisches Grinsen.

„Ich ebenfalls nicht. Wie alt bist du? Vierzehn?“

„Sechzehn“, knurrte ich verärgert und wollte mich davon machen, doch er hielt mich allein mit seinem Blick davon ab.

Seine Augen glitten über mein Haar und ein nachdenklicher Ausdruck trat auf sein Gesicht.

„Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich Knut, den Pferdehändler, finde?“, fragte ich nach kurzem Zögern.

„Du bist nicht aus der Stadt?“

„Nicht aus dieser“, meinte ich wage.

„Das dachte ich mir. Du hast sehr ungewöhnliches Haar.“

Tatsächlich hatte ich außer ihm bisher nur braun- oder schwarzhaarige Leute gesehen. Kam rot in dieser Welt etwa nicht vor? Wenn ja, wäre das äußerst unpraktisch.

Ich zuckte mit den Schultern und fuhr mir nervös mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie waren von der Kälte ganz aufgesprungen und rissig.

„Du musst der Straße dort oben folgen. Auf der linken Seite habe ich einen Laden gesehen, der es sein könnte“, meinte der Mann, neigte leicht den Kopf und ging dann einfach weg.

Wow. Was war das denn gewesen?

Ich schüttelte meinen Kopf und setzte meinen Weg fort. Jetzt beeilte ich mich. Ich hatte schon genug Zeit verschwendet.

Schon nach wenigen Minuten stand ich vor einem Haus, in dessen Untergeschoss ein Stall war. Ich betrat ihn zögerlich und nahm sofort den typischen Pferdegeruch war.

„Hallo?“, rief ich und sah mich nach diesem Knut um, doch außer den Pferden in den Boxen war niemand zu sehen.

Die meisten Pferde hier drin waren kleine Ponys oder Ackergäule. Aber ich brauchte ein schnelles, ausdauerndes Pferd. Da niemand hier war, beschloss ich, mich selbst umzusehen und schlenderte den Gang entlang.

Als Kind hatte ich einmal Reitunterricht gehabt. Es war mir eigentlich sehr leicht gefallen, doch irgendwann war es mir auch zu langweilig geworden, nur in der Halle oder auf der Koppel hin und her zu traben und mit der Pubertät hatte sich auch meine Begeisterung für Pferde gelegt.

Ein Miauen zu meinen Füßen ließ mich inne halten. Vor mir saß eine schwarze Katze, die mich aus ihren blaugrauen Augen beinahe vorwurfsvoll ansah.

„Na du“, wisperte ich und ging in die Knie.

Sie stupste mit ihre platten Nase neugierig gegen meine Hand.

„Willst du gestreichelt werden?“, fragte ich leise und strich ihr über den Kopf.

Sofort begann sie zu schnurren und drückte ihren Kopf mit geschlossenen Augen gegen meine Hand.

„Na du bist aber eine süße“, murmelte ich und mir entfuhr ein Lachen, als sie eine Pfote auf mein Knie stellte.

Meine Mutter hatte Katzen geliebt und wir hatten sogar mal eine gehabt, doch sie war von einem Auto überfahren worden. Moment. Ich hatte in der Vergangenheitsform an meine Mutter gedacht, aber dabei war ich doch so sicher, dass sie noch lebte! Die Idee, sie könnte ebenfalls hier sein, hatte ich über die ganze Aufregung schon wieder verdrängt gehabt und ich schämte mich, den wichtigsten Mensch aus meinem Leben, aus meinen Gedanken verbannt zu haben.

Aber sie musste einfach hier sein! Schließlich hatte ich diesen Stein, der mich hier her gebracht hatte, auch auf ihrem Schreibtisch gefunden.

Hatte sie von dieser Welt gewusst? War sie absichtlich hier her gekommen oder hatte sie wie ich nichts von der Magie des Steins gewusst?

Ich fragte mich, ob er jeden, der ihn berührte hier her brachte. Wenn ja, wäre das eine gefährliche Sache, denn dann könnten ja jederzeit Menschen aus meiner Welt in diese gelangen.

Eine weitere Frage drängte sich mir auf. Hatte meine Mutter gewollt, dass ich ihr hier her folgte? Und hatte sie auch von dieser Prophezeiung gewusst? Denn immerhin hatte sie mir ihre Nachricht, ich solle in unsere Wohnung kommen, erst an dem Tag geschickt, an dem dieser Auserwählte in diese Welt kommen sollte. Bedeutete das, dass ich womöglich doch nicht der Held war, für den ich gehalten wurde?

Mein Kopf schwirrte und meine Gedanken spannen sich immer wirrer um den einen: Wo war meine Mutter?

„Na, wer bist du denn?“

Ich hob den Kopf und erblickte den großen Mann. Er hatte eine seiner großen Hände gehoben und kratzte sich damit nachdenklich am Hinterkopf.

„Ich bin Liah“, meinte ich schnell und stand höflich lächelnd auf. „Ich bin hier, um ein Pferd zu kaufen.“

„Du?“, sagte er stirnrunzelnd, offenbar unsicher, ob ich überhaupt schon alt genug war, um Geschäfte abzuschließen.

„Ja. Für meinen Onkel.“

„Na dann… Ich hab ein paar rüstige Ponys hier.“ Er schritt zu den Boxen, doch ich winkte ab.

„Nein, ich brauche eins zum Reiten. Es muss schnell und ausdauernd sein.“

Der Mann, den ich für Knut hielt, brummte etwas in seinen Bart und nickte dabei und zeigte keine weitere Neugier mehr, genau wie Norlos gesagt hatte.

„Ich denk‘, da hätt‘ ich schon einen, aber der is‘ ziemlich wild.“

„Das geht schon“, meinte ich schnell, obwohl ich mir da so ganz und gar nicht sicher war.

Knut sich wohl auch nicht, doch er führte mich trotzdem zu der hinteren Box.

Der Hengst zog mich von der ersten Sekunde an in seinen Bann. Er war schneeweiß, nur seine Nüstern und seine Fesseln waren schwarz verfärbt. Er blickte mich durch seine klaren Augen an und senkte mit einem Schnauben leicht den Kopf.

„Wow“, wisperte ich, als Knut ihm ins Halfter griff und ihn vorsichtig in den Gang holte, wo er ihn anband.

„Jung und gesund. Gesund wie ein Pferd“, lachte er und klopfte dem Pferd auf den Hals. „Allerdings hat der Junge auch seinen Preis.“

Egal wie viel es sein würde, ich wusste jetzt schon, dass ich es zahlen würde. Das hier war Liebe auf den ersten Blick.

Ich ignorierte die Warnung von Knut und streckte die Hand nach dem Pferd aus. Er wieherte leise und stampfte mit dem rechten Vorderhuf leicht auf den Boden, doch er wich nicht zurück.

„Wie viel?“, fragte ich ohne den Blick von dem Tier zu wenden.

Die Wildheit, die in seinen tiefen Augen schlummerte, hielt mich völlig gebannt. Das hier war kein Pferd, das man im Stall hielt, es gehörte nach draußen in die Freiheit!

„Sieben Goldmünzen und fünf Silberlinge mit Geschirr.“

„Abgemacht“, staunte ich ohne zu zögern.

Ich zerrte meinen Geldbeutel aus der Jackentasche, während der Händler nach hinten verschwand, um das Geschirr zu holen.

Ich war etwas überrascht, als ich den Sattel sah, denn er war ganz anders, als die, die ich kannte.

Er bestand aus einer Satteldecke und einem Gurt, um ihn zu befestigen. Unten an der Decke, die ziemlich robust aussah, waren Steigbügel befestigt und am hinteren Teil der Decke waren rechst und links Taschen eingearbeitet.

Knut sattelte das Pferd für mich und legte auch die Trense an.

„Er wird ein bisschen nervös in Menschenmengen. Halt ihn innerhalb der Stadtmauern noch etwas kürzer.“

„Ist klar. Vielen Dank“, murmelte ich und zählte ihm das Geld in die Hand.

„War mir eine Freude.“

Wie einfach es hier war, Geschäfte zu machen! Man brauchte nicht mal einen Vertrag oder ähnliches…

„Ach, eine Frage noch!“, rief ich, als ich das Pferd bereits den Gang Richtung draußen runter geführt hatte. „Hat er einen Namen?“

„Noch nicht“, antwortete Knut.

Ich nickte und zog das, nein, mein Pferd näher.

„Dann denk ich mir noch einen aus“, murmelte ich an es gewandt. „Und du bleibst doch so brav, stimmt’s? Wir müssen jetzt nämlich ganz unauffällig hier raus.“

Das Pferd ließ ein Schnauben ertönen und ich grinste.

„Na dann.“

Zuerst ging es ziemlich gut. Ich folgte der Straße einfach weiter, da ich vermutete, dass sie mich zum Südtor führen würde. Das Pferd neben mir blieb ruhig, obwohl sich seine Ohren immer wieder neugierig hin und her drehten.

An einem kleinen Stand kaufte ich mir die Verpflegung, wie Norlos es mir aufgetragen hatte. Bevor ich die Sachen verstaute, nahm ich einen großen Schluck Wasser und aß ein Stück von dem salzigen Fleisch, da ich seit dem Frühstück nichts mehr gehabt hatte.

Dann packte ich das Zeug in die linke Satteltasche. In der rechten hatte ich mein Regenjackenbündel untergebracht.

Ich hatte das Tor bereits in Sicht, als ich das Klingeln hörte. Ein Klingeln wie von mindestens fünfzig kleinen Glocken und dazu ein tiefer, fremdartiger Gesang in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte.

Das Pferd begann nervös auf der Stelle zu tänzeln und ich rieb ihm beruhigend den Hals.

Was zur Hölle war das?

Ich beobachtete, wie die Menschen auf der Straße zur Seite hechteten und gespannt in Richtung Südtor blickten. Auch ich wurde mitgerissen und packte hastig die Zügel des Pferds fester.

Ein riesiger Umzug kam durch das Tor auf uns zu. Die Menschen – ich ging davon aus, dass es welche waren – trugen bodenlange rostrote Kutten, mit grünen Kapuzen, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten. Auf ihrer Brust prangten schneeweiße, vierzackige Sterne, die von etwas umrahmt waren, das wie ein Lorbeerkranz aussah. Jeder von ihnen schwang in seiner rechten Hand eine kleine Glocke und sie sangen aus voller Inbrunst.

Die Luft schien zu vibrieren und ich wäre am liebsten auf mein Pferd gestiegen und davon galoppiert, doch hier waren überall Leute und ich konnte mich nicht vom Fleck bewegen.

Bei dem Hengst neben mir schien auch der Fluchtinstinkt einzusetzen, als der Umzug näher kam und er begann zu scheuen.

„Schht, es ist alles gut“, murmelte ich wieder und wieder und hielt ihn so fest ich konnte.

Die ersten waren schon an uns vorbei und hielten auf den Marktplatz zu, als mein Pferd sich plötzlich losriss.

Ich keuchte erschrocken auf, da die Zügel mir die Hand aufrissen, doch da war er bereits mitten durch den Umzug galoppiert.

Oh nein.

„Verzeihung, tut mir leid!“, rief ich leicht panisch, während ich durch die mit Kutten bekleideten Menschen raste, um mein Pferd wieder einzufangen.

Empörtes Geschrei  und wüste Beschimpfungen verfolgten uns und die Massen stoben auseinander, um nicht vor dem durchgehenden Hengst zertrampelt zu werden.

„Verdammt! Warte doch!“, rief ich und als ich gerade dachte, er würde einfach aus dem Tor hinaus fliehen, bog er scharf rechts ab.

Ich legte noch einen Zahn zu und jagte ihm durch die engen Gassen hinter her.

Ich schlitterte über übel riechenden Matsch und dachte erst gar nicht darüber nach, was das sein könnte.

„Verdammt“, keuchte ich, als das Pferd um eine Häuserecke bog.

Als ich dort ankam, war es nirgends mehr zu sehen.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Nach Atem ringend lief ich langsamer und versuchte Hufschläge oder ein Wiehern zu erlauschen.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht, diesen Wildfang zu nehmen! Falls ich ihn je wiederfinden sollte, würde ich ihn wahrscheinlich nicht mal reiten können.

Ich bog um eine Ecke und seufzte erleichtert auf, als ich den Schimmel ruhig da stehen sah. Ein Mann hielt seine Zügel und streichelt seinen Hals. Ich lief feuerrot an, als ich ihn als diesen Jon vom Marktplatz wiedererkannte.

„Das ist meiner“, sagte ich leise noch etwas außer Atem.

Der Mann sah auf und grinste überrascht.

„Du solltest besser auf ihn aufpassen, Kleine.“

„Werd ich. Diese Glöckner da haben ihn ganz verrückt gemacht“, rechtfertigte ich mich und nahm ihm die Zügel aus der Hand.

Die Mundwinkel des Mannes zuckten.

„Die Priester.“

„Ja.“

War ja klar, dass nur religiöse Leute so ein Trara machen konnten.

„Danke jedenfalls“, murmelte ich und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

„War mir eine Ehre.“

Seine Augen blinzten und er leckte sich über die Lippen.

„Willst du dich revanchieren?“

„Nein!“, schnappte ich überrascht über seine unerhörte Dreistigkeit.

Er trat einen Schritt näher und ohne zu zögern verpasste ich ihm eine Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite schwang.

„Du Miststück“, fauchte er, doch da hatte ich mich bereits in den Sattel geschwungen und mit den Zügeln geschnalzt.

Mein Herz pochte lauter als die Hufe des Pferds auf dem Pflaster, als ich es durch die Gassen lenkte.

5. Kapitel

Nach ein paar Ecken zügelte ich den Hengst, der wie der Blitz davon gestoben war. Zum Glück folgte mir dieser Arsch nicht. Meine Güte, ich hatte einen erwachsenen Mann gehauen. Obwohl er es eindeutig nicht anders verdient hatte.

Ich biss mir auf die Innenseiten meiner Backen und runzelte die Stirn. Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass dieser Mann ein Spion von Kristalla sein könnte. Oder ein anderer Krimineller.

Aber das war jetzt auch egal. Ich atmete tief durch und lenkte mein Pferd auf die Hauptstraße. Durch das Tor kam ich ohne Weiteres, obwohl mich einige Passanten, die mich wohl wiedererkannten, böse anstarrten.

Mein Herzschlag beruhigte sich erst vollständig, als ich die Stadt hinter mir ließ und ich klopfte meinem Pferd auf den Hals.

Mein Pferd. Ich brauchte dringend einen Namen für es.

„Also, wie willst du heißen?“, fragte ich leise und setzte mich etwas aufrechter in den Sattel.

Die Schneewüste um uns herum blendete mich und ich rieb mir müde über die Augen. Mir fiel auf, wie mein Pferd fast mit dem Eis um uns herum verschmolz und klopfte mir in Gedanken auf die Schulter. Wenn das mal nicht unauffällig und taktisch klug war, dann wusste ich auch nicht.

„Soll ich dich Schnee nennen? Aber das klingt viel zu sanft für dich…“

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah mich auch zu den Seiten um. Hatten die Wölfe nicht zu mir stoßen wollen? Wo blieben sie nur?

„Ich bin nicht kreativ genug für sowas“, murmelte ich weiter. „Ich hatte mal eine Katze und hab sie Kitty genannt, weißt du? Weil mir nichts anderes eingefallen ist. Und jetzt rede ich schon mit einem Pferd…“

Ich verkniff mir ein Grinsen und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich sollte mir dringend eine Spange oder ein Band für sie besorgen.

„Egal. Pferd, willst du mein Freund sein? Wie es aussieht freunde ich mich nämlich leichter mit Tieren als mit Menschen an.“ Ich und das Pferd stießen gleichzeitig ein Schnauben aus und ich musste lachen.

Aber es war die Wahrheit. So lang ich mich erinnern konnte, hatte ich nie Freunde gehabt. Meine Mum hatte mir erzählt, dass ich als Kind sehr introvertiert gewesen war, aber ich erinnerte mich an keine unglücklichen Zeiten. Schließlich war meine Mutter da gewesen. Erst auf der Gesamtschule hatte ich richtig schlechte Erfahrungen machen müssen. Die anderen hatten nie etwas mit mir zu tun haben wollen und in der fünften Klasse hatte mir ein Mädchen direkt ins Gesicht gesagt, ich wäre gruslig.

Gewissermaßen war ich das auch. Die Pubertät hatte bei mir sehr früh begonnen und mir schnell weibliche Formen beschert, obwohl ich meine Periode jetzt mit sechzehn immer noch nicht hatte. Ich war deswegen nicht beunruhigt sondern eher erleichtert, denn die Sache hörte sich nicht gerade spaßig an. Schon gleich gar nicht war ich deswegen zum Arzt gegangen. Bis auf einige schaurige Erfahrungen mit Zahnärzten, war ich bisher von den Medizinern verschont geblieben.

Mein Gesicht war auch nicht gerade durchschnittlich geformt. Mein Kinn war etwas zu spitz, meine Wangenknochen hoben sich etwas zu sehr unter der Haut hervor und meine Lippen sahen immer zu voll aus. Meine hohe Stirn ließ mich kindlich wirken und am allerschlimmsten fand ich meine Augen. Sie waren länglich und schmal und saßen leicht schräg. Außerdem hoben sich meine dunklen Wimpern so sehr von meiner natürlichen Haarfarbe ab, dass jeder annahm, sie wären gefärbt.

Aber meine Mutter hatte mir wieder und wieder gesagt, ich wäre völlig normal, nur würden die anderen das eben nicht erkennen. Also hatte ich mich mit der Zeit daran gewöhnt ein Außenseiter zu sein und als ich durch meine Beobachtungen bemerkte, wie oberflächlich sich die meisten meiner Mitschüler verhielten, war mir das auch ganz recht gewesen.

Ich fuhr mir über die Augen und räusperte mich. Ich würde sie wieder sehen. Sie musste einfach hier sein. Der Stein hatte auch sie hier her gebracht, da war ich mir ganz sicher. Wenn nicht, würde ich sie vielleicht nie wieder finden…

„Liah!“

Ich zuckte zusammen und sah die Wölfe durch den Schnee auf mich zu rennen.

Das Pferd scheute und gab ein beunruhigtes Schnauben von sich.

„Hey, ganz ruhig, Großer“, murmelte ich und griff etwas fester in die Zügel, um ihn zu bremsen.

„Warum hast du so lang gebraucht?“, rief Solos mir zu.

„Ich… hab den Laden nicht gleich gefunden“, log ich, denn irgendwie war es mir peinlich, dass mir mein Pferd schon nach ein paar Minuten abgehauen war und ich wollte mir keinen dummen Kommentar von Osta anhören. „Aber ansonsten ist alles glatt gegangen.“

„Nun gut“, grollte Norlos düster. „Wir müssen die Straße Richtung Südwesten verlassen. Wenn dieses Pferd schnell ist, erreichen wir die Festung noch vor Anbruch der Nacht!“

„Was für eine Festung?“, fragte ich, doch da hatte sich das Rudel bereits in Bewegung gesetzt und während der nächsten Zeit musste ich mich ziemlich aufs Reiten konzentrieren, um wegen des hohen Tempos nicht aus dem Sattel zu fallen.

Obwohl das Pferd eine Weile im Stall verbracht haben musste, war es sehr ausdauernd und hielt gut mit den Wölfen mit, an die es sich schnell gewöhnte. Auch meine alten Reitfähigkeiten waren nicht sehr tief vergraben und obwohl ich schon sehr bald jeden einzelnen Muskel und Knochen auf sehr unangenehme Weise spürte, bevorzugte ich das Reiten dem ewigen Rennen.

Die Landschaft war sehr eintönig: hügelig und weiß. Hier und da standen verkommene Pflanzen herum und wir passierten auch einige Wäldchen, in denen es etwas grüner war.

„Sieht es im ganzen Land so aus?“, fragte ich Solos, als wir nachmittags eine kurze Pause einlegten.

„Im Süden ist es besonders schlimm. Das Mirakurgebirge, in dem die Stadt liegt, in der die Hexe sich aufhält, ist in dieser Region. Ihr Einfluss ist hier am meisten zu spüren.“

„Du meinst, sie ist in der Nähe?“ Unterbewusst hatte ich meine Stimme gesenkt.

„Nein, nein. Unser Land ist riesig. Sie ist ganz im Südwesten und wir im mittleren Teil des Südens.“

„Ach so. Was liegt denn hinter den Grenzen?“, wollte ich neugierig wissen und bückte mich, um etwas Gras für mein Pferd unter dem Schnee auszubuddeln.

Solos stieß unruhig mit der Schnauze nach der weißen Decke und sah sich zu den anderen um.

„Hauptsächlich das große Wasser. Das Meer. Aber hinter dem Westen und dem hohen Norden kommen unerforschte Lande.“

Wie es aussah hatten die Bewohner der Zwischenwelt ihr Amerika noch zu entdecken. Allerdings fand ich das viel spannender als bei mir, denn dort kannte man bereits jeden Quadratzentimeter. Man konnte nichts neues mehr entdecken…

Mich packte die Lust endlich etwas anderes als Schnee zu sehen und dieses Land zu erkunden, doch dann fiel mir wieder ein, dass es hier Magie und wer weiß noch was für gefährliche Monster gab.

„Gibt es Drachen?“, fragte ich, kaum dass mir die Frage in den Sinn gekommen war.

„Nein! Natürlich nicht.“

Solos schnaubte belustigt.

„Das sind Gestalten für Legenden.“

„Vielleicht gibt es ja welche in euren unerforschten Landen“, lachte ich, doch als ich sah, wie Solos‘ Rückenfell sich aufstellte, ließ ich das Thema lieber fallen.

„Was gibt es denn hier außer Menschen, Elfen und sprechenden Tieren für Wesen?“

„Welche gibt es in deiner Welt?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Menschen und normale Tiere. Aber wir haben viele Fabelwesen und Elfen gehören dazu. Was unterscheidet sie denn von Menschen?“

Ich war schon immer ein wissbegieriger Mensch gewesen und liebte es, neues zu erfahren. Als Kind hatte ich immer an den Lippen meiner Mutter gehangen, wenn sie mir aus Sachbüchern vorgelesen hatte.

Ich erinnerte mich, dass sie sehr oft gesagt hatte, dass man einen offenen Geist haben musste, um Dinge begreifen zu können und dass man niemals an alten Regeln festhalten sollte, wenn man etwas neues erfuhr, was sie widerlegte. Man musste seinem Geist und seinen Wahrnehmungen immer vertrauen und sich nicht für verrückt erklären, nur weil man plötzlich Dinge sah, die fremd waren.

„Sie leben länger. Sie sind stärker, intelligenter. Ihre Sinne geschärfter. Und sie haben eine Affinität zur Magie.“

„Sehen sie auch anders aus? Haben sie Flügel?“

„Ja, aber nicht immer“, sagte Solos belustigt über meine Neugier.

Ich lehnte mich nachdenklich gegen mein Pferd und starrte auf meine Schuhspitzen.

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die anderen Wölfe sich wieder in Bewegung setzten und ich wollte mich schon in den Sattel schwingen, doch Solos schüttelte den Kopf.

„Sie gehen jagen. Wir warten hier.“

„Ach so. Willst du nicht mitgehen?“

„Irgendjemand muss doch auf dich aufpassen“, meinte er. „Außerdem bringt Scar mir etwas mit.“

Ich nickte und ließ meinen Blick schweifen. Eigentlich hatte ich hier bisher kaum Tiere, geschweige denn Wild gesehen.

„Was jagen sie denn?“

„Wir haben vor einigen Stunden die Witterung von ein paar Rentieren aufgenommen. Eines von ihnen ist verletzt.“

Na das hörte sich ja mal nach Spaß an. Obwohl… Eigentlich hörte es sich tatsächlich interessant an. Ich hatte natürlich schon ein bisschen Mitleid mit dem Tier, aber die Wölfe faszinierten mich. Zu gern hätte ich sie beobachtet.

Solos schien meine Gedanken zu lesen, denn er machte eine wage Kopfbewegung.

„Komm mit. Lass das Pferd einfach hier, es läuft nicht weg.“

Mit gerunzelter Stirn aber voller prickelnder Vorfreude folgte ich ihm einen bewachsenen Hang hinauf. Der Wolf hatte die Ohren angelegt und schien etwas gebückt zu gehen. Fast automatisch passte ich meine Schritte seinen an und bewegte mich so leise wie ich konnte.

Oben auf dem Hang blieben wir hinter den Bäumen stehen. Vor uns fiel es etwas steiler ab und vertrocknetes Gestrüpp und dornige Ranken machten das Passieren unmöglich, doch das war auch nicht nötig. Ich lehnte mich mit dem Bauch gegen einen Baum und spähte seitlich an ihm vorbei.

Unten im Tal erkannte ich mindestens zwanzig Rentiere. Sie schienen zu grasen, bewegten sich aber stetig vorwärts. Sie hatten braunes Fell, das um den Hals herum sehr zottig war und ein paar hatten Geweihe, mit denen ich keine Bekanntschaft machen wollte.

„Wo sind sie?“, fragte ich Solos leise.

„Überall. Sieh genau hin“, antwortete er mir und setzte sich.

Ich runzelte die Stirn und wandte mich wieder nach vorn. Ich sah hin und her und dann machte ich plötzlich den ersten Wolf aus. Er schlich sich von unserer Seite aus an.

Aber wo waren die anderen?

Es dauerte einige Sekunden, doch dann fielen mir die kleinen Gestalten auf, die sich rings um die Rentiere anpirschten. Dann brach einer von ihnen – ich glaubte, es war Osta – aus und machte einen Satz nach vorn.

Die Rentiere stoben jäh auseinander und preschten davon, sodass ein paar Wölfe ausweichen mussten, um nicht platt getrampelt zu werden. Gerade als ich dachte, die Jagd wäre verpatzt, fiel mir ein Rentier auf, das hinkte und in einem großen Abstand folgte. Den Wölfen gelang es nun mit spielender Leichtigkeit es abzutrennen und zu umkreisen. Dann sprang einer der Wölfe urplötzlich hoch, verbiss sich im Hals des Tiers und riss es zu Boden. Die anderen folgten ihm.

„Oh wow“, murmelte ich fasziniert.

Zum ersten Mal hatte ich die wilde, tierische Seite meiner Gefährten erlebt.

Wir verließen unseren Aussichtspunkt bald wieder und kehrten zu meinem Pferd zurück, das friedlich herumstand.

„So viel zum Thema Wildfang“, sagte ich grinsend. „Solos, hast du eine Idee, wie ich es nennen könnte? Ich will nicht immer nur „Pferd“ sagen.“

Der Wolf legte nachdenklich den Kopf schief und ich seufzte, als ich merkte, dass er genauso ratlos wie ich war.

„Nimm doch etwas, was ihn beschreibt.“

„Aber ich kenne ihn ja noch gar nicht…“

Ich strich über das warme Maul des Pferdes.

Nach kurzer Zeit kehrten die Wölfe zurück und dann dauerte es nicht mehr lang, bis ich wieder im Sattel saß.

Wir behielten ein schnelles Tempo bei und ich wurde von Stunde zu Stunde müder. Die Landschaft war langweilig und der Schnee blendete mich. Meine Gedanken schweiften umher, ohne eine bestimmte Form anzunehmen.

Die letzten feurigen Reflexionen des Sonnenuntergangs waren bereits verschwunden und der Himmel am Horizont hatte gerade von rosa und orange zu Blaunuancen gewechselt, als ich die Burg ausmachte.

Der kalte graue Stein kristallisierte sich klar aus der öden Eislandschaft, die in dieser Ebene von einigen kleinen Büschen durchzogen war. Mir war sofort klar, dass sie unser Ziel war, doch ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten könnte.

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass das das Schloss der Königin war und überhaupt sah es nicht so aus, als würde die Festung zur Zivilisation gehören.

Sie war größer als eine einfache Burg und ich ahnte, dass hinter der hohen, abweisenden Mauer mehrere Gebäude standen.

„Was ist das?“, fragte ich und beugte mich leicht zu Scar herab, die neben mir lief.

„Das ist die Festung Bertang.“

„Und… wer lebt dort?“

„Fürst Bertang und seine Ritter der Ewigkeit. Sie sind die Wächter über das Portal und über die Welten.“

Ich schloss aus ihrer Erklärung, dass diese Leute unsere Verbündeten waren und sicher mit uns gegen Kristalla kämpfen würden. Und hoffentlich würde mir in dieser Festung endlich der ganze Plan erklärt.

Ich richtete mich wieder auf und drückte meine verspannten Schultern durch. Wenn ich Glück hatte, dann würde ich mich schon sehr bald waschen können.

Plötzlich fiel mir etwas ein. Nervös griff ich fester in die Zügel und warf Scar einen Blick zu.

„Haben die einen Überblick, wer so durch dieses Portal kommt?“, fragte ich und zwang meine Stimme mit aller Macht dazu, nicht zu zittern.

Die Wölfin schnaubte belustigt und schien meine Nervosität nicht zu bemerken.

„Sie überwachen es mit größter Konzentration. Nichts kommt da durch ohne, dass sie es wissen. Und glaub mir, sie verteidigen das Tor zu unserer Welt mit allem was sie haben!“

„Dann kann man es also nicht einfach so benutzen?“

„Nein, natürlich nicht.“

Ich legte den Kopf schief.

„Wieso steht ihre Festung dann zwei Tagesreisen weit weg? Wenn hier jemand… einbricht, können sie ja nicht gleich dort sein!“

„Doch, das können sie.“

„Und wie machen sie das?“

Scar lachte und schüttelte den Kopf.

„Das kann ich dir wirklich nicht sagen.“

Mir war nicht ganz klar, ob sie es nicht wusste oder ob es ein Geheimnis war, doch ich ließ es darauf beruhen. Wenn meine Mutter in dieser Welt war, dann würden diese Ritter es wissen. Sie würden mir eine Antwort auf meine Frage geben können, doch wollte ich sie hören? Denn wenn sie nein hieß, was wäre dann?

In meinem Magen bildete sich ein Knoten und ich streckte nachdenklich die Finger nach der Mähne meines Pferdes aus. Einige Eiskristalle hatten sich in ihr verfangen und erneut fiel mir die Farbgleichheit auf. Das Pferd war so weiß wie Eis und Schnee, doch das Leben brannte heiß direkt unter seiner Haut. Seine Hufe schlugen wie Donner auf die Erde…

„Eisblitz“, wisperte ich und die Ohren des Pferdes drehten sich zu mir.

Eisblitz. Das war sein Name! Ich spürte, wie richtig es sich anfühlte, ihn so zu nennen.

Die Festung Bertang rückte immer näher und wurde immer größer. Wir waren nicht mehr weit von ihr entfernt und ich schätzte die Mauer auf etwa acht Meter Höhe und das riesige Eichentor auf drei. Die Türme waren allerdings um einiges höher und mir wurde schon von hier unten aus schwindelig.

Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte, deshalb versuchte ich so unvoreingenommen wie möglich zu sein, aber dennoch schüchterte mich der dunkle Stein ein.

Das Tor öffnete sich, als wir nur noch einige Meter entfernt waren und mir war nicht wohl, als ich inmitten der Wölfe hindurch ritt. Als ich den Kopf hob, konnte ich das hochgezogene Fallgatter erblicken und hatte das unerklärliche Gefühl, gleich darunter zerfleischt zu werden.

Hinter der Mauer gab es eine zweite, etwas niedrigere, die den etwa zwei Meter breiten Gang in Schatten und die Wachen, die ich wegen ihrer schwarzen Mäntel erst nach einigen Augenblicken erkannte, in Dunkelheit hüllte.

Wir wandten uns nach rechts und passierten schon bald die zweite Mauer durch ein niedrigeres Tor. Ich hätte auf Eisblitz noch gut durchgepasst, auch ohne mich zu bücken, doch ich fühlte mich so hoch oben nicht wohl und ungeschützt, deshalb stieg ich ab, hielt mich aber direkt neben dem Hengst.

Hinter der Mauer war ein großer Hof, in dessen Mitte eine kleine Kapelle stand und an dessen Rand ich die balkonartigen Gänge der Burg sah. Das ganze erinnerte mich an einen arabischen Innenhof, der ebenfalls immer in der Mitte des Hauses liegt und dessen Tür nicht parallel zum Eingangstor liegt, damit er leichter zu verteidigen ist. Hier war allerdings kein Garten und das ganze war auch viel größer als die kleinen Häuschen, die ich in den Katalogen meiner Mutter gesehen hatte.

Ich blickte staunend an den Mauern hinauf über denen die Sterne funkelten und blies sanft den weißen Dunst, der mein Atem war, in die Luft. In Gedanken malte ich mir die leicht dramatische Hintergrundmusik aus, die jetzt in einem Film gespielt würde.

„Ihr kommt spät.“

Ich zuckte zusammen und sah erst jetzt den Mann in der schwarzen Kutte auf uns zu schreiten.

„Wenn Ihr uns eine Eskorte geschickt hättet, wäre es schneller gegangen“, antwortete Norlos ruhig.

Der Mann ging nicht darauf ein und strich sich mit einer betont beiläufigen Bewegung das graue Haare zurück.

„Fürst Bertang empfängt Euch morgen.“ Sein Blick streifte die Wölfe und blieb an mir hängen.

Unbewusst umklammerte ich Eisblitz‘ Zügel etwas fester.

„Ich nehme mir die Freiheit, mich selbst vorzustellen. Ich bin Ritter Isnang. Es ist sehr spannend, eine Figur aus einer Prophezeiung kennenzulernen und zu sehen, wie sehr sie ihrem prophezeiten Bild entspricht, Pachanda.“

Ich starrte ihn sprachlos an, weil ich mir nicht sicher war, ob er mich beleidigen, einschüchtern oder nur willkommen heißen wollte und warum er mich Pachanda nannte.

„Schön, Euch kennenzulernen. Mein Name ist Liah Jones“, sagte ich einfach und der Ritter neigte leicht den Kopf.

In diesem Moment kam ein Junge, etwas älter als ich, auf uns zu gelaufen. Er sah ziemlich verschlafen aus und sein braunes Haar stand in alle Richtungen ab. Leicht verwirrt stellte ich fest, dass er mir Eisblitz abnehmen wollte und ließ es auch mit einem verspäteten Lächeln geschehen, als mir klar wurde, dass er ein Stallbursche sein musste.

„Wir haben für Euer Rudel das übliche Quartier vorbereitet“, eröffnete Isnang Norlos und neigte leicht den Kopf und wies dann die Wölfe an ihm zu folgen.

Leicht panisch warf ich Solos einen Blick zu und er raunte mir im Vorbeigehen zu: „Mach dir keine Sorgen, du befindest dich an einem der sichersten Orte dieser Welt.“

„Wir sehen uns morgen“, fügte Scar hinzu und dann stand ich ganz allein vor dem Ritter und biss mir nervös auf die Zunge.

Er musterte mich durchdringend und ich konnte die hohen Erwartungen förmlich riechen.

„Damian.“

Er sagte den Namen in normaler Lautstärke, doch es klang wie ein Ruf und ich sah den Stallburschen schon wieder über den Hof rennen.

„Bring die Pachanda zu ihrem Zimmer.“

Er warf dem Jungen noch einen warnenden Blick zu, dann entfernte er sich und ließ uns stehen.

„Hallo“, sagte ich, da mir die Situation unerträglich peinlich war.

Der Junge bedeutete mir, ihm zu folgen und das tat ich. Als wir den Hof überquert hatten, betraten wir über eine schmale Treppe den Balkongang und von dort aus einen weiteren, der ins Innere der Burg führte.

„Kannst du nicht sprechen, Damian?“, fragte ich schließlich und der Junge sah mich zum ersten Mal direkt an.

„Doch, aber … ich bin nur ein Stallbursche.“

„Und ich bin nur eine sechzehnjährige aus der Londoner Mittelschicht.“

„Ist London deine Heimatwelt?“

„Nein. Es ist eine Stadt dort.“

Er nickte und blieb vor einer Tür stehen, die er öffnete und dann zur Seite trat.

„Ihr werdet morgen von einer Dienerin geweckt. Ich wünsche Euch eine erholsame Nacht, Pachanda.“

Meine Mundwinkel zuckten, als ich sah, dass er rot wurde, als ich ihm eine Hand auf den Arm legte. Wie süß.

„Dir auch.“

Ich hatte das Zimmer bereits betreten, als mir noch etwas einfiel und ich mich noch mal umdrehte.

„Was bedeutet Pachanda?“

„Das ist in der Alten Sprache das Wort für Auserwählte.“

„Ach so. Dann gute Nacht, Damian.“

Ich schloss die Tür und gähnte. Von dem langen Ritt war ich unglaublich erschöpft. Blinzelnd sah ich mich im Zimmer um, das von ein paar Kerzen erleuchtet wurde. Einige Wandteppiche schmückten den Raum, der ansonsten recht leer war. Ein Himmelbett mit altrosafarbenen Baldachin zog meine Aufmerksamkeit sofort auf sich und da ich einfach zu müde war um mich noch weiter umzusehen, zog ich mich bis auf meine Unterhose aus, ließ meine Kleidung auf einen Hocker neben dem Bett fallen und warf mich dann auf die Kissen. Mir entwich ein wohliges Stöhnen als die weiche Matratze leicht unter mir nachgab und die warme Decke sich an meine Haut schmiegte. Ich wickelte mich eng ein und spürte genüsslich, wie mir endlich wieder richtig warm wurde. Dann fielen mir die Kerzen wieder ein und ich raffte noch mal all meine Kraft zusammen, um mich zum rechten und linken Nachttisch zu drehen und das Licht auszublasen.

6. Kapitel

Ich wurde von einem energischen Rascheln der Vorhänge und den dadurch ins Zimmer dringenden Lichtstrahlen geweckt. Genervt stöhnte ich auf und zog mir die Decke über den Kopf.

„Bitte verzeiht mir, Pachanda. Aber mir wurde aufgetragen, Euch zu wecken“, drang eine sanfte Frauenstimme durch die Decke und ich zog die Nase kraus.

„Warum müsst ihr in dieser Welt bloß immer so früh aufstehen?“, ächzte ich und versuchte verzweifelt mich an den tollen Traum, den ich gehabt hatte, zu erinnern.

„Nun. Es ist beinahe Mittag.“

Ich schlug die Decke überrascht etwas zurück.

„Echt?“

Die junge Frau, die an meinem Bett stand, nickte.

Sie hatte den Blick gesenkt, aber es war offensichtlich, wie hübsch sie war. Einige Strähnen ihres braunen Haars lugten unter ihrer Haube hervor und in dem schmucklosen Kleid sah sie um Welten besser aus, als die meisten Katalogmodels.

„Mist. Tut mir leid.“

Ich setzte mich auf und zog die Decke etwas hoch, da ich bis auf die Unterhose nackt war. Und jetzt? Wollte sie mir etwa beim Anziehen helfen oder was?

„Ich habe Euch ein Bad eingelassen.“

Vor purer Dankbarkeit klappte mir der Mund auf. Ein Bad war genau das, was ich jetzt brauchte. Immerhin klebte alter Schweiß und Dreck an mir und wie es aussah, waren Waschmöglichkeiten hier eine Seltenheit.

Die Frau reichte mir ein großes Leinentuch, das anscheinend eine Art Handtuch war und ich wickelte mich darin ein, während ich aufstand. Dann folgte ich ihr in ein Nebenzimmer, das mir am letzten Abend gar nicht aufgefallen war.

Der eisige Steinboden ließ mich auf Zehenspitzen gehen und dennoch war mein ganzer Körper mit Gänsehaut überzogen, als ich in dem kleinen Raum vor der Wanne stand, aus der Dampf aufstieg.

„Es ist noch etwas zu heiß, soll ich vielleicht etwas kaltes Wasser nachgießen?“

„Äh nein, nein, schon gut.“

Ich hatte eine ziemlich hohe Toleranz, was Hitze anging und mir noch nicht mal an Tee die Zunge verbrannt.

Da die Frau keine Anstalten machte, zu gehen, entledigte ich mich kurzer Hand meiner Kleidung und stieg in das heiße Wasser. Ich gab ein wohliges Seufzen von mir, als ich die Hitze auf meinem Körper spürte.

„Darf Euch die Haare waschen?“

Ich war etwas verwirrt, doch ich ließ es geschehen. Am Wannenrand entdeckte ich einen Schwamm, mit dem ich mich wusch, bevor sie auch noch das übernehmen wollte.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Maya, Pachanda.“

„Und wie ist es dazu gekommen, dass du hier arbeitest?“

„Ich wurde ausgewählt, wie die anderen Dienerinnen. Es ist eine Ehre, hier zu sein.“

„Hm.“

Ich bat sie, mich alleinzulassen, nachdem sie fertig war und lehnte mich in der Wanne zurück. Am liebsten wäre ich einfach hier liegen geblieben. Ich fühlte mich ausgelaugt und leer. Aber vor allem einsam und das war der einzige Grund aufzustehen.

Ich erhob mich und wrang mein Haar gründlich aus, bevor ich mich mit dem Leinentuch abtrocknete. Maya musste meine Unterhose mitgenommen haben, was mir irgendwie ziemlich peinlich war, und als ich wieder zurück ins Zimmer ging sah ich, dass auch meine restlichen Kleider weg waren. Dafür lagen auf dem Bett neue. Neugierig begann ich, sie zu inspizieren.

Die Unterhose war wie eine sehr kurze Hose geschnitten und aus einem weichen, elastischen Stoff. Dazu gab es eine Leggings-ähnliche Hose aus robusterem Material und eine graue Wolltunika, die mir bis zum Knie ging. Am interessantesten fand ich den BH – falls man ihn als solchen bezeichnen konnte. Er war wie ein Bandoo BH, nur reichte er bis knapp über dem Bauchnabel und war hinten zum Schnüren.

Nach einigen Verrenkungen war ich jedoch fertig angezogen, und setzte mich auf einen Stuhl vor den Kamin, den Maya angezündet haben musste, um meine Haare zu trocknen.

Nach einigen Minuten betrat die Dienerin wieder das Zimmer. Dieses Mal hatte sie einen Holzkamm mit breiten Zinken dabei und machte sich darin, meine verknoteten Haare vor dem Verfilzen zu retten.

„Ihr werdet in der Küche etwas zu essen bekommen. Soll ich Euch hin führen?“

„Ja, das wäre nett“, sagte ich und schenkte ihr ein Lächeln.

 

Der eisige Wind brachte meine ordentlich gekämmten Haare wieder durcheinander und ich schlang meine Arme um mich, als ich über den Hof eilte. Nach dem Essen hatte ich mich abgeseilt, um nach Eisblitz zu sehen.

Im Stall war es durch die Körperwärme der Pferde deutlich wärmer. Da es ein großer Stall war, hatte ich keine Ahnung, wo ich anfangen sollte zu suchen. Ich schritt zwischen den Boxen der Rösser hindurch, die alle so groß wie Polizeipferde waren und mich ein bisschen einschüchterten.

Endlich fand ich den weißen Hengst im hinteren Teil des Stalls. Ich betrat seine Box und er hob leicht den Kopf, als ich mich gegen ihn lehnte.

„Angenehme Nacht gehabt, Eisblitz?“, wisperte ich und strich ihm durch die Mähne.

Das Pferd schnaubte leise und widmete sich dann wieder dem Heu vor sich.

„Ich kann es gar nicht glauben“, murmelte ich und entwirrte einen Knoten in seinem Haar. „Ich kann es gar nicht glauben, dass ich hier bin.“

„Konnte ich am Anfang auch nicht.“

Ich fuhr herum, aufgeschreckt von der fremden Stimme.

Im Gang stand ein Junge und sah mich überrascht an, als wäre er selbst über seine Stimme erschrocken. Ich erkannte ihn nach einigen Sekunden als den Jungen von letzter Nacht wieder.

„Damian. Du hast mich erschreckt“, lachte ich.

„Verzeiht mir, Pachanda“, nuschelte er und senkte den Blick.

„Ach, lass doch diese alberne Anrede sein. Ich bin Liah.“

„Oh, äh ja, Pa- Liah.“

Ich musste erneut lachen und Damian wurde rot, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.

„Was meintest du eben damit? Bist du etwa auch aus meiner Welt?“, hakte ich aufgeregt nach und trat auf ihn zu.

Damian nickte und strich sich über die langen Arme, die an seinem Körper herabbaumelten, als hätten sich seine Muskeln noch nicht an den Wachstumsschub gewöhnt, den er vermutlich in letzter Zeit gehabt hatte. Dabei war er eigentlich nicht sonderlich groß, oder zumindest nicht größer als ich.

„Das nicht, aber ich komme auch nicht aus dieser.“

Erst jetzt bemerkte ich seine eigentlich recht auffälligen goldenen Augen.

„Wie viele gibt es denn? Und wie bist du hier her gekommen?“

Ich konnte mein Interesse nicht verbergen. Am liebsten hätte ich sofort alles über alles erfahren.

„Also, man weiß eigentlich nicht genau wie viele Welten es gibt“, meinte Damian und fuhr sich nachdenklich durchs Haar. „Aber ich komme aus der Welt der Baumhirten.“

„Ich… kannst du mir von ihr erzählen? Ich bin total neugierig.“

„Es tut mir leid, aber ich habe hier eigentlich zu tun“, brummte er und nahm die Schubkarre, die er abgestellt hatte wieder auf.

„Hey, warte doch!“, rief ich ihm hinterher, als er sich entfernte und lief ihm nach.

„Komm schon, ich weiß so wenig über das alles!“

„Ich rede nicht gern über meine Heimat“, meinte Damian und räusperte sich.

„Oh“, machte ich entwaffnet.

„Nicht, weil sie keine schöne Heimat war. Sondern weil ich nicht mehr zurückkehren kann.“

„Nie wieder? Aber warum denn?“, fragte ich sofort und hätte mich gleich darauf am liebsten dafür geschlagen, da er ja offensichtlich das Thema wechseln wollte.

„Das Portal kann nicht künstlich geöffnet werden. Es öffnet sich nur, wenn das Schicksal es verlangt, so wie bei dir und deiner Prophezeiung. Sobald es dann offen ist, kann man von egal welcher Welt hier her gelangen, wenn man ein Portal dort berührt. Schon allein, dass ich hier her gelangt bin, war so ein unwahrscheinlicher Zufall, dass es eigentlich unmöglich ist. Und da das Portal der einzige Weg ist, muss ich für immer hier bleiben.“

Mir klappte der Mund auf. Nicht wegen Damians schrecklichem Schicksal. In dieser Sekunde konnte ich an keine andere Person als an mich denken. War ich etwa für immer hier gefangen? Ich liebte meine Welt und ich liebte London, aber vor allem liebte ich meine Mutter. Und sollte sie nicht in dieser Welt sein…

Mir wurde schwindlig und ich musste mich kurz an einem Balken abstützen.

„Aber ich bin auch schon so lange hier, dass ich die Zwischenwelt als meine Heimat betrachte. Meine Pflegeeltern sind hier und bei den Rittern der Ewigkeit habe ich ein neues Zuhause gefunden. Eines Tages werde auch ich über die Welten wachen und ich werde nicht zu lassen, dass irgendjemand aus der Dimension, in die er gehört, gerissen wird. Das Weltenwandeln ist unnatürlich. Es sollte nicht mal möglich sein.“

Der gut versteckte bittere Unterton in seiner Stimme, ließ mich Mitleid mit dem Jungen empfinden, dass mein eigenes Gefühlschaos nur noch mehr verstärkte. Echte Tränen traten in meine Augen und brannten in der Kälte.

„Ich habe Euch traurig gemacht. Vergebt mir, Liah“, sagte Damian und schenkte mir ein Lächeln, bei dem seine goldenen Augen zu glitzern begannen.

Ich erwiderte es und blinzelte verlegen.

„Liah? Bist du hier?“

Solos tapste den Gang entlang auf uns zu und vertrieb die seltsame Stimmung zwischen uns augenblicklich.

Ich hob die Hand zur Begrüßung und kam ihm entgegen.

„Fürst Bertang erwartet uns“, teilte er mir mit. „Wir müssen los.“

„In Ordnung.“

Ich drehte mich um, um mich von Damian zu verabschieden, doch er war nirgends zu sehen, also folgte ich Solos nach draußen.

Wir überquerten den Hof und betraten die kleine Kapelle, die mir in der Nacht schon aufgefallen war.

„Was will dieser Fürst eigentlich von uns?“, fragte ich Solos mit gedämpfter Stimme, als ich dem Wolf über eine steinerne Wendeltreppe nach unten folgte.

„Er wird mit dir vorerst über die Prophezeiung sprechen.“

Wir gelangten in einen kleinen Vorraum, von dem eine große Flügeltür abging, die von zwei Wachen gesäumt war. Als diese uns sahen, öffneten sie die Tür und traten beiseite. Sie erinnerten mich ein bisschen an die Wachen beim Buckingham Palace, nur dass sie nicht so alberne Mützen trugen.

Hinter der Tür befand sich ein großer Saal und mir lief ein Schauer über den Rücken, als wir ihn betraten.

Die Decke des Saals wurde von Säulen gestützt, die den Weg zu einem, in einem erhöhten Teil des Raumes stehenden Throns säumten. Zwischen den Säulen standen Ritter, die starr gerade ausblickten und ihre Lanzen präsentierten.

Die Wände waren voller hoher, großer Bilder, die eng an einander gereiht waren. Jedes Bild zeigte eine andere Landschaft und bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass die Bilder auf Glas oder poliertem Stein gemalt sein mussten, denn ihre Oberflächen spiegelten leicht.

Flankiert von Solos und Norlos, der eben zu uns gestoßen war, schritt ich nervös und mit klopfendem Herzen auf den Mann zu, der in dem Thron saß.

Sein weißes Haar war schulterlang und er hatte einen ordentlich gestutzten Vollbart. Er trug einen breiten, auffälligen Gürtel und einen grauen Umhang, auf dessen Brust etwas in einer Schrift, die wie eine Mischung aus Kyrillisch und Arabisch aussah, gestickt war. Auf seinem Kopf saß ein grauer, schmuckloser Reif.

Obwohl er so aussah, wirkte er kein bisschen alt auf mich. Sein Blick war wach und durchdringend und seine Haltung selbstsicher und nicht im Geringsten schwächlich. War er der Fürst?

Drei Meter vor den Stufen zum Thron blieben wir stehen. Ich war mir nicht sicher, ob von mir erwartet wurde, mich zu verbeugen, aber da ich mich auch so schon albern genug fühlte, blieb ich einfach aufrecht stehen.

Neben dem Mann stand der Ritter Isnang, der uns am Abend in Empfang genommen hatte. Er schien eine ziemlich wichtige Person zu sein und ich nahm an, dass er vielleicht ein Berater des Fürsts war.

„Pachanda.“

Die Stimme des Mannes hallte an den Wänden des Saals wieder, obwohl er kaum die Stimme erhoben hatte.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er und legte eine Hand an sein Kinn.

„Ihr seid Fürst Bertang. Denke ich“, antwortete ich und stellte fest, dass meine Stimme so klang wie damals, als ich vor dem gesamten Jahrgang meiner Schule eine Rede hatte halten sollen: Zittrig und fehl am Platz.

„Ganz recht“, meinte der Fürst. „Aber das ist nur mein Name und mein Titel. Warum, denkst du, bist du hier?“

„Weil eine Prophezeiung festgelegt hat, dass ich die Auserwählte bin, um die Welten vor Kristalla zu retten, indem ich sie töte“, sagte ich etwas fester.

Der Fürst strich sich durch seinen Bart und machte mich dadurch nervös.

„Deshalb bist du in dieser Welt. Aber was tust du dann bei uns Rittern der Ewigkeit?“

„Ähm“, machte ich und schluckte. „Also, Ihr wacht über das Portal und wollt sicher gehen, dass Ihr die richtige Auserwählte erwischt habt?“

Der Mann lachte leise und meine Nervosität schlug in leichte Wut  um. Was sollte dieses Fragespielchen?

„Und da ich hoffe, dass ich nicht allein gegen Kristalla kämpfen muss, denke ich, dass Ihr vielleicht… mit kommt?“

„Nun denn.“ Der Fürst setzte sich auf. „Wir wachen über das Portal und wir überprüfen, wer hindurch kommt. Und wir wachen über die Welten und auch über die Prophezeiungen, die ihr Zusammenspiel bestimmen. Du bist hier, um die Prophezeiung zu hören und um alles zu erfahren, was du wissen musst.“

„Hört sich ja klasse an“, meinte ich und biss mir auf die Zunge.

Solos machte neben mir eine Bewegung, doch er sagte nichts und auch Norlos blieb still.

Der Fürst erhob sich und trat langsam die Stufen seines Throns hinab.

„Lass deine Gefährten hier und folge mir. Ich werde dir alles erklären.“

Ich warf den Wölfen einen Blick zu, doch Solos nickte aufmunternd, also folgte ich Fürst Bertang durch eine kleine Tür in der Wand neben dem Thron.

Wir kamen in einen Raum, der völlig leer war, bis auf ein Podest in seiner Mitte, auf dem ein großes, in Leder gebundenes Buch lag. Es sah uralt aus, als ob es bei dem leisesten Windhauch auseinander fallen könnte.

„Ist das die Prophezeiung?“, fragte ich.

„Das sind alle Prophezeiungen. Sie reichen vom Anbeginn der Zeiten und bis zu deren Ende. Es ist älter als alle Welten zusammen. Wir bewachen es, denn niemand außer uns darf es in die Hände bekommen.“

„Warum?“

„Was würde wohl passieren, wenn die falsche Person die Zukunft kennen würde?“

Ich runzelte die Stirn.

„Kristalla.“

Der Fürst nickte überrascht.

„Kristalla wäre ohne Bedeutung für uns, wenn sie nur an dieser Welt interessiert wäre. Denn deren Herrscher kommen und gehen, während wir bleiben. Doch Kristalla will alle Welten und dafür braucht sie das Buch, denn es bestimmt, wann die Portale sich öffnen.“

„Die Prophezeiungen steuern das Portal“, meinte ich und erinnerte mich daran, was Damian gesagt hatte. „Wie funktioniert das? Wer steuert es?“

„Du bist sehr neugierig, Pachanda.“

„Ja, entschuldigt bitte“, murmelte ich, denn er gab mir das Gefühl, etwas verbotenes getan zu haben und übte eine so starke, natürliche Autorität aus, dass ich gewaltig eingeschüchtert war.

„Oh nein, Wissbegierde steht am Anfang jedes Gewinns. Denn Wissen ist Macht, nicht wahr?“

„Und Ihr wisst alles über die Zukunft. Dann seid Ihr die mächtigsten hier“, schlussfolgerte ich. „Aber dann könntet Ihr sie doch töten oder?“

„Nein. Die Prophezeiung sagt, nur du bist dessen fähig. Aber zurück zu deiner Frage: Es bestehen Wege zwischen den Dimensionen, wir nennen sie Weltenpfade. Sie können nur durch Portale betreten werden und auch nur dann, wenn diese offen sind. Allerdings sind entweder alle auf einmal offen oder alle geschlossen. Die Prophezeiungen teilen uns mit, wann die Ströme richtig fließen, um die Pfade zu öffnen.“

Dann konnten sie es nicht steuern. Und das wiederum hieß, dass meine Mutter auch durch so einen schrecklichen Zufall wie Damian hier her gelangt sein musste.

„Wie sehen die Portale aus?“

„Sie können jede Form haben. Hier ist es der große Stein der Ankunft, wie wir ihn nennen. Und die Portale sind genauso alt, wie die Ströme selbst und die sind das Älteste überhaupt.“

Der Stein im Arbeitszimmer meiner Mutter war also ein uraltes, magisches Portal. Und wenn sie es benutzt hatte, wusste dieser Mann hier davon. Und dennoch. Die Frage kam nicht über meine Lippen, genau wie ein Schrei, vor dessen Klang man sich fürchtet.

„Also, die Prophezeiung“, meinte ich und räusperte mich.

Fürst Bertang schritt auf das Buch zu und schlug es auf. Ich erkannte die gleichen Zeichen darin, die auch auf seine Kleidung gestickt waren.

„Ich kann das nicht lesen“, sagte ich.

Der Fürst nickte.

„Es steht geschrieben, dass die Eishexe nicht zu besiegen sein wird, denn sie wird nicht sterben können. Sie hat ihren Atma, ihren Geist, gegen die dunkelste Magie des Todes eingetauscht und kein Schwert und kein Zauber wird ihr das nehmen können, woran sie sich mit aller Macht klammert. Doch es wird ein Retter kommen, der auserwählt ist, das Unmögliche möglich zu machen. Er wird kommen in der 22. Nacht des fünften Mondes im Jahre 42748 nach Evelants Geburt. Er wird aus der magielostesten Welt der Welten kommen und er wird dennoch reiner sein als das Wasser von Anahata Kha‘a. Und er allein wird fähig sein, den Dolch aus den Schmieden von Mjendra in ihr Herz zu rammen und sie dadurch zu töten.“

Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, dass Fürst Bertang fertig war.

„Was ist das für ein Dolch?“, fragte ich, doch meine Stimme hörte sich fremd an.

„Die Schmieden von Mjendra liegen in den Tiefen des Tour-Elai, des Klippenmeeres. Die Waffen dort werden im Feuer der Drachen geschmiedet, dem einzigen Feuer, das unter Wasser brennen kann. Nur ein Dolch von dort wird Kristallas Leben ein Ende bereiten. Allerdings stirbt jeder, der sich einer Elai-Waffe nicht als würdig erweist, bei ihrem Gebrauch.“

„Oh“, stieß ich nicht sonderlich überrascht aus. „Aber die Prophezeiung garantiert doch, dass ich ihr würdig bin, oder?“

Das Schweigen des Fürsts ließ alle gewonnene Überzeugung sich in Nichts auflösen.

„Ein weiteres Problem ist, dass keine dieser Waffen mehr existiert und keiner, der je versucht hat, die Schmieden von Mjendra zu besuchen, je wieder zurückkehrte.“

Ich konnte nicht anders. Mir entkam ein hysterisches Lachen und als es erst aus mir heraus gebrochen war, konnte ich nicht mehr aufhören.

„Ihr wollt…“, japste ich. „Ihr wollt sagen, dass ich also nicht nur eine übermächtige Zombie-Hexe töten soll… sondern auch noch aus einer unbetretbare Schmiede eine Waffe, die mich höchstwahrscheinlich umbringen wird, holen soll?“

„Nun. Du wirst es nicht allein tun“, meinte der Fürst ernst. „Aber ja. Das ist es, was ich sage.“

„Gott, das ist absolut genial“, schnaubte ich und strich mir durch die Haare.

„Pachanda. Dies ist völliger Ernst! Die Welten sind in Gefahr. Das Leben Tausender liegt in deiner Hand.“

„Ich weiß! Aber findet Ihr nicht auch, dass eine sechzehnjährige sich mit anderen Dingen beschäftigen sollte?!“, rief ich fassungslos.

„Niemand hat um sein Schicksal gebeten“, sagte er ruhig.

„Wie… Wie soll ich mich nur um euer ganzes Universum kümmern, wenn alles, woran ich denken kann, meine Mutter ist?!“, rief ich. „Ich habe nichts! Ich bin nichts! Nichts, ohne sie.“

Fürst Bertang erwiderte meinen Blick ruhig und fest.

„Deine Mutter ist tot.“

7. Kapitel

Tot.

Tot.

Mein Verstand konnte mit dem Wort nichts anfangen. Was hieß das? Wovon redete der Mann?

Ich blinzelte einmal. Zweimal.

Einatmen. Ausatmen.

„Nein.“

„Doch, Pachanda. Sie ist tot.“

„Nein! Woher wollt Ihr das denn wissen?“

„Sie starb in dem Gebäudebrand.“

„Das könnt Ihr nicht wissen! Das ist eine andere Welt und außerdem hatte sie doch den Stein! Sie muss hier sein, sie kann nur hier sein!“

„Ich sah es im Wasser von Anahata Kha’a. Es zeigt jedes Geschehen, egal wann und wo es war. Unsere Retterin kommt aus einer anderen Welt, in der sie nichts war und nichts hatte und sie kommt zu uns, wo sie alles finden wird.“

„Ihr lügt!“, schrie ich und stolperte zurück.

Ich ließ nicht zu, dass er noch etwas sagte, denn ich wollte es nicht hören. Ich stieß die Tür auf und rannte durch den Saal, ungeachtet der Wachen und stürmte die Treppe hoch nach draußen, über den Hof.

Nichts davon konnte wahr sein. Nichts davon.

 

Irgendwie hatte ich den Weg in mein Zimmer gefunden, wo ich mich unter der Bettdecke versteckt hatte, wie ein kleines Kind. Ich presste meine Augenlider zusammen und wartete darauf aus diesem grausamen Alptraum aufzuwachen und meine Mutter wieder zu sehen.

Du hast es doch gewusst.

Die leise Stimme in meinem Kopf flüsterte zart die Worte, die ich nicht hören wollte. Meine Mutter war tot und das schon seit zwei ein halb Wochen. Und ich hatte noch keine Sekunde um sie getrauert.

Auch jetzt rann keine Träne aus meinen Augen. Weder mein Herz noch sonst etwas tat mir weh. Ich fühlte nichts als eine alles verschlingende Leere, der ich nicht entkommen konnte.

Urplötzlich war es egal, ob ich wieder zurück nachhause konnte. Dort war nichts, was mich erwartete. Dort hatte es auch nie etwas für mich gegeben. Ich hatte nie Freunde gehabt und mich nur selten für etwas in meiner Welt begeistern können. Was, wenn das daran lag, dass ich dazu bestimmt war, diese Welt zu retten? Nie hatte ich mich wirklich richtig gefühlt, da wo ich her kam, nie hatte ich dort eine Funktion gehabt. Und jetzt war ich auf einmal die Person, in deren Hand das Glück der Welten lag.

Ja, auch wenn ich nicht wusste, wie ich diese Last stemmen sollte, fühlte ich mich doch hier mehr zuhause, als in England. Lieber nahm ich die Gefahren dieser Welt in Kauf, als in die andere zurückzukehren, in der mir nichts blieb, bis auf die Trauer um meine Mutter.

Meine Entschlossenheit vertrieb das dumpfe Gefühl der Leere und verbannte allen Kummer aus meinem Kopf. Ich schlug die Bettdecke zurück und stand auf.

Als ich dieses Mal den großen Saal betrat, raste mein Herz nicht und auch meine Atmung blieb ruhig.

Ich beachtete Norlos und Solos nicht, die sich überrascht zu mir umdrehten und hielt meinen Blick auf Fürst Bertang gerichtet, der mich in seiner unerschütterlichen Ruhe beobachtete.

„Ich habe jetzt nichts mehr zu verlieren“, sagte ich laut und deutlich. „Das heißt auch, dass ich nur noch gewinnen kann und ich habe vor, mein Bestes zu geben, um für diese und alle anderen Welten zu gewinnen.“

„Ich wusste, du würdest dich so entscheiden“, sagte der Fürst und strich sich zufrieden über den Bart.

„Wir werden alles weitere morgen besprechen. Jetzt sollten wir essen! Isnang, ist die Küche informiert?“

„Ja, sehr wohl.“

Die beiden verließen den Saal und die Wölfe und ich waren im Begriff ihnen zu folgen, als ich sah, dass eines der Bilder an der Wand sich bewegte, oder besser gesagt die Landschaft darauf. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass sich alle Bilder zu bewegen schienen.

„Was ist das?“, fragte ich leise und Solos folgte meinem Blick.

„Die Bilder zeigen Orte, wie sie in diesem Moment sind. Sie sind wie Spiegel, nur dass sie nicht das spiegeln was vor ihnen ist. Deshalb heißt dieser Saal auch Spiegelsaal.“

„Oh“, machte ich verblüfft und ließ den Blick über die Bilder gleiten.

„Das war eben ein sehr beeindruckender Auftritt“, sagte der Wolf leise und ich zuckte mit den Schultern.

„Liah“, sagte jetzt auch Norlos und ich wandte ihm den Kopf zu. „Du hast heute zweifellos viel verloren. Aber bedenke, was du bereits gewonnen hast.“

 

Der Saal, in dem die Ritter speisten, war groß und trotzdem überschaubar. Er hatte steinerne, schmucklose Wände und es gab keine Fenster, weshalb alle Türen offen standen, um Luft für die Kaminfeuer am Rand des Saals und die Kerzen auf den groben Holztischen hereinzulassen.

Die Ritter, die an vier langen Tischen saßen, schienen nach dem Grad ihrer Wichtigkeit angeordnet zu sein, denn die, die vorne saßen, trugen richtige Umhänge, während die hinteren, die auch deutlich jünger waren, wie Knappen auf mich wirkten. Das waren auch diejenigen, die mich die ganze Zeit über aufgeregt anstarrten und tuschelten. Ich versuchte so ruhig wie möglich an dem großen Tisch, der längs am Kopfende der anderen Tische stand, zu sitzen und unauffällig zu wirken, was gar nicht so einfach war, da ich das einzige weibliche Wesen im Raum war, das nicht bediente und Essen reichte.

Die Lautstärke war trotz ihrer Höhe recht angenehm und da der Ritter Isnang, der mein einziger Nebensitzer war, sich mit Fürst Bertang unterhielt, konnte ich ungestört in meinem Essen herumstochern. Dieses bestand aus irgendeinem mir gänzlich unbekannten Geflügel und Kartoffeln. Zu trinken gab es Wein und zum Glück auch Wasser.

Mein Kopf war auf Durchzug geschaltet und kein Gedanke nahm wirklich Gestalt an, bevor er wieder verschwand.

Momentan kämpfte ich mit dem sperrigen Messer und einer Gabel, die nur zwei Zinken besaß, gegen das weiße Fleisch, das sich einfach nicht von den dünnen Knochen trennen ließ. Ich beneidete die Wölfe, die nicht im Saal waren, um ihre Reiszähne.

Nachdem ich mich ein paar Minuten damit abgemüht hatte, warf ich das Besteck frustriert auf den Tisch und fuhr mir durch die offenen Haare.

Ich hasste Geflügel. Und Kartoffeln. Und Kerzenschein und Kaminfeuer und Menschen und Wasser und –

Ich seufzte leise und nahm das Besteck wieder auf.

Letztendlich schaffte ich es dann doch meinen Teller zu leeren und kurz darauf wurde der zweite Gang aufgetragen. Es war irgendein suppiger Auflauf, der zu stark gewürzt war, doch ich bemerkte kaum, was meine Zunge schmeckte. Ich fühlte mich wie im Kino, wo man nur sieht und alle anderen Sinne verliert.

Da ich auch kein Zeitgefühl mehr hatte, war mir nicht bewusst, wie weit der Abend bereits fortgeschritten war. Die Ritter wurden immer heiterer und klopften bei jeder Gelegenheit mit ihren Krügen auf den Tisch, während ich mich gekonnt aus den Gesprächen heraushielt. Ich verspürte keine Lust meinen Mund zu einem anderen Zweck als zum Essen zu öffnen.

Die Ritter begannen irgendwann in einer mir fremden Sprache zu singen, doch ich hörte nicht hin und die Klänge zogen an mir vorbei. Ich befand mich in einer richtigen Trance, bis Isnang mich leicht an der Schulter rüttelte.

Ich blinzelte und wandte langsam den Kopf.

Er räusperte sich, dann setzte er wieder ein Lächeln auf und deutete strahlend auf die Schale vor mir.

„Diese Spezialität wurde eigens zu Euren Ehren zubereitet, Pachanda. Wir wissen, dass es das in Eurer Welt oft gibt, wobei es für uns schwerer herzustellen ist, da wir nicht die geeignete Maschinerie besitzen.“

„Was ist es denn?“, fragte ich reflexartig.

„Eis“, erklärte Isnang mir leicht verwirrt aber höflich.

„Eis?“, wiederholte ich und starrte auf die hellrote Masse auf meinem Löffel, der auf halben Weg zu meinem Mund verharrte. Sie war schon leicht geschmolzen und tropfte langsam in die Schale zurück, wo sich noch mehr davon befand. „Eis…“

„Wie bei Euch zuhause“, bestätigte Isnang.

„Das ist nicht mehr mein Zuhause. Entschuldigt mich“, sagte ich trocken und erhob mich ruckartig, um den Raum zu verlassen.

Sobald ich durch die nächste Tür getreten war, begann ich zu rennen so schnell meine Beine mich trugen, bis ich durch das Labyrinth der Gänge nach draußen an die eisige Nachtluft gelangt war.

Keuchend rang ich um Atem, doch kein Sauerstoff schien in meine Lunge zu gelangen und ich fühlte mich wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Eis… wie zuhause… Wie meine Mutter Eis geliebt hatte. Wir hatten immer welches zuhause gehabt. Auch im kältesten Winter, doch dieser Winter hier schien mir zu kalt für Eis. Viel zu kalt.

Meine Beine Knickten ein und ich fiel auf die Knie.

„Liah! Liah, was hast du?“

Damians Stimme tönte wie aus weiter Ferne. Ich hob nicht einmal den Kopf, als er neben mir in die Knie ging und mich an den Schultern packte.

„Soll ich Hilfe holen? Liah, was ist mit dir?“

Mein Körper bebte und die Tränen, die endlich aus meinen Augen rannen, gefroren auf meinem Gesicht.

„Meine Mutter ist tot und niemand wird je ihr Grab besuchen“, wisperte ich und sank gegen Damian, der mich auffing und festhielt.

Schluchzend saß ich da und klammerte mich an ihm fest, weil ich das Gefühl hatte zu fallen und er war das einzige, was mich vom Aufschlagen abhielt.

„Mir ist… so kalt“, presste ich hervor.

„Sollen wir nach drinnen gehen?“, fragte Damian sanft.

„Da wird mir auch nicht… wärmer“, heulte ich.

„Na gut. Dann lass uns einfach hier sitzen bleiben“, murmelte er und veränderte seine Position etwas.

Ich wusste nicht wie lange wir so da saßen, jedenfalls redete Damian aber die ganze Zeit vor sich hin. Er schien über die Sternbilder zu reden, die man heute Nacht so gut sehen konnte, doch ich hörte kaum hin. Irgendwann wurde ich ruhiger und wir saßen einfach nur da, auf dem leeren Platz unter dem offenen Himmel, fern von allem.

Ich wusste, dass wir beobachtet wurden. Von den Wachen und vermutlich auch von den Wölfen, die nicht bei der Feier gewesen waren. Aber es war mir egal und ich fühlte mich so einsam, als würden wir inmitten der Schneewüste sitzen, durch die ich am vorigen Tag geritten war.

Die Hufschläge ließen uns zusammen fahren und Damian sprang erschrocken auf, als der Reiter vor uns zum Stehen kam.

Auch ich rappelte mich hoch und wischte mir die eisigen Tränen von den Wangen.

Als der Mann seine Kapuze abnahm und abstieg, blieb mir fast das Herz stehen.

„Du?“, entkam es mir völlig entgeistert.

„Na, wenn das nicht das Mädchen aus Thal ist“, stellte der blonde Mann überrascht fest.

Sein Blick wanderte zwischen Damian und mir hin und her. Mein Freund schien sich recht unwohl zu fühlen, denn er begann sofort irgendwelche Entschuldigungen zu stammeln und dem Fremden zu versichern, dass er nichts Schändliches mit mir vorgehabt hatte.

„Keine Sorge, Junge. Die Lady sieht nicht so aus, als hätte sie Angst vor dir. Oder vor sonst wem.“

Ich wollte etwas sagen, doch ich war viel zu perplex. Was tat der Mann hier? Und wer war er? Er musste schon eine wichtige Persönlichkeit sein, wenn die Ritter ihn hier einfach so einließen.

„Sag mir, wo kann ich mein Pferd hinbringen? Es war ein anstrengender Ritt.“

„Ich kümmere mich darum, mein Herr“, sagte Damian sofort und wollte ihm die Zügel aus der Hand nehmen.

„Mach dir keine Umstände, denn wie ich sehe, bist du bereits beschäftigt und ich bin kein Herr.“

„Der Stall ist dort drüben“, erklärte Damian verwirrt und deutete in die Richtung.

„Gut. Danke, ich finde den Weg.“

Er wollte sich gerade umdrehen, doch Damian fragte zögerlich: „Wer seid Ihr?“

„Sam Ray-San vom Wüstenvolk. Der Fürst erwartet mich.“

Mit einer leichten Verbeugung in meine Richtung verabschiedete er sich und ging in die Dunkelheit davon.

„Seltsam. Dabei sieht er gar nicht aus, als wäre er vom Wüstenvolk“, murmelte Damian. „Woher kennt ihr euch?“

„Wir hatten eine flüchtige Begegnung auf dem Markplatz von Thal. Was wird er hier wollen?“

„Ich weiß es nicht, ich habe auch noch nie von ihm gehört. Aber er muss jemand sein, sonst wäre er nie hier herein gekommen.“

Das bestätigte meine Vermutungen, doch mein Hirn fühlte sich viel zu schwerfällig an, als dass ich jetzt über ihn hätte nachdenken können.

„Könntest du mich auf mein Zimmer bringen? Ich habe keine Lust mehr auf das Fest und alleine verirre ich mich sowieso.“

„Natürlich“, sagte Damian sofort und wir gingen nach drinnen.

Wir waren schneller bei meinem Zimmer, als ich gedacht hatte und plötzlich widerstrebte es mir, es alleine zu betreten.

Ich wollte ihn fragen, ob er noch mit hineinkommen würde, doch dann fiel mir ein, dass ich so etwas noch nie gemacht hatte. Ich hatte auch noch nie mit einem Gleichaltrigen Zeit verbracht. Sie hatten mich gemieden und ich sie und so hatte ich immer nur meine Mutter gehabt, wenn ich einsam gewesen war. Aber sie war ja auch immer da gewesen.

Ich traute mich nicht Damian zu fragen, ob er bei mir blieb und das nicht, weil ich mir ziemlich sicher war, dass das in dieser Welt nicht üblich war, sondern weil ich Angst hatte, er würde mich abweisen, so wie es alle anderen getan hatten.

„Ich…“, begann ich unsicher. „Danke für das eben.“

Damian nickte und senkte den Blick.

„Wie alt warst du, als du in diese Welt kamst?“, fragte ich unvermittelt, weil ich nicht wollte, dass er ging.

„Drei Jahre. Das ist schon sechzehn Jahre her, deshalb erinnere ich mich auch nicht mehr an viel.“

Also war er doch ganze drei Jahre älter als ich. Das hätte ich nicht gedacht.

Als ich mich vorstellte, wie ein kleines Kind, das noch weniger von der Welt verstand als ich, aus seiner Heimat gerissen wurde und in dieser Eiswüste landete…

„Haben die Ritter die schnell gefunden?“

„Sie waren bereits dort“, bestätigte er leise.

„Dann bist du bei ihnen aufgewachsen?“

„Nein. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr war ich bei einer Bauernfamilie.“

„Etwa Akko und Herna?“, wollte ich überrascht wissen, als mir wieder einfiel, dass diese einen Ziehsohn hatten, der hier sein musste.

„Du kennst sie?“, fragte er und sah endlich auf.

„Sie haben uns aufgenommen und mir Kleidung geschenkt.“

„Wie geht es ihnen? Und den Kindern?“

„Gut“, sagte ich sofort, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob das auch stimmte.

Damian nickte und atmete langsam aus.

„Wenn man den Rittern beitritt, kann man nie wieder zu seiner Familie zurückkehren. Man widmet sein Leben den Welten.“

Ich sagte nichts dazu. Damian schien so überzeugt davon, während ich nur innerlich den Kopf schüttelte. Nie im Leben hätte ich meine Mutter verlassen können.

„Liah…“

„Damian…“

Wir hatten gleichzeitig gesprochen und ich hob hastig die Hand, um ihn zuerst sprechen zu lassen.

„Liah. Du konntest keinen Abschied von deiner Mutter nehmen und auch ich weiß nicht, ob meine Familie lebt oder tot ist. Aber wir beide haben jetzt ein neues Leben mit neuen Aufgaben vor uns. Trauere, aber trauere nicht zu lang.“

Nachdem er den Rat ausgesprochen hatte, verbeugte er sich und ging davon.

Ich stand noch ein paar Minuten einfach so da, dann betrat ich mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett setzte.

Ich hatte ein schlechtes Gefühl im Bauch. Ich konnte es nicht genau benennen, doch ich fühlte mich unwohl und wollte am liebsten auf der Stelle einschlafen, obwohl ich nicht müde war.

Ich zog mich aus und legte mich unter die Decke, doch meine Augen schlossen sich nicht. Stattdessen starrte ich den rosafarbenen Baldachin an und versuchte mich meiner Aufgaben bewusst zu werden. Ich versuchte, meine alte Welt zu vergessen und alles was in ihr gewesen war. Etwas in mir fühlte sich anders an, etwas schien sich zu verändern.

Ich fand die ganze Nacht keinen Schlaf und irgendwann stand ich einfach wieder auf.

Nachdem ich mich angezogen hatte, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Der kleine Innenhof hinter der Galerie war noch nicht erhellt, doch es sah auch nicht mehr nach finsterster Nacht aus. Ich beschloss, in den Stall zu gehen und nach Eisblitz zu sehen.

In der Festung war es noch stiller als sonst und draußen auf dem Hof bereute ich es, keine Jacke mitgenommen zu haben, denn es war eiskalt.

Im Stall herrschte eine seltsame Stimmung. Wahrscheinlich lag es an der Uhrzeit, doch die Pferde schienen nervös zu werden, sobald ich mich ihnen näherte. Ich beachtete das nicht weiter und durchstreifte die Gänge in Richtung Eisblitz.

Ich musste den Gang mit seiner Box verpasst haben, denn plötzlich stand ich am hinteren Ende des Stalls. Vor mir führte eine Leiter durch die Decke und ich vermutete, dass dort der Heuboden sein musste. Die Neugier packte mich und ich beschloss, mich dort ein bisschen umzusehen.

Ich kletterte die Leiter hoch und wuchtete mich etwas unelegant auf die Bretter. Tatsächlich waren hier unter der niedrigen Decke Heu- und Strohballen aufgetürmt. Der Heuboden musste sich über den ganzen Stall erstrecken und während ich zwischen dem getrockneten Gras hindurch ging, musste ich gut aufpassen, da immer wieder Bretter im Boden fehlten.

Es war hier oben so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Ich blieb stehen, um zu lauschen und kein Ton drang an mein Ohr. Ich legte den Kopf schief. Sogar die Pferde waren vollkommen still.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ich wollte mich gerade umdrehen, doch da war es bereits zu spät. Eine behandschuhte Hand legte sich über meinen Mund und hielt mir gleichzeitig die Nase zu, während eine zweite sich um meinen Hals legte. Panisch trat ich um mich, versuchte mich loszureißen und zerrte an den Händen meines Angreifers, doch dieser war viel stärker als ich und riss mich zu Boden. Jetzt war ich unter ihm gefangen und mein Puls raste, als würde er versuchen, die Schläge von mehreren Jahren in Sekunden zu schlagen. Ich spürte ein Stechen in Brust und Kopf. Ich musste atmen, ich brauchte jetzt Sauerstoff…

Der Mann wurde von mir herunter gerissen und ich schnappte nach Luft. Keuchend rollte ich mich auf den Rücken, um gerade noch zu sehen, wie dem schwarzmaskierten Mann von hinten die Kehle aufgeschnitten wurde. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich, dann sackte in sich zusammen und regte sich nicht mehr.

Ich ließ mich auf den Rücken sinken und versuchte wieder zu Atem zu kommen, während mein Herz Adrenalin durch meinen Körper jagte.

„Seid Ihr verletzt?“

Mein Retter kam neben mir auf die Knie und ich spürte seine Finger über meinen Hals tasten.

„Nein, schon gut“, krächzte ich und hustete trocken.

Er zog mich auf die Beine und ich stolperte gegen ihn. Ich zitterte am ganzen Leib, als ich auf den vermummten Körper auf dem Boden starrte. Dann beugte ich mich zur Seite und übergab mich ins Heu.

Sam Ray-San klopfte mir leicht auf den Rücken.

„Kommt“, murmelte er leise. „Wir sollten von hier verschwinden. Wer weiß, ob noch andere von der Sorte es in die Festung geschafft haben.“

Ich nickte hastig und stolperte ihm hinter her zur Leiter, über die ich es erstaunlicherweise nach unten schaffte, ohne zu fallen.

„War das jemand von Kristallas Seite?“, fragte ich.

„Ich glaube, das war ein Unsichtbarer. Ein gefährlicher und käuflicher Meuchelmörder. He!“

Er winkte ein paar Wachen heran, doch ich bekam nicht mit, was er zu ihnen sagte.

Ein Meuchelmörder? Jemand bezahlte für meinen Tod? Aber ja, natürlich, immerhin sollte auch ich Kristalla töten, und das ganz ohne Bezahlung.

„Kommt.“

Sams Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt fiel mir auf, dass er immer noch den Dolch in der Hand hatte, dessen Klinge, die so lang wie mein Unterarm war, vom frischen Blut schimmerte.

Ich folgte ihm flankiert von zwei Wachen hinab in den Spiegelsaal, wo wir bereits von Norlos, Solos und Damin erwartet wurden.

„Was ist passiert?“, rief Solos uns entgegen.

„Die Frage ist eher, wie konnte das passieren!“, rief Fürst Bertang, der einen langen Schlafrock trug, aufgebracht. „Die Pachanda befindet sich hier und keiner meiner Ritter vermag sie zu beschützen! Isnang! Erklärt mir, warum ein Gast anstelle einer Wache ihr Leben retten musste.“

„Wenn Ihr erlaubt“, sagte Sam und trat vor. „Die Unsichtbaren tragen ihren Namen nicht ohne Grund. Dieser muss sehr unaufmerksam gewesen sein, sonst hätte ich ihn niemals so einfach töten können.“

Der Fürst warf ihm einen fahrigen Blick zu, doch er schien zur Ruhe zu kommen.

„Nun denn. Verstärkt die Wachen und durchsucht die Festung. Postiert Ritter vor dem Zimmer der Pachanda und lasst sie nicht noch einmal aus den Augen.“

Ich wollte schon protestieren, doch dann erinnerte ich mich an die Hände des Mannes an meiner Kehler und hielt den Mund.

„Wenn die Eishexe weiß, dass Liah hier ist, sollten wir so schnell wie möglich weiter ziehen, bevor sie noch andere ihrer Schergen schickt“, sagte Norlos und der Fürst nickte.

„Sam Ray-San, habt Ihr über das Angebot nachgedacht, das Euch unterbreitet wurde?“

Der junge Mann neben mir nickte, doch sein Gesicht zeigte absolut keine Regung.

„Ich werde es tun. Für das Land, nicht für die Krone“, fügte er nach einem Blick auf Norlos hinzu.

„Wir sollten uns in den Kartenraum begeben“, sagte dieser ohne die merkwürdige Aussage zu beachten.

Sam folgte uns, was mich irritierte und ich überlegte, ob dieses Angebot beinhaltete, uns zu begleiten. Wer war dieser Mann bloß?

Der sogenannte Kartenraum war ein ganz normaler Raum, in dessen Mitte ein großer Tisch stand, der mit Pergamentrollen überhäuft war.

Während die Route beratschlagt wurde, saß ich nur still auf einem Stuhl in der Ecke und lauschte mit halbem Ohr den Diskussionen, ob man erst nördlich bis zur Drachenwüste reißen sollte, um Abstand zu Kristalla zu schaffen, und dann mit einem Schiff die Nanuk bis ins Klippenmeer hinunterfahren sollte, oder ob es besser war, den direkten Landweg zu nehmen.

Da ich mich hier nicht auskannte, konnte ich damit nicht viel anfangen und rätselte deshalb lieber, was es mit Sam Ray-San auf sich hatte. Je länger ich ihn beobachtete, umso interessanter wurde er. Schon damals in Thal hatte er diese seltsame Anziehung auf mich ausgeübt und das, obwohl er mindestens zehn Jahre älter als ich sein musste. Irgendetwas an ihm war anders. Es lag an der Art, wie er sich bewegte, wie er die Leute um sich herum ansah. Allein schon seine Atmung wirkte fremd, so… unmenschlich.

War er etwa einer der Elfen aus dem Königshaus? Ich versuchte ihn mir mit Flügeln vorzustellen und mir entkam ein Lachen.

Die anderen drehten sich zu mir um und ich senkte entschuldigend den Blick.

„Ich bin ziemlich müde und ich kann mit diesen Karten nicht viel anfangen. Kann ich nicht gehen?“, fragte ich und Fürst Bertang nickte.

„Sam, bringt die Pachanda auf ihr Zimmer und passt auf sie auf. Ihr seid jetzt schon geübter darin als meine Wachen.“

Ich hob verwirrt die Augenbrauen und auch Sam, der es nicht gewöhnt zu sein schien, herumkommandiert zu werden, zögerte eine Sekunde, bevor er nickte und mich mit einem einzigen Blick dazu brachte, aufzustehen und den Raum zu verlassen.

Wir waren schon ein Stück gegangen, als ich den Mund aufbekam.

„Danke übrigens. Für vorhin.“

Er nickte ohne mich anzusehen und berührte mich leicht am Ellenbogen, um mich in die richtige Richtung zu manövrieren.

„Wieso warst du überhaupt im Stall?“, wollte ich wissen.

„Ich habe dort geschlafen.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Warum das denn?“

„Ich bin lieber bei meinem Pferd als in geschlossenen Räumen.“

„Wieso?“

„Ich bin so aufgewachsen.“

Er schien nicht gerade der unterhaltsame Typ zu sein, doch ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren.

„Woher kommst du denn?“

„Aus der Drachenwüste.“

„Gibt es dort Drachen?“

Die Frage entlockte ihm ein leichtes Lächeln, das mich sofort ansteckte.

Wir waren inzwischen bei meinem Zimmer angekommen. Die zwei Wachen davor traten beiseite, um uns eintreten zu lassen und schlossen hinter uns sofort wieder die Tür.

Sam setzte sich auf den Stuhl vor dem Kamin und ich nahm auf dem zerwühlten Bett Platz.

„Nein, da gibt es keine Drachen, Pachanda“, meinte er und musterte mich.

„Wieso benutzt du jetzt diese Anrede? Gestern war ich doch noch nur ein Mädchen aus Thal.“

„Ihr wart nie nur ein Mädchen aus Thal. Gestern wusste ich nur noch nichts über Euch.“

„Also…“, machte ich etwas verwirrt durch seinen durchdringenden Blick. „Und woher weißt du es jetzt?“

„Fürst Bertang sagte es mir.“

„Warum bist du überhaupt hier?“

Sam seufzte kaum merklich, doch er antwortete trotzdem weiter.

„Die Wüstenstämme wollen nicht länger zusehen, wie Kristalla unser Land zerstört. Aber wir können nicht allein gegen sie ziehen, und da die Krone sich verhält, als wäre sie bereits besiegt, wurde ich hier her geschickt, um die Ritter um Hilfe zu bitten.“

„So viele Wörter auf einmal“, bemerkte ich grinsend. „Und was haben sie gesagt?“

„Nein.“

„Oh“, machte ich. „Und was hat es dann mit diesem Angebot auf sich?“

„Ich soll euch begleiten.“

„Und warum?“

„Hört Ihr je auf Fragen zu stellen?“

„Ja, wenn ich alles weiß.“

Seine Lippen zuckten, dann sagte er: „Sie hoffen, dass ich euch im Klippenmeer nützlich bin.“

„Wieso das denn? Du bist doch aus einer Wüste.“

„Die Schmieden von Mjendra gehören den Meermenschen. Meine Mutter war auch einer.“

Er klang nicht sehr begeistert, als er das sagte, ich war es umso mehr.

„Was sind Meermenschen?“

„Nichts, worüber wir heute sprechen werden.“

Er klang immer noch völlig ruhig, dennoch traute ich mich nicht, weiter nachzufragen und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.

„Warum unternimmt die Krone nichts gegen Kristalla, wenn sie so böse ist?“

„Die Krone hat vierundzwanzig Jahre lang Soldaten in den Tod geschickt ohne die Hexe zu töten. Sechzehn Jahre davon war die König nicht hier und kaum kehrt sie zurück, schafft Kristalla es, sie so gut zu besiegen. Die Truppen sind demoralisiert.“

„Und warum machen die Ritter nichts?“

„Die Ritter wissen genau wie die Regierung, dass Ihr jetzt hier seid. Wegen der Prophezeiung dürfen sie nicht eingreifen, da sie das Schicksal beeinflussen könnten.“

Ich schluckte trocken und war nicht gerade begeistert.

„Weiß denn das ganze Land von mir?“

„Nun ja. Jeder kennt Euch als Märchenfigur, aber nur wenige wissen, dass es Euch gibt.“

„Märchenfigur?“, schnaubte ich und Sam nickte.

„Der allgemeine Inhalt der Prophezeiung ist als Volkssage bekannt. Sie wird seit Jahrtausenden Kinder zum Einschlafen erzählt.“

Ich lehnte mich nachdenklich gegen das Kopfende meines Bettes.

„Die Wölfe, gehören sie zur Königin?“

„Sie sind die Himmelswächter der Krone“, bestätigte Sam meinen Verdacht.

„Und ist es eine gute Königin für die ich töten soll?“

Sam lehnte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Seine dunkelgrünen Augen blickten so direkt in meine blauen, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

„Ihr tötet nicht, um eine Königin von ihrem Bann zu befreien. Ihr kämpft um die Freiheit einer Welt.“

8. Kapitel

Die Freiheit einer Welt. Die Freiheit einer ganzen Welt…

Unsere Blicke waren so dicht verwoben, dass ich das Gefühl hatte, mich nicht bewegen zu können, solang er es nicht auch tat.

Die Tür öffnete sich und wir drehten fast gleichzeitig unsere Köpfe in ihre Richtung. Es war die Dienerin Maya, die ein Tablett mit einer Schüssel Nascht und etwas zu trinken trug. Das hieß dann wohl, ich würde das Zimmer nicht mal zum Frühstücken verlassen.

Maya errötete, als sie Sam sah und stellte das Tablett hastig ab.

„Pachanda, ich… Ich hoffe, Ihr seid unverletzt.“

„Ja, dank ihm“, antwortete ich auf die schüchtern versteckte Frage.

Maya wurde noch röter, als ihr Gesicht von mir zu ihm und wieder zurück wanderte. Sie trat etwas näher zu mir heran und sagte leise: „Ich habe Euer Bad bereits vorbereitet, ich wusste nicht, dass Ihr nicht allein sein dürft. Soll ich…“

Sie schien völlig durcheinander zu sein, weil sich ein Mann in meinem Schlafzimmer befand und ich kniff die Lippen zusammen, um nicht zu lachen. Das verging mir allerdings bei dem Gedanken, dass sie glaubte, ich dürfte nicht mal im Bad allein sein.

Da ich nicht ernsthaft annahm, dass Sam uns begleiten würde, so betont abwesend wie er aus dem Fenster sah, zuckte ich einfach mit den Schultern.

„Gehen wir“, murmelte ich Maya zu und sie nickte schnell.

Als ich im Badezimmer mein Oberteil auszog, entkam Maya ein leises Keuchen und ich sah sie verwirrt an.

„Was hast du?“

„Bitte verzeiht mir, Pachanda, aber Euer… Euer Hals!“

Ich wandte mich zu einem kleinen Spiegel an der Wand um. Meine Hand hob sich automatisch und ich fuhr vorsichtig über die lilafarbenen und roten Male an meinem Hals, die die Hand des Meuchelmörders hinterlassen hatten.

„Das verheilt doch wieder“, wisperte ich, obwohl mir vor Schreck Tränen in die Augen schossen.

„Soll ich vielleicht nach einer Salbe für Euch fragen?“

Mayas Blick war so voll von mitleidigem Abscheu, dass ich es kaum ertrug.

„Nein, schon gut. Geh doch Sam etwas zu essen holen, das mit dem Waschen krieg ich auch allein hin.“

„Natürlich, Pachanda“, sagte sie sofort, knickste und verließ das Zimmer.

Ich verdeckte den Spiegel mit meinem Oberteil und schlüpfte aus dem Rest meiner Kleidung. Dann ließ ich mich in das heiße Wasser in der Wanne sinken und schloss die Augen.

Ich hätte tot sein können. Jemand hatte versucht, mich zu ermorden und nur durch einen Zufall war es ihm nicht geglückt.

Ich schlang die Arme um meine Knie und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er hatte keine Fenster und nur eine Tür, die bewacht wurde. Hier und jetzt war ich sicher, aber da draußen in der Eiswüste? Denn Wenn Kristalla ihr Leben etwas wert war, würde sie sicherlich nicht damit aufhören, ihre dunklen Fänge nach mir auszustrecken. Zwei Frauen, die sich noch nie gesehen hatten und dennoch versuchten, sich gegenseitig umzubringen.

Plötzlich wurde mir schlecht und ich hatte das Gefühl, jederzeit im Wasser wie eine Bleiente untergehen zu können. Hastig erhob ich mich und trocknete mich ab. Dem Spiegel wandte ich den Rücken zu, während ich mich anzog.

„Alles in Ordnung?“, fragte Sam, als ich aus dem Bad kann und mich aufs Bett setzte.

„Klar“, murmelte ich und zog die Beine an.

„Ihr solltet etwas essen. Wir werden bald aufbrechen.“

„Hm“, machte ich nicht gerade begeistert und atmete langsam aus.

„Pachanda…“

„Jetzt lass doch diese alberne Anrede sein! Du benutzt sie doch nur, weil es die anderen auch machen“, fuhr ich ihn an.

Sam hob eine Augenbraue.

„So verhält es sich meistens mit Anreden.“

Das brachte mich zu sehr durcheinander, als dass ich mich für meine unangemessene Reaktion entschuldigt hätte.

„Nenn mich doch einfach bei meinem Namen“, seufzte ich.

„Ich kenne Euren Namen nicht.“

Mein Mund klappte auf. Es beleidigte mich ein bisschen, dass Fürst Bertang von mir nur als Pachanda gesprochen hatte. Das machte aus mir ein Objekt, eine Figur statt einem echten Mensch.

„Liah“, sagte ich. „Ich heiße Liah Jones.“

Sam schwieg einen Augenblick, dann stand er auf und kam mit der Schüssel Nascht zu meinem Bett.

„Du solltest etwas essen, Liah. In diesem Krieg hungern tausende und du sollst nicht zu ihnen gehören, solange du nicht musst.“

 

Als wir unten im Hof ankamen, waren die Eisblitz und Sams Pferd bereits gesattelt und die Wölfe versammelt.

Sam ging direkt zu seinem Fuchs und nahm den geschwungenen Bogen und den Köcher der auf dessen Sattel gelegen hatte, um sie sich umzuhängen. Bevor wir uns auf den Weg hier her gemacht hatten, hatte er eine lange, verschlüsselte Nachricht an seinen Befehlshaber, wer auch immer das sein mochte, verfasst, die ich natürlich nicht zu lesen bekommen hatte. Doch ich konnte mir vorstellen, dass er darin darüber informierte, was er vorhatte. Dann hatte er die Nachricht einem Ritter gegeben und ich war mir nicht ganz sicher, ob dieser sie selbst zustellen würde, oder ob es hier so etwas wie Brieftauben gab.

Norlos und der Fürst kamen gerade überein, dass uns auch auf den nächsten Meilen keine zusätzlichen Reiter begleiten sollten. Schließlich wollten wir so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf uns ziehen. Wir hatten Proviant und Wasser erhalten, das mit einem speziellen Pulver vermischt war, damit es nicht gefror, und als ich mich in Sattel zog, setzte ich mich beinahe darauf.

Ich trug wieder die Kleidung von Akko und Herna und außerdem Handschuhe und eine Fellmütze von den Rittern.

Damian, der bis eben Eisblitz‘ Zügel gehalten hatte, übergab mir diese und sah mich an.

„Ich hoffe, wir sehen uns wieder“, sagte ich leise und spürte ein wehmütiges Gefühl in meiner Brust.

„Das werden wir“, meinte Damian und trat zurück, um Fürst Bertang vorzulassen.

„Ich will dir dies überreichen, Pachanda“,  sagte der Fürst. „Ein Schwert wäre wohl zu auffällig, außerdem ist dies viel einfacher zu handhaben.“

Er reichte mir einen kurzen Dolch, der in einer schlichten, schmalen Scheide steckte.

„Danke“, sagte ich automatisch und da ich keinen Gürtel trug, steckte ich das Ding kurzerhand in meinen Stiefel.

Der Fürst hielt noch eine kurze Ansprach ohne Inhalt und ich schaltete auf Durchzug. Ich wollte das alles nicht hören und nachdem wir das Tor der Festung passiert hatten, sah ich nicht mehr zurück.

„Nach Süden“, sagte Solos. „Das ist immer eine gute Richtung.“

Ich ließ die Zügel locker und Eisblitz galoppierte los.

Leider durfte ich das Tempo nicht lang halten, da wir eine lange Etappe vor uns hatten und unsere Kräfte sparen mussten. Die anderen wollten sich so lang es möglich war von den Straßen fern halten und so waren weit und breit nur verschneite Hügel zu sehen. Sam ritt immer direkt hinter mir und so hatte ich nie meine Ruhe, obwohl die Wölfe etwas Abstand vor und hinter uns hielten. Ich fühlte mich zwar beschützt, aber dennoch machte es mich wahnsinnig, den anderen Reiter sah nah hinter mir zu haben. Die niedrige Sonne blendete mich und ich war müde, da ich in der Nacht nicht geschlafen hatte. Kurz gesagt, ich war schlecht gelaunt und die gegebenen Umstände machten es nicht besser.

Ich seufzte genervt und rutschte etwas im Sattel hin und her, um meine Gelenke aus einem anderen Winkel durchschütteln zu lassen. Dann wechselte ich die Hand, mit der ich die Zügel hielt und fuhr mir mit der jetzt freien übers Gesicht. Wir waren erst wenige Stunden unterwegs und ich war schon völlig am Ende.

„Sam, kannst du nicht wenigstens neben mir reiten?“, fragte ich schließlich und er schloss tatsächlich zu mir auf.

„Wie heißt es? Dein Pferd meine ich.“

Ich hoffte mich durch Konversation etwas aufwecken zu können. Aber da hatte ich mir wohl den falschen Gesprächspartner ausgesucht.

„Nola.“

„Ein schöner Name. Bedeutet er etwas?“

Ich versuchte Sams Blick einzufangen, doch er sah nur geradeaus.

„Nein.“

„Und dein Name?“

„Ray-San heißt Adlerauge.“

„Dann kannst du also besonders gut sehen?“

„Ja.“

Es war offensichtlich, dass er lieber geschwiegen hätte, dennoch warf er mir nach ein paar Sekunden einen Blick zu und sagte: „Meermenschen haben gute Augen.“

Ich nickte und biss mir auf die Zunge, um nicht erneut nach diesen Wesen zu fragen.

Wir ritten eine Weile schweigend, bis er schließlich die Hand hob und auf den Horizont deutete.

„An diesem Wald endet die Eiswüste. Dahinter ist es etwas grüner.“

Tatsächlich entdeckte ich zwischen Himmel und Schnee einen Streifen Wald. Durch die Entfernung wirkten die Bäume blau statt grün. Ich stieß meinen Atem aus, der als eine kleine Wolke vor meiner Nase tanzte, bis er sich verflüchtigte.

„Wie weit ist das?“

„Wenn wir die Nacht durchreiten, müssten wir noch vor der Morgendämmerung dort sein.“

Die Nacht durchreiten. In meinen müden Ohren klang das nicht gerade wie Musik. Aber als mir klar wurde, dass wir hier in der offenen Landschaft leicht angreifbar waren. Ich fragte mich, ob Kristalla ihr Heer hinter uns her schicken würde, wenn sie schon wusste, wo ich war. Als ich an die Herzstehler dachte, lief mir ein Schauer über den Rücken.

„Ist es nicht ziemlich gefährlich hier?“, fragte ich und senkte die Stimme automatisch.

Sam ließ seinen Blick schweifen und sah dabei aus, wie die Ruhe selbst.

„In diesem Land ist es überall gefährlich.“

Trotz seinen Worten beruhigte seine Ausstrahlung mich ein bisschen. Und wenigstens log er mich nicht an.

Als die Sonne unterging wurde es dunkel. Das war nicht das Dunkel aus meiner Welt, in der immer irgendwo ein Licht blinkte. Dieses Dunkel war schwärzer und das einzige, was die Nacht erhellte, waren die Sterne, deren Licht vom Schnee reflektiert wurde. Außerdem war es still. Hier fuhren keine Autos oder Straßenbahnen, hier waren nicht mal Menschen. Ich, die ich in einer Großstadt aufgewachsen war, empfand das als extrem seltsam und auch furchteinflößend. Die Hufschläge von Nola und Eisblitz wurden vom weichen Boden gedämpft und die Wölfe bewegten sich nahezu lautlos.

Solos, Scar und Solos‘ zweiter Kämpfer Maur  liefen ein gutes Stück vor uns als Vorhut, um sicher zu gehen, dass wir in keinen Hinterhalt gerieten. Im Tageslicht hatte ich sie noch ausmachen können, doch jetzt waren für mich jetzt völlig verschwunden und ich überlegte, ob Sam sie noch sehen konnte.

Mittlerweile war ich so müde, dass ich nur noch vornüber gelehnt im Sattel hing und an nichts anderes denken konnte als daran, dass mir verdammt kalt war und ich aufs Klo musste.

„Können wir nicht morgen früh weiterreiten?“, murmelte ich.

„Wir können hier in der Ebene kein Lager aufschlagen. Wir sind zu ungeschützt.“

Sams Worte brachten mich noch näher an einen Heulkrampf aus purer Erschöpfung und ich atmete tief durch.

„Ich brauch eine Pause. Ich muss mal.“

„Also gut, aber beeil dich.“

Sam griff mir in die Zügel, die lasch in meiner klammen Hand hingen und unsere Pferde blieben stehen. Ich konnte mich nicht bewegen, mein ganzer Körper fühlte sich an wie ein Eiszapfen. Sam schien das zu merken, denn er stieg ab und zog mich vorsichtig von Eisblitz. Ich stolperte gegen ihn und stöhnte auf, als ein stechender Schmerz durch meine Beine schoss.

„Oh Gott, ich hasse dieses Land“, ächzte ich und stolperte breitbeinig hinter den nächsten Hügel.

Ohne etwas zu sehen, da ich meine Augen kaum offen halten konnte, scharrte ich den Schnee etwas beiseite und ließ die Hose runter. Ich betete, dass mein Immunsystem weiterhin der Kälte stand hielt und ich mir keine Blasenentzündung holte, denn das würde das Reiten wohl nur noch unangenehmer machen.

Als ich fertig war, schaffte ich es nur mit Mühe wieder hoch. Meine Gelenke waren von der Reitposition eingerostet und mir war so kalt, als würde mir nie wieder warm werden. Zu allem Übel begann es jetzt auch noch zu schneien und dicke Flocken verfingen osHo

sich in meinen Haaren und Wimpern. Blinzelnd schlurfte ich zu den anderen zurück.

„Hilfst du mir hoch?“, fragte ich Sam gähnend und warf einen Blick auf Scar und Damin, die neben ihm standen. „Was machst du denn hier?“

„Wir haben Spuren entdeckt und sie sind keinen Tag alt“, erklärte die Wölfin verheißungsvoll.

„Klasse“, seufzte ich verständnislos. „Was für Spuren?“

„Eisbären.“

„Es gibt hier Eisbären? Im Inland?“

„Normalerweise nicht und diese hier sind im Rudel unterwegs. Es sind mindestens fünf ausgewachsene Tiere unter ihnen.“

„Wir müssen den Wald so schnell es geht erreichen“, sagte Damin düster.

„Kannst du reiten?“, fragte Sam und legte die Hände um meine Taille.

„Klar“, log ich und fragte mich, woher ich überhaupt die Kraft zum Antworten nahm.

„Gehören diese Eisbären etwa auch zu Kristalla?“, fragte ich und stellte einen Fuß in den Steigbügel.

Sam hob mich hoch und ich packte den Sattelknauf, um mich hochzuziehen. Halb liegend halb sitzend griff ich nach den Zügeln.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Sam unruhig.

„Oh je.“

Ich drückte die Schenkel zusammen und Eisblitz trabte los. Sam trieb Nola weiter an und ich klammerte mich an Eisblitz fest, um nicht von ihm herunter zu fallen, als auch er in Galopp fiel.

Es war mir völlig schleierhaft, aber als der eisige Wind mir um die Ohren pfiff und sich mein Herzschlag an das leise Trommeln der Hufe anpasste, wachte ich auf. Eigentlich hatte ich keine Angst, aber mein Körper schüttete Adrenalin aus und ließ mich zittern. Mein Magen schmerzte, in meinen Lungen stach es und sowohl jedes Gelenk als auch jeder Muskel in meinem Körper schrie und dennoch konnte ich mich gerade aufsetzen und mein Blick wurde klar.

Da ich nicht wusste wie weit die Nacht fortgeschritten war und Sam gesagt hatte, dass wir den Wald erst kurz vor der Dämmerung erreichen würden, wusste ich nicht, worauf ich mich einstellen musste. Links von uns lag der Osten und immer wieder warf ich einen Blick in die Richtung, auf ein Zeichen der Sonne hoffend.

Wir ritten nicht lange. Oder zumindest kam es mir nicht allzu lange vor, aber ich hatte auch jegliches Zeitgefühl verloren. Doch schließlich konnte ich vor uns die dunklen Schatten der Bäume ausmachen und lachte vor Erleichterung auf.

Es war ein Mischwald, soweit ich das erkennen konnte und wir ritten ein Stück hinein, bevor die Wölfe endlich stehen blieben.

„Wir machen Rast bis die Sonne aufgeht“, sagte Norlos mit einem Blick auf mich.

Ich fragte mich wie die anderen es fertig brachten, noch halbwegs fit auszusehen, während ich nur noch ein kraftloses Häufchen war. Ich purzelte von Eisblitz herunter und wäre zu Boden gegangen, wenn Sam mich nicht aufgefangen hätte.

„‘tschuldigung“, murmelte ich, als ich ihm mehr als einmal auf die Füße trat, als er mir half, zu einem umgestürzten Baum zu gelangen, gegen den ich mich lehnen konnte.

Mit halb geschlossenen Augen nahm ich war, wie er die Pferde absattelte und die Wölfe sich niederlegten. Mit einem Ohr hörte ich, wie Norlos den Wachdienst einteilt. Mir entkam ein belustigtes Schnauben, als Sam sich einen Meter von mir entfernt setzte, und ließ den Kopf nach hinten gegen den Baumstamm fallen.

„Ich glaube, ich erfriere“, wisperte ich an niemand bestimmten gewandt.

„Ich werde hin und wieder nachsehen, ob deine Lippen schon blau sind.“

Ich rollte meinen Kopf zu Sam herum.

„Das war ein Witz“, grinste ich. „Du hast einen Witz gemacht.“

„Schlaf jetzt“, wies er mich an, doch seine dunkelgrünen Augen funkelten in der Dunkelheit.

„Na, wer wird denn da der Pachanda Befehle erteilen wollen“,  sagte ich und meine Augen fielen endgültig zu.

 

„Liah.“

Ich atmete tief ein und wachte dabei auf.

Die Sonne schien durch das dürftige Nadeldach des Waldes in mein Gesicht. Ich blickte nach oben, in die teils kahlen Äste und fror. Frieren war gar kein Ausdruck dafür, mein Körper schien kurz vor der Taubheit zu sein. Ich versuchte mich verzweifelt an das Bett zu klammern, von dem ich geträumt hatte, doch die warmen Laken waren in wachem Zustand unerreichbar für mich.

Ich richtete mich langsam auf und meine Hüfte gab ein bedrohliches Knacken von sich, als ich meine Beine anzog.

Solos stand vor mir und musterte mich.

„Guten Morgen“, sagte ich und rieb mir die trockenen Augen.

„Wie fühlst du dich?“

„So, als hätte ich eine beheizte Decke und eine physiotherapeutische Behandlung nötig.“

Der Wolf erwiderte meinen Blick verständnislos und ich schob hinterher: „Ich fühle mich gut.“

Ich stand auf und streckte mich. Meine Schultern knackten und ich beugte mich vor, um meine Wirbelsäule wieder einzurenken, dann nahm ich einen großen Schluck aus meinem Wasserschlauch. Mir war etwas schwindlig und ich ging ein paar wacklige Schritte umher.

„Wo ist Sam?“, fragte ich, als ich ihn nirgends sah.

„Er sucht nach Thersra“, meinte Solos.

Ich zog meine Mütze ab und meine Handschuhe aus, um mir mit den Fingern durch das wirre Haar zu kämmen. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah. Oder roch. Meine Hygienegewohnheiten konnte ich wohl erstmal aufgeben. Noch einmal danke ich dem Himmel dafür, dass ich meine Tage noch nicht hatte, denn in dieser Welt waren wohl weder Tampons noch Drogerien, um eben diese zu kaufen, vertreten.

Wir konnten im Wald nicht reiten und mussten die Pferde hinter uns herführen. Da Sam vorne bei Norlos ging, konnte ich ihn perfekt anstarren und da Solos neben mir ging, beschloss ich den Wolf über unseren neuen Weggefährten auszufragen.

„Weißt du irgendetwas über ihn?“, fragte ich mit gesenkter Stimme.

„Vermutlich nicht viel mehr als du. Er hatte oder hat noch eine hohe Position in den Armeen der Wüste.“

„Was hat es mit diesen Wüstenvölkern auf sich?“

„Die meisten sind Nomaden aus der Wüste oder Menschen, die vor ihrer Familie, dem Gesetz oder anderen Verpflichtungen davon gelaufen sind. Die Drachenwüste ist ein Zufluchtsort für all jene, die nicht so leben können, wie sie sollten. Die Stämme schreiben Freiheit auf ihre Fahnen, aber meistens können sie sich der wirklichen Welt nur nicht stellen.“

„Das hört sich jetzt aber nicht so gut an“, meinte ich und fixierte Sam mit gerunzelter Stirn.

„Sie mögen Wilde sein, aber sie sind gute Kämpfer und obwohl sie nicht viel von der Krone halten, waren sie ihr immer ergeben. Wir können Sam Ray-San vertrauen. Fürst Bertang vertraut ihm.“

„Hm“, machte ich.

Da ich wusste, dass Solos genau genommen ein Soldat der Krone war, nahm ich das was er sagte nicht ohne weiteres hin. Ich war mir sicher, dass er mich nicht anlügen würde, aber man konnte sich nie auf eine einseitige Meinung verlassen. Wenn ich ehrlich war, hörte sich das mit der Freiheit in der Wüste wunderbar an. Die Hitze auf der Haut, der endlose Sand… Auf jeden Fall besser als das ewige Eis.

„Bestehen die Wüstenvölker nur aus Menschen?“, wollte ich wissen.

„Ja, zum größten Teil.“

„Und was genau sind Meermenschen?“

Der Wolf schwieg kurz.

„Bitte Solos, immerhin sind wir zu welchen unterwegs. Irgendwer sollte mich schon informieren.“

„Es sind die Vorfahren der Menschen. Diese kamen einst aus dem Wasser, musst du wissen. Die Elementgeister schufen einst Elfen, Feen, Tiere und die Meermenschen. Und wie von den Feen Kobolde und andere Wesen abstammen, entwickelten sich aus den Meermenschen die Menschen.“

„Ist das mit den Elementgeistern eine Religion?“, hakte ich nach und erwähnte nicht, dass Menschen von Affen abstammten.

Immerhin könnte es in dieser Welt ja auch anders sein, aber sobald jemand von einem schaffenden Wesen redete, machte ich dicht. Glaube war eine der wenigen Sachen gewesen, die meine Mutter mir nicht hatte vermitteln können.

„Es ist die Wahrheit“, sagte Solos.

„Na gut“, machte ich und speicherte es in Gedanken ab, um bei Gelegenheit noch mal nachzuhaken. „Das erklärt aber immer noch nicht was genau Meermenschen sind und warum keiner über sie reden will.“

„Sie sind falsch“, eröffnete Solos mir. „Sie besitzen kein Ehrgefühl und sie sind kein Teil dieses Landes, da sie sich niemals jemandem außer sich selbst untergeordnet haben.“

„Und deshalb sind sie schlecht?“, fragte ich verdutzt.

„Nein, das sind sie, weil sie mordend durch die Meere ziehen. Ich meine es ernst, Liah. Sie sind gefährlich. Ich weiß nicht, ob in deiner Welt die Sage von den Sirenen bekannt ist.“

„Die Fischweiber mit den schönen Stimmen, die Männer verzaubern und auf den Grund des Meeres ziehen“, rezitierte ich brav und Solos nickte.

„Meermenschen haben die bezauberndsten Gesichter aller Geschöpfe dieser Welt. Doch ihre Münder sind voller Haifischzähne und an ihren Hälsen und Rippen haben sie Kiemen und zwischen ihren Fingern und den klauenhaften Zehen sind Schwimmhäute. Ihre Haut ist schuppig und grau wie die eines gewöhnlichen Fisches. Den Augen eines Meermenschen vermag kaum einer zu widerstehen, doch sobald sie ihren Körper zeigen und ihre Krallen nach dir ausstrecken, siehst du ihr wahres Gesicht.“

„Oha“, machte ich erstaunt.

Aber es stimmte. Sams Augen, die er wohl von seiner Mutter geerbt haben musste, waren anders als alle die ich zuvor gesehen hatte. Ich erinnerte mich, dass sie mich von Anfang an gefesselt hatten. Jetzt wusste ich warum.

„Und wenn sie so bösartig sind und nur sich selbst gehorchen, warum sollten sie uns dann mit Kristalla helfen? Oder uns am Leben lassen.“

„Nun, wir setzen darauf, dass Sam als ihr Fleisch und Blut mit ihnen verhandeln kann.“

„Aber wenn er in der Wüste aufgewachsen ist, wird er wohl kaum Kontakt zu ihnen haben“, mutmaßte ich.

„Soweit ich weiß, hat er noch nie einen Meermenschen getroffen. Aber da Meermenschen sich gern erst von ihren menschlichen Besuchern nähren, bevor sie Fragen stellen, sind unsere Chancen mit ihm höher als ohne ihn.“

9. Kapitel

Die Unterhaltung mit Solos hatte zwar meine Laune kaum gehoben, dennoch hatte sie mir Stoff zum Nachdenken geliefert und so konnte ich mich jetzt, als wir schweigend neben einander her gingen, auf etwas anderes als meine Erschöpfung konzentrieren.

Sam war also der Sohn eines Wesens, das in dieser Welt und vor allem in diesem Königreich nicht gern gesehen war. Hatte er deshalb keine Akzeptanz gefunden und in die Wüste gegangen? Oder war er schon immer dort gewesen? Immerhin hatte er gesagt, er sei dort aufgewachsen. Und rührte seine Abneigung gegen die Krone daher, dass es ihm im Blut lag oder war es ihm von den Wüstenstämmen so eingetrichtert worden? Oder war es tatsächlich eine schlechte Königin? Was war wohl mit seinem Vater? Hatte seine Mutter ihn aufgefressen oder hatte er ihn aufgezogen? Was hatte er alles erlebt, wie war er zu seiner Stellung an der Armee gekommen?

Nach einer Weile wurde mir klar, dass meine Gedanken praktisch pausenlos um den mysteriösen Mann kreisten und ich versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Allerdings waren die Alternativen nicht besonders spaßig. Ich wollte nicht über meine moralischen Grundsätze nachgrübeln, da ich im Stillen meine Bestimmung akzeptiert, wenn auch mit etwas Unbehagen, denn ich wollte kein Leben beenden, auch wenn es einer schlechten Person gehörte. Ansonsten blieben mir nur die Unbequemlichkeiten dieser Reise, die vielen Faktoren, an denen ich umkommen könnte und der Tod meiner Mutter, mit dem ich mich nun wirklich nicht auseinander setzen wollte.

Ich beschloss stattdessen, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren.

Der Wald, in dem wir uns befanden, war lichter als der Fleidr Wald und dennoch waren die Äste dicht genug, dass nur wenig Schnee den Boden erreichte. Es gab kaum Laub, was mich anfangs irritiert hatte, mir jetzt aber einleuchtete, da ja mittlerweile seit vierundzwanzig Jahren Winter war und bestimmt nur selten neue Blätter austrieben. Stattdessen gab es viele unterschiedliche Moose und Flechten, die sich an den Baumstämmen und den riesigen Wurzeln angesiedelt hatten. Teilweise war das Vorankommen wegen diesen eine richtige Kletterei und das eine oder andere Mal musste ich Eisblitz umständlich um sie herum führen, da der junge Hengst nicht aus dem Stand über sie hinwegsetzen konnte. Mal ging es auch bergab und dann wieder bergauf, hier und da waren kleine Rinnsale in austrockneten Bachbetten, aber nie bekamen wir etwas Spektakuläres zu Gesicht. Es schien auch kein Wild zu haben, dafür hörte ich ein paar Amseln und andere Vögel zwitschern. Solos zeigte mir hin und wieder kleine Spuren im Moos oder im Schlamm und benannte die Tiere, die sie hinterlassen hatten. Nach einer Weile erriet ich Igel und Hasen schon selbst und die Zeit verging etwas schneller, bis wir endlich eine Pause machten.

Die Wölfe gingen auf Jagd, nachdem Sam ihnen versichert hatte, er würde mich nicht aus den Augen lassen. Ich empfand das als ein bisschen unhöflich und fühlte mich wie ein Frachtgut, aber letztendlich riskierte dieser Mann sein Leben für meines, das er auch schon einmal gerettet hatte und deshalb sollte ich eher dankbar als genervt sein.

Ich nagte an meinem Stück getrocknetem Fleisch, das eiskalt und meiner Meinung nach ungenießbar war, aber das sagte ich natürlich nicht.

„In meiner Welt, vor allem in meiner Heimat gibt es etwas, das nennt sich Fish and Chips“, begann ich, weil es mich nervös machte, wie Sam mich und den Wald hinter mir musterte.

„Das ist Fisch und Kartoffelstäbe in frittierter Form.“

Da er nichts weiter sagte, fuhr ich fort.

„Frittieren ist, wenn man etwas in Öl brät oder so. Und das ist richtig ungesund, aber wahnsinnig lecker. Früher hat man es in Zeitung serviert bekommen, aber heute machen sie das nicht mehr.“

Sam legte leicht den Kopf schief und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Ich habe davon gehört, dass es in der Gegend von Metassi eine Spezialität sein soll, faustgroße Käfer in Öl zu braten. Das soll auch sehr lecker sein.“

„War das schon wieder ein Witz?“, fragte ich und unterdrückte den Würgereiz.

„Nein. Aber ich würde es nicht essen.“

Ich musterte das kantige Gesicht des Mannes vor mir, wissend, dass er ohne zu zögern einem Mann die Kehle aufgeschlitzt hatte.

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Ich habe das Gefühl, du tust nie etwas anderes.“

„Hast du schon viele Menschen getötet?“

„Nein, nicht viele.“

„Ist es… einfach?“

Er schüttelte langsam den Kopf.

„Kannst du es mir beibringen?“

„So etwas kann man nicht lernen.“

„Aber ich soll jemanden umbringen“, stellte ich fest, ein bisschen überrascht wie ernst die Stimmung plötzlich war. „Und obwohl jede Faser meines Körpers schreit, dass es falsch ist ein Leben zu beenden, werde ich es wohl müssen, wenn ich überhaupt so weit komme.“

„Über das Töten musst du nur wissen, dass man es niemals ohne einen Grund tun darf, mit dem man leben kann. Möglicherweise kann ich dir zeigen wie man kämpft, aber den Rest musst du alleine schaffen.“

Ich nickte und spürte wie wahr seine Worte waren.

Einen Augenblick später kam Damin aus dem Gebüsch. Das dunkle Fell an seiner Schnauze war verklebt – vermutlich mit Kaninchenblut.

„Du warst aber schnell“, sagte ich grinsend und er senkte leicht den Kopf.

Sam schnaubte leise und ich zog die Augenbrauen zusammen.

„Was ist?“

„Norlos misstraut mir wohl genauso wie ich ihm“, stellte er mit einem Blick auf den schwarzgrauen Wolf fest. „Ihr braucht euch nicht zu sorgen, dass ich sie mit meinem Einfluss verderbe. Eure Pachanda bildet sich ihre eigene Meinung.“

„Was…?“

„Ich bin nicht gegen dich, ich tue nur, was mir gesagt wird“, stellte Damin ruhig klar und Sam antwortete ebenso ruhig: „Aber die, die dir deine Befehle geben sind es. Oder weiß der Rat etwa nicht, dass ein halber Meermensch mit euch reist?“

„Stopp, aufhören“, sagte ich bestürzt, bevor Damin etwas sagen konnte. „Hört bitte auf zu streiten. Wir haben eine Mission, und zwar Kristalla aufhalten. Und so wie ich das sehe, müssen wir dafür zusammen halten und einander vertrauen.“

Beide sahen mich völlig überrascht an und ich zuckte unsicher mit den Schultern.

„Ich weiß es ja nicht, aber alle sagen, dass diese Eishexe verdammt gefährlich ist. Wenn wir sie alle überleben, könnt ihr euch ja immer noch die Köpfe einschlagen.“

Später war mir diese Aussage unangenehm. Ich nahm nicht an, dass Sam sie mir übel nahm, überhaupt war er mir gegenüber ja auch geduldig, aber ich fühlte mich, als hätte ich Damin vor den Kopf gestoßen. Ich hatte ein Loyalitätsgefühl zu den Wölfen, immerhin hatten sie mich in dieser Welt in Empfang genommen, waren diejenigen, die sich um mich kümmerten und sorgten und ich fühlte mich ein bisschen schuldig, dass ein Fremder mein Vertrauen zu ihnen etwas angeknackst hatte. Allerdings fühlte ich bei Sam eine Vertrautheit und Sicherheit, wie ich sie noch nicht erlebt hatte und er sagte zwar nicht viel, aber wenn doch, hatte ich das Gefühl, dass es einfach die Wahrheit war.

Als die Sonne unterging legten wir uns schlafen, doch der kalte, harte Boden und meine Gedanken, ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Leise robbte ich zu Sam, der nicht weit von mir lag und tippte ihn an.

Seine Hand hatte meine gepackt, noch bevor er überhaupt seine Augen geöffnet hatte.

„Hey!“, wisperte ich und warf einen Blick über die Schulter zu den Wölfen, die alle bis auf Gryf schliefen, der Wach hielt, uns aber nicht beachtete.

Sam ließ meine Hand los, blieb aber liegen.

„Ist es wahr, dass Meermenschen bösartig sind? Schau mich nicht so an, ich kann nicht schlafen, wenn ich es nicht weiß“, flüsterte ich.

„Oft genug töten sie ganze Schiffbesatzungen, um das zu beweisen“, flüsterte Sam zurück. „Ich bin nicht stolz auf mein Blut, aber nicht unsere Ahnen bestimmen, wer wir sind.“

Ich nickte zustimmend, dann zog ich mich wieder etwas zurück und versuchte mich möglichst bequem hinzulegen. Als ich nach ein paar Sekunden meine Augen noch einmal öffnete, begegnete ich Sams Blick. Schnell schloss ich meine Augen wieder und spürte, dass er mich noch ansah. Wahrscheinlich überlegte er, wie ein nerviges, kleines Mädchen eine Hexe töten sollte, die nicht einmal ganze Armeen zu Fall gebracht hatten.

 

Am Mittag des nächsten Tages hatten wir das andere Ende des Waldes erreicht. Dahinter erstreckten sich Hügel und Felder, auf denen nichts wuchs. Alles war kahl und das stoppelige, knöchelhohe Gras, das alles bedeckte, war dünn von Schnee bedeckt, der in der Wintersonne glitzerte.

Wir wollten an diesem Tag keine Rast einlegen, um am Abend ein Dorf zu erreichen, dessen Namen ich vergessen hatte, doch am späten Nachmittag erreichten wir einen Bauernhof.

Die Scheune war fast völlig niedergebrannt und die übrigen Bretter qualmten noch leicht vor sich hin, während vom Haus nur noch die steinernen Grundfesten standen.

„Was ist denn hier passiert?“, wisperte ich und betrachtete erschüttert das Schlachtfeld. „Und wo sind die Bewohner?“

„Tot oder verschleppt“, murmelte Sam düster und fügte nach einem Blick in den zerwühlten Schnee hinzu: „Gefressen.“

Ich stieg von Eisblitz ab und ging über den Hof.

„Wir müssen weiter, Liah“, rief Norlos mir nach, doch ich dachte nicht daran.

„Vielleicht gibt es Überlebende.“

„Die Eishexe lässt keine Überlebende zurück“, knurrte einer der Wölfe, aber ich betrat die Reste des Hauses dennoch.

Die Deckenbalken waren heruntergestürzt und der Wohnraum völlig verwüstet, doch von der Familie, die hier gelebt haben musste, gab es keine Spur.

„Vielleicht sind sie entkommen“, mutmaßte ich als ich wieder zu den anderen kam.

„Ja, vielleicht“, sagte Solos, doch er schien es nicht zu glauben.

Wir ritten weiter und als Sam mich auf die dünne Rauchsäule am Himmel hinwies, wusste ich, dass wer immer den Hof zerstört hatte, den gleichen Weg wie wir genommen hatte.

Es war eine Szene wie aus einem Film. Aus der Dunkelheit hinter den eingetretenen Türen und zerschlagenen Fenster schrien uns das Leid und ein Hauch von Vorwurf entgegen. Die Dorfstraße war menschenleer und der Wind fegte zwischen den Häusern hindurch.

Der Brunnen auf dem Marktplatz war eingerissen und hinter ihm türmte sich ein Berg von qualmenden Lumpen und ein bestialischer Gestank, der mir die Tränen in die Augen trieb, schlug mir entgegen.

„Was zur Hölle…“, ächzte ich und drückte meinen Mund und meine Nase gegen meine Armbeuge.

„Liah, nicht!“

Doch es war zu spät, ich war bereits abgestiegen und an den Lumpenhaufen heran getreten. Doch es waren gar keine Lumpen. Es waren Leichen.

Mein entkam ein Keuchen und ich machte einen Satz zurück. Es waren Männer und Frauen und Kinder, verstümmelt mit aufgerissenen Augen und Verzweiflung in ihren toten Gesichtern. Irgendjemand hatte das ganze Dorf abgeschlachtet und die Bewohner dann hier aufgetürmt, um sie zu verbrennen. Einer der Männer, der ganz oben lag, umklammerte mit seiner verkohlten Hand noch einen Stiel, mit dem er sich verteidigt haben musste. Sein Rumpf war aufgerissen und die verschrumpelten Gedärme quollen heraus.

Ich schnappte nach Luft und bekam eine volle Ladung des Gestanks ab. Mein Magen stülpte sich um und ich stolperte zurück, die Hände auf den Mund gepresst, um mich nicht zu übergeben.

„Wer hat das getan?“, presste ich hervor und sah Norlos verzweifelt an, der neben mir stand.

„Die Bärenreiter. Auf den Befehl von Kristalla reisen sie mordend und plündernd durchs Land. Die Eisbären, auf denen sie reiten, wurden ihr Leben lang in Kerkern gefoltert und zu Bestien abgerichtet, die alles zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt.“

Ich schluckte und fuhr mir übers Gesicht. Da hörte ich es. Das leise Schreien eines Babys.

Ich fuhr herum und suchte den Platz mit den Augen ab, als ich Gryf sah, der über einem zappelnden Stoffbündel stand. Ich rannte zu ihm hinüber und stieß ihn ohne viel nachzudenken entgeistert beiseite, als ich seine gebleckten Zähne sah.

„Es lebt doch noch“, sagte ich und riss die Stofffetzen weg, um es besser sehen zu können.

Es war ein Kind von etwa einem Jahr, hatte noch kaum Haare auf dem Kopf und das runde Gesicht zusammen gekniffen. Das Kind schrie aus vollem Halse, doch es schien unversehrt zu sein.

„Ich… Wir müssen etwas tun“, stammelte ich und hob es vorsichtig hoch.

„Liah, wir können es nicht mitnehmen“, sagte Solos sanft.

„Aber sein ganzes Dorf ist tot, niemand wird es versorgen!“, rief ich verständnislos.

„Und deshalb sollten wir ihm die Gnade erweisen, es gleich zu töten, anstatt es erfrieren zu lassen“, knurrte Gryf düster und als ich mich hilfesuchend umsah, blickte das ganze Rudel tatenlos zurück.

„Ihr… Nein! Wir sollen doch dem Land helfen! Ich bin doch hier, um sie vor Kristalla zu schützen und dieses Kind hat nicht ihre Häscher überlebt, um jetzt von uns getötet zu werden!“

„Liah, wir haben eine gefährliche Reise vor uns und können uns nicht mit einem Säugling belasten“, erklärte Norlos widerstrebend. „Es ist schlimm und dein Vorhaben ehrt dich, aber wir tun ihm einen Gefallen, wenn wir es jetzt töten.“

Entgeistert schlag ich die Arme um das Bündel und drückte es an meine Brust.

„Ich überlasse es nicht dem Tod“, wisperte ich. „Es hat ein Recht auf Leben! Wir könnten es einfach bis in das nächste Dorf bringen, das wird schon nicht so weit entfernt sein!“      

Die Wölfe tauschten einen Blick, doch bevor sie mir erneut widersprechen konnten, kam Sam, der der Dorfstraße weiter gefolgt war, zurück.

„Sie sind Richtung Westen weiter gezogen. Wenn wir uns südlich halten, wird es keine… Lebt das Kind noch?“, unterbrach er sich selbst und kam auf mich zu.

„Ja, noch! Bitte, wir bringen es in das nächste Dorf und gehen dann weiter!“

Sam runzelte die Stirn und sah von mir zu den Wölfen.

„Die meisten Familien haben nicht genug, um ihre eigenen Kinder zu versorgen. Wir werden niemanden finden, der es aufnimmt und nur unnötige Aufmerksamkeit auf uns ziehen“, knurrte Osta, doch sogar sie schien hin du her gerissen.

„Einen Versuch ist es wert“, sagte ich so fest ich konnte.

„Sie hat Recht. Wenn wir das Kind zurücklassen, sind wir nicht besser als die Eishexe“, sagte jetzt auch Sam trocken und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu.

Norlos musterte uns und sein hellgraues Nackenfell sträubte sich.

„Nun gut. Nun gut. Also weiter gegen Süden“, ordnete der Alpha an und das Rudel setzte sich zögernd in Bewegung.

Ich fühlte mich schäbig, als wir aus dem Dorf ritten. Es erschien mir falsch, die Leichen einfach so zurück zu lassen und ich legte meinen linken Arm etwas fester um das wimmernde Bündel.

Schon bald wurde mir klar, dass ich nicht gut reiten konnte, wenn ich die ganze Zeit das Kind festhalten musste. Ich steckte die Zügel unter dem Sattelgurt fest, damit sie nicht wegglitten und drehte mich halb um, um meine Regenjacke aus einer der Satteltaschen zu zerren. Ich band sie mir um wie ein Kindertragetuch und bettete das Baby in seinen Tüchern vor meiner Brust und meinem Bauch so hinein, dass es noch Luft bekam, aber auch vor dem kalten Wind geschützt war. Als es meinen Herzschlag wahrnahm, wurde es ruhig.

Ich mochte Kinder nicht. Ich hatte sie nie gemocht, vor allem nicht die kleine, sabbernde Sorte, doch als ich jetzt in das friedliche, leicht zerknautschte Gesicht sah, tat es mir in der Seele weh und ich spürte eine unglaubliche Wut in mir aufkeimen. Ein ganzes Dorf. An einem einzigen Tag hatte die Eishexe ohne Grund jeden abschlachten lassen, dem dieses unschuldige Kind je in seinem kurzen Leben begegnet war. Familien waren auf einen Schlag ausgelöscht und dem Säugling an meiner Brust war nicht mal sein Name geblieben, da keiner mehr da war, der ihn gewusst hätte.

Und dieses Dorf war nicht das erste gewesen und auch nicht das letzte. Wenn ich diejenige sein sollte, die dem ein Ende bereiten konnte, dann würde ich es mit Freuden tun. Denn so viel Leid über so eine lange Zeit sollte kein Mensch ertragen müssen.

Nach dem Sonnenuntergang ritten wir noch so lang weiter, bis die Wolken sich über uns zu schwarzen Bergen aufgetürmt hatten und wir einen Unterschlumpf suchen mussten. Der Wind pfiff immer heftiger um meine Ohren und ein Gewitter kündigte sich mit einem leisen Grollen an.

Auf Solos‘ Rat hin hielten wir uns östlich und tatsächlich erreichten wir noch vor den ersten Regentropfen ein kleines Wäldchen an dessen Rand eine verlassene Hütte stand. Allerdings gab es in der Hütte nur einen einzigen Raum und dieser war winzig. Die Wölfe schienen kein Problem damit zu haben, sich auf der windgeschützten Seite draußen niederzulassen, während Sam, ich und natürlich auch das Kind uns drinnen einquartieren sollten.

Es gab einen kleinen Kamin und Sam schaffte es nach kurzer Zeit ein Feuer in Gang zu bringen. Als die Flammen über die Holzscheite leckten, tauchten sie das Zimmer in ein schummriges, flackerndes Licht und sobald meine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah ich, dass der Raum völlig leer war. Der Boden war die bloße, festgestampfte Erde und das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt.

„Wer hier wohl gelebt hat?“, überlegte ich laut und ließ mich neben dem Kamin nieder.

Sam saß mir gegenüber an die Wand gelehnt und warf mir ein Stück Trockenfleisch zu.

„Denkst du, es isst schon feste Nahrung?“, fragte ich Sam und entknotete meine Regenjacke, um das Baby auf meinen Schoß zu betten.

Sam beugte sich vor und runzelte die Stirn.

„In dem Alter eher Brei würde ich sagen.“

Ich seufzte und zog die Nase kraus.

„Also gut, das wird jetzt eklig. Wehe, du beschwerst dich“, murmelte ich dem Kind zu, das auf seiner Faust herumkaute.

Ich biss ein Stück von dem Fleisch ab und kaute. Dann unterdrückte ich den Schluckreflex und nahm das zerkaute Zeug wieder aus dem Mund.

„So, Mund auf“, befahl ich und zog leicht an der Hand des Babys. Dann steckte ich ein bisschen von dem Fleischbrei in seinen Mund.

Es lutschte darauf herum und schluckte. Dann öffnete es wieder den Mund, wie ein kleiner Vogel und ich lachte. Unfassbar, dass ich das wirklich tat.

Ich wiederholte die Prozedur noch ein paar Mal, dann wischte ich meine Hand an meiner Hose ab und gab dem Kind vorsichtig Wasser aus meinem Beutel zu trinken. Anschließend ließ ich es Bäuerchen machen und war unglaublich erleichtert, als es mir nicht über die Schulter kotzte.

Als ich mich daran machte, mein Essen wieder selbst zu schlucken, fiel mein Blick auf Sam, der mich beobachtete.

„Was?“

„Hast du eigene Kinder?“

Ich verschluckte mich und hustete mir fast die Seele aus dem Leib.

„Nein“, keuchte ich. „In meiner Welt hat man mit sechzehn keine Kinder. Es sei denn, man kann keine Kondome benutzen, aber… Und ich merke gerade, dass ich das gar nicht sagen wollte“, murmelte ich und wurde rot.

Sam sah kurz so aus, als wollte er fragen, was Kondome waren, doch er ließ es sein, vermutlich wegen meiner Mimik.

„Ich frage nur, weil du dich damit auszukennen scheinst. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

Etwas in seiner weichen, tiefen Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken und ich räusperte mich.

„Also, ich mag eigentlich keine Kinder. Aber ich dachte, dass es für eure Welt eher normal ist, wenn Frauen sich mit so was auskennen.“

Draußen blitzte es und der Regen peitschte gegen die Wände der Hütte. Das Feuer flackerte heftig und warf dunkle Schatten auf Sams Gesicht.

„Die, die aus armen Verhältnissen oder Dörfern stammen schon“, sagte er langsam. „Aber du wirkst auf mich nicht wie so eine Frau.“

„Warum? Weil ich eine eigene Meinung habe?“, schnaubte ich.

„Weil du sie aussprichst.“

Ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut und ich wusste, dass er nicht mit mir flirtete, aber schon wieder war die Stimmung zwischen uns so aufgeladen, dass man es fast körperlich spüren konnte.

„Machen das die Frauen hier nicht?“, fragte ich mit belegter Stimme.

„Ein paar tun es. Aber nur die wenigsten gegenüber Autoritätspersonen.“

Der Donnerschlag draußen und das darauffolgende Weinen des Babys bewahrte mich vor Herzrasen und ich konzentrierte mich darauf, das schreiende Bündel im Arm zu wiegen und sinnloses Zeug zu flüstern, um es zu beruhigen. Schließlich schloss es die Augen und steckte wieder die Faust in den Mund.

Kopfschüttelnd legte ich es neben mir auf den Boden und bemerkte, wie müde ich war. Ich legte mich neben es und legte einen Arm um es, um es zu wärmen.

Ich starrte ins Feuer und genoss die Wärme im Gesicht, die aber nicht zu meinem restlichen Körper durchdrang.

„Sie tanzen“, murmelte ich.

„Wer?“

„Die Flammen. Man sagt das so, aber mir ist bisher noch nie aufgefallen, dass es stimmt.“

10. Kapitel

 

Das nächste Dorf erreichten wir am Mittag. Als es in Sichtweite kam, hielten wir an und warteten ab, bis Scar und Maur vorsichtig alles ausgekundschaftet hatten, denn die Wölfe wollten einen Zusammenstoß mit Kristallas Bärenreitern auf jeden Fall verhindern, auch wenn sie nicht wirklich annahmen, dass sie hier vorbeigekommen waren.

Der Plan war, dass Sam und ich allein mit dem Kind ins Dorf reiten und was immer wir auch taten, unsere Identität nicht preisgeben sollten.

„Was denkst du, wie lang wird das dauern?“, fragte ich Solos.

„Ich weiß es nicht. Wir könnten den ganzen Nachmittag verlieren“, meinte Solos unruhig.

„Ein Nachmittag für ein Leben ist noch zu verkraften“, schnappte ich und warf einen Blick auf das Kind in meinem Arm.

„Liah, du weißt, dass es hier um viel mehr als um ein einziges Leben geht“, sagte Solos und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Dennoch ist deine Tat richtig und gut. Sie zeigt uns, dass du eine wahre Heldin bist.“

Überrascht öffnete ich den Mund, doch mir fiel nichts ein, was ich darauf erwidern könnte. In diesem Moment kamen Scar und Maur zurück und gaben uns grünes Licht. Wie es aussah, handelte es sich um ein friedliches Dorf, dass in letzter Zeit um die Verwüstung herum gekommen war.

Sam und ich ritten los und erreichten schon bald die ersten Häuser.

„Gehen wir jetzt hausieren?“, fragte ich sarkastisch und warf Sam einen Blick zu.

„Wir gehen ins Wirtshaus. Der Wirt eines Dorfes weiß immer an wen man sich wenden muss.“

Ich schnaubte belustigt.

Bald erreichten wir besagte Einrichtung und banden die Pferde an einer Stange vor dem Wirtshaus an.

„Was ist der Plan?“, fragte ich und betrat hinter Sam die Stube.

„Versuch einfach nicht zu reden“, murmelte er und ich hob die Augenbrauen.

Der hagere Wirt stand hinter dem Tresen und putzte Gläser mit einem Lumpen.

„Guten Tag, Fremde. Was darf’s sein?“, brummte er und musterte uns skeptisch.

„Meine Schwester und ich suchen euren Dorfältesten oder jemand anderen an den wir uns wenden können“, sagte Sam und der Blick des Wirts wurde noch skeptischer.

„Was ist das Anliegen, wenn man fragen darf?“

„Das Kind“, sagte Sam und der Mann runzelte die Stirn.

„Deine Schwester, sagst du, eh?“

„Es ist nicht unser Kind“, stellte Sam sachlich fest und der Wirt kratzte sich am Kopf. „Es ist aus dem Dorf nordwestlich von hier.“

„Hana!“, rief er schließlich und eine breite Frau kam aus dem Hinterzimmer gestampft. „Die beiden hier scheinen eine interessante Geschichte zu erzählen haben. Hol Kart, den Schmied, und den alten Ohm, damit wir sie uns anhören können.“

Murrend stapfte die Frau durch die Tür und Sam führte mich an einen der Tische.

„Die sind hier aber nicht gastfreundlich“, wisperte ich ihm zu und er nickte.

„Hier im Süden trauen sie keinem“, murmelte Sam.

Wir mussten nicht lange warten, da kam Hana schon mit zwei Männern zurück. Der eine war dreimal so breit wie ein normaler Mann und trug eine derbe Schürzte und der andere ging am Stock und wirkte so klapprig, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre und ihm meinen Arm angeboten hätte.

Sam wurde aufgefordert, zu sagen, was er zu sagen hatte und er schilderte die Ereignisse und unser Vorhaben, das Kind hier unterzubringen, da wir uns nicht um es kümmern konnten. Die Tatsache wer wir waren und die Wölfe ließ er weg und stellte es so dar, als wären wir Geschwister auf dem Weg zu Verwandten.

„Und sie haben alle getötet?“, fragte der Alte mit einer Stimme, als wäre er bereits unter der Erde.

„Ja“, bestätigte Sam ernst.

„Ich hatte einige Freunde in Dorne“, seufzte er und strich sich über den langen weißen Bart. „Wir sollten ein paar Männer schicken, um den Ort zu reinigen und die Toten ehrenvoll zu verabschieden.“

Die beiden anderen stimmten ihm zu.

„Wenn Ihr dort Freunde hattet, dann kanntet Ihr womöglich die Familie des Kindes“, vermutete ich so zurückhaltend wie ich konnte.

„Meine Freunde habe ich seit Jahren nicht gesehen und dieses Kind ist zu jung, als dass ich von ihm gehört haben könnte“, sagte der Ohm.

„Aber Ihr werdet es doch aufnehmen?“, fragte ich, da keiner solche Anstalten machte.

Der Wirt tauschte mit dem Schmied einen Blick. Dann sagte er: „Es ist schon mehrere Monde alt. Es wird bereits die Taufe erhalten haben.“

Das hörte sich wie eine Entschuldigung oder eine Ausrede an. Verwirrt sah ich von ihm zu Sam.

„Wisst ihr seinen Namen?“, fragte der Schmied und Sam schüttelte den Kopf.

„Gebt ihm einen neuen und tauft es ein weiteres Mal“, sagte er mühsam beherrscht und ich versuchte nachzuvollziehen, was genau das Problem hier war.

 

„Du weißt genau, dass das nicht möglich ist, mein Sohn“, ächzte der Alte und strich sich über den Bart.

„Soll das heißen, ihr wollt dieses unschuldige Kind nicht aufnehmen, nur weil niemand mehr lebt, der seinen Namen weiß?“, wollte ich entsetzt wissen und Sam warf mir einen Blick zu, der mich daran erinnerte, dass ich ja den Mund halten sollte. Aber das Verhalten dieser Menschen machte mich einfach zu wütend.

„Seine Seele ist an den Namen gebunden, den es bei der Taufe durch die Elemente erhalten hat, Mädchen!“, grollte der Schmied und ich runzelte die Stirn.

Das musste ein Teil dieser Elementgeister-Religion sein, die Solos neulich erwähnt hatte.

Was sollten wir jetzt tun? Hilfesuchend sah ich wieder zu Sam, der ebenfalls angestrengt nachzudenken schien.

„Es ist ein hilfloses Kind und es hat einen Massenmord überstanden. Wir dürfen ihm eine zweite Chance nicht verweigern“, sagte er langsam.

„Ohne seinen wahren Namen wird es nie Frieden finden können“, erwiderte der Alte bestimmt.

Alles in mir schrie, dass das Wahnsinn war. Doch ich wagte es nicht, die Leute aufgrund ihres Glaubens zu beleidigen, auch wenn er mir völlig unverständlich erschien. Weiterbringen würde es uns sicher nicht.

Das kleine Kind fing an zu weinen und ich wiegte es nervös hin und her.

„Ich bitte euch“, sagte ich fast flehend. „Für dieses Kind, das noch nicht selbst bitten kann, bitte ich euch!“

Der alte Mann musterte mich.

„Holt den Priester. Dann sehen wir weiter.“

Hana, die Frau des Wirts wurde abermals losgeschickt und kehrte schon bald mit einem Mann zurück, der mich an die Leute aus dem Umzug in Thal erinnerte. Doch seine rostrote Kutte war ausgeblichen und die vierzackigen Sterne auf seiner Brust waren eher grau als weiß.

Alle erhoben sich und ich tat es ihnen nach. Hana musste den Priester bereits unterrichtet haben, denn er kam direkt auf mich zu.

„Lass es mich sehen, das Kind aus Dorne“, wies er mich sanft an und ich überreichte ihm das Bündel.

Er schlug den Stoff etwas zurück und betrachtete es.

„Ein Wunder, dass es unversehrt ist“, flüsterte er, dann sah er auf. „Das ist ein Zeichen der Geister. Dieses Leben hat große Bedeutung.“

„Aber Priester, es hat keine Seele, wir wissen seinen Taufnamen nicht“, gab der Wirt zu bedenken, doch der Priester wedelte nur mit der freien Hand.

„Die Geister beschützten das Kind vor den Fängen der Hexe.“

Zum ersten Mal seit wir hier waren, wurde Kristalla erwähnt und die Dorfleute warfen misstrauische Blicke umher, als vermuteten sie irgendwelche Lauscher an der Wand.

„Nun haben sie diesen Auftrag an uns weiter gegeben und sobald es alt genug ist, werde ich es persönlich in den Lehren unserer Geister unterweisen.“

Mir standen die Haare zu Berge, als ich das hörte. Mir war nicht wohl dabei, das Kind bei einem religiösen Fanatiker zu lassen.

„Wirt, nimm du es auf, denn du hast keine eigenen Kinder. Die ersten Jahre seines Lebens soll es in deiner Obhut verbringen.“

Der Wirt stimmte zu, wenn auch nicht äußerst begeistert.

„Und was ist jetzt mit seinem Namen?“, fragte ich leise.

„Wir werden es neu taufen, noch heute. Die Geister werden darüber hinwegsehen, sonst hätten sie es nicht zu uns gebracht“, verkündete der Priester bestimmt und ich sank erleichtert gegen die Stuhllehne.

Sam räusperte sich und richtete sich seinerseits auf.

„Nun denn, meine Schwester und ich haben noch einen langen Weg vor uns“, begann er, doch der Priester unterbrach ihn.

„Nein, nein, noch könnt ihr nicht gehen. Vor den Geistern seid ihr seine Eltern und müsst das Kind zur Taufe tragen.“

So langsam ging mir sein Gerede auf den Keks, vor allem weil mich Sams Aufbruchsstimmung mitgerissen hatte und der Gedanke, noch länger hier zu bleiben, mich nervös machte.

„Sagt, wie sind eure Namen und woher kommt ihr?“

Mein Kopf war wie leer gefegt und ich wartete darauf, dass Sam eine plausible Antwort gab, denn wir hatten uns zuvor auf nichts geeinigt.

„Ich bin Ruben und das ist meine Schwester Aiva. Ich bringe sie von Thal nach Minsk, wo sie verheiratet werden soll.“

Ich schnappte empört nach Luft, doch dann setzte ich rasch mein Pokerface wieder auf.

Der Priester nickte wohlwollend und gab mir das Kind zurück.

„Ich werde alles vorbereiten, damit wir die Zeremonie abhalten können.“

Der Schmied und der Alte folgten dem Priester nach draußen und der Wirt war auch beschäftigt, sodass Sam und ich wieder allein waren.

„Mir gefällt das nicht, was sie mit dem Kind machen wollen.“

„Und mir gefällt nicht, dass wir noch länger bleiben müssen“, murmelte Sam. „Die Bärenreiter könnten jeden Moment kehrt machen oder ein anderer Trupp könnte hier durchkommen.“

Mir wurde klar, dass das Kind hier auch nicht in Sicherheit war. Selbst wenn man sich um es kümmerte, könnten die Bärenreiter ja auch dieses Dorf noch zerstören.

Die Sonne stand schon sehr tief, als wir aus dem Wirtshaus gerufen worden. Ich trug das Kind auf dem Arm und Sam ging dicht neben mir. Die Bewohner des Dorfs mussten mittlerweile von dem Unglück in Dorne erfahren haben, denn sie hatten sich auf der Dorfstraße versammelt und beobachteten uns, während wir dem Wirt hinterher liefen. Einigen Frauen weinten und die Männer starrten düster und voller Wut auf die schlammige Straße. Kinder sah ich nur wenige und die, die ich sah, versteckten sich nur verängstigt hinter ihren Müttern.

Das Kind, wir hatten es überprüft, als Hana und ich seine Windel gewechselt hatten, war ein Mädchen und als ich die Wirtin gefragt hatte, was für einen Namen es wohl bekommen würde, hatte die nur gemeint, das würde der Priester entscheiden. Auch wenn sie mir etwas mürrisch erschien, wirkte Hana doch wie eine gute, bodenständige Frau auf mich, die das Kind beschützen würde und das machte es leichter für mich, es im Einfluss dieses strengen Priesters zu lassen.

Die Dorfbewohner folgten uns allesamt zu einer winzigen Kapelle mit kaum zwei Metern Durchmesser und ohne Außenwände. In ihrer Mitte stand ein Taufbecken, dass auf den ersten Blick recht christlich auf mich wirkte, doch die Bilder, die darauf eingraviert waren, hatten nichts mit der Religion aus meiner Welt gemein. Hinter dem Priester, der neben dem Becken stand, war ein langer Stab in den Boden gerammt an dessen Spitze ein vierzackiger Stern mit einem Lorbeerkranz befestigt war. Das musste das Symbol dieser Kirche sein und ich fragte mich, wofür es stand.

Sam und ich mussten uns rechts von dem Becken aufstellen und Hana und ihr Mann links. Dann hob der Priester die Hände und die Dorfbewohner vor der Kapelle begannen in einer fremden Sprache leise zu singen.

„Upadana Bhuta, wir rufen Euch. Wir danken Euch, für dieses verschonte Leben und wir bitten Euch, die Seelen der Toten aus dem Dorf Dorne zu ihren Ahnen zu bringen.“

Ich spürte in meinem ganzen Körper ein Vibrieren und fühlte einen Druck unterhalb meines Halses, wie immer, wenn mir ein fremdes Gefühl den Atem raubte.

Der Priester bedeutete mir das Kind von den Stofffetzen, in die es gewickelt war, zu befreien und in das leere Becken zu setzen. Sofort begann es wegen der Kälte zu weinen und ich bekam ein schlechtes Gewissen, doch der Priester fuhr bereits fort. Er hob einen Krug über den Kopf des Babys und rezitierte dann: „Unser Geistvater Eyara hauche dir den Atem des Lebens ein.“

Er goss etwas von der dampfenden Flüssigkeit auf den Kopf des Kindes, das automatisch die Hände hob.

Mein Herz schlug schwer in meiner Brust und ich konnte das Pulsieren meiner Halsschlagader spüren.

„Unsere Mutter Artha gebe dir die Kraft der Erde.“

Er neigte den Krug erneut, doch dieses Mal war das Wasser, das heraus kam leicht grünlich. Oder war es das schon vorher gewesen?

„Skiha erfülle dich mit dem brennenden Leben…“

Er machte eine kreuzigende Bewegung mit einem brennenden Zweig hinter dem Rücken des Kindes und die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf.

„… und im Schoß von Mrthyu sollst du sterben.“

Er goss das restliche Wasser, das jetzt möglicherweise durch eine Reflexion der Untergehenden Sonne blau-lila erschien, über das Kind, dann nahm er meine rechte Hand und Hanas linke und legte sie auf das Haupt des schreienden Babys.

„Von alter Mutter, Aiva, zu neuer Mutter, Hana, übergebe ich Jibita, die Überlebende. Unter dem Schutz, der dir von den Elementgeistern zu Teil wurde, sollst du auch dein restliches Leben führen.“

Ein elektrisierendes Gefühl pulsierte durch meinen Körper, dann war es plötzlich vorbei und ich zog die Hand zurück. Die Leute hatten aufgehört zu singen und Hana nahm die weinende Jibita auf den Arm.

Ich atmete auf, denn offensichtlich war die Taufe jetzt beendet. Die Dorfbewohner gingen zurück an ihre Arbeit, bis auf eine junge Frau, die auf uns zu stürzte und mich an den Schultern packte. Sam wollte sie schon wegstoßen, doch dann begann sie flehend auf mich einzureden.

„Bitte, mein Bruder lebt in Dorne, er kann unmöglich tot sein“, schluchzte sie und schüttelte mich leicht. „Habt ihr in jedem Haus nachgesehen, ob nicht doch jemand überlebt hat? Er darf nicht tot sein, er kann einfach nicht tot sein!“

Sam zog sie sanft von mir weg und sagte mitfühlend: „Wir haben uns nicht genau umgesehen, aber du solltest dir keine Hoffnungen machen. Es tut mir leid.“

Die Frau erzitterte am ganzen Körper und krümmte sich schluchzend. Ein Mann führte Entschuldigungen murmelnd davon und schließlich standen nur noch Sam und ich vor der Kapelle.

„Es ist einfach grauenhaft“, flüsterte ich.

„Ja, das ist es.“

Wir gingen zurück zum Wirtshaus, um unsere Pferde zu holen und zu verschwinden, doch als wir dort ankamen, stand Hana mit Jibita auf dem Arm vor der Tür und erwartete uns schon.

„Ihr werdet Minsk vor Sonnenuntergang nicht mehr erreichen und es ist gefährlich nachts zu reisen. Bleibt doch noch heute hier“, schlug sie schnaufend vor, doch Sam wehrte sofort ab.

„Du hast Recht, unser Weg ist noch sehr lang und gerade deshalb müssen wir jetzt aufbrechen. Unser Aufenthalt hat uns bereits genug Zeit gekostet“, erklärte er.

Hana runzelte die Stirn.

„Tja, es ist wohl eure Entscheidung. Ich wünsche euch viel Glück und dir eine glückliche Ehe, Aiva.“

„Danke“, sagte ich artig. „Und danke, dass du dich um Jibita kümmerst.“

„Danke, dass ihr sie zu uns gebracht habt.“

Wir verabschiedeten uns und saßen auf. Schon bald hatten wir das Dorf hinter uns gelassen und das Kind, so plötzlich es zu uns gelangt war, war wieder verschwunden.

„Laufen solche Taufen immer so ab?“, fragte ich, um mich abzulenken und sah mich nach den Wölfen um.

„Ja. Jeder im Königsreich wird muss so getauft werden.“

„Muss?“

Bevor Sam die Möglichkeit hatte zu antworten, sah ich endlich die Wölfe auf uns zukommen und trieb Eisblitz noch mehr an.

„Warum hat es so lange gedauert?“, fragte Norlos.

„Wir wollten gerade das Dorf stürmen“, fügte Solos sowohl belustigt, als auch besorgt an.

„Wir mussten noch der Taufe beiwohnen“, sagte Sam dunkel. „Sie haben wegen dem Namen einen richtigen Aufstand veranstaltet.“

„Richtig, das hatte ich ganz vergessen. Wurde das Kind von einem Priester geweiht?“

„Fragst du das aus religiösem Interesse oder weil du sonst das ganze Dorf melden musst?“, schnaubte Sam und Norlos stieß ein bedrohliches Knurren aus.

Die beiden funkelten sich einige Sekunden an, dann schritt zu meinem Erstaunen Osta ein.

„Hier geht es nicht um religiöse Konflikte“, fauchte sie. „Es geht hier auch nicht um Menschenkinder. Also lasst uns unseren Weg fortsetzen und endlich unsere Sache voranbringen!“

Norlos wandte sich der schwarzen Wölfin zu, dann setzte er sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung und wir folgten ihm.

Ich wunderte mich gar nicht mehr darüber, dass wir die ganze Nacht durchritten und am Morgen nur eine kurze Pause zum Essen einlegten. Auch während des Tagesritts dachte ich nicht über viel mehr nach, als über die Kälte, den kalten Wind und das kalte Trinkwasser. Wir hielten uns jetzt doch westlich, da wir schon fast an der Küste des Landes angekommen waren und Norlos den Städten am Südmeer nicht zu nahe kommen wollte. Das Klippenmeer befand sich an dessen westlichsten Ende und direkt nördlich darüber war dieses Mirakurgebirge, in dem sich Kristalla aufhielt.

Doch wir hielten uns nicht nur von den Städten am Meer fern, sondern auch von Dörfern, zumindest schien es mir so, da wir nur noch durch einsame Ödnis kamen. Dadurch, dass wir uns so fernab von jeglicher Zivilisation und Straßen hielten und wahrscheinlich auch, weil immer zwei Wölfe mehrere Meilen vor uns den Weg auskundschafteten, begegneten wir niemandem und auch die Bärenreiter bekamen wir nicht zu Gesicht.

Ich redete nicht viel und es ging mir auch nicht viel durch den Kopf. Meine einzige Unterhaltung bestand aus kurzen Momenten während einer Rast, wenn Sam versuchte, mir beizubringen, wie ich mit dem Dolch umzugehen hatte, den Fürst Bertang mir geschenkt hatte. Wie sich herausstellte, war ich ziemlich untalentiert, weshalb er schon nach zwei Tagen zu einfacher Selbstverteidigung überging. Da wir nachts nicht mehr ritten, da das Wetter einfach zu schlecht war und wir schon von den Tagen und dem kargen Essen geschwächt waren, bekamen wir wenigstens unseren Schlaf, weshalb ich mich bei dem körperlichen Kämpfen etwas besser schlug. Hier hatte ich aber auch bessere Voraussetzungen, denn während ich die Geschicklichkeit eines Bergtrolls besaß, wie Sam einmal leise bemerkt hatte, hatte ich durch das Laufen eine gute Kondition und Ausdauer und meine Muskeln waren zumindest erkennbar ausgebildet. Gegen Sam, der seit seiner Kindheit trainierte, hatte ich natürlich absolut keine Chance, doch er zeigte mir ein paar Tricks, die hilfreicher als das waren, was ich in dem Verteidigungskurs in meiner Schule gelernt hatte.

Es war der Abend des fünften Tages seit dem Dorf, in dem wir Jibita gelassen hatten, und Sam und ich saßen dicht vor dem kleinen Feuer, das Norlos uns trotz Rauchsäule erlaubt hatte zu machen, da die Kälte mit jeder Stunde unerträglicher wurde. Man sollte meinen, mit der Zeit würde man sich an die Temperaturen gewöhnen, doch es war ganz und gar nicht so.

Ich hatte meine Handschuhe ausgezogen und hielt die Hände dicht an die Flammen.

„Du müsstest dir die Finger verbrennen“, stellte Sam fest und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich hatte schon immer eine hohe Hitzetoleranz.“

„In der Wüste würde es dir sicher besser gefallen als hier. Obwohl es dort seit dem Krieg auch nicht mehr so warm ist.“

„Hast du denn die Zeiten vor dem Krieg erlebt?“, fragte ich, denn eigentlich sah er eher aus wie Anfang zwanzig, als Ende zwanzig.

„Ja“, sagte er und starrte ins Feuer. „In meiner frühsten Kindheit. Ich habe bereits dreißig Jahre gelebt, wir Meermenschen altern ab einem bestimmten Alter viel langsamer als ihr Menschen.“

Ich horchte auf. Sam sprach so gut wie nie über sich selbst und das was ich über ihn wusste, hatte ich von den Wölfen oder schloss ich aus seinem Verhalten.

„Die Welt ist wundervoll, wenn die Jahreszeiten ihren natürlichen Rhythmus einhalten. Es mag dir alles wie eine triste Eiswüste erscheinen, aber so ist es erst seit Kristalla Macht erlangt hat.“

„Wie kann sie das tun? Eine ganze Welt im Winter gefangen halten“, wisperte ich und wandte mich zu ihm um.

„Ich weiß es nicht. Aber es gibt dir einen Eindruck von ihrer Kraft.“

„Wie soll ich so jemanden töten können?“

Ich ließ mich gegen den Felsbrocken sinken, an dem wir lehnten und starrte in den wolkenverhangenen Himmel empor.

„Ich bin schon über eineinhalb Wochen hier. Es kommt mir nicht mal ansatzweise so lang vor“, sagte ich, bevor Sam auf meine eher rhetorisch gemeinte Frage antworten konnte.

„Fehlt dir deine Welt?“

„Es kommt mir vor, als wäre es nie wirklich meine Welt gewesen“, gab ich zu. „Ich hatte dort keine Bedeutung und nichts hat mir etwas bedeutet.“

Meine Stimme klang seltsam hohl.

„Meine Mutter starb kurz bevor ich hier her kam.“

Wir schwiegen in stillem Einverständnis und diese Stille brachte mich wie selbstverständlich zum Reden.

„Ihr Name ist… war Mary-Ann. Nach irgendeiner Sängerin glaube ich. Ihre Eltern sind lange vor meiner Geburt gestorben und meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich weiß auch nichts über ihn, außer dass er meiner Mutter so sehr das Herz gebrochen hat, dass sie nicht mal seinen Namen über die Lippen gebracht hat. Aber ich habe auch nie einen Vater gebraucht. Ich hatte nie eine Familie oder Freunde. Nur meine Mutter. Und jetzt ist sie tot“, krächzte ich und drückte die Augenlider fest zusammen.

„Aber dafür hast du jetzt Freunde. Sie können dir deinen Mutter nicht ersetzen, aber sie können einen Platz in deinem Herzen einnehmen, damit es nicht mehr leer ist.“

Da hatte er Recht. Freunde hatte ich. Mit Solos, Scar und Damin verstand ich mich immer besser und mit den anderen Wölfen kam ich zumindest gut aus, abgesehen von Osta und Gryf, aber die gingen mir sowieso aus dem Weg. Damian aus der Festung war auch irgendwie mein Freund, obwohl wir uns nur so kurz begegnet waren, doch in meinem Herzen fühlte es sich so an.

Und dann hatte ich natürlich ihn. Sam Ray-San, der Mann, der mich nur anzusehen brauchte, damit ich ihm mein Herz ausschüttete. Anfangs hatte ich gedacht, dass ich für ihn schwärmen könnte, obwohl er so viele Jahre älter war, doch jetzt dachte ich nicht mal ansatzweise im romantischen Sinne an ihn. Außerdem hatte ich das Gefühl, als würde er bei jeder Bewegung darauf achten, nicht einen falschen Eindruck bei mir zu vermitteln und bei unserem Training, berührte er mich kaum. Es war nicht so, dass sein Verhalten unnatürlich wirkte, nur eben bedacht und umsichtig.

Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und versuchte das Leid in mir zu vergessen, und als er zögerlich den Arm um mich legte, wurde es zumindest in meinem Inneren warm.

11. Kapitel

 

Ein ohrenbetäubendes Brüllen riss mich aus meinem Halbschlaf. Mit rasendem Herzen sprang ich auf und versuchte mich zu orientieren. Sam neben mir war auch aufgestanden und hatte einen Pfeil in die Sehne seines Bogens gespannt, doch in der Dunkelheit hinter dem Feuerschein war nichts zu erkennen.

„Was ist hier los?“, keuchte ich und wich zurück, um gegen den Felsen zu prallen.

„Die Bärenreiter“, sagte Sam und tauchte die Spitze des Pfeils in die Flammen, um ihn keine Sekunde später schon abzuschießen.

Er zischte durch die Nacht und ein Schrei ertönte. Dank der Funken sah ich, wie der Getroffene von seinem Reittier gerissen wurde und ich den Schnee fiel.

Ich schnappte mir einen brennenden Stock aus dem Feuer und das keinen Augenblick zu spät, denn der Bär stürmte auf uns zu.

Scar sprang ihn von der Seite an, bevor er uns erreichte und verbiss sich in seinem Hals. Der Eisbär stieß ein Brüllen aus und warf den Kopf hin und her, doch die Wölfin ließ sich nicht abschütteln.

Ich hörte das Trommeln der Pfoten, noch bevor ich die Bären sehen konnte.

„Wie viele sind es?“, wisperte ich und schwenkte den Stock vor mir, den ich fest umklammerte.

„Mindestens sieben“, murmelte Sam und griff einen neuen Pfeil. „Bleib hinter mir.“

Dann sah ich sie, wie sie aus dem Dunkel brachen, mit gefletschten Zähnen und verdrecktem, zottigen Fell. Ihre Reiter trugen schwarze Lederrüstungen und Helme, die ihre Gesichter verbargen und schwangen Speere in ihren Händen. Die Wölfe stürzten sich augenblicklich auf sie und Sam schoss Pfeile ab, doch es waren zu viele. Einer drang durch die Reihe der Wölfe, doch Sam rammte ihm mit der Linken seinen Dolch durch die Stirn, was den Bär Aufjaulen in sich zusammensinken ließ, doch der Reiter sprang sofort ab und stieß mit dem Speer nach Sam und hätte ihn auch getroffen, wenn nicht Solos in der Sekunde auf ihn gesprungen und ihm mit den Zähnen die Kehle aufgerissen hätte. Der Mann schrie, dann regte er sich nicht mehr. Sein Blut tränkte den Schnee und mein Magen verkrampfte sich. Ich riss ihm den Speer aus der Hand und dass ich mich bückte war mein Glück, denn dort wo eben mein Kopf gewesen war, zischte nun eine Bärenpranke durch die Luft. Ich fuhr herum und stieß mit dem Speer in den Hals des Tieres, das sich halb auf dem Felsen hinter uns abstützte und es wich jaulend zurück, doch ich hatte es nicht tödlich verwundet. Der Speer blieb stecken und entriss sich meiner Hand, während der Reiter sich vorbeugte und seinerseits nach mir stieß, doch wie aus dem Nichts erschien Sams Bogen, mit dem er den Stoß parierte.

Der Eisbär, gequält von dem Speer in seinem Hals, schlug blindlings um sich und erwischte Sam, der mehrere Meter weit weg geschleudert wurde.

„Nein!“, schrie ich, doch ich hatte keine Gelegenheit nach ihm zu sehen, denn der Bär war noch über mir.

Meine Wut und Angst verliehen mir Kraft und ich schlug mit meinem brennenden Stab gegen die Schulter des Tiers. Das Fell fing sofort Feuer und brannte wie Zunder. Der Bär stob brüllend davon und jagte mitsamt seiner Reiters als brennender Ball in die Ferne.

Sofort fuhr ich herum und suchte nach Sam, der unversehrt schien, doch jetzt ohne Waffe einem weiteren Bären gegenüberstand. Ich schnappte mir seinen Bogen und einen Pfeil und versuchte dessen Reiter zu treffen. Der Pfeil sirrte an seinem Kopf vorbei, lenkte ihn aber lange genug ab, sodass Sam es schaffte, sich auf den Bären zu schwingen und dem Reiter den Speer zu entwinden. Er stieß sie dem Bären in den Nacken, ein ohrenbetäubendes Brüllen ausstieß und sich aufbäumte. Die beiden Männer purzelten von seinem Rücken und ich erkannte panisch, dass der Bär sie zertrampeln würde, wenn nicht etwas geschah.

Ich sah mich um, doch die Wölfe, die noch unversehrt waren, versuchten drei andere Bären in Schach zu halten und zwei Wölfe lagen im Schnee und rührten sich nicht.

Ich dachte nicht länger nach, zog mir einen neuen Stock aus dem Feuer und rannte auf den Eisbären zu, der wie wahnsinnig auf den Hintertatzen taumelte und dabei den am Boden ringenden Männern gefährlich nahe kam.

Mit einem lauten Schrei warf ich den Stock auf seinen Rücken, der sofort in Flammen stand und der Bär machte brüllend einige Sätze, bevor er lodernd vornüber sackte und regungslos liegen blieb. Ich wirbelte herum und sah, wie Sam, der auf seinem Gegner saß, diesem einen Schlag auf die Nase gab, dass es krachte. Auch sah ich, dass einer der Bärenreiter die Flucht ergreifen wollten doch Norlos und Damin stürzten sich auf hin und rangen ihn erbarmungslos zu Boden.

Schwer atmend drehte ich mich auf dem Schlachtfeld im Kreis und sah die teilweise noch brennenden Opfer unseres Kampfes. Das Blut der Bären und ihrer Reiter färbte den Schnee rot. Ein Blutbad.

Ich würgte und sank auf die Knie. Mir war schwindlig und schlecht und das leuchtende Blut leuchtete mir vorwurfsvoll entgegen.

„Liah, bist du verletzt?“, fragte Sam und kam auf mich zu.

„Nein, mir geht’s gut“, hauchte ich kraftlos und starrte immer noch fassungslos auf die Leichen. „Und du?“

„Nur ein paar Kratzer. Kannst du aufstehen?“

„Ich weiß nicht“, gab ich wahrheitsgemäß zu. „Oh Gott, sind die anderen in Ordnung? Ich habe ein paar Wölfe liegen sehen…“

„Ganz ruhig, ich weiß es nicht. Komm hoch.“

Sam zog mich auf die Füße und wir gingen – besser gesagt, er ging und ich stolperte zu den anderen.

„Bist du verletzt?“, wiederholte Solos Sams Frage und ich schüttelte den Kopf.

Solos‘ Schnauze war blutverklebt, aber es war nicht sein eigenes. Ich entdeckte Scar, die ebenfalls unverletzt schien und Damin von dessen Zähnen noch das Blut troff.

Dann stieß Osta ein Heulen aus. Sie stand über einem der Wölfe, dessen Namen ich nicht wusste. Es war ihr zweiter Kämpfer. Als ich näher kam, sah ich, dass ein Bär ihn fast komplett in zwei gerissen hatte. Er war tot.

Auch Maur war tot, ein Speer steckte in seiner Seite und ein Kämpfer von Norlos war ebenfalls tot. Mewas linkes Ohr war abgerissen und Toss hinkte. Den anderen ging es gut, doch sie alle waren wie ich fassungslos.

„Drei Wölfe nahm Kristalla heute diesem Land“, verkündete Norlos düster. „Und mit zehn Bären und Reitern hat sie bezahlt. Bei weitem waren das nicht genug. Unsere Kämpfer starben, wie sie gelebt haben und Tod wird nicht um sonst gewesen sein. Denn sie starben, um die Pachanda einen Schritt näher an Kristallas Kehle zu bringen.“

Ich schluckte hart und erwiderte den Blick des Wolfes fest.

Im Osten ging eine rote Sonne auf.

 

Wir verbrannten die Wölfe im Licht des Sonnenaufgangs und ließen die Eisbären einfach liegen.

„Sie sollen wissen, dass die Himmelswächter dieser Welt das getan haben“, knurrte Norlos düster zur Erklärung.

Während wir um das Feuer standen und schweigend den Toten gedachten, atmete ich flach durch den Mund. Ich ertrug den Geruch von verbranntem Fleisch nicht und ich starrte in die Flammen und ließ die Wellen an Gefühlen über mich branden. Das Feuer hatte mir meine Mutter genommen. Und es hatte mich verteidigt, indem es die Eisbären verbrannt hatte. Wie konnte etwas so schönes nur so grausam sein?

Ich stand etwas abseits von den Wölfen, da ich mich nicht zugehörig fühlte und sie nicht stören wollte. Sam trat dicht neben mich.

„Wie hast du das gemacht?“, raunte er mir so leise zu, dass die Wölfe es nicht hören konnten.

„Was?“

„Fell versengt und brennt nicht wie trockenes Laub. Nicht einmal ein Laubfeuer breitet sich so schnell aus.“

„So schnell wie was?“, fragte ich ohne einen blassen Schimmer zu haben, wovon er redete.

Er warf mir einen Blick zu voller Interesse doch auch etwas Misstrauen.

„Hör zu, ich hab keine Ahnung, warum die so stark gebrannt haben! Ich hatte jedenfalls nichts damit zu tun“, wisperte ich und machte einen Schritt von ihm weg, da mir seine Musterung unangenehm wurde.

Bis eben hatte ich nicht darüber nachgedacht, doch jetzt wollte es mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die Eisbären hatten innerhalb von Sekunden lichterloh gebrannt. Feuer breitete sich nicht so schnell aus…

„Westa.“

Norlos Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Die weiße Wölfin beobachtete ihn aufmerksam.

„Geh mit Mewa und Toss zurück zur Festung Bertang und versuche von dort nach Migrass Bericht zu erstatten. Drei Himmelswächter fielen in der vierten Nacht des sechsten Mondes. Und im selben Mond wir auch die Eishexe fallen.“

Die Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken.

Kurz darauf waren die drei Wölfe in Richtung Norden verschwunden und wir jagten durch das Eis in Richtung Küste. Norlos meinte, wir würden noch drei Tage dorthin brauchen und dann mussten wir auch noch ein Schiff finden. So wie ich das verstanden hatte, lag das Klippenmeer auch gar nicht direkt an dieser Küste, sondern erst etwas weiter draußen.

Bisher hatte ich mir auch noch gar keine Gedanken über unsere Mission auf See gemacht. Fürst Bertang hatte gesagt, dass kein Mensch je von den Meermenschen zurückgekehrt war und es war auch nicht gesagt, dass sie Kristalla loswerden wollten. Und wie sollten wir sie überhaupt finden? So wie ich das verstanden hatte, lebten sie unter Wasser und kamen nur nach oben, um Schiffe zu überfallen…

Als die Nacht zu dunkel wurde, um weiter zu reiten, machten wir halt. Da die Anzahl der Wölfe sich halbiert hatte, waren wir jetzt eine viel kleinere Gruppe und ich fand es etwas überschaubarer. Wahrscheinlich fielen mir auch jetzt wieder Ostas und Gryfs misstrauische Blicken auf. Ich ignorierte sie gekonnt und ging zu Eisblitz und Nola, die an vertrocknetem Gras nagten, das an einer geschützten Stelle unter einem Felsbrocken wuchs.

Ich fuhr geistesabwesend durch Eisblitz‘ weiße Mähne, als die gedämpften Stimmen von Sam und Norlos an mein Ohr drangen.

„…einfach zu schnell gebrannt“, sagte Sam gerade.

Ich ahnte sofort worum es ging und spitzte die Ohren.

„Das was du denkst, ist nicht möglich.“

„Irgendetwas Magisches muss sie aber in sich tragen. Sonst hätte sie das Feuer nicht so beeinflussen können.“

Beeinflussen? Wovon redeten die beiden bitte? Und seit wann konnten sie mehr als zwei Worte wechseln, ohne sich anzuknurren?

„Vielleicht kommt es vom Weltenwandeln. Wir wissen nicht viel über das, was sich zwischen den Portalen befindet“, mutmaßte Norlos.

Was Sam als nächstes sagte, trug eine Windböe davon, bevor ich es hören konnte und ich pirschte vorsichtig um den Fels herum. Das verräterische Knirschen des Schnees unter meinen Füßen war aber lauter, als ich gedacht hatte und die Tatsache, dass ich versuchte, mich an zwei ausgebildete Super-Soldaten anzuschleichen, machte es auch nicht besser.

Beiden fuhren herum und entspannten sich erst, als sie wussten, dass ich es war.

„Liah“, stellte Norlos fest.

„Ich habe das Feuer nicht beeinflusst. Ich habe gar nichts gemacht“, sagte ich ohne Umschweife.

„Vielleicht nicht willentlich. Aber wenn du tatsächlich diese Gabe besitzt, musst du lernen, damit umzugehen…“

„Schluss jetzt“, unterbrach Norlos ihn. „Ihr solltet beide schlafen gehen. Morgen wird ein langer Tag.“

Der Wolf ging davon und ich warf Sam einen Blick zu.

„Was hat er denn auf einmal?“

„Ihm widerstrebt wohl der Gedanke, ein Mensch könnte eine Affinität zur Magie haben. Eine solche ist nämlich den Elfen vorbehalten.“

„Ich hab keine… was auch immer zur Magie.“

„Hm.“ Sam musterte mich durchdringend mit seinen dunkelgrünen Augen die im Sternenlicht funkelten. „Ich weiß nicht viel über Magie, aber ich weiß, wie Feuer sich verhält. Und das vorhin war nicht normal.“

Ich fuhr mir mit der Zunge über meine Lippen, die von der Kälte rau und aufgesprungen waren.

„Wäre es denn schlimm?“, fragte ich nervös.

„Das wird sich zeigen.“

 

Die Sonne stand schon tief als ich das Glitzern bemerkte. Vor uns am Horizont erstreckten sich nicht mehr die unendlichen Weiten der Eiswüste, sondern das Meer. Auf die Entfernung war es ganz farblos, voller Myriaden von funkelnden Wellen, die das Licht der Sonne reflektierten. Schon bald entdeckte ich die Möwen, die dort kreisten und dann hörte ich auch ihre krähenden Schreie.

Als wir an der Küste ankamen, machten wir halt und ich stieg ab. Der harte Sand unter meinen Füßen fühlte sich ungewohnt an und ich machte ein paar unsichere Schritte aufs Wasser zu.

Die Sonne war gerade dabei im Meer zu versinken und das feurige Farbenspiel hielt mich gefangen. Der Himmel war leicht bewölkt und die Unterseiten der Wolken waren mit orangen Tupfern besetzt. Das Wasser sah aus, als hätte jemand einen Eimer Farbe darüber ausgeleert und die salzige Brise, die mir um die Nase wehte erinnerte mich an die Wochenendurlaube mit meiner Mutter.

„Es ist wunderschön“, seufzte ich, als ich Sam bemerkte, der neben mir stand.

„Das ist es.“

Wir standen einfach so da, während die Sonne verschwand und sich das grelle Orange in ein sanftes Lila verwandelte.

„Sonnenuntergänge am Meer sind das schönste, was die Welt zu bieten hat“, sagte ich schließlich.

„Wenn in der Wüste die Sonne untergeht, ist es von der einen auf die andere Sekunde kalt und man sieht mehr Sterne als sonst irgendwo, weil es keine Wolken gibt. Nacht und Tag sind dort völlig unterschiedlich“, meinte Sam leise und ich wandte mich zu ihm um.

„Das würde ich zu gerne einmal sehen.“

„Vielleicht wirst du das ja“, murmelte er.

Ich blinzelte und senkte auf einmal ganz verlegen den Blick.

Die Wölfe waren etwas weiter oben am Strand und als wir zu ihnen stießen, fiel mir auf, dass einer fehlte.

„Wo ist Solos?“, fragte ich Scar.

„Wir wissen nicht genau wo an der Küste wir sind. Er sucht nach einem Fischerdorf, um zu erfahren wie weit wir von Erepo, einer Hafenstadt, entfernt sind.“

„Suchen wir uns dort ein Schiff?“

„Wenn alles gut gegangen ist, haben wir dort bereits ein Schiff.“

„Von der Krone?“, mutmaßte ich und Scar machte eine wage Bewegung mit dem Kopf.

„So ungefähr.“

Ich fragte nicht weiter nach und half dabei, Treibholz für ein kleines Feuer zu sammeln, damit die Nacht nicht allzu ungemütlich wurde. Als wir es anzündeten leckten die Flammen in blau über die Scheite und ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Das liegt am Salz“, erklärte Sam mir, als er sich aufgerichtet hatte.

Wir aßen unser getrocknetes, kaltes Fleisch, während ich versuchte, mich an den Geschmack von Erdbeeren mit Schlagsahne zu erinnern. Das Rauschen des Meeres machte mich schläfrig, doch meine Zehenspitzen brannten vor Kälte und hielten mich wach. Ich überlegte, ob sie gerade abfroren und zog meine Beine enger an meinen Körper.

Ein Rascheln im Sand ließ mich zusammenfahren, doch es war nur Solos, der gerade zurückkehrte.

„Erepo ist nicht weit von hier! Wir können es noch heute Nacht erreichen“, eröffnete er uns Sam trat das Feuer aus.

„Nein“, krächzte ich und streckte theatralisch meine Hände nach der erloschenen Wärmequelle aus, doch Sam zog mich nur augenverdrehend hoch.

„Na los, wenn wir dort sind, finden wir bestimmt ein Bett für die Pachanda“, raunte er mir zu.

Es klang so vertraut, dass ich erleichtert lachte und mich auf Eisblitz zog. Der Hengst schnaubte widerwillig, doch er folgte den Wölfen durch den Sand und ich flüsterte ihm heiße Versprechen von möglichem Heu und Stroh zu, sodass er ein hohes Tempo anschlug.

Vor den Stadtmauern von Erepo waren einige Baracken vor denen Obdachlose an Feuern saßen. Norlos wagte es nicht mitten in der Nacht die große Straße zum Stadttor herunter zu gehen – nicht, weil wir uns nicht hätten wehren können, sondern weil er so lang wie möglich unentdeckt bleiben wollte und sofern es möglich war, zu unserem Schiff zu gelangen, ohne unnötige Aufmerksamkeit zu provozieren.

Da die Tore vor Sonnenaufgang aber sowieso nicht geöffnet wurden, konnten wir sowieso nicht in einem Gasthaus übernachten und mein Traum von einem richtigen Bett verpuffte. Allerdings hatte Solos eine Scheune entdeckt, in der keine Penner hausten und wir schafften es unbemerkt dort hinein. Der Wachhund davor wurde nur einmal von Damin angeknurrt und schon verkroch er sich leise winselnd in seine Hütte.

Die Scheune, die zu einem heruntergekommenen Hof an der Stadtmauer gehörte, war wie sich herausstellte eigentlich ein Stall. Einige Schafe dösten in einer Ecke im Stroh und nahmen keine Notiz von uns, als wir uns hinein schlichen. Die Wölfe verkrochen sich in die gegenüberliegende Ecke und ich musterte unglücklich den harten, kalten Boden. Das war zwar nichts anderes als in den letzten Nächten, aber ich hatte immerhin auf einen richtigen Schlafplatz gehofft und hier konnten wir nicht mal Feuer machen.

Sam deutete wortlos auf eine Leiter, die auf einen Heuboden führte und wir sattelten Nola und Eisblitz ab. Die Pferde waren schon lange nicht mehr komplett von ihrer Last befreit worden, da wir sie aus Vorsichtsmaßnahmen meistens aufgezäumt ließen, und sie schienen sich offensichtlich zu freuen. Wir schulterten unsere Sättel und stiegen auf den Heuboden, wo wir es uns über den Schafen bequem machten. Hier war es etwas wärmer, da die Körperwärme der Tiere zu uns aufstieg und ich schlüpfte aus meiner Jacke, um sie als Decke zu nehmen. Als Kopfkissen nahm ich meinen Sattel und in all dem Heu hatte ich es schon fast gemütlich, wenn nicht meine Beine so gebrannt hätten. Die Innenseiten meiner Oberschenkel waren von der ungewohnten Reibung durch das ständige Reiten rau und aufgeschrammt. Ich hatte mir das Ganze noch nicht angeschaut, da ich meine Hose sowieso nur zum aufs Klo gehen herunterließ, und ich wollte auch gar nicht wissen, wie schlimm es war. Aber durch die Spannung beim Klettern auf der Leiter, musste die Haut an ein paar Stellen aufgerissen sein und als ich vorsichtig über die brennenden Stellen fuhr, spürte ich, dass ich blutete.

„Was ist?“, fragte Sam leise, der neben mir lag.

„Nichts, nur meine Beine…“, murmelte ich.

„Hm. Zieh die Hose aus.“

Ich drehte fassungslos den Kopf zu ihm.

„Wie bitte?“, hauchte ich geschockt und er verdrehte die Augen.

„Du saßt über eine Woche fast nur auf dem Pferd und du bist es nicht gewöhnt. Wenn du keine Salbe auf die Wunden gibst, wird es sich womöglich entzünden.“

„Ach so“, sagte ich und wurde rot, konnte es mir aber nicht verkneifen, meinen nächsten Gedanken auszusprechen: „Irgendwie hatte ich gehofft, dass der erste Kerl, der das zu mir sagt, Hintergedanken hat.“

„Liah.“

„‘tschuldigung“, grinste ich belustigt und doch mit glühenden Wangen und hob meinen Hintern an, um die Hose abzustreifen.

Sam, der wohl durch nichts seine Ehre in Frage stellen ließ, sah mich nicht mal richtig an und holte aus einer Satteltasche eine kleine Dose. Er reichte sie mir und ich schraubte sie vorsichtig auf.

Jetzt musste ich wohl einen Blick auf meine Beine werfen. Wie erwartet sah es um einiges schlimmer aus, als es sich anfühlte. Die Haut an der Innenseite meiner Schenkel war gerötet und hing an manchen Stellen nur noch in Fetzen. Hier und da war sie schon verschorft, an anderen Stellen quollen noch kleine Blutstropfen aus der geschundenen Haut.

„Oh Gott. Und das alles kommt nur vom Reiten“, flüsterte ich angeekelt und versuchte vorsichtig die Salbe aufzutragen, doch ich stellte mich ziemlich ungeschickt an und verursachte nur noch mehr Schmerzen.

„Na gib schon her“, murmelte Sam schließlich und nahm mir die Dose aus der Hand.

Verlegen öffnete ich meine Beine, um ihm Zugang zu gewähren und wäre am liebsten im Boden versunken. Da saß ich im nicht nur sprichwörtlichen Heuhaufen mit unrasierten Beinen und einer Unterhose, die ich seit Tagen nicht mehr hatte wechseln können, und das auch noch mit einem ziemlich attraktiven Mann. Der viel älter war als ich und an dem ich selbstverständlich kein sexuelles Interesse hatte, aber es war trotzdem peinlich.

Als Sams Finger meine Haut berührten, breitete sich eine Gänsehaut über meinem ganzen Körper aus. Bei ihm tat es überhaupt nicht weh und die Salbe wirkte wohltuend und kühlend. Ich schloss meine Augen, als seine Finger weiter nach oben strichen. Das konnte ich einfach nicht mit ansehen. Mein ganzer Körper spielte verrückt, nur wegen diesen wenigen, sanften Berührungen.

Schließlich musste ich die Augen aber doch wieder öffnen, denn ich spürte Sams Blick auf mir. Seine Hand lag auf der Innenseite meines Oberschenkels und er sah mich mit einem dunkel, unruhigen Blick an, als wüsste er selbst nicht, was er als nächstes tun würde.

„Du kannst die Hose dann wieder anziehen“, murmelte er mit rauer Stimme und zog sich zurück.

Ich war nicht fähig zu sprechen und mein Herz schlug auch noch Minuten später hart gegen meine Rippen, als ich mit dem Rücken zu ihm mit geschlossenen Augen da lag und versuchte zu verstehen, was zur Hölle grade passiert war.

12. Kapitel

 

Ich hatte verwirrende Träume und als ich am Morgen schweißgebadet aufwachte, war mein Mund ausgetrocknet und meine Gedanken durcheinander.

Mein Blick fiel auf Sam, der die Augen halb geöffnet hatte und so aussah, als wäre er auch eben erst aufgewacht. Als er merkte, dass ich mich bewegte, sah er auf und ich wandte schnell den Blick ab.

Er sagte nichts und wir stiegen schweigend mit unseren Sachen nach unten, wo die Wölfe bereits warteten. Wir sattelten die Pferde und verließen die Scheune. Sam, Damin, Norlos und ich sollten über die Straße die Stadt betreten, während die anderen Wölfe auf anderem Wege nach drinnen gelangen wollten. Wir wollten uns in einem Etablissement am Pier treffen, wo anscheinend unser Kapitän zu finden war.

Die Bettler, die jeden bestürmten, der sich in ihre Nähe wagte, verschonten auch uns nicht und ich hätte ihnen gern etwas Geld gegeben, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, sie würden mir den ganzen Geldbeutel aus der Hand reißen, wenn ich ihn hervor holte.

Die Zöllner am Tor musterten uns misstrauisch und rümpften die Nase bei unserem Anblick, doch ich konnte es ihnen nicht verdecken. Wir hatten uns seit Tagen nicht gewaschen und starrten beinahe vor Dreck. Zwar unterschieden wir uns so nicht von den meisten anderen Reisenden, allerdings hatten wir bessere Pferde und zwei – in ihren Augen – wilde Hunde bei uns.

„Habt ihr Güter, die ihr vorhabt zu verkaufen?“, schnauzte der eine Sam gelangweilt an, während der andere mich unverhohlen angaffte.

„Nein“, erwiderte er ruhig.

„Führt ihr Wertgegenstände mit euch?“

Er schien eine Liste im Geiste durchzugehen und während Sam erneut verneinte, starrte ich verbissen den Gaffer an und fragte mich, was zur Hölle er von mir wollte.

„Tragt ihr Waffen?“

Sam zögerte nur eine Sekunde und deutete dann langsam auf den Bogen über seiner Schulter.

„In diesen Zeiten kann man nie wissen.“

„Erzähl mir nichts von diesen Zeiten, Junge! Ich hab im Krieg gekämpft, als du noch in den Windel lagst, du Hund“, raunzte er.

Wenn ich an Sams Stelle gewesen wäre, hätte ich ihm über den Mund gefahren, immerhin war Sam ein erfahrener Soldat mit einer echten Position, soweit ich wusste, doch er blieb völlig entspannt.

„Sicher.“

Der Zöllner schien ihn erneut anschreien zu wollen, doch der Karrenfahrer hinter uns gab jetzt Lautstark seine Ungeduld zum Ausdruck und wir wurden durchgewinkt.

„Kann es sein, dass der eine Verdacht geschöpft hat?“, raunte ich Sam zu, als wir das Tor passiert hatten.

„Warum?“

„Weil er mich die ganze Zeit angestarrt hat.“

Sam warf mir einen abschätzenden Blick zu und meinte: „Du wirst dich bald auf engstem Raum mit einem Haufen Matrosen befinden. Vielleicht solltest du daran gewöhnen, angestarrt zu werden.“

Darauf sagte ich nichts. Mit aufdringlichen Kerlen konnte ich umgehen. Immerhin war ich auf den Straßen Londons aufgewachsen. Das Meer machte mir viel mehr Angst.

Erepos Straßen waren mit groben Steinen gepflastert, auf denen die Karren und Pferdehufe laut klapperten. Es herrschte ein reges Treiben, überall waren Bauern und Händler, Straßenkinder und ich entdeckte auch einen Taschendieb, der geschickt eine Rübe aus dem Korb einer Frau entwendete.

Die Häuser waren aus Sandstein, dem die raue Seeluft schon stark zugesetzt hatte und überall roch es nach Salz und Fisch. Wir hielten uns von den schmutzigeren Gassen fern, die die reinsten Kloaken zu sein schienen. Am klaren Himmel kreisten Möwen, deren Gekreische mir in den Ohren klingelte.

Wir kamen über einen Fischmarkt, auf dem Marktschreier ihre Waren anpriesen und es nur so von Kaufleuten wimmelte. Gierig sog ich den Anblick in mich auf und wollte so viel mitnehmen wie möglich, doch wir waren schon bald vorbei und schlängelten uns eine Straße zum Pier hinunter.

Für Passanten mochte es so ausgesehen haben, als würden die Wölfe vor uns her laufen, tatsächlich liefen wir ihnen hinterher. Norlos bewegte sich zielsicher durch die Massen und auf den Pferden war es schwierig im Getümmel mitzuhalten.

Im Hafen lagen bestimmt fünfzig Schiffe. Erstaunt musterte ich die hohen Masten und Krähennester, denen ich lieber nicht zu nahe kommen wollte, und die Matrosen und Hafenarbeiter, die die Ladung hin und her schleppten. Es herrschte ein reges Treiben und wir wurden gar nicht beachtet, als wir Nola und Eisblitz vor einer heruntergekommenen Spelunke anbanden und nach den Wölfen eintraten.

Das Licht war gedimmt und die Luft stickig. Es roch nach abgestandenem Bier und Schweiß und hier und da saßen Männer, die schon am frühen Morgen ihren Sold vertranken.

Die Wölfe hatten kein Wort über Namen und Aussehen unseres Kapitäns verloren und ich wusste nicht, wie wir ihn finden sollten, als der Wirt uns bereits ins Hinterzimmer winkte.

„Wir hatten Euch erst morgen erwartet“, sprach er Norlos direkt an, sobald er die Tür geschlossen hatte.

„Wir haben es eilig. Schickt nach dem Kapitän, damit wir mit ihm sprechen können.“

„Sicher, Norlos.“

Der Wirt, ein hagerer, riesiger Mann mit grauem Ziegenbart, warf Sam und mir einen Blick zu und dieser blieb an dem Krieger hängen.

„Dann seid Ihr also…“

Er unterbrach sich selbst und warf einen hektischen Blick zur Tür.

„Dann seid Ihr also der Auserwählte?“

„Der Kapitän, Gorther“, erinnerte Damin ihn, bevor ich den Mund öffnen konnte.

„Sicher, sicher“, murmelte der Mann und verneigte sich zweimal, während er aus dem Raum hastete.

Ich warf dem Wolf einen fragenden Blick zu und er sagte: „Es sollte so wenig wie möglich über deine Identität bekannt sein. Wenn die Eishexe nicht weiß, wonach sie suchen muss, haben wir bessere Chancen.“

Ich nickte verständnisvoll und setzte mich an den Tisch. Mir wurde mulmig bei dem Gedanken an die Seefahrt ins Ungewisse und gerade als ich den eigentlichen Plan in Erfahrung bringen wollte, kam eine junge Kellnerin, die nicht älter als ich sein konnte, herein und brachte uns Nascht und etwas zu trinken. Dankbar begann ich den Brei in mich hineinzustopfen. Seit Tagen hatte ich nur trockenes, kaltes Fleisch gehabt und der leicht würzige Reisbrei kam mir vor wie ein Festmahl.

Als ich bei der Hälfte der Schüssel angekommen war, öffnete die Tür sich erneut. Sam, der seinen Bogen an die Wand gelehnt hatte und neben mir saß, richtete sich auf und auch die Wölfe drehten sich dem Mann zu, der eintrat.

Seine Haut war schwarz wie Kohle und seine dunklen Iriden leuchteten wachsam im hellen Weiß seiner Augäpfel. Er trug ein grünes Stirnband, um sich das verfilzte schwarze Haar aus dem Gesicht zu halten, doch einige widerspenstige Locken hatten sich gelöst und fielen ihm in die Stirn. Er hatte volle, große Lippen und an seinem linken Ohrläppchen hing ein dünner, goldener Ring. Seine restliche Kleidung bestand aus einem weiten, zerschlissenen Seemannshemd, über dem er einen langen, schwarzen Mantel trug, der bis zum Boden reichte, und einer Pumphose, deren Farbe unmöglich zu bestimmen war. Die Absätze seiner derben Stiefel klapperten auf dem harten Boden und unter seinem Mantel sah ich das Heft eines Degens blitzen.

„Kapitän M’balla mein Name“, stellte er sich mit starkem Akzent vor und machte eine halbe Verbeugung in Richtung von Norlos und Damin. „Kapitän der Windrose, dem besten Schiff, dass Ihr in diesen Meeren finden werdet mit der mutigsten Mannschaft – womit kann ich der Krone dienen?“

„Ein Schmuggler“, knurrte Damin und der Kapitän richtete sich wieder auf.

„Ein Söldner, der sich nur von den richtigen Leuten bezahlen lässt“, verbessere M’balla ihn galant.

Wenn Norlos Augenbrauen gehabt hätte, dann hätte er sie jetzt sicher gehoben, so viel war sicher.

„Warum hat Gorther gerade Euch ausgewählt?“

Der Kapitän lächelte breit und entblößte dabei die wenigen Zähne, die er noch hatte.

„Weil kein anderer das wagen würde, was Ihr vorhabt. Das Klippenmeer ist kein guter Ort für Seefahrer.“

„Und warum wagt Ihr es?“

„Ich“, sagte er, wobei er sich erneut aufwändig verbeugte. „bin meiner Königin treu ergeben und würde für sie sterben! Außerdem…“

„… ist die Bezahlung höher als Ihr es Euch erträumen könnt“, beendete Damin düster seinen Satz und M’balla zeigte erneut sein verschlagenes Lächeln.

„Und ich bin gut im Träumen, das dürft Ihr mir glauben.“

Ich unterdrückte ein Kichern und löffelte weiter meinen Nascht. Dieser Mann war mir sympathisch.

„Nun, was ist meine Fracht und wohin geht sie genau?“, fragte M’balla und setzte sich breitbeinig auf einen Stuhl an den Tisch.

„Eure Fracht sind wir, Kapitän, und unser Ziel liegt in der Mitte des Klippenmeeres.“

„Ihr wollt nicht nur in die Höhle des Löwen, Ihr wollt dem Löwen selbst begegnen?“, fragte M’balla und seine Augen waren so weit aufgerissen, dass ich kurz dachte, sie würden gleich herausfallen und über den Tisch kullern.

Niemand sagte etwas und M’balla kratzte sich mit zwei Fingern unter seinem Stirnband. Dann fand sein Blick zum ersten Mal Sam und mich.

„Und eine Frau wollte Ihr auch noch mitnehmen, eh? Wisst Ihr nicht, dass eine Frau an Bord Unglück bringt?“

„Ihr bringt uns dort hin und Ihr bringt uns wieder zurück. Euer Lohn wird stattlich sein“, sagte Norlos bestimmt.

„Darf ich fragen, wozu wir das Risiko unserer Reise auf uns nehmen?“, hakte M’balla nach und strich sich über seinen kurzen, krausen Bart.

„Wir brauchen einen Dolch aus den Schmieden von Mjendra, um ihn in das verdorbene Herz der Eishexe zu stoßen.“

M’ballas Ausdruck wurde grimmig und er stand entschlossen auf.

„Dann zählt auf uns. Wir werden Euch an Euer Ziel bringen“, knurrte er düster und all seine Gelassenheit war wie weggewischt.

Vor der Tür drehte er sich noch einmal um.

„Ich erwarte Euch bei Einbruch der Dunkelheit am Dock.“

Und damit verließ er das Zimmer.

 

Zur Mittagsstunde trafen wir das restliche Rudel in einer dunklen, stinkenden Sackgasse. Ich hatte all meine Kraft zusammen nehmen müssen, um meinen stolzen Hengst in dieses Loch zu manövrieren, doch schließlich war er mir gefolgt. Nola schien da keine Scheu zu haben, gelangweilt stand sie da und hielt ihren vertrauensvollen Blick auf Sam gerichtet.

Erst jetzt ging mir auf, dass nicht alle Wölfe mitkommen würden und auch die Pferde auf dem Schiff nicht viel verloren hatten. Traurig strich ich durch Eisblitz weiße Mähne. In der kurzen Zeit, in der ich ihn erst hatte, war er mir richtig ans Herz gewachsen.

Als Norlos den Wölfen von unserem Kapitän berichtet, schnaubte Osta abfällig und legte die Ohren an.

„Wie können wir auf einen Verbrecher vertrauen? Warum sollte er die Königin verteidigen, die ihn einsperren würde, wenn sie ihn bei seinen Alltagsaktivitäten erwischen würde?“, fragte sie wütend.

„Er hasst Kristalla“, sagte ich ruhig und dachte an den Blick von Kapitän M’balla, als er das Ziel unserer Mission erfahren hatten.

„Wer wird mit auf das Schiff gehen?“, fragte Scar, bevor Osta etwas erwidern konnte.

„Ich, Damin und Solos werden mit Liah und Sam segeln. Ihr anderen umgeht das Klippenmeer an der Küste entlang und wartet unterhalb des Mirakurgebirges auf uns. Wir treffen uns in der Mondbucht zwischen Bast und Luna“, erklärte Norlos und die Wölfe, die mit diesen Angaben offensichtlich mehr anfangen konnten als ich, nickten zustimmend.

„Wenn alles gut geht, sehen wir uns in zwölf Tagen wieder.“

Als Osta mit Gryf an ihrer Seite an mir vorbei ging, sah sie zu mir auf und der Ausdruck in ihren Augen machte mir nicht unbedingt Mut. Ich verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch. Vierzehn Tage auf hoher See, mit nichts als Wasser in jeder Richtung…

Ich sah Scar und Solos, wie sie sich verabschiedeten, die Köpfe aneinander gelehnt, die Augen geschlossen. Plötzlich wurde mir klar, dass die beiden sich vielleicht nie wiedersehen würden, wenn etwas schiefging.

Sams Gesicht war eine undeutbare Maske wie immer. Wir hatten kaum ein Wort gewechselt seit gestern Abend und ich wurde schon allein von dem Gedanken daran rot, doch ich schob ihn beiseite. Wir würden die nächsten zwei Wochen auf engstem Raum miteinander verbringen, da war kein Platz für Spannungen.

„Was wird aus den Pferden?“, fragte ich ihn leise und er hob den Blick.

„Wir nehmen sie mit“, antwortete Scar für ihn, da sie die Frage gehört hatte.

Sam schien der Gedanke, sein Pferd an die Wölfe zu übergeben, nicht zu behagen und wenn ich ehrlich war, ging es mir nicht anders, aber Scar versicherte mir, dass sie gut auf sie achtgeben würden.

Wir sattelten sie ab und nachdem ich Eisblitz einen Kuss auf das weiche Maul gegeben hatten, trottete er neben Nola unbeeindruckt der braunen Wölfin hinterher.

„Und was machen wir jetzt bis heute Abend?“, fragte ich in die geschrumpfte Runde, sobald ich den schweren Sattel geschultert hatte.

„Wir gehen zurück in Gorthers Spelunke und verhalten uns unauffällig“, brummte Norlos und ich runzelte enttäuscht die Stirn.

Ich hätte mir gern die Stadt angesehen. Das einzige Mal, als ich zu so etwas die Gelegenheit gehabt hatte, war in Thal gewesen. Während wir zurück zum Pier gingen reckte ich den Kopf und nahm so viel in mich auf wie möglich. Über den Dächern konnte ich die Kuppel einer kleinen Kathedrale erkennen und auf der anderen Seite des Fischmarktes hatte ich große, schöne Häuser gesehen. Wie es aussah war durch den Krieg nämlich nicht die gesamte Bevölkerung verarmt, einige reiche Kaufleute hatten schöne Anwesen in der Hafenstadt und die ich zu gern einmal genauer angesehen hätte.

Gorther quartierte uns für den Nachmittag in seinen Gästezimmern ein und zum ersten Mal seit einiger Zeit war ich wieder allein. Ich hatte mir von Gorthers Tochter, die hier kellnerte, eine Schüssel Wasser und einen Kamm bringen lassen und jetzt wusch ich mich und versuchte meine Haare in Ordnung zu bringen. Sie waren mit der Zeit kräftiger geworden und als ich die verfilzten Nester entwirrt hatte, glänzten sie in rotblonden Wellen. Dennoch flocht ich sie wieder ein, damit sie durch die ungewöhnliche Farbe nicht auffielen.

Als ich fertig war, ging ich gelangweilt in dem schlichten Zimmer auf und ab und warf immer wieder Blicke aus dem Fenster. Es waren noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung und ich war es nicht mehr gewohnt, unbeschäftigt zu sein. Außerdem schienen die Dächer von Erepo regelrecht nach mir zu rufen und schließlich fasste ich einen Entschluss. Die Wölfe beratschlagten sicher irgendwelche strenggeheimen Pläne und Sam schien sich in seinem Zimmer auch nicht zu rühren. Wenn ich nur ganz kurz ging, dann würden sie es gar nicht bemerken! Und außerdem wussten Kristalla und ihre Späher ja nicht wie ich aussah, also bestand überhaupt keine Gefahr.

Von der Neugierde und meinem Unternehmungsgeist gepackt, schlüpfte ich in meine Felljacke und verließ die Spelunke unauffällig.

Draußen wehte mir die kalte Meeresluft um die Nase und ich konnte nicht anders als zu grinsen. Hier in der Stadt fühlte ich mich viel unbeschwerter, als während dem langen Ritt durchs Nirgendwo. Ich schlenderte über den Fischmarkt und besah neugierig die Auslagen, bis mich ein junger Verkäufer zu sich her winkte.

„Sucht die junge Dame etwas Besonderes? Ich habe die besten Fische in ganz Erepo! Die feinsten, die erlesensten…“

„Ich mag eigentlich keinen Fisch. Ich wollte mich nur umsehen“, erklärte ich.

„Sie mag keinen Fisch, sagt sie“, lachte er übertrieben. „Koste nur einmal von dieser Scholle und du wirst Fisch lieben!“

Bevor ich mich wehren konnte, hatte er flink etwas von dem weißen Fischfleisch mit Zitronensaft beträufelt und es mir in den Mund gesteckt.

„Das ist ja wirklich gut“, sagte ich erstaunt.

Der Fisch schmeckte frisch, nach Meer und Salz, und nachdem ich tagelang fast nur getrocknetes Fleisch gegessen hatte, kam er mir wirklich wie eine Delikatesse vor.

„Hier, willst du ihn kaufen? Ich mache einen guten Preis, den besten Preis!“

Lachend winkte ich ab und ging schnell weiter.

Schon bald ließ ich den Markt hinter mir betrat das wohlhabendere Viertel der Stadt. Auch hier waren an den Straßenrändern Verkäufer, die ihre Waren anpriesen. Stoffe aus Metassi, Schmuck aus Migrass und allerlei anderes mit dem ich nichts anfangen konnte. Stattdessen bestaunte ich lieber die kunstvollen Bauten zu meinen Seiten und spähte in die Innenhöfe, in denen Skulpturen standen, wann immer ich konnte.

Ich kam auf einen großen Platz auf dem ein großes prunkvolles Gebäude stand und ich brauchte nicht lang, um zu verstehen, dass hier der Stadtverwalter lebte. Die Tore des Hauses wurden von Männern in Rüstungen bewacht, die ich auch schon an anderen Ecken hatte patrouillieren sehen, nur dass ein jeder von diesen hier eine Fahne in der Hand trug. Die eine Fahne war von einem tiefen Hellblau und auf ihr war der weiße, vierzackige Stern der Priester abgebildet, über dessen obere Spitze eine goldene Krone gestickt war. Es musste das Wappen des Königshauses sein.

Auf der anderen Fahne war ein Wappen abgebildet, aber dem eine fliegende Möwe zu sehen war und ich überlegte, ob es ein Stadtwappen war, oder ob der Verwalter ein Adliger war und es sein Familienwappen war.

Gab es hier überhaupt menschliche Adlige, wenn nur Elfen regierten? Oder saß dort drin ein Elf? Ich ging näher an das Gebäude heran und beobachtete die Balkone. Zu gern hätte ich einen Elf gesehen oder sonst irgendeinen der nicht menschlichen Bewohner dieses Landes. Es konnte nicht viele von ihnen geben, denn bisher war ich nur Menschen begegnet. Und sprechenden Wölfen.

Dann fiel mir Sam ein, der ein Halb-Meermensch war, und ich erinnerte mich, wie fremdartig er mir anfangs vorgekommen war. Mittlerweile hatte ich mich so daran gewöhnt, dass mich sogar seine Augen kaum noch verwirrten.

Als ich die Glocken der fernen Kathedrale schlagen hörte, merkte ich, wie lange ich schon draußen war. Die Sonne stand bereits tief über den Dächern und ich musste zurück zu Gorthers Spelunke, bevor meine Abwesenheit auffiel.

Als ich mich umdrehte wusste ich nicht mehr über welche Straße ich hier her gekommen war, aber da ich nur irgendwie zum Pier zurückfinden musste, nahm ich einfach die nächstbeste die abwärts führte. Schon bald wurde mir klar, dass das nicht der Weg war, den ich herauf gekommen war. Das Pflaster der Straße war aufgerissen und die Häuser verdreckt und baufällig. Die Gassen wurden immer enger und dunkler und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt in die richtige Richtung ging. Je weiter ich mich in das Gassengeflecht vorwagte, umso weniger Leute begegneten mir. Plötzlich schlug mir ein übler Gestank in die Nase und ich presste die Hand auf den Mund, um mich nicht zu übergeben. Schnell wurde mir klar, dass hier Leder gegerbt wurde und ich drehte um und nahm schleunigst eine andere Straße.

Nach einigen Minuten hatte ich mich endgültig hoffnungslos verirrt. Ich wurde langsamer und versuchte das Rauschen des Meeres am Hafen auszumachen, doch alles was ich hörte, war das Keifen zweier Hunde, die sich um einen Knochen balgten. Ich sah die hohen Häuserwände hinauf, von denen der Putz bröckelte und fühlte mich durch die unverglasten dunklen Fenster beobachtet. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mich allein nach draußen zu wagen. Ich traute mich nicht, stehen zu bleiben und das Echo meiner Schritte ließ mich ständig herumfahren, weil ich dachte, jemand wäre hinter mir.

Ich kam an einem Haus vorbei, dessen geöffnete Türen in einen Gewölbekeller führten, aus dem Lärm und das unnatürliche, hohe Kichern von Frauen drang. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe und ich ging schnell weiter, wobei ich mit einem Mann zusammen prallte. Er lief leicht gebückt und hatte strähniges schwarzes Haar.

„Entschuldigung“, murmelte ich und wollte zurückweichen, doch er packte mich an den Oberarmen und starrte mich mit offenem Mund an, wobei ich sehen konnte, dass ihm einige Zähne fehlten.

„Entschuldigung“, widerholte ich nervös, doch der Mann stammelte nur etwas Unverständliches und zerrte an meinen Armen.

Ich riss mich verstört los und ging hastig weiter. Mittlerweile hatte die Dämmerung begonnen und ich wurde verzweifelt. Jedes Haus sah gleich aus und ich hatte das Gefühl ich würde im Kreis gehen. Ich hatte keine Ahnung wo ich hier war und wie zur Hölle ich hier raus finden sollte. Ich konnte niemanden fragen, denn den wenigen, denen ich hier begegnete, traute ich wirklich nicht über den Weg. Dennoch erlaubte ich mir nicht in Panik auszubrechen. Irgendwie würde ich zum Hafen kommen. Ich war in einer Großstadt aufgewachsen, es wäre doch gelacht, wenn ich nicht aus diesem Schlammloch herausfinden würde.

Ich bog um eine Ecke und stand plötzlich wieder vor dem Gewölbekeller von vorhin. Mittlerweile standen hier mehr Männer herum und ich entdeckte den Kerl von vorhin wieder, der aufgeregt auf einen, in einen grauen Umhang gehüllten Mann einredete. Er entdeckte mich und deutete hektisch in meine Richtung. Der andere hob den Kopf und sah in meine Richtung.

Mir wurde eiskalt. Von der einen Sekunde auf die andere wusste ich: sie wussten, wer ich war.

Der Mann im Umhang kam schnell auf mich zu und ich wirbelte herum und rannte so schnell ich konnte los. Ich hörte, dass er hinter mir war und raste um Ecken, bog in übelriechende Gassen ein, immer weiter und weiter, ich konnte schon eine große, helle Straße sehen, auf der Menschen waren, viele Menschen…

Ich stolperte und fiel hin. Noch bevor ich mich aufrappeln konnte, hatte der Mann mich am Kragen gepackt und auf die Beine gezerrt.

„Du rennst schnell“, keuchte er mir ins Ohr. „Aber nicht schnell genug.“

Ich holte aus und rammte ihm meinen Ellenbogen in den Magen.

Der Mann stöhnte auf und taumelte zurück, sodass ich Zeit hatte mich umzudrehen, doch er hatte sich schnell wieder im Griff und warf mich gegen eine Hauswand.

„Du machst deinem Namen ja alle Ehre, Feuerdame“, knurrte er und legte eine Hand um meinen Hals.

Würgend starrte ich in seine kalten, schwarzen Augen und versuchte nach ihm zu treten, kam aber nicht frei.

„Die Eisige wird sich freuen, oh ja“, lachte er außer Atem und versuchte mit seiner freien Hand an etwas in seiner Umhangtasche zu kommen. „Du hast ja gar keine Ahnung, wie viel sie auf deinen hübschen roten Kopf ausgesetzt hat.“

Ich schnappte nach Luft, doch nichts kam in meinen Lungen an. Mir wurde schwindelig. Ich versuchte mit der Hand meinen Schuh zu erreichen und meine Finger streiften das Heft des Dolches, den ich dort verborgen hatte, doch ich bekam ihn nicht zu fassen.

Der Mann setzte an, um noch etwas zu sagen, doch da wurde er zurück gerissen. Keuchend stolperte ich von der Wand weg und sah, wie Sam zwischen uns trat. Der Fremde knurrte wütend und stürzte sich auf ihn, doch Sam wich aus und verpasste ihm einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht. Der Mann spuckte Blut und einen Zahn aus.

„Sie gehört mir! Ich hab sie gefangen!“, rief er wütend und zog einen krummen Dolch hervor.

Dann stürmte er auf Sam zu, doch der wich wieder aus und schleuderte den Mann zu Boden, wo er liegen blieb und sich nicht mehr rührte.

Sam trat mit der Fußspitze nach ihm und er rollte herum. Mir entfuhr ein entsetzter Schrei, als ich sah, dass sein eigenes Messer ihm den Bauch auf gerissen hatte und in seinen blutigen Eingeweiden steckte.

Sam packte mich.

„Bist du verletzt?“

„Nein“, stammelte ich heiser und sah ihn an.

Erst jetzt merkte ich wie wütend er war.

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, knurrte er und zog mich mit sich, weg von dem Toten.

„Können… können wir ihn denn einfach so liegen lassen?“, fragte ich und wischte mir die Tränen von den Wangen, die ohne meine Erlaubnis aus meinen Augen drängten.

Sam gab keine Antwort und manövrierte mich weiter durch eine Straße. Langsam gewann ich meine Fassung zurück.

„Wie hast du mich gefunden?“

„Indem ich gesucht habe“, knurrte Sam. „Ich fasse es nicht, dass du einfach so gegangen bist.“

Auf einmal waren wir am Pier und Gorthers Kneipe kam in Sicht.

„Ich wollte nur die Stadt anschauen“, verteidigte ich mich kleinlaut. „Ich wusste, dass ihr das nicht erlaubt, deshalb… Ich hab doch aber auch nicht geplant, mich zu verirren! Und wie konnten die mich überhaupt erkennen?“

„Ich weiß es nicht“, gab Sam zu. „Irgendjemand muss uns verraten haben.“

Mittlerweile hatten wir die Spelunke erreicht und Sam brachte mich sofort ins Hinterzimmer, wo die Wölfe schon warteten.

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, kam es mir von allen drei Wölfen entgegen und ich senkte schuldbewusst den Blick.

„Ein Mann hat sie erkannt und angegriffen. Kristalla muss wissen, wie sie aussieht“, informierte Sam sie und augenblicklich wurde es ruhig.

„Wie kann das sein?“, fragte Norlos gefährlich ruhig.

„Es muss ein Ritter gewesen sein“, sagte ich. „Niemand sonst, dem wir begegnet sind, wusste es.“

„Nein, die Ritter würden niemals ihren Eid brechen“, sagte Solos kopfschüttelnd.

„Aber wer kann es dann gewesen sein?“, überlegte ich laut. „Gorther?“

„Nein, wir hatten ihn die ganze Zeit im Auge“, murmelte Damin und stockte plötzlich. „Es gibt noch jemanden! Ein paar andere Personen wissen noch, wer du bist.“

„Wer?“, fragte ich verwirrt.

„Die Bauern. Akko und Herna und ihre Kinder.“

Mir fiel die Kinnlade herunter. Diese lieben Menschen sollten mich verraten haben? Das konnte ich einfach nicht glauben.

„Aber ihr Ziehsohn ist bei den Rittern… Warum sollten sie so etwas tun?“, fragte Solos.

„Sie werden es nicht freiwillig verraten haben“, sagte Norlos düster.

Mein Herz zog sich zusammen. Diese armen unschuldigen Menschen waren meinetwegen gefoltert worden? Wenn nicht sogar schlimmeres…

„Wie dem auch sei. Wir müssen sofort weg. Ich werde noch eine Nachricht an den Rat der Königin verfassen, dann gehen wir sofort zum Treffpunkt. Wir dürfen keine Zeit verlieren!“

13. Kapitel

 

Sam und ich holten unsere Sachen von oben, dann machten wir uns alle auf den Weg.

Draußen war es inzwischen dunkel, doch es waren immer noch viele Menschen unterwegs. Wir liefen an vielen Schiffen vorbei, die im dunklen Meerwasser schaukelten und ich fragte mich, wann wir endlich da sein würde, da machte der Pier einen Knick und wir kamen am Ende der Anlegestelle an.

„Was…“, setzte ich an, doch da trat Kapitän M’balla aus dem Schatten.

„Schnell, Kapitän. Wir haben es eilig“, sagte Norlos und übersprang damit die Begrüßung.

Der Kapitän führte uns zu einem kleinen Ruderboot und ich runzelte die Stirn.

„Das ist aber kein Schiff“, murmelte ich, als wir uns alle in die Nussschale zwängten.

Der Kapitän lachte leise und schüttelte den Kopf.

„Oh nein, die Windrose liegt draußen auf dem Wasser. Wir müssen zu ihr hinausrudern.“

„Aber warum fahrt ihr denn nicht in den Hafen rein?“, wollte ich verwirrt wissen und setzte mich ihm und Sam gegenüber, die sich an die Paddel gesetzt hatten.

„Nun sagen wir… Wir wollen jeglichem Konflikt aus dem Wege gehen“, meinte M’balla und seine weißen Zähne glitzerten in der Dunkelheit als er lächelten.

Damin schnaubte leise, hielt sich aber zurück.

Das kleine Boot schaukelte sanft auf den leichten Wellen und ich klammerte mich an der Bank unter mir fest. Wenn es eines gab, dass ich noch weniger leiden konnte als Höhen, dann war es offenes Wasser. Mein Magen verkrampfte sich und ich schloss die Augen und versuchte nicht auf das Glucksen des Wassers am Kiel zu achten.

Ich wusste nicht, wie lang unsere kleine Fahrt dauerte, aber schließlich hielten wir an und als ich die Augen öffnete, sah ich direkt vor mir das Schiff. Es hatte eine niedrige Reling, zwei hohe Masten mit eingeholten Segeln und einen langen, spitzen Bug.

Eine Strickleiter wurde zu uns herunter gelassen und ich sah die Wölfe etwas ratlos an, doch Solos machte einfach einen Satz und sprang nach oben, wo er sich zwischen den Geländerstäben der Reling hindurchzwängte und aus meinem Blickfeld verschwand. Damin und Norlos folgten und ich wandte mich den beiden Männern vor mir zu.

„Nach Euch“, sagte M’balla zwinkernd und Sam erhob sich.

Er sah immer noch nicht sonderlich gut gestimmt aus und stieg die Strickleiter energisch hoch, seinen Sattel über der Schulter.

Unsicher stand ich auf und versuchte nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, während ich zur Strickleiter hin watschelte. Ich wollte nach meinem Sattel greifen, doch M’balla winkte ab.

„Den übernehme ich“, sagte er und deutete sitzend eine Verbeugung an.

„Danke“, murmelte ich und griff nach der Leiter.

Vorsichtig zog ich mich daran hoch und dankte dem Himmel dafür, dass das hier kein drei Meter hohes Segelschiff war. Als ich oben war, reichte Sam mir seine Hand und zog mich hoch, als würde ich kaum ein Kilo wiegen. Ich stolperte gegen ihn und er fing mich kommentarlos auf.

Kapitän M’balla war währenddessen auch an Deck angekommen und erst jetzt fielen mir die Männer auf, die im Halbkreis um uns herum standen und uns beobachteten.

Sie alle waren so schwarz wie ihr Kapitän und ähnlich gekleidet. Sie musterten uns wie Eindringliche und ich fühlte mich unwohl. Das hier waren nicht unbedingt die freundlichsten Gesellen… Narben zogen sich über ihre Gesichter und einer von ihnen hatte sogar ein richtiges Holzbein.

„Jungs“, begann der Kapitän. „Wenn ich euch unsere hochwohlgeborene Fracht vorstellen dürfte: Norlos, Damin und Solos von der Himmelsgarde, Sam Ray-San vom Wüstenvolk und die junge Dame hier ist die Pachanda höchst persönlich. Wir bringen sie ins Herz des Klippenmeeres und wenn alles gut läuft auch wieder heraus.“

Er lachte düster und einige aus der Mannschaft stimmten mit ein.

„Ihr werdet die Namen meiner Männer noch früh genug lernen“, sagte er an uns gewandt. „G’noo, bring sie in die Kajüten.“

„Aye-Aye, Kapitän“, knurrte ein hoch gewachsener Mann und trat vor.

Seine Haut war fast noch schwärzer als die von M’balla und sein Schädel war kahl rasiert. Wo einmal sein linkes Auge gewesen war trug er jetzt eine Augenklappe unter der eine Narbe hervor schaute, die bis zu seinem Unterkiefer reichte.

Wir folgte ihm zum hinteren Teil des Schiffes, wo es nach unten ging, während M’balla seinen Männern zu rief: „Und ihr werft euch gefälligst in die Takelage! Leinen los, Segel setzen, wir fahren zum Arsch der Welt!“

Unter Deck roch es leicht muffig nach feuchtem Holz. Es war dunkel, da es keine Kerzen gab und ich stieß mir mehr als einmal den Fuß an, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

G’noo führte uns in eine kleine Kabine in der zwei netzartige Hängematten übereinander gespannt waren. Er sagte weiter nichts und ging einfach wieder nach oben.

„Ich glaube, das werden ein paar lange Tage“, murmelte ich, als ich die Wellen gegen die Wand schlagen hörte.

 

Als ich erwachte drang sanftes Tageslicht ins Zimmer. Die anderen waren bereits aufgestanden, doch das interessierte mich wenig. Stattdessen purzelte ich aus der ewig schaukelnden Hängematte und rannte an Deck, wo ich mich über die Reling ergab.

Keuchend klammerte ich mich am Geländer fest und starrte stumpfsinnig in die wogenden Fluten unter mir.

„Du musst auf der Lee-Seite spucken, Mädchen.“

Erschrocken wirbelte ich herum und sah einen Mann vor mir stehen. Er trug ein großes rotes Kopftuch und beobachtete mich.

„Wie bitte?“

„Auf der Lee-Seite. Das hier ist Luv.“

„Äh“, machte ich ratlos und der Mann kratze sich unter seinem Kopftuch.

Er hatte einen Eimer in der Hand, als wäre er im Begriff zu putzen.

„Luv ist die Richtung, aus der der Wind kommt. Wenn du da kotzt, dann kriegst du’s ins Gesicht.“

„Ach so. Ähm, danke“, sagte ich verwirrt und sah zur anderen Seite des Decks.

„Außerdem neigt sich das Schiff auf der Lee-Seite ein bisschen“, fuhr er mit seinem Vortrag fort.

„Das wusste ich nicht. Ich kenn mich mit Schiffen nicht wirklich aus“, gab ich zu und das Gesicht des Mannes hellte sich auf.

„Dann bist du hier genau an den Richtigen gekommen, Mädchen, ich bin R’kart und ich weiß alles über Schiffe!“

„R’kart. Lass das Mädchen in Ruhe und mach deine Arbeit“, dröhnte es von oben und der Mann machte sich schleunigst von dannen.

Hinter mir ging es auf ein leicht erhöhtes Deck, wo ein Mann am Ruder stand und mit scharfem Blick alles im Auge behielt. Ich beschloss ihn nicht anzusprechen und ging stattdessen an der Reling entlang nach vorne, um Sam zu suchen.

Er stand am Bug an die Reling gelehnt und unterhielt sich mit einem weiteren Mann, der irgendwie mit der Takelage beschäftigt war. In ihren Gespräch ging es anscheinend um die Vorzüge von Säbeln oder Krummschwertern… Ich verstand es nicht wirklich.

„Hallo“, sagte ich, als ich zu ihnen stieß und Sam nickte mir zu, während der andere Mann mir einen etwas misstrauischen Blick zu warf.

„Liah, T’hella, T’hella, Liah“, machte Sam uns bekannt und T’hella nickte mir zu.

Dann murmelte er etwas in seinen verfilzten Bart und kletterte die Takelage hoch.

„Ich schätze, der mag mich nicht“, meinte ich trocken.

Sam schwieg. Ich stellte mich neben ihn und blickte über das unendliche Wasser zum Horizont im Westen.

„Wie geht es dir?“, fragte Sam.

Ich hatte wahnsinnig Kopfweh und mir war unheimlich schlecht, aber ich wollte nicht jammern.

„Ganz gut“, log ich.

Ich stellte nicht die Gegenfrage. Es erschein mir seltsam nach Sams Befinden zu fragen, da er ja sowieso nie über sich redete.

„Das ganze Wasser macht mich melancholisch“, stellte ich fest.

„Magst du Wasser nicht?“

„Naja.“ Ich lachte verlegen und strich mir durch die Haare, die der Wind mir in die Augen blies. „Ich kann nicht schwimmen.“

Sam sah mich ehrlich überrascht an.

„Wie kann das sein?“

„Wieso kannst du überhaupt schwimmen? Du kommst doch aus der Wüste!“

„Dort gibt es auch Flüsse, Liah. Und außerdem liegt es mir im Blut“, erinnerte er mich. „Und was ist mit dir? Kommst du aus einer Wüste ohne Wasser?“

Ich musste schmunzeln. London war schon eine Wüste, verglichen mit den Weiten dieses Landes. Eine Betonwüste, wenn auch eine ziemlich hübsche mit vielen Parks.

„Nein, das ist es nicht. Ich hatte in der Schule Schwimmunterricht, wie alle anderen Kinder auch, aber ich kann es einfach nicht. Sobald ich keinen Boden mehr unter den Füßen habe, sinke ich wie eine Bleiente.“

„Warum?“

„Keine Ahnung, vielleicht liegt mir das im Blut. Meine Mutter konnte auch nicht schwimmen.“

„Wenn du ins Meer fallen solltest, werde ich dich rausholen“, sagte Sam nach einer kurzen Pause als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

 

M’ballas Mannschaft bestand aus zehn Männern. G’noo, sein erster Maat und Stellvertreter, der kaum etwas anderes sagte als „Aye-Aye, Kapitän“ und B’reva, der Steuermann, der meistens nur Befehle bellte. Dann gab es noch R’kart, T’hella und fünf weitere, deren Namen ich kaum aussprechen konnte, die alle einfache Matrosen waren und die meiste Zeit mit Segelmanövern, Reparaturarbeiten oder Deckschrubben beschäftigt waren.

„Muss jeden Tag mit Salzwasser geschrubbt werden, sonst splittert’s“, hatte R’kart mir erklärt, der einzige Matrose, mit dem ich mich wirklich unterhalten konnte.

Außerdem gab es noch einen Koch, den Smutje, der irgendwie keinen Namen zu haben schien. Nachdem meine Seekrankheit sich etwas gelegt hatte und ich mich an das Schaukeln des Schiffs gewöhnt hatte, saß ich die meiste Zeit in seiner Kombüse und lauschte seinem Seemannsgarn.

Sam sah ich nicht sehr viel. Er schien sich mit den Matrosen besser zu verstehen, möglicherweise weil er keine Frau war, und war die meiste Zeit an Deck bei ihnen.

„Er ist ein Soldat. Es entspricht seinen Gewohnheiten eher bei Männern zu sein, als mit jungen Frauen Konversation zu betreiben“, meinte Solos, als ich ihn am dritten Tag unserer Reise darauf ansprach.

Von den Wölfen bekam ich noch weniger mit, denn sie fühlten sich auf dem Schiff noch unwohler als ich und waren entweder in unserer Kabine oder in der Kapitänskajüte.

Wir segelten fünf Tage und Nächte ohne Zwischenfälle. Obwohl der Wind nicht immer von hinten blies, kamen wir gut vorwärts und der Smutje erklärte mir, dass ein Schiff wie die Windrose sogar gegen den Wind segeln könnte, da es eine spezielle Takelung hatte. Von ihm und von R’kart hatte ich in der kurzen Zeit schon viel über das Schiff gelernt. Das Steuer hieß eigentlich Ruder und der Steuermann trug nur die Verantwortung und lenkte es gar nicht die ganze Zeit. Dafür gab es nämlich Rudergänger und das war in einer kleinen Mannschaft fast jeder einmal. R’kart hatte sogar mich einmal kurz rangelassen, aber B’reva hatte es gemerkt und seither ließen wir es.

Der hintere Mast war der höhere, genannt Großmast. An ihm hing das Hauptsegel. Am Fockmast dagegen war das Schonersegel und von Fockmast zum Bugspriet waren Außenklüver, Innenklüver und Vorstagsegel gespannt.

Zusätzlich zu Luv und Lee hatte ich noch Backbord, also links, und Steuerbord, rechts, in meinen Wortschatz mit aufgenommen. Insgeheim war ich ziemlich stolz, da ich mittlerweile das Kauderwelsch der Matrosen verstand und auch einige Segelmanöver verstand.

Kurz gesagt, die ersten fünf Tage der Reise waren nicht so schlimm wie gedacht. Aber am Morgen des sechsten Tages zog der Himmel zu und das Meer wurde ebenso grau wie die dunklen Wolken über uns. Der Wind blies heftiger und drehte oft, weshalb es an Deck viel zu tun gab. Ich durfte nicht mehr nach oben, da auch die Wellen höher wurden und oft Wasser über das Deck spülte. Der Smutje sagte, noch wäre alles halb so schlimm, erst heute Nacht würde der Sturm ausbrechen. Das beruhigte mich nicht sonderlich, vor allem, da wir inzwischen direkt vor dem Klippenmeer waren, das laut R’kart auch bei gutem Wetter beinahe unmöglich zu durchqueren war, ohne Schiffbruch zu erleiden. Allerdings sagte er auch, dass die Windrose nur wenig Tiefgang hatte und wir uns deshalb um die meisten Riffs keine Sorgen machen mussten.

Am Abend lug Kapitän M’balla uns in seine Kajüte ein. Ich hatte ihn in den vergangenen Tagen kaum gesehen, da er nur selten an Deck war und ich keinen Grund darin gesehen hatte ihn zu besuchen.

Seine Kajüte war etwa doppelt so groß wie unsere kleine Kabine und gleichzeitig auch der Kartenraum. An den Wänden hingen unterschiedliche Karten von unterschiedlichen Meeren und Buchten, doch auf dem Tisch lag eine ausgebreitet, die vom Klippenmeer sein musste. Da ich die Schrift dieses Landes nicht kannte, konnte ich nur Vermutungen aufstellen, doch die scharfkantigen, zahlreichen Ecken deuteten stark darauf hin.

„Wir befinden uns hier“, erklärte der Kapitän mit seinem starken Akzent und deutete an das östliche Ende der Karte. „Und dieser Sturm treibt uns direkt ins Klippenmeer. Das ist äußerst gefährlich.“

„Wäre es das nicht sowieso?“, hakte ich dumpf nach.

„Nun ja“, sagte M’balla und wandte sich überschwänglich mir zu. „Bei ruhiger See hätten wir jedenfalls bessere Chancen.“

Die Wölfe tauschten einen Blick. Sam stand einfach nur da, an die Wand gelehnt und schweigsam.

„Jedenfalls solltet Ihr Euch auf alles gefasst machen und unter Deck bleiben, egal, was geschieht – es sei denn wir kentern, was nicht der Fall sein wird.“

„Ihr sagtet, Euer Schiff wäre das beste“, knurrte Damin gereizt.

Seine Nackenhaare hatten sich bei dem Wort Sturm aufgestellt und ich vermutete, dass der Wolf Wasser nicht besonders mochte.

„Was nicht passieren wird!“, wiederholte M’balla seine Worte nachdrücklich und sein Akzent wirkte noch stärker.

Eine Welle klatschte gegen das Schiff.

„Wenn die Herrschaften nun Ihre Plätze einnehmen würden“, wies er uns galant an und wir verließen die Kajüte.

Auf dem Weg nach unten packte der Wind meine Haare und zerrte an meiner Kleidung. Der Regen benetzte mein Gesicht, doch dann war ich schon unter Deck.

Wir begaben uns in unsere Kabine, während das Schiff immer heftiger von den Wellen hin und her geworfen wurde und die Matrosen an Deck sich mit lautem Gebrüll zu verständigen versuchten.

„Das ist doch der Plan oder?“, fragte ich nach einigen Minuten unsicher. „Es ist der Plan, dass wir ins Klippenmeer kommen und dort von den Meermenschen entdeckt werden.“

„Ja, da ist der Plan“, sagte Norlos ruhig und erwiderte meinen Blick fest.

Der Plan schien mir nicht sonderlich ausgereift, aber das sagte ich nicht. Die Wölfe würden uns nicht in so eine Situation bringen, wenn sie nicht davon überzeugt wären, dass alles gut gehen würde. Glaubte ich zumindest.

Ein lautes Kratzen ertönte an der rechten Schiffswand und ich riss erschrocken, die Augen auf, doch nichts brach und kein Wasser drang ein.

„Ich schätze wir haben die Klippen erreicht“, murmelte Solos.

Ich setzte mich auf den Boden und hielt mich an der Verankerung der Hängematte fest. Die Wölfe saßen ebenfalls einfach nur da, abwartend und abschätzend. Sam stand in der Tür und blickte zur Leiter hin nach oben, als würde er jede Sekunde an Deck stürmen wollen, um zu helfen.

Ich verlor mein Zeitgefühl, während draußen der Sturm tobte und versuchte nicht daran zu denken, wie schlecht mir war.

Plötzlich ertönte ein Donnerschlag und oben schrie jemand.

Sam trat auf den Flur und ich sprang sofort auf, um ihm nach zu gehen. Die Tür schlug hinter mir zu, als das Schiff auf eine andere Seite geworfen wurde und ich stolperte und knallte fast mit dem Kopf gegen die Wand.

„Warte, Sam!“

Er blieb an der Leiter stehen und drehte mich zu mir um. Ich taumelte zu ihm.

„M’balla hat gesagt wir sollen unten bleiben.“

Sam warf einen Blick auf die Leiter, dann sah er wieder mich an.

„Es ist nicht meine Art, nichts zu tun.“

„Ich weiß, aber du bist kein Matrose. Bleib hier.“

Er nickte langsam, rührte sich aber nicht. Hier unten im dunklen Rumpf des Schiffes wo kein Licht brannte, wie in der Kabine, konnte ich ihn nur schemenhaft sehen.

„Denkst du die Meermenschen finden uns bald?“

„Ja“, meinte er leise.

„Hast du Angst?“, fragte ich noch leiser.

„Nein. Hast du Angst?“

„Nein“, wiederholte ich ihn fest und wusste, dass mindestens einer von uns log.

Dass ich das war, bemerkte wohl auch Sam und ich glaubte zu erkennen, dass er lächelte, aber ich war mir nicht sicher.

Er legte sanft eine Hand an meine Wange.

„Dir wird nichts geschehen, Liah. Ich passe auf dich auf.“

Ich schluckte schwer. Meine Haut brannte unter seinen Fingern und ich war wie gelähmt.

Oben brach etwas mit ohrenbetäubenden Krachen und bevor ich ihn aufhalten konnte, war Sam bereits nach oben geklettert.

Ohne nachzudenken folgte ich ihm.

Kaum hatte ich meinen Kopf durch die Luke gesteckt ergoss sich ein Schwall Wasser über mich und durchnässt mich innerhalb von Sekunde bis auf die Knochen. Der Wind peitschte mir meine nassen Haare ins Gesicht und die dicken Regentropfen, die auf uns niederprasselten versperrten mir für einen Augenblick die Sicht. Dann sah ich die riesenhafte Welle die sich über uns auftürmte und hatte nicht einmal mehr die Zeit zu schreien, da brach sie schon über dem Schiff zusammen. Es schleuderte mich nach vorne und ich fiel hart auf die Knie. Auf den nassen Dielen rutschte ich haltlos nach vorn und knallte gegen den Großmast. Panisch klammerte ich mich an dem nassen Holz fest und sah mich verzweifelt nach Sam um, doch ich konnte ihn nicht unter den Matrosen ausmachen, die an die Takelage geklammerte, herumliefen, Segel bargen und den gebrüllten Befehlen von M’balla folgten, der fest auf dem Oberdeck stand und eine wilde Entschlossenheit zeigte, als würde er gegen den Sturm in die Schlacht ziehen.

„Sam!“, schrie ich so laut ich konnte, doch der Wind riss mir das Wort aus dem Mund, sodass ich es nicht einmal selbst hören konnte.

Das Schiff wurde herumgeworfen und ich schlang die Beine um den Mast, um mich wegzugleiten. Ein heftiger Strudel packte das Schiff und während es sich neigte, hörte ich ein Bersten, das mir durch Mark und Bein ging.

Ich sah den Fockmast wie in Zeitlupe fallen, dann schlug er auf das Schiff auf, zerschmetterte das Deck und rutschte, die Segel und Taue mit sich reisend, in die tobenden Wellen. Die Takelage riss mit lautem Knallen und ich klammerte mich noch fester am Großmast fest, während der Strudel uns immer schneller herum wirbelte und in die Tiefe zog.

„Sam!“, schrie ich aus Leibeskräften. „Sam, Sam!“

Das Schiff neigte sich gefährlich nach vorn und ich sah, wie der aufgebrochene Rumpf sich mit Wasser zu füllen begann. Mir fielen die Wölfe ein, die immer noch unter Deck sein mussten. Sie würden ertrinken, wenn nicht bald etwas geschah. Wir alle würden ertrinken…

Da sah ich sie. Wie Flammen auf Holzscheiten tanzte sie auf den Wellen. Ihr bleiches Gesicht hob sich von dem schwarzen Wasser so stark ab, dass ich es trotz der Entfernung erkennen konnte. Ihr wallendes Haar war wie flüssiges Silber und ihre großen Augen leuchteten wie zwei kleine Monde in der Dunkelheit. Wie die Ruhe selbst erwiderte sie meinen Blick, als würde um uns herum kein lebensbedrohlicher Sturm toben und ich hatte das Gefühl, als würde sich die Zeit in dickflüssigen Honig verwandeln. Ich wollte die Arme öffnen, um sie zu begrüßen, um zu ihr zu schwimmen…

„Liah!“

Mit einem dumpfen Schlag wurde ich zurück in die Wirklichkeit gerissen. Sam war direkt hinter mir und drückte mich gegen den Ast.

„Sie sind überall! Sie starren uns einfach nur an!“, brüllte er in mein Ohr und da entdeckte ich nach weitere Gestalten, die sich in den Wellen verbargen. Sie hatten uns eingekreist und beobachteten, wie wir immer weiter ins Auge des Strudels vorrückten.

„Was soll das?“, rief ich. „Warum tun sie nichts?!“

Als hätten sie mich gehört, rissen allesamt ihre Mäuler auf und große, spitze Zähne blitzten uns an. Dann warfen sie sich nach vorn und zischten auf das Schiff zu. Vor jedem Meermenschen türmte sich eine Welle auf und sie erreichten uns alle gleichzeitig. Das Wasser schlug über uns zusammen und wir wurden in die Tiefe gerissen.

14. Kapitel

Die Wasseroberfläche verschluckte uns mit einem dumpfen Plopp. Augenblicklich umfing uns absolute Stille und ein ungeheurer Druck legte sich auf meine Ohren. Ich riss die Hände hoch, um sie zu schützen, doch es half nichts. Als ich den Mund aufriss, um nach Luft zu schnappen, stellte ich fest, dass kein Wasser in meine Lunge drang. Ich fühlte mich schwerfällig und konnte mich nur so langsam bewegen, als ich Wasser zum Widerstand, doch da war keines.

Die Meermenschen schwammen kreuz und quer um uns herum und bildeten eine Art Kuppel, die das Wasser zurückhielt, während wir immer tiefer sanken.

„Das ist Zauberei!“, wollte ich sagen, doch aus meinem Mund drang nur ein rauschendes Blubbern.

Ich drehte mich zu Sam, doch der schien genauso verstört wie ich. Die Matrosen um uns herum hatten ihre Säbel gezückt und bewegten sich wie in Schwerelosigkeit, die Zähne gefletscht und die Augen aufgerissen.

Die Luke zu den Kabinen öffnete sich und die Wölfe kamen wie in Zeitlupe heraus. Sie versuchten zu uns zu gelangen, doch die Schwerelosigkeit machte es ihnen unmöglich.

Der Druck auf meinen Ohren und auf meiner Brust wurde schier unerträglich. Immer tiefer und tiefer zogen die Meermenschen uns in die Dunkelheit, die mich irgendwann verschluckte.

 

Ein dumpfer Schlag auf meine Brust brachte mich zurück. Keuchend drehte ich mich zur Seite und hustete mir die Seele aus dem Leib und blinzelte verzweifelt um etwas durch meine verklebten Augen erkennen zu können.

Raue Finger tasteten über mein Gesicht und ich schlug sie panisch weg. Jemand kniete über mir und als sich meine Sicht klärte, blickte ich in riesige dunkelblaue Augen, die von langen schwarzen Wimpern umrahmt waren. Breite Lippen teilten sich zu einem grauenhaften Lächeln und weiche Laute drangen aus dem fremden Mund.

Die Meerfrau strich erneut über mein Gesicht und meine Ohren, während sie stetig weiter redete. Gebannt starrte ich sie an und blieb regungslos liegen, bis sie mich an den Händen nahm und auf die Beine zog.

„Meela“, sagte sie und streckte einen grau geschuppten Arm aus und deutete in eine Richtung.

Ich folgte ihrem Finger und sah fünf Meermenschen über den Sand auf uns zu schreiten. Sie alle waren nackt und ihre Haut grau geschuppt, wie die der Frau vor mir. Ihre Konturen waren weich, nur ihre Gesichtsknochen, über denen sich ihre elfenbeinfarbene Haut straffte, waren markant. Sie alle hatten große Augen von einer intensiven Farbe und lange, gewellt Haare, die über ihre Schultern wogten. Jeder von ihnen hatten eine Harpune mit spitzen Widerhaken am Ende in der Hand und sie kamen langsam, wenn auch zielstrebig auf uns zu.

Ich wollte zurückweichen, doch die Frau packte mich jetzt fester und wiederholte eindrücklich: „Meela.“

Ich sah mich um und entdeckte die geschundene Windrose in einiger Entfernung, wo sie gekentert im weißen Sand lag. Ich konnte keinen der Matrosen entdecken, auch die Wölfe und Sam waren spurlos verschwunden.

„Wo sind sie?“, fragte ich die Frau panisch, wissend, dass sie mich nicht verstand, und versuchte mich loszumachen.

„Meela, Meela!“

„Nein, lass mich! Sam? Sam!“, rief ich und drehte mich hin und her, doch überall war nur weißer Sand zu sehen, der unheimlich im Sonnenlicht schimmerte. Doch als ich den Blick hob, war da keine Sonne, auch kein blauer Himmel. Eine dunkle, glitzernde Kuppel erstreckte sich über uns und als ich genauer hinsah, merkte ich, dass sie sich bewegte. Wir waren hier an keinem Sandstrand. Wir befanden uns auf dem Grund des Meeres.

„Meela“, sagte die Frau wieder, doch diesmal war es an die Neuankömmlinge gewidmet.

Die Meermenschen musterten mich abschätzend und wechselten einige Worte. Dann kam einer aus der Gruppe auf mich zu und riss meine Pelzjacke auf.

„He, was…“, rief ich wütend, doch er beachtete mich gar nicht.

Die Frau, die mich gefunden hatte, musste er allerdings beachten, denn sie stellte sich zwischen uns und begann hektisch auf ihn einzureden und immer wieder in die Richtung zu zeigen, aus der die anderen gekommen waren.

Sobald sie mich nicht mehr beachteten, wirbelte ich herum. Ich rannte zum Schiff, da in jeder anderen Richtung weit und breit nichts zu sehen war und ich hoffte meine Weggefährten dort zu finden.

Ich hörte die Meermenschen hinter mir schreien, aber ich lief schneller als sie und erreichte das Schiff mit gutem Vorsprung.

„Sam?“, rief ich so laut ich konnte und kletterte an Deck.

„Solos? Norlos? Damin?“

Ich bekam keine Antwort. Dann wurde ich plötzlich zu Boden gerissen und kullerte in meinen Angreifer verkeilt über das schiefe Deck in den Sand hinunter.

„Meela“, knurrte der Meermann auf mir wütend und packte meine Hände.

„Ja. Meela. Meinetwegen“, keuchte ich und wehrte mich nicht, als er mir die Hände fesselte und zu den anderen zurück zerrte.

Sie führten mich durch den Sand und ich kam mir in meiner dicken Fellkleidung tollpatschig vor, doch zu meinem Erstaunen wurde mir nicht heiß. Es kam mir vor, als gäbe es außerhalb meines Körpers überhaupt keine Temperatur.

Ich fragte mich schon, wo genau in diesem Sandkasten das Ziel der Meermenschen lag, als ich plötzlich in einiger Entfernung etwas erkannte. Es sah aus wie eine riesige Festung und flimmerte wie eine Fata Morgana. Ich kniff die Augen zusammen, doch mehr erkannte ich erst nach einer Weile, als wir näher gekommen waren und das Flimmern etwas nachgelassen hatte. Die Häuser hatten flache Dächer mit vereinzelten Zinnen und standen dicht getrennt. Sie waren aus graumeliertem Stein und hatten etwas Verfallenes. An der obersten Spitze der Stadt stand ein Palast, der sich von den Häusern nur durch seine Zahlreichen goldenen Kuppeln unterschied. Doch es waren die Straßen, die mein Augenmerk auf sich zogen. Sie bestanden komplett aus Wasser und flossen auf und ab zwischen jede freie Stelle der Häuser.

Ich musste an Atlantis denken, die versunkene Stadt aus der griechischen Mythologie.

Jetzt wo mir unser Ziel bekannt war, überlegte ich, was dort mit mir geschehen war. Da die Meermenschen mich nicht gefressen hatten, wollten sie mich vielleicht sogar zu ihrem Anführer bringen, der hoffentlich meine Sprache sprach und mich auch anhörte. Und hoffentlich waren dort auch meine Freunde wohlbehalten angekommen.

Es dauerte noch eine Weile, bis wir das Tor zur Stadt erreicht hatten, aber irgendwann waren wir schließlich da. Die Wachen ließen uns ohne weiteres passieren und wir blieben auf einem kleinen Plato stehen, hinter dem die Wasserstraßen begannen. Ich fragte mich gerade, ob sie von mir erwarten würden, zu schwimmen, als einer der Meermenschen ein schmales Holzbrett ins Wasser warf und mich ohne viel Federlesen darauf stieß.

Ich schrie erschrocken auf und da ich mich mit meinen gefesselten Händen nicht festhalten konnte, glitt ich halb von dem Brett herunter, wobei die eben erst wieder getrocknete Jacke klatschnass wurde. Keuchend kauerte ich mich hin und versuchte nicht erneut von dem Brett zu rutschen, während die Meermenschen hinter mir lachten. Ich wurde wütend, doch da ich offensichtlich nicht in der Position war, mich zu beschweren, blieb ich still und klammerte mich stattdessen an das spitzzulaufende Ende des Brettes.

Die Meermenschen sprangen hinter mir ins Wasser und zwei von ihnen packen mein Brett und dann ging es auch schon los. Wir pflügten die Straße nach oben und warmes Meerwasser spritzte mir ins Gesicht. Ich drehte den Kopf zur Seite, um mich wenigstens ein bisschen zu schützen und sah Meermenschen aus den Fenstern der Häuser linsen und mich anstarren. Aber wir zischten so schnell an ihnen vorbei, dass ich sie kaum erkennen konnte.

Das Brett schaukelte gefährlich, während wir uns zwischen den Häusern hindurch schlängelten, aber ich schaffte es, mich oben zu halten, bis wir angekommen waren.

Die Herrscher der Meermenschen trennten sich nicht durch Mauern von ihrem Volk. An die Wasserstraße grenzten deshalb zahlreiche, aneinander aufgereihte Torbögen und durch einen von diesen wurde ich gezerrt.

Wasserspuckend und tropfend kam ich auf die Füße und folgte den Meermenschen, die mich jetzt wie eine Eskorte eingekreist hatten. Sie führten mich durch einige Gänge, die stets offen in einander endeten, ohne durch Türen abgetrennt zu sein. Die ganze Zeit über hörte ich ein leises Rauschen, als würde Wasser überall um mich herum fliesen.

Schließlich kamen wir in einen kleinen Saal, an dessen Ende ein Becken eingelassen war, in dem ein Meermann saß, dessen graues Haar, so lang war, dass es im Wasser seinen Körper fast komplett verhüllte. Neben ihm, am Beckenrand, saß eine Meerfrau mit silbernem Haar und Augen, wie Monde. Sie war jung, wie ein Kind, und ich hätte schwören können, dass es die war, die ich draußen im Sturm gesehen hatte.

Der alte Mann breitete die Arme aus und lächelte, als wir eintraten, wobei er zwei Reihen spitzer Zähne entblößte. Er sagte etwas in der schleppenden, weichen Sprache der Meermenschen und ich war mir sicher mindestens zwei Mal das Wort Meela zu hören.

Die Meermenschen, die mich hier her gebracht hatten, stießen mich auf die Knie und als der Alte geendet hatte, hob das junge Meermädchen den Kopf und sah mich durch ihre Mondaugen an.

„Der Graue heißt die Rote willkommen in der Stadt unter dem Meer Sagara Adhini Siti.“ Ihre Stimme klang wie ein Glockenspiel.

Ich schluckte und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

„Ich… danke ihm“, sagte ich vorsichtig, da es mir nur höflich erschien und ich ihn nicht verärgern wollte. Schließlich konnte er sich auch jederzeit dazu entschließen, mich zu fressen. „Und ich frage, ob er weiß, wo meine Freunde sind.“

Das Mädchen übersetzte und der Mann, den sie der Graue nannte. Sie übersetzte seine kurze Antwort schnell.

„Der Graue sagt ja, das weiß er.“

„Sind sie am Leben? Wo sind sie?“, schoss es aus mir heraus.

Die Zeit, die das Dolmetschen brauchte, machte mich wahnsinnig und ich verhakte meine zitternden Finger fest in einander, um meine Angst nicht offen zur Schau zu stellen.

„Der Graue fragt, ob die Rote eine Elfe hohen Geblüts ist.“

„Was? Ich bin gar keine Elfe. Wo sind meine Freunde?“, fragte ich verwirrt, aber auch verärgert.

„Der Graue entschuldigt sich für das Missverständnis. Er fragt, warum die Rote dann nicht riecht wie ein Mensch.“

Das erklärte dann wohl warum sie mich nicht gefressen hatten. Solos hatte gesagt, Meermenschen würden sich von ihren menschlichen Besuchern ernähren, er hatte ausdrücklich menschlich gesagt. Wenn sie also wirklich nur auf Menschenfleisch aus waren, mussten Sam und die Wölfe noch leben. Vielleicht hatten sie irgendwo in die Weiten des Sandkastens fliehen können. Aber was war mit M’ballas Mannschaft?

„Das muss daran liegen, dass ich aus einer anderen Welt stamme“, sagte ich und versuchte nach außen ruhig zu bleiben, während ich innerlich verzweifelt überlegte, wie ich meine Freunde wiederfinden sollte.

Die Mondaugen des Meermädchens leuchteten auf, ebenso wie die dunkelbraunen Augen des Grauen, als sie meine Worte übersetzte.

„Der Graue fragt, aus welcher Welt die Rote kommt.“

Jetzt musste ich irgendetwas sagen, was mich sympathisch machte. Ich dankte dem Lehrplan, der uns Geographie aufgezwungen hatte und sagte: „Meine Heimat wird der blaue Planet genannt, da sie fast zu drei Vierteln aus Meer besteht.“

Als das Mädchen das übersetzte, lachte der Graue auf und klatschte begeistert in die Hände. Ich atmete erleichtert aus und lächelte. Dass unser Meer total verdreckt und überfischt war, musste ich ja nicht erwähnen.

Nachdem der Meermann aufgehört hatte zu lachen, strich er sich nachdenklich über das bartlose Kinn und musterte mich.

„Der Herrscher in der Stadt unter dem Meer Sagara Adhini Siti erlaubt der Roten vom blauen Planeten zu verweilen und später mit ihm zu essen. Sie soll im Garten warten.“

Solange er nur mit mir und nicht mich essen wollte…

„Das ist sehr freundlich“, sagte ich hastig und verbeugte mich so gut es auf Knien ging. „Aber ich würde wirklich gern wissen, wo meine Freunde sind.“

Doch der Graue war bereits in seinem Becken untergetaucht und verschwunden und das Mädchen mit den Mondaugen glitt ebenfalls ins Wasser und folgte ihm.

Meine Wachen zogen mich etwas sanfter auf die Füße, als sie mich zu Boden gestoßen hatten und führten mich aus dem Raum. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während ich überlegte, wie ich es am besten anstellte, den Dolch und meine Freunde zu bekommen und dann zu verschwinden. Allerdings wollte mir beim besten Willen nichts einfallen.

Der Garten in den sie mich brachten hatte etwas von einem Innenhof. Immerhin war es grüner als irgendwo, wo ich in letzter Zeit gewesen war. Die Wachen blieben am Eingang stehen und ich schlenderte über den geschwungenen Weg, während ich nachdenklich aus meiner noch nassen Felljacke schlüpfte, unter der ich nur ein einfaches Hemd trug.

Ich kam an eines der Becken, von denen es hier anscheinend überall welche gab und setzte mich an dessen Rand. Ich konnte die Wachen von hier aus nicht sehen und sie mich nicht. Mein Herzschlag verlangsamte sich und ich wurde ruhiger. Ich zog meine schweren Stiefel und Strümpfe aus und legte sie auf meine Jacke neben mich.

Das warme Wasser kitzelte an meinen Zehen und ich starrte blicklos auf die Wasseroberfläche.

Eigentlich war es ein Wunder, dass wir überhaupt so weit gekommen waren. Dass wir im Sturm nicht an einer Klippe zerschellt und ertrunken waren. Dass ich in Erepo nicht gefasst worden war. Dass wir die Bärenreiter besiegt hatten. Dass wir nicht erfroren waren. Dass ich es lebend aus Thal heraus geschafft hatte. Dass ich es unerkannt aus Orm geschafft hatte. Dass wir die Herzstehler in die Flucht geschlagen hatten. Dass ich in diese Welt gekommen war. Sogar dass ich von meinen Pflegeeltern abgehauen war, ohne erwischt zu werden.

Es kam mir so unendlich lange her vor, dass ich das Haus der Cumbers verlassen hatte. Was wäre wohl geschehen, wenn ich dort geblieben wäre? Hätte ich ein normales Leben gehabt? Wäre ich glücklich geworden?

Hätte ich meine Mutter beerdigt?

„Willst du nicht reinkommen?“

Erschrocken schnappte ich nach Luft und wich automatisch auf allen Vieren vom Beckenrand zurück, bevor ich überhaupt den Meermann sah, der mich angesprochen hatte.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“

In seinen Augen sah ich, dass das eine Lüge war. Seine Augen… Er hatte genau die gleichen Augen wie Sam. Augen, in denen man versinken konnte, ohne jemals wieder aufzutauchen…

Ich räusperte mich und war versucht mich selbst zu ohrfeigen, um wieder zu Bewusstsein zu kommen.

„Ich hab dich nicht gemerkt“, sagte ich heiser und versuchte sowohl den Schock als auch die Gebanntheit abzuschütteln.

„Du hast nachgedacht“, meinte er schulterzuckend.

Er stand im Becken vor mir und das Wasser reichte ihm bis zur Hüfte, worüber ich irgendwie froh war, da die Nacktheit der Meermenschen etwas gewöhnungsbedürftig war. Doch jetzt, wo ich nicht mehr in seine grünen Augen starrte, bemerkte ich erst, dass sein Oberkörper überhaupt nicht grau geschuppt war. Blasse Haut spannte sich über seinen Muskeln und sein dunkelblondes Haar wallte auch nicht offen über seine Schultern, wie bei den anderen Meermenschen. Er hatte es einfach am Hinterkopf zusammengefasst. Auch sein Mund war nicht so breit und seine Zähne zwar spitz aber durchaus menschlich.

Ich merkte, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte und drehte schnell den Kopf zur Seite. Der Mann musste wie Sam ein halber Meermensch sein.

„Genug gestarrt?“, fragte er provokant und ich spürte, wie ich rot wurde.

„Du siehst nur jemandem ähnlich, den ich kenne.“

„Wen kennst du denn?“, fragte er und ich hörte am Plätschern des Wassers, dass er näher kam.

„Niemanden. Ich meine, nein, also er ist…“

„Mache ich dich nervös?“

„Er heißt Sam Ray-San und er ist mit mir hier…“

„Ich kann ihn nirgends sehen.“

„… und er bringt dich um, wenn du mir was tust. Also geh weg von mir.“

Er ließ die Hand sinken, die er halb ausgestreckt hatte, doch sein Blick änderte sich nicht.

Mein Herz raste und ich sprang auf, weil ich es nicht aushielt, direkt vor den Fremden zu sitzen. Seine Ausstrahlung allein machte mir Angst. Nachdem ich ein paar Schritte zurück getreten war, gewann ich meine Fassung zurück.

„Du weißt schon, dass ich das Becken auch verlassen könnte, oder?“, fragte der Mann belustigt.

Ich sagte nichts und erwiderte seinen Blick starr. Mein Dolch war in meinem Stiefel und der lag näher bei ihm als bei mir.

Plötzlich lachte der Mann auf und schüttelte leicht den Kopf.

„Tut mir leid, ich habe noch nie eine Menschenfrau getroffen. Ich bin neugierig, wie ihr seid.“

„Aha“, machte ich.

„Ich bin schon mein ganzes Leben in dieser Stadt. Du bist neues Spielzeug.“

„Ich bin nicht dein Spielzeug.“

„Würdest du es gern sein?“, fragte er und beugte sich leicht vor.

„Nein!“, rief ich gereizt. „Ich bin ein Gast von deinem Herrscher.“

„Und du meinst, ich sollte deshalb freundlicher sein?“

„Ja.“

„Ich habe aber keine Angst vor ihm“, flüsterte er grinsend.

„Aber er ist doch dein Herrscher“, sagte ich unsicher.

„Haben sie dir oben nicht erzählt, wie unzivilisiert wir hier sind?“

„Oben?“

Er deutete in Richtung des Meerhimmels.

„Wie ist es dort?“

„Kalt.“

„Trägst du deshalb Fell?“

„Nicht nur deshalb“, sagte ich langsam und hob die Augenbrauen.

Was sollte das? Wer war dieser Mann und was wollte er von mir?

Wer immer er war, sein Spielchen schien ihn jetzt zu langweilen, denn sein Lächeln erstarb und er musterte mich gleichgültig. Er glitt an eine Längsseite des Beckens, wo er sich auf eine Stufe unter Wasser setzte und sich zurück lehnte.

„Also, warum bist du ein Gast des Grauen? Normalerweise frisst er seine Menschen und schickt sie nicht zu mir in den Garten.“

„Das geht dich nichts an“, sagte ich und verschränkte die Arme.

Der Mann verdrehte die Augen.

„Und wo genau ist dein Sam Reißzahn?“

„Ray-San“, korrigierte ich ihn automatisch. „Ich weiß es nicht. Wo ist er?“

„Ich weiß es nicht, ich habe dich gefragt.“

„Er war auch auf dem Schiff.“

„Ich weiß es wirklich nicht.“

Ich biss mir auf die Zunge. Auf einmal fühlte ich mich entsetzlich müde und ausgelaugt. Seufzend setzte ich mich wieder auf den Boden und stützte den Kopf auf die Hände. Am liebsten hätte ich mich einfach hingelegt und hätte geschlafen. Oder geweint.

„Was willst du von mir?“, seufzte ich. „Wer bist du?“

„Ich bin nur neugierig, wie gesagt. Und wir unter dem Meer haben keine Namen.“

Ich hob den Kopf und sah ihn irritiert an.

„Du hast keinen Namen? Woher weiß man dann wer du bist? Woher weißt du wer du bist?“

„Wer man ist, ist nicht an ein Wort gebunden“, sagte er und legte den Kopf schief.

„Glaubt ihr nicht, dass eure Seele an euren Namen gebunden ist?“, hakte ich weiter nach, doch der Namenlose schnaubte verächtlich.

„Unter dem Meer gibt es keine Götter und schon gar keine Religion die uns vorschreibt, was wir zu tun haben. Das Meer ist Leben und nichts anderes zählt.“

„Unterwerft ihr euch deshalb nicht der Königin?“

„Wir unterwerfen uns ihr nicht, weil sie nicht die Macht hat das Meer zu bezwingen. Das Meer ist Freiheit und wir sind frei.“

Freiheit und Leben, das war also das Meer. Mich reizte die Denkweise der Meermenschen, allerdings jagten sie mir auch ziemlich Angst ein und das nicht nur, weil ich bisher nichts Gutes über sie gehört hatte.

„Und was ist mit der Eishexe? Hast du über sie auch so klare Ansichten?“

Ich merkte sofort, dass ich mich mit der Frage etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.

„Du stellst ziemlich viele Fragen“, sagte der Mann ernst.

„Ich bin neugierig“, meinte ich schulterzuckend und lächelte nervös.

„Neugierig, wie? Sieht so aus als hätten wir etwas gemeinsam.“

Seine Ernsthaftigkeit war so schnell verflogen, wie sie gekommen war und ich kniff die Augen zusammen. Ich wollte unser Gespräch nicht wieder in diese Richtung abdriften lassen, aber ich wollte es auch am Laufen halten, denn ich hatte das Gefühl, dass ich von dem Mann noch das Ein oder Andere erfahren konnte.

„Und du hast also wirklich keinen Namen? Wie soll ich dich dann ansprechen?“

„Du kannst mich nennen, wie auch immer du willst“, meinte er grinsend.

Na toll.

„Wer bist du?“, fragte ich fest ohne darauf einzugehen.

Der Mann stieß gelangweilt Luft aus.

„Der Sohn einer Toten. Sie war eine Gefährtin des Grauen, deshalb lebe ich hier.“

„Das tut mir leid“, meinte ich, doch die Gedanken an meine Mutter, ließ ich nicht zu.

Er sah nicht so aus, als würde es ihn schmerzen, dass er keine Eltern hatte. Vielleicht war das meermenschlich oder er war darüber hinweg. Oder aber er konnte seine Gefühle gut verstecken.

Er sah zu mir auf.

„Also gut, ich gestehe. Ich sollte auf dich aufpassen und dich unterhalten, weil ich deine Sprache spreche, aber es sieht so aus, als wäre ich nicht mehr von Nöten. Ich hoffe wir sehen uns wieder.“

Er zwinkerte mir zu und tauchte im Wasser unter, bevor ich etwas erwidern konnte.

15. Kapitel

 

Meine Wachen kamen so eben um die Ecke und ich nahm meine Sachen und stand auf. Die Meermenschen führten mich in den hinteren Teil des Gartens zu einem kleinen Pavillon. Auch hier war ein Becken eingelassen, in dem der Graue und seine Übersetzerin saßen. Auf dem Wasser schwammen kleine Holzbretter auf denen Trauben und roher Fisch lag.

Also doch nicht nur Menschenfleisch.

Ich setzte ein Lächeln auf und setzte mich auf das Kissen, das am Rand des Beckens lag. Der Graue machte eine wedelnde Handbewegung in Richtung der Wachen und sie verschwanden.

„Der Graue hofft, der Roten aus der anderen Welt gefällt die Stadt unter dem Meer Sagara Adhini Siti.“

„Ja, ich habe noch nie etwas vergleichbares gesehen“, sagte ich höflich.

Da ich mich die ganze Zeit mit dem namenlosen Mann unterhalten hatte, hatte ich keine Zeit gehabt, um mir zu überlegen, wie ich vorgehen sollte. Jetzt hieß es zu improvisieren.

„Er würde gern erfahren, was die Rote hier her führt.“

Ich atmete tief durch und sah den Meermann an.

„Die Eishexe Kristalla.“

Der Graue musste den Namen verstanden haben, denn er sprang wütend auf und bleckte zischend die Zähne.

Ich hob abwehrend die Hände und sagte hastig: „Ich gehöre nicht zu ihr! Ich bin diejenige, die sie töten wird.“

Als das Mädchen übersetzte, runzelte der Graue die Stirn und ließ sich zurück sinken. Noch während er sprach, begann das Mädchen zu übersetzen.

„Der Graue fragt, wie die Rote das tun will. Die Eisige hat dem Tod zum Manne genommen. Sie ist Tod und kann nicht sterben, da sie nicht lebt. Sie tötet und sie macht das Meer zu Eis. Und Meer ist Leben.“

„Das weiß ich“, sagte ich ernst, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug. „Doch es gibt einen Weg sie zu töten. Aber dafür brauche ich eure Hilfe.“

Der Graue lachte düster und spie die Worte aus wie Galle.

„Die Eisige tötet Meerne und sie tötet das Meer. Sie wird auch die Rote aus der anderen Welt töten. Der Graue sagt, wenn die Rote sterben will, soll sie sterben. Er selbst kann sie sofort töten und ihr die Kälte ersparen.“

Ich schüttelte den Kopf und kämpfte die aufsteigende Verzweiflung nieder.

„Es gibt eine Prophezeiung der zu Folge die Auserwählte Kristalla töten kann. Diese Auserwählte bin ich und ich brauche dazu nur eine Sache. Einen Dolch aus den Schmieden von Mjendra.“

In die Mondaugen des Mädchens trat offener Zweifel und erst als der Graue sie anstieß, übersetzte die meine Worte hastig.

„Die Rote müsste den Dolch selbst holen. Und die Schmieden können nur wenige betreten. Sie muss die Feuerprobe bestehen.“

„Ich werde sie bestehen“, sagte ich fest und erwiderte den dunklen Blick des Grauen bestimmt. „Ihr habt dabei nichts zu verlieren. Wenn ich es schaffe Kristalla zu töten, dann wird das Meer kein Eis mehr sein und kein Meermensch wird mehr durch sie zu Tode kommen.“

Der alte Meermann musterte mich nachdenklich. Dann sagte er ein einziges Wort und noch bevor das Mädchen es übersetzt hatte, wusste ich, dass ich gewonnen hatte.

„Wenn die Rote den Dolch verdient, darf sie gehen und ihr Glück versuchen- Wann will die Rote sich der Feuerprobe stellen?“

„So bald wie möglich. Aber davor will ich wissen, was mit meinen Freunden ist.“

„Der Graue bewundert den Willen der Roten und schenkt ihr deshalb Freiheit. Doch ihre Gefährten gehören ihm.“

Ich schluckte.

„Ich brauche sie. Ohne sie kann ich nicht gegen Kristalla kämpfen“, beharrte ich und der Graue wiegte den Kopf hin und her und lächelte.

„Er wird darüber nachdenken.“

Ich spürte, dass er nicht vorhatte seine Meinung zu ändern. Doch ich würde nicht ohne Sam, die Wölfe und M’ballas Mannschaft gehen. Aber zuerst musste ich den Dolch holen und darauf sollte ich mich konzentrieren. Als ich aufstand wurde mir klar, dass ich vielleicht erst hätte fragen sollen, woraus die Feuerprobe genau bestand, doch dafür war es nun zu spät.

Sie führten mich über steile Treppen und durch enge Gänge in eine große Halle unter dem Palast.

Sie bestimmt zehn Meter hoch und zwanzig breit und erinnerte mich an eine Kathedrale. Die Wände waren schlicht und grob in den Stein gehauen. Kleine Feuer in Eisenschalen tauchten die Halle in ein flackendes Licht. Links und rechts an den Wänden standen hunderte von Meermenschen deren leises Gerede sich zu einem undurchdringlichen Rauschen vermischt hatte. Sie alle waren von einer Reihe Wachen flankiert, die zwar sie doch nicht ihre Blicke zurückhalten konnten.

Ich sah zu Boden. Vor mir erstreckte sich ein gut fünf Meter breiter Durchgang, der an der gegenüberliegenden Seite der Halle in einem hohen Torbogen endete. Hinter dem Torbogen war eine Wand aus Wasser. Es schien sich zu bewegen, drang aber nicht in die Halle ein.

Mein Blick wanderte den Torbogen hinauf zur Decke und da entdeckte ich sie. In den oberen Rand der Wände waren kleine Nischen, besser Zellen eingelassen. Auch sie waren durch eine dünne Wasserwand abgegrenzt. In zwei der Zellen war M’balls Mannschaft und er selbst untergebracht. Sie schlugen mit den Fäusten gegen das Wasser, winkten und schienen zu rufen, doch durch das Wasser drang kein Ton. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als mein Blick eine Zelle weiter glitt und ich dort drei Wölfe ausmachte.

Meine Augen suchten die restlichen Zellen ab, doch alle anderen waren leer. Wo war Sam?

„Meela!“

Der donnernde Ruf des Grauen ließ das Gemurmel der Meermenschen verstummen. Er trat mit ausgebreiteten Armen an mir vorbei und schritt bis zur Mitte der Halle. Während er zu seinem Volk sprach, stand das Mädchen mit den Mondaugen direkt hinter mir und raunte mir die Übersetzung ins Ohr.

„Der Graue, Herrscher der Stadt unter dem Meer Sagara Adhini Siti, heißt all die Meernen willkommen zur Feuerprobe. Die Rote aus der anderen Welt, Pachanda dieser Welt über dem Meere will sich beweisen um das Wohlwollen der Meernen zu erlangen. Sie wird sich dem Feuer erproben und wenn sie nicht brennt, soll sie in die Schmieden von Mjendra hinab steigen und nach dem Dolch suchen, der die Eisigen von uns nehmen wird.“

Wenn sie nicht brennt? Beinhaltete diese Feuerprobe denn tatsächlich einen Scheiterhaufen?

Ich verschränkte meine Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß wurden. Das war Wahnsinn. Ich würde sterben!

„Schon seit in Mjendra das Wasser brennt, muss ein jeder, der den Ort besuchen will, sich der Probe unterziehen. Viele brennen, viele sterben. Und das Blut mancher, denen es gelang, verkochte dennoch, als sie die Schmieden betraten. Nur die wenigsten Meermenschen bestehen die Probe und überleben die Schmieden und so gut wie niemand, vermag die Ausbildung zum Schmied zu meistern. Kein Mensch kam seit jeher aus den Schmieden zurück. Ihr Fleisch brannte.“

Der Saal war erfüllt von Zisch- und Schmatzlauten. Ich schnappte nach Luft.

„Der Brauch besagt, es muss aus einem Kessel siedenden Wassers ein Stein geholt werden.“

Der Boden direkt vor dem Grauen tat sich auf und ein goldener dampfender Kessel stieg hervor. Auch von meinem Platz aus konnte ich das schäumende Wasser sehen und Brodeln hören.

Dahinter tauchten kleine, hellrot glühende Münzen auf, die den Weg drei Meter lang ausstreuten.

„Des Weiteren muss mit bloßen Füßen glühendes Metall überquert werden. Dann muss die Rote durchs Feuer treten.“

Die Wasserwand die den Torbogen verschloss flammte auf, als hätte jemand Benzin über sie gegossen.

„Das geht doch nicht“, wisperte ich.

Meine Kehle war staubtrocken und meine Glieder wie gelähmt.

Das siedende Wasser würde meine Haut verbrühen, die Metallstückchen meine Fußsohlen schmelzen und wenn ich es überhaupt so weit schaffte, dem Feuer des Torbogens konnte ich unmöglich standhalten.

„Meela!“, rief der Graue erneut und drehte sich mit einem erwartungsvollen Grinsen zu mir um.

Seine spitzen Zähne glitzerten im Licht des Feuers und das Meermädchen hinter mir sagte: „Er bittet die Rote zu beginnen. Wenn sie sich traut.“

Ich sah hinauf zu den Wasserzellen. Die Seemänner verfolgten das Geschehen mit aufgerissenen Augen, fassungs- und hoffnungslos. Solos hatte eine Pfote an die Wasserwand gesetzt, als wolle er sie zerfetzen und Damin lief mit angelegten Ohren unruhig hin und her ohne den Blick von dem brennenden Tor zu nehmen. Nur Norlos saß völlig ruhig da und sah mir fest in die Augen. Es war, als wollte er mir auf seine bestimmende Alpha-Art sagen: „Tu es! Es gibt keinen anderen Weg!“

Ich schluckte. Es gab wirklich keinen anderen Weg. Ich wusste, ich konnte nicht mehr nein sagen. Und Liah Jones hatte keine Angst vor dem Feuer.

Noch nie hatte ich mich verbrannt, stets hatte mich die Hitze fasziniert. Und vielleicht hatte mich das Weltenwandeln ja tatsächlich beeinflusst, wie Norlos vermutet hatte, nachdem ich die Bären verbrannt hatte, als wären sie Zunder.

Ich straffte die Schultern. Alles oder nichts.

Die Meermenschen hatten zu einem tiefen rhythmischen Singsang angestimmt und die Wachen pochten mit ihren Harpunen auf den Boden. Die Halle war vom Pulsieren eines Herzschlages erfüllt.

Ohne zur Seite zu blicken ging ich zielstrebig auf den Kessel zu. Das Wasser darin schäumte und ich konnte weder den Grund des Kessels noch den Stein, den ich aus ihm herausholen sollte, sehen. Ich krempelte meinen rechten Ärmel bis zur Schulter hoch und kniete mich hin. Mein Herz schlug heftig in meiner Brust und meine Halsschlagader zuckte, als wolle sie platzen.

Dann steckte ich meinen Arm in den Kessel.

Das Wasser war heiß. Unerträglich heiß, es brannte und ich wollte meinen Arm zurück reißen, doch nur darauf warteten die Meermenschen. Ich kniff die Augen zusammen und tastete durchs Wasser, bis meine Finger sich um etwas kleines hartes schlossen. Ich riss den Arm zurück und sprang auf, den Stein in der erhobenen Hand. Mein Arm war bleich. Es gab keine Brandwunden.

Der Gesang schwoll an.

Ich ließ den Stein fallen und ging weiter. Vor den glühenden Metallsplittern blieb ich stehen. Das konnte ich nicht tun. Ein bisschen heißes Wasser war in Ordnung, daran war ich gewöhnt, aber ich konnte doch unmöglich über glühendes Metall gehen!

Die Hitze brannte mir in den Augen und das weißliche Rot des Metalls brannte sich auf meine Netzhaut. Als ich meine Lider schloss, tanzten die Farben noch vor meinen Augen und ich öffnete sie wieder.

„Ich habe keine Wahl“, flüsterte ich langsam und machte den ersten Schritt.

Ich schrie nicht, denn ich wollte keine Schwäche zeigen. Doch meine Haut schrie, als sie in Flammen auf ging und ich glaubte zu spüren, wie sie schmolz und von meinen Beinen rann.

Ich sah nicht nach unten. Ein wackliger Schritt folgte auf den anderen und ich war gerade in der Mitte, als ich dachte es nicht mehr ertragen zu können. Da hauchte eine Stimme in meinem Kopf: „Du musst den Schmerz zulassen, Liah. Lass ihn zu.“

Und das tat ich. Ich ließ ihn durch meinen Körper wallen und über mir zusammen schlagen wie die Welle, die die Windrose in die Tiefe gerissen hatte und er verschwand.

Auf der anderen Seite fiel ich auf die Knie und drehte meine Füße um, doch was ich sah, waren keine verstümmelten Zehnen und blutende Haut. Mit aufgerissenen Augen strich ich über meine unversehrten Füße, dann starrte ich zurück auf das glühende Metall. Das musste Magie sein! Sie mussten diese Dinge verzaubert haben, sodass ich nur den Schmerz spürte und nicht verletzt wurde.

Ich hörte ungläubige Rufe von den Meermenschen und wich erschrocken auf allen Vieren zurück, als sich ein über meine Unversehrtheit offensichtlich empörter Meermann an den Wachen vorbei drängt und eine Handvoll Metall aufnahm. Schreiend ließ er sie sofort wieder fallen und ich sah, wie sich blutige Blasen auf seiner Hand bildeten.

Eine Wache packte ihn und stieß ihn zurück in die Menge.

Ich stand auf und sah zum Grauen, der mich aufmerksam beobachtete. In seinen dunklen Augen spiegelten sich die Flammen und er machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf.

Ich drehte mich um. Vor mir ragte das Feuertor in seiner ganzen majestätischen Einschüchterung. Ich sah das Wasser hinter den tanzenden Flammen. Wenn ich durch sie hindurch trat, wäre da keine Luft zum Atmen mehr. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich noch Boden unter den Füßen haben würde. Wie ging es dann weiter? War das etwa schon der Eingang zu den Schmieden?

Ich hörte auf nachzudenken und machte einen Schritt nach vorn.

Die Flammen umfingen mich wie Wasser. Sie hatten keinerlei Konsistenz und waren wie Luft, dennoch konnte ich sie überall spüren. Die Hitze schoss durch mich hindurch, sie brannte und dennoch verbrannte sie mich nicht.

Auf meiner Zunge lag der Geschmack von verbranntem Holz und ich roch Rauch. Die Härchen auf meinen Armen standen zu Berge und ich sah schärfer als je zuvor. Das Feuer verwischte meine Sicht nicht und ich konnte jede Einzelheit einer jeder Flamme erkennen. Ich atmete die Luft, die auch das Feuer atmete.

Dann machte ich noch einen Schritt und wurde nass.

Ich strauchelte und strampelte mit den Beinen und wirbelte im Wasser herum, wobei Schauer von Luftblasen aufstiegen. Meine Handflächen pressten sich gegen das Feuertor, doch sie vermochten es nicht zu durchdringen. Eine dünne Schicht Wasser trennte mich von den Flammen und ich spürte bereits wie ich zu sinken begann.

Ich trat um mich und versuchte die Schwimmbewegungen, die ich in der Theorie beherrschte, nachzuahmen, doch meine Arme glitten durchs Wasser, ohne etwas zu bewirken. Ich presste die Lippen zusammen und unterdrückte den Drang einzuatmen wo keine Luft war, doch ich wusste, dass ich das nicht lange durchhalten würde. Unter mir erstreckte sich bodenloses dunkles Wasser, zwar viel wärmer als das Meerwasser im Klippenmeer, dennoch genauso erbarmungslos. Links und rechts sah ich das Licht glitzern und wusste dass sich dort die Wasserstraßen befanden. Sagara Adhini Siti musste auf einer Art magischem Wasserhügel gebaut sein und ich wurde nun auf dessen Grund gezogen.

Wäre ich nicht von Wasser umhüllt gewesen, wären Tränen der Wut und Verzweiflung über meine Wangen geronnen. Was hatte der Graue sich dabei gedacht?! Wollte er mich töten? War alles nur eine List gewesen, um mich reibungslos aus dem Weg zu schaffen?

Ich versuchte nach Leibeskräften zur Seite zu den Wasserstraßen zu gelangen, doch der Sog gab mich nicht frei. Über mir waren nur der dunkle Stein des Palastes und das höhnische Glühen des Feuertors.

Ich schrie, brüllte, doch nur Blasen kamen aus meinem Mund. Das konnte nicht das Ende sein! Ich war nicht über heißes Metall gelaufen um jetzt in diesem dämlichen wässrigen Fingerhut zu ersaufen!

Und doch konnte ich nichts dagegen tun und mein ganzer Körper schrie nach Sauerstoff, meine Adern schienen förmlich zu brennen…

Aber halt. Es war nicht die Atemnot, die meinen Körper brennen ließ. Es war das Wasser. Je tiefer ich sank, und mit jedem Meter sank ich schneller, umso heißer wurde das Wasser. Die Hitze wallte durch meinen Körper, füllte mich gänzlich aus. Ich fühlte mich, als würden jegliche Körperflüssigkeiten in mir verdunsten.

Der Palast war mittlerweile nicht mehr zu erkennen, dafür konnte ich unter mir kleine Lichter ausmachen. Waren das etwa die Schmieden?

Der Boden raste heran und ich schlug härter auf, als es unter Wasser möglich sein konnte.

Hände griffen nach mir und zerrten mich hoch. Würgend versuchte ich mich zu wehren und atmete und schluckte Wasser.

Sie zogen mich durch ein Loch im Boden und Luft drang in meine Lungen.

Hustend und wasserspuckend landete ich auf den Knien und rang nach Atem. Als ich an mir herabblickte, sah ich Wasserdampf von den Fetzen, die von meiner Kleidung noch übrigen waren, aufsteigen. Die Fellhose war hoffnungslos verkohlt und hing mir nur noch wie ein Lumpen um die Hüften und von meinem Hemd war gar nichts mehr übrig. Allein der corsagenähnliche Schnür-BH hatte nichts abgekriegt.

Mein Blick wanderte von meinem nackten Bauch zu den Dämonen die mich hier herunter gebracht hatten. Es waren eindeutig Meermenschen, doch unter ihre graue Haut glomm es rötlich, als würde Lava statt Blut durch ihre Adern fließen. Sie allesamt hatten schwarze glatte Haare und in ihren Augen, die nicht weniger groß und außergewöhnlich wie die der anderen Meermenschen waren, brannte offenes Feuer.

Ich stand mit wackligen Beinen auf, hielt mich aber instinktiv geduckt. Die Meermenschen machten keine Anstalten auf mich loszugehen. Die drei standen nur in einigen Schritten Entfernung da und starrten mich an. Zumindest glaubte ich das, Pupillen hatten sie ja keine.

Zögerlich sah ich mich um. Ich befand mich in einer kleinen Höhle, an deren Decke ein kreisrundes Loch war, wo das Meer begann. Ich war unterhalb von unter dem Meer.

Ohne Vorwarnung machte einer der Meermänner plötzlich einen Schritt nach vorn und streckte eine Hand nach mir auf. Ich wagte nicht, mich zu regen, als seine Klauen über mein Gesicht kratzten. Ich spürte seinen heißen Atem, der nach verbranntem Fleisch roch, auf der Haut und das Feuer seiner Augen blendete mich.

„Nimm es an“, grollte eine dunkle Stimme in meinem Kopf.

Der Satz war nicht aus meinen Gedanken entstanden, er war einfach so in meinem Kopf erschienen und ich zuckte erschrocken zurück. Der Meermann fletschte die Zähne und zischte.

Ich starrte ihm in die Höhlen in denen Feuer brannte, wo Augäpfel hätten sein sollen, verbissen in meiner Angst. Meine Augen begannen zu tränen und ich blinzelte.

„Nimm es an“, raunte die Stimme wieder. „Kind des Feuers.“

Meine Augen brannten und ich blinzelte erneut. Ich wusste nichts anderes als zu tun, wozu er mich aufgefordert hatte und akzeptierte die Hitze und das Brennen und den Schmerz auf meiner Netzhaut, genauso wie vorhin, als ich über das glühende Metall gelaufen war. Doch dieses Mal verschwand jeglicher Schmerz und plötzlich empfand ich die Hitze als angenehm. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich fühlte mich als würde eine riesige Last von mir abfallen.

Der Meermann wandte den Kopf und nickte seinen zwei Gefährten zu.

„Komm“, sagte die Stimme und die Meermänner verschwanden um eine Biegung aus der Höhle.

„Komm!“, rief die Stimme und ich verstand, dass sie zu dem Mann gehören musste.

Ich folgte ihnen durch einen kurzen, steil abfallenden Tunnel. Als ich aus ihm heraustrat, hatte ich das Gefühl gegen eine Wand aus Hitze zu prallen. Doch ich nahm sie an, wie der Meermann es gesagt hatte und der Schmerz des Brennens verwandelte sich in etwas Gutes.

Der Mann legte mir eine Hand auf die nackte Schulter und machte mit der anderen eine ausladende Bewegung.

„Die Schmieden von Mjendra“, wisperte ich in dem Moment, in dem er die Worte in meinen Kopf pflanzte.

Es sah nicht aus wie eine Halle, mehr wie ein Schlachtfeld, ein Bild, bei dem der Künstler sich zwischen zwei Ideen nicht hatte entscheiden können. Grobe Stufen führten vor uns hinab auf etwas wie schmutziges, schwarzes Glas mit aufgebrochenen Stellen durch die die Lava nach oben schwappte, die unter dem Glas floss. Ambosse ragten wie Felsbrocken aus dem Boden hervor und das stählerne Klirren der Hämmer, die von dutzenden rot glühenden Meermenschen geführt wurden. Nebliger Dunst verschleierte die Sicht und verdichtete sich über uns zu Wasser. Am anderen Ende dieses höllengleichen Schauplatzes stieg eine rauschende Säule aus wirbelndem Wasserdampf in die Höhe.

„Schon seit langer Zeit kam niemand mehr hinab in die Schmieden“, sagte die Stimme in meinem Kopf schleppend. „Und noch nie konnte ein Mensch die Hallen betreten ohne zu verkohltem Fleisch zu zerfallen.“

Ich spürte erneut seine Krallen über meine Haut fahren und hörte ihn zischen, als er meine Unversehrtheit feststellte. Ich schluckte und riss mich zusammen um nicht zurückzuweichen.

„Wisst ihr warum ich hier bin?“, fragte ich und sah zu dem Meermann auf.

„Wir wissen es, wir wurden benachrichtigt, wie immer, wenn sie jemanden sich dem Feuer erproben lassen. Doch niemand glaubte, dass du hier ankommen würdest.“

Für die anscheinend höflich gedachte Anrede in der dritten Person schienen die Leute hier wohl keinen Sinn zu haben. Allerdings sahen sie auch nicht so aus als würden sie auch nur eine Sekunde auf irgendeine Art von Höflichkeit verschwenden. Sie bewegten ja nicht mal ihre Münder sondern schafften es ihre Worte durch magische Telepathie in meinen Kopf zu setzen.

Die Meermänner stiegen die Stufen hinab und ich folgte ihnen.

So dünn das Glas auch aussah, es schien nicht zu zerbrechen, dennoch machte ich meinen ersten Schritt sehr vorsichtig. Die Metallstücke, über die ich gelaufen war, waren nichts im Vergleich zu diesem Glas. Doch ich wusste, dass ich mich nicht verbrennen würde und ertrug die Hitze ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ihr sprecht also meine Sprache?“, fragte ich unsicher.

„Die Ohren der Schmiede verlieren ihre Kraft und unsere Hälse vertrocknen. Wir sprechen nichts. Ich sage es in deinen Kopf und wenn du sprichst, sind deine Gedanken für mich so kräftig wie deine Stimme für dich. Und was im Kopf ist, hat keine Sprache, nur Bedeutung.“

„Oh“, machte ich erstaunt.

„Du willst einen Dolch“, stellte der Meermann in meinem Kopf fest.

Die anderen beiden hatten sich von uns getrennt und er führte mich nun zwischen den Öfen hindurch.

„Was weißt du über unsere Waffen?“

„Ich weiß, dass sie mich töten, wenn ich ihrer nicht würdig bin“, meinte ich trocken und der Mann nickte.

Etwas abseits ließ er sich im Schneidersitz nieder und nach kurzem Zögern tat ich es ihm nach, in der Hoffnung, dass das, was von meiner Hose übrig geblieben war, dabei nicht auch noch verbrennen würde.

„Wir Meernen stellen die Waffen her, seit es uns gibt. Es ist unsere Bestimmung und nur wir wissen die alte Magie zu lenken, die es dazu braucht, die nötige Hitze zu erreichen und den Zauber auf die Klingen zu legen.“

„Ich dachte nur Elfen hätten eine Affinität zur Magie“, unterbrach ich ihn unbedacht.

Sein Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse und er spuckte aus.

„Die Elfen wissen nichts von Magie, sie verstehen sie nicht wie wir!“, dröhnte es in meinem Kopf. „Sie machen alberne Tricks während wir die alten Strömungen lenken. Die Meernen erschufen die Stadt unter dem Meer und nur die Meernen kennen die wahre Kunst des Schmiedens!“

„Aber wenn ihr die einzigen seid, die das wirklich können, warum gibt es dann keine Waffen aus euren Schmieden über dem Wasser?“, fragte ich vorsichtig.

„Weil sie ihrer nicht würdig sind“, grollte der Meermann.

Ich wusste nicht so recht was ich darauf antworten sollte, also schwieg ich.

„Du musst noch vieles lernen, rotes Kind. Wo willst du beginnen?“

„Wann kriege ich den Dolch?“, schoss es aus mir heraus, bevor ich mir etwas Besseres überlegen konnte.

„Auch Geduld wirst du lernen müssen, doch dabei kann ich dir nicht helfen.“ Der Meermann neigte leicht den Kopf. „Es dauert lange eine Waffe im ewigen Feuer zu schmieden, manchmal brauchen wir zehn Jahre. Wenn der nächste Meerne zum Ende kommt, werden wir deine Essenz der Waffe beifügen. Und wenn du sie dann aufnehmen kannst, gehört sie dir.“

Zehn Jahre? Ich warf einen Blick über die Schulter. Ich hatte nicht mal damit gerechnet eine Stunde in diesem Schmelzofen zu sitzen.

„Meine Essenz?“, hakte ich nach und drehte mich wieder um.

„Eine Waffe kann nur wahre Macht besitzen, wenn sie ganz und gar der Teil ihres Führers ist. Dazu muss die Essenz von demjenigen beigefügt werden.“

Das hörte sich irgendwie nicht ganz so spaßig an.

„Jeder Meerne erprobt sich in jeder Dekade dem Feuer. Wenn er besteht wird er in die Schmieden herab geschickt und wenn er ankommt, entscheiden wir, ob er eine Waffe bekommen soll oder zum Schmied wird. Seit über zwei Dekaden kam keiner mehr herab und wir können nur glanzlose Waffen hinaufschicken, die zwar die besten ihrer Art sind, aber nie wahre Macht erreichen können.“

Seit über zwei Dekaden? War eine Dekade nicht zehn Jahre lang?

„Etwa, seit die Eishexe den Krieg begonnen hat?“

Das Gesicht des Meermannes wurde hart und grimmig.

„Die macht das Wasser zu Eis und schwächt damit die Meernen. Sie alle brennen.“

„Aber warum bringt ihr die Waffen dann nicht nach oben, fügt die Essenz eines Meermenschen bei, und schmiedet sie hier unten fertig?“, wollte ich wissen.

„Ein Schmied verlässt die Schmiede nicht“, donnerte der Meermann in meinem Kopf und ich zuckte zusammen. „Außerdem ist die Essenz nur dann stark genug, wenn sie die Feuerprobe bestanden hat.“

„Was passiert denn, wenn sie nicht stark genug ist?“

„Sie zerbricht.“

Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Was für eine eine tolle Nachricht.

„Aber ich denke, du wirst es schaffen. Du bist ein Kind des Feuers.“

Ich runzelte die Stirn. So hatte er mich vorhin schon genannt. War das die offizielle Bezeichnung für jemanden der Feuerprobe bestanden hatte oder steckte mehr dahinter? Ich dachte wieder an die Eisbären, die ich verbrannt hatte, als wären sie sie aus Stroh.

„Das Feuer wurde dir in die Wiege gelegt“, sagte der Meermann jetzt. „Und du musst lernen es zu kontrollieren.“

„Aber wie denn? Ich habe doch keine Ahnung davon!“

„Du wirst Wege finden.“

Ich biss mir auf die Zunge und starrte auf die Lava unter mir. Dachte er, dass ich eine Affinität zur Magie hatte? Aber wieso drückte sich das durch Feuer aus? Ich wollte ihn nicht fragen, da die Meermenschen das anscheinend für niedere Magie hielten und sie offensichtlich auch nicht praktizierten. Wenn ich es mit meinen Freunden hier raus geschafft hatte, musste ich Norlos unbedingt danach fragen.

„Woher weiß ich, ob ich der Waffe würdig bin?“, fragte ich den Meermann und wechselte damit das Thema.

„Wann immer du sie aufnimmst muss sie glühen.“

Ich meinte kurz so etwas wie ein trockenes Lachen in meinem Kopf zu hören.

„Aber die Waffen von Mjendra haben schon lange nicht mehr geglüht. Und ich glaube nicht, dass ein Mensch das Glühen zurück bringt.“

Es klang nicht verletzend, es schien nur einfach seine Meinung zu sein und ich schluckte. Sollte etwa alles umsonst gewesen sein?

16. Kapitel

 

Ich wusste nicht wie lange wir schweigend da saßen und ich die rauschende Säule anstarrte, die sich durch das Wasser nach oben wand. Die fertigen Waffen wurden dort hineingeworfen und die wirbelnde Luft transportierte sie dann nach oben. Der Meermann hatte mir außerdem gesagt, dass sie Meermenschen von „oben“ und „unten“ sich durch die Säule Nachrichten schickten. Ich hatte eine dunkle Ahnung, dass auch ich durch diesen Wirbelsturm musste.

Gerade als ich darüber nachdachte, was mit meiner Kotze passieren würde, wenn ich da durch geschleudert würde, stand der Meermann auf.

„Es ist so weit.“

Ich sprang auf und folgte ihm. Der Schmied wartete am anderen Ende der Schmiede auf uns und nicht nur einmal wäre ich beinahe in ein Loch des Bodens getreten. Zum Glück schaffte ich es jedes Mal rechtzeitig der Lava auszuweichen.

Als wir da waren zeigte uns der Schmied die Klinge, die er eben fertiggestellt hatte. Sie war gerade mal so lang wie meine Hand und keine drei Finger breit. Dennoch war sie wunderschön. Das Metall war perlmuttfarben und leicht durchsichtig wie Glas. Der schmale Griff war bereits angebracht. Er glänzte leicht wie eine schwarze Muschelschale und war auch so geriffelt.

Der Schmied nickte mir zu und ich hörte die Stimme des anderen Meermanns in meinem Kopf sagen: „Reich ihm deine Hände.“

Ich streckte ohne nachzudenken meine nackten Arme auf und der Schmied machte ohne Vorwarnung zwei tiefe Schnitte mit dem Dolch in meine Unterarme.

Ich keuchte erschrocken auf, doch der Meermann sagte: „Ruhig! Das erste Fleisch in das er schneidet muss das seines Führers sein. Jetzt wird er dich nie mehr verletzen können.“

Der Schmied fing mein Blut in einer flachen Schale auf und mir wurde schwindlig als ich sah, wie sie sich füllte. Ich spürte einen Druck auf der Brust als würden schwere Steine auf mir liegen und ich atmete immer tiefer ein, um an Sauerstoff zu kommen.

„Diese Narben wirst du ein Leben lang tragen. Sie binden den Dolch an dich.“

Ich wollte schon empört protestieren, doch dies war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt um sich über einen Schönheitsmakel zu beklagen. Erst jetzt bemerkte ich, dass jeder Schmied seine Arbeit unterbrochen hatte und uns beobachtete.

Der Meermann fuhr mit seinen Finger über meine Wunden und sie begannen zu jucken, doch das Blut gerann. Auch der Druck auf meiner Brust verschwand.

Inzwischen hatte der Schmied die Klinge des Dolches ins Feuer gehalten und sie glühte rot vor Hitze. Doch dann tauchte er sie nicht in Wasser, wie Schmiede das meines Wissens mit heißem Metall machten, sondern in die Schale mit meinem Blut.

Es zischte und dampfte, dann kippte er das Blut ins Feuer aus dem Funken aufstoben. Er hielt mir den Dolch hin und ich zögerte nur eine Sekunde.

Dann streckte ich die Hand aus und meine Finger schlossen sich um das Heft des Dolches.

Ein Ruck ging durch meinen Körper und die Wunden auf meinen Armen brannten, als würden sie sich erneut öffnen. Ungläubig hielt ich den Dolch vor meine Augen und starrte auf das Metall von dessen Inneren ein schwaches, weißes Glühen ausging.

Ich sah zu den Meermännern die ebenso ungläubig erschienen. Dann öffnete einer den Mund und rief: „Meela!“

Die anderen schlossen sich an und die Rufe erfüllten die ganze Schmiede.

Der Griff passte wie angegossen in meine Hand und die kurze Klinge erschien mir viel einfacher zu handhaben als die lange des Dolches, den mir Fürst Bertang geschenkt hatte.

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und sah auf. Der Meermann der eben noch so fest davon überzeugt gewesen war, dass ich der Waffe nicht würdig sein würde, sah mich mit einem Funkeln in den flammenden Augen an, das mir gar nicht gefiel.

Ich war versucht seine Hand abzuschütteln doch ich wagte es nicht.

Dann hörte ich ein Rauschen von Stimmen in meinem Kopf. Verwirrt versuchte ich mich auf einzelne zu konzentrieren, doch ich hörte immer nur Fetzen.

„… können sie nicht gehen lassen …“

„… Eisbrecher …“

„… unter dem Meer …“

„… Kristalla fernhalten …“

„Stopp!“, rief ich laut, als mir alles zu viel wurde und wich zurück, wobei die Hand des Meermannes von meiner Schulter glitt.

„Ich kann nicht bleiben“, sagte ich mit erhobener Stimme. „Ich muss sie töten.“

„Willst du das denn?“, fragte der Meermann und fixierte mich.

„Was? Das ist keine Frage von wollen und nicht wollen“, murmelte ich mit belegter Stimme.

„Du denkst du musst, aber so ist es nicht. Doch du bist ein Kind des Feuers. Du könntest der Eisbrecher sein.“

Meine Verwirrung wurde von Angst überschattet. Dutzende Meermenschen starrten mich erwartungsvoll an, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mich nur um etwas baten.

„Du kannst den Tod aus dem Meer bannen und die Meermenschen vor den Klauen der Eisigen bewahren.“

„Und was ist mit der restlichen Bevölkerung dieser Welt?“, fragte ich trocken.

„Du kannst sie nicht retten. Die Eisige kann nicht sterben, du vermagst sie nicht zu töten. Doch du kannst etwas bewirken, wenn du hier bleibst.“

„Wenn“ hörte sich an wie „weil“ und ich fühlte mich wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Ich sah wie sich die Hände einiger Meermenschen um ihre Hammer schlossen.

„Ich kann nicht“, hauchte ich.

„Du wirst!“

Eine Faust donnerte gegen meine Schläfe und ich sackte weg.

 

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Seite. Ich spürte den Dolch noch in meiner Hand liegen. Meine Haare fielen mir über die Augen und ich blinzelte vorsichtig durch sie hindurch, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Die Meermenschen standen etwas abseits von mir und beugten sich über einen Zettel. Sie mussten dabei sein, die Nachricht für die Meermenschen oben zu schreiben. Dass ich angekommen war. Und das ich bleiben würde.

Meine Kiefermuskeln verkrampften sich. Wenn ich es nur zu der Wirbelsäule schaffen würde, ohne dass sie mich sahen, wenn ich die Nachricht abfangen könnte, bevor sie ihr Ziel erreichte. Dann hätte ich einen, wenn auch noch so kleinen, Vorsprung.

Ich beobachtete durch den Vorhang meiner Haare wie ein paar Meermenschen an ihre Arbeit zurückkehrten. Dann löste sich die Versammlung ganz auf und alle gingen zu ihren Ambossen bis auf einen, der mit dem Zettel in der Hand auf die Säule zuging.

Mit klopfendem Herzen presste ich die Augenlider zusammen, als einer der Meermenschen über mich hinweg stieg. Niemand schien bemerkt zu haben, dass ich schon wach war.

Ich zwang mich in Gedanken langsam bis zehn zu zählen, dann hob ich langsam den Kopf und sah mich um. Das Klirren der Hämmer erfüllte die Schmiede mit Lärm und niemand schien auf mich zu achten. Ich lag noch da, wo ich niedergeschlagen worden war, am Rand der Schmiede. Der einzige Schmied hinter mir, hatte mir den Rücken zu gekehrt und ich erhob mich in Zeitlupe, blieb aber geduckt.

Der Meermann mit der Nachricht hatte die Säule gleich erreicht und ich setzte zu einem Sprint auf Zehenspitzen an. Die Säule war nur einige Meter von mir entfernt und ich erreichte sie zwei Sekunden nachdem der Meermann die Nachricht in die wirbelnde Luft geworfen hatte.

Er drehte sich um und riss erschrocken die feurigen Augen auf. Ich ließ ihm keine Zeit zu reagieren und warf mich gegen ihn. Die Luft erfasste uns augenblicklich und wirbelte uns in die Höhe. Ich hatte meine Beine um seine Taille geschlungen und hieb mit der stumpfen Seite des Dolches auf seine Stirn ein. Er brüllte wütend, doch der Wirbelsturm, der uns immer schneller um die eigene Achse drehte und uns in die Höhe trug, rissen ihm den Schrei von den Lippen.

Seine Hände legten sich um meinen Hals und drückten zu. Ich würgte und spürte wie das Blut sich in meinem Kopf sammelte, als wollte es ihn zum Platzen bringen. Dann bohrte ich ihm die Klinge des Dolches bis zum Heft durch die linke Augenhöhle. Seine Hände fielen von meinem Hals und ich löste meine Umklammerung. Sein Kopf sackte in den Nacken und dickes dunkelrotes Blut strömte auf seiner leeren Augenhöhle, wo kein Feuer mehr brannte. Dann fiel er mit dem Kopf voran in die Tiefe, während der Strudel mich weiter nach oben trug.

Ohne Vorwarnung spuckte er mich auf und ich fiel auf kalten Stein.

Alles drehte sich und ich konnte mit Müh und Not feststellen, dass ich mich in einem Zimmer im Palast befinden musste. Hinter mir war ein Fenster, das direkt in das Auge der Wirbelsäule führte.

Ich tastete hektisch und halb blind die Steinfliesen nach der Nachricht ab, doch ich fand sie nicht.

„Liah!“

Ein Mann ging vor mir auf die Knie, ein Mann, der weder ein Meermensch noch Sam war.

Ich wollte zurück weichen, doch der Namenlose, dem ich vor einigen Stunden im Garten begegnet war, hielt mich an den Oberarmen fest.

„Ganz ruhig“, sagte er sanft und ich sah die Nachricht zwischen seinen Fingern.

„Gib mir das“, presste ich hervor und versuchte mich loszumachen.

„Ganz ruhig“, wiederholte er. „Ich wusste du würdest es schaffen. Die anderen haben es nicht geglaubt. Sie schlagen sich in irgendeiner Halle die Bäuche voll. Und ich fürchte deine Freunde sind als Hauptgang geplant.“

„Ich muss sie retten, ich muss…“

„Ganz ruhig, Liah!“, sagte er wieder, diesmal eindringlicher und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen.

Die Augen, die aussahen wie Sams.

„Woher kennst du meinen Namen?“

„Ich habe da so meine Quellen“, sagte er mit einem schiefen Grinsen.

„Du warst bei Sam“, stellte ich fest. „Du hast gesagt, du wüsstest nicht wo er ist. Du hast gelogen!“

„Ich weiß“, sagte er belustigt.

„Wo ist er?“, wisperte ich kraftlos und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

„Ich bring dich zu ihm“, sagte er leise. „Und das hier muss niemand lesen.“

Er riss die Nachricht in Fetzen und lies diese fallen. Dann half er mir hoch.

„Woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann?“, fragte ich, als ich ihm durch die dunklen Gänge folgte.

„Weil ich der einzige war, der nicht gedacht hast, dass du da unten zu Fischfutter wirst. Und weil du keine Wahl hast“, meinte er lächelnd.

„Ich… verstehe das nicht“, murmelte ich. „Ich dachte, sie wollten Kristalla loswerden, aber selbst die Schmiede wollten mich nur als Schutzschild.“

„Sie wollen nicht den Zorn von ihr auf sich ziehen, was zweifellos passieren wird, wenn sie mit einer unserer Waffen angegriffen wird. Niemand glaubt, dass man die Eishexe besiegen kann.“

„Aber du schon?“

Er sah mich an.

„Ich schon.“

Wir bogen um eine Ecke und der Gang weitete sich in einen kleinen Raum.

„Sam!“, rief ich erleichtert, als ich ihn mit steinernem Gesicht an der Wand lehnen sah.

In seiner Hand hielt er seinen Bogen und auch sonst schien er alle seine Waffen bei sich zu tragen. Zu seinen Füßen lagen meine Stiefel und meine Felljacke.

Seine Augen weiteten sich, als er meinen Aufzug sah. Dann glitt sein Blick weiter auf den blutigen Dolch in meiner Hand.

„Hattet ihr Schwierigkeiten?“, fragte er alarmiert.

„Einer der Schmiede… Ich musste, ich hab“, stammelte ich zusammenhanglos und sah wieder das Blut aus den Augen des Meermannes sprudeln. „Wir haben nur wenig Zeit. Sie werden seinen Körper finden und merken, dass ich weg bin. Dann schicken sie bestimmt mehr als nur ein Stück Papier.“

Sam nickte.

„Wir müssen die anderen befreien, bevor es für M’balla und seine Leute zu spät ist. Bha’i?“

Sam sah den anderen an.

„Hier lang.“

Ich schlüpfte hastig in meine Stiefel und Jacke, dann folgte ich ihnen.

Jetzt wo ich sie nebeneinander sah, war die Ähnlichkeit eindeutig nicht mehr zu leugnen. Allerdings bewegten sie sich völlig unterschiedlich. Sam war angespannt wie ein Jäger auf der Jagd und strahlte keinerlei Gefühle aus. Der Namenlose hingegen schien unter seiner Maske der Unbeschwertheit ziemlich nervös zu sein und seine Schritte waren obwohl er keine Schuhe trug lauter. Außerdem war er nackt. Ich gab mir Mühe ihn nicht anzustarren, aber es war schwer, da er direkt vor mir ging.

Dann blieb er unvermittelt stehen und ich knallte gegen ihn.

„‘tschuldigung“, nuschelte ich, als er sich belustigt zu mir umdrehte.

„Eure Freunde werden sicher bewacht werden. Ich gehe vor und ihr wartet hier, bis ich euch rufe, einverstanden?“

Ich hatte erwartet, dass Sam ihm widersprechen würde, doch er nickte nur.

„Du vertraust ihm? Was wenn das eine Falle ist?“, fragte ich ihn leise, als der andere um die Ecke gebogen war.

„Ich vertraue ihm“, sagte Sam nur und ich steckte nach einigem Zögern den Dolch in den Stiefel, in dem noch keiner war.

„Dann vertraue ich ihm eben auch.“

Wir hörten laute Worte in der Sprache der Meermenschen durch die Gänge hallen, dann Schritte, die in der Ferne verklangen. Ein Pfiff ertönte und wir setzten uns in Bewegung.

Der Namenlose öffnete gerade die Ketten, mit denen die Mannschaft der Seerose gefesselt waren.

„Sam, Liah!“ M’balla sprang auf und kam uns entgegen. „Was geht hier vor? Und wer ist der Kerl? Kämpfen wir gegen diesen stinkenden Haufen von Tunfischkonserven? Eben wollten sie uns kochen!“

Sein Akzent war jetzt so stark, dass ich ihn kaum verstand.

„Er ist auf unserer Seite und er hilft uns zu fliehen“, erklärte Sam ihm und der Mannschaft, die sich ebenfalls zu uns gesellt hatte.

Ich spürte die Blicke von ihnen auf mir, doch ich wusste, dass sie mich nicht anstarrten, weil meine Hose nur noch aus einem Häufchen Nichts bestand sondern, weil sie mich hatten durchs Feuer gehen sehen. Und jetzt war keine einzige Wunde auf meiner Haut zu entdecken. Ich ignorierte die nicht gerade freundlich starrenden Augen.

„Wir müssen weiter, wenn ihr die Wölfe auch noch mitnehmen wollt. Die Wachen werden schnell bemerken, dass der Graue sich gar nicht über die Gewürze absprechen will“, sagte der Namenlose drängend.

„Nicht ohne unsere Waffen“, knurrte M’balla.

„Allein hier oben im Palast sind über vierhundert Meermenschen. Wenn ihr entkommen wollt, helfen die paar Zahnstocher euch nicht. Nur Schnelligkeit.“

„Du siehst zwar nicht so aus wie ein Fisch, aber ich kann riechen, dass du zu dem Pack gehörst!“, donnerte der Kapitän, doch Sam ging dazwischen.

„Ruhe jetzt! Bha’i, wo lang?“

„Folgt diesem Gang, geht immer geradeaus, bis ihr zu einer Wendeltreppe kommt. Geht hoch und wartet dort auf mich. Seid leise, wenn sie euch finden, kann ich nichts mehr für euch tun.“

„Und wo gehst du hin? Was ist mit Norlos, Solos und Damin?“, fragte ich.

„Ich gehe zu den Wasserzellen und hole die Wölfe. Wenn ihr ankommt und ich noch nicht da bin, dann müsst ihr ohne sie fliehen.“

„Nein, wir können nicht…“

„Liah, komm schon“, sagte Sam und zog mich mit sich.

Wir hasteten den Gang entlang und er schien keine Ende zu nehmen. Mehrmals glaubten wir in der Ferne Schritte zu hören, doch es war stets das Echo der unseren. Während der Gang für mich nur ein dunkler Tunnel ohne Licht war, schien Sam tatsächlich irgendwann ein Ende zu erkennen, denn er lief noch schneller. Kurz darauf erreichten wir die Treppe.

„Moment mal“, murmelte M’balla und blieb stehen. „Wir wissen doch gar nicht was uns da oben erwartet.“

„Richtig“, sagte Sam. „Ich gehe vor.“

„Nichts da, Bursche. Ich bin der Kapitän dieser Unternehmung.“

Und schon hatte er sich an uns vorbei gedrängt und stapfte die Stufen nach oben.

Ich sah mich nervös um. Aus drei Richtungen mündeten Gänge an dieser Treppe und nirgends waren die Wölfe zu sehen.

„Sam, er muss doch auch den ganzen Weg gehen und davor noch zu den Zellen. Sollen wir wirklich nicht warten?“, fragte ich mit gedämpfter Stimme.

„Mittlerweile werden sie bemerkt haben, dass M’ballas Leute und ich fehlen. Vielleicht haben die Schmiede sie auch schon erreicht. Sie suchen überall nach uns und da wir wissen, dass sie nicht vorhaben, dich wieder gehen zu lassen, können wir nicht riskieren gefunden zu werden“, erklärte Sam.

Ich verzog das Gesicht und verschränkte die Arme.

Die Minuten zogen sich quälend in die Länge, bis M’balla uns nach oben rief. Meine Beine zitterten stark, als wir endlich ankamen und mir verschlug es die Sprache.

Wir mussten uns am höchsten Punkt des Palastes befinden. Wind fuhr mir die Haare und rings herum durch die zahlreichen glaslosen Fenster konnte ich den ewigen Sand erblicken. Der Raum wurde bis auf die schmalen Ränder von einem Wasserbecken ausgefüllt in dem die ziemlich baufällige Windrose schwamm.

„Was ist das für ein Ort?“, sagte ich zu mir selbst und sah nach oben, wo zwar keine Decke war, der Wasserhimmel aber ziemlich nah erschien.

„Das muss der Ausgang aus diesem verfluchten Fischkochtopf sein“, knurrte M’balla und rückte seine Pumphose zurecht.

„Aber wie kommen wir mit dem Schiff nach da oben?“, fragte ich noch immer den Kopf in den Nacken gelegt.

„Na, mit meiner Hilfe natürlich.“

Ich fuhr so schnell herum, dass ich mir einen Nerv einklemmte. Stöhnend rieb ich mir den Nacken und fixierte den Namenlosen wütend, der eben von den Stufen der Treppe trat. Hinter ihm kamen die drei Wölfe zum Vorschein.

„Liah!“, rief Solos sofort als er mich sah. „Geht es dir gut?“

„Ja, und euch?“

Ich musterte das zerzauste Fell der Wölfe, doch Sam unterbrach unser Wiedersehen.

„Warum hast du so lang gebraucht?“

„Die Meermenschen suchen überall nach euch. Die Schmiede haben sie erreicht.“

„Dann haben wir also keine Zeit zu verlieren.“

Wir kletterten auf die ramponierte Windrose, der ein Mast fehlte und deren Segel zerfetzt waren.

„Damit kommen wir aber nicht weit“, murmelte ich.

„Immerhin scheint der Rumpf nichts abgekriegt zu haben“, meinte Damin sachlich, doch er schien auch nicht sonderlich begeistert zu sein.

„Ihr solltet euch unter Deck begeben, die Auffahrt wird nicht so angenehm“, sagte der Namenlose, der immer noch am Beckenrand stand.

„Kommst du nicht mit?“, fragte ich verwirrt und trat an die Reling.

Ich hatte angenommen, dass er uns begleiten würde, nach allem was er für uns getan hatte. Die Meermenschen würden ihn sicherlich nicht mit offenen Armen in Empfang nehmen.

„Es ist schön, dass du mich jetzt doch bei dir haben willst“, sagte er zwinkernd und ich verdrehte die Augen. „Doch mein Platz ist hier.“

„Werden sie dich nicht… bestrafen?“

Er warf einen Blick zu Sam, dessen Miene nicht zu deuten war.

„Wie gesagt, der Graue hat meine Mutter geliebt. Er würde einem Kind von ihr niemals etwas antun.“

Ich nickte langsam und wollte schon den anderen unter Deck folgen, doch Sam bewegte sich immer noch nicht vom Fleck.

„Danke, bha’i. Für alles. Ich werde dich nicht vergessen“, sagte er schließlich und der andere grinste, auch wenn es dieses Mal etwas wackliger wirkte.

„Ich dich auch nicht. Beschütze sie.“

„Mit meinem Leben.“

Die beiden nickten sich zu, dann packte Sam mich beim Arm und bugsierte mich nach unten. Ich konnte gerade noch sehen, wie unser Retter einen Hebel an der Wand umlegte.

Dann ging ein Ruck durch das Schiff und Sam und ich purzelten die Leiter hinunter. Er schaffte es auf mir zu landen, ohne mir seinen Ellenbogen irgendwo hin zu hauen, was mir sicherlich nicht gelungen wäre.

„Alles in Ordnung?“, fragte Sam und half mir hoch.

„Ja, alles Bestens.“

Ich stolperte gegen die Wand, als das Schiff plötzlich in die Höhe schoss.

„Was passiert hier?!“

„Ich glaube, wir werden auf dem Wasser nach oben getragen“, sagte Sam und stellte sich vor mich, um mich festzuhalten, damit ich durch das Rucken und Zucken des Schiffes nicht zu Boden geworfen wurde.

Ich hörte die Stimmen der Mannschaft laut aus den Kabinen, die teils wütend teils ängstlich durcheinander schrien und M’ballas Versuche, Ordnung zu schaffen.

Sam stand so dicht vor mir, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn ansehen zu können. Mit der Wand hinter mir und ihm vor mir war ich bewegungsunfähig. Mein Herz raste und ich vergaß was ich in den letzten Stunden durchlebt hatte. Das Gurgeln des Wassers um uns herum nahm ich auch kaum wahr, nur ihn, wie er da stand, mich festhielt und in meine Augen sah.

„Sam“, hauchte ich atemlos.

„Ja?“, fragte er leise.

„Ich glaube, ich brauche eine neue Hose.“

Er sah kurz weg und ein Grinsen, das ich an ihm noch nie gesehen hatte, huschte über seine Lippen.

„Ich besorg dir eine, wenn wir wieder an der Wasseroberfläche sind.“

Ich wurde rot und musste lachen. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und merkte wie entsetzlich müde ich war. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir bei den Meermenschen gewesen waren und ich hatte in der Zeit weder gegessen noch geschlafen. Bis auf die paar Minuten in denen ich ausgeknockt in den Schmieden gelegen hatte.

Ich spürte wieder den schweren Druck, der auf mir gelastet hatte, als die Meermenschen unser Schiff in die Tiefe gerissen hatten, doch dieses Mal war er nicht so schlimm.

Ein weiterer starker Ruck ging durch das Schiff und ich wusste, dass das Meer uns so eben ausgespuckt hatte.

„An Deck, ihr faulen Landratten! Die Fischgräten sind schnell, aber die Windrose auch!“

Die Matrosen trampelten an uns vorbei und Wind fuhr durch die Tür in den Gang hinunter.

„Setzt was noch an Segeln da ist! Kurs nach Norden!“, brüllte M’balla munter und stapfte ebenfalls an uns vorbei.

„Schläfst du schon?“, fragte Sam und hob mich hoch.

„Ja“, murmelte ich und schloss die Augen.

 

Laut M’balla und seinem genauen Wissen über den Stand der Sterne hatten wir zwei volle Tage und eine Nacht bei den Meermenschen verbracht. Außerdem rühmte der Kapitän sich damit so reich zu sein, dass er Ersatzsegel im Laderaum aufbewahren konnte und obwohl wir einen Mast verloren hatten, war er sich sicher, dass wir den Meermenschen entwischen konnten.

„Diese Sirenchen holen uns nicht ein. Und wenn doch, kriegen sie meinen Säbel zu spüren!“, hatte er uns am Morgen nach unserer Flucht gesagt.

Außerdem meinte er auch, dass wir noch pünktlich in der Mondbucht sein konnten, wo wir uns mit den anderen Wölfen treffen wollten.

Durch das Bestehen der Feuerprobe hatten die Matrosen einen ordentlichen Respekt vor mir und M’balla hatte mir de Kajüte seines ersten Maats gegeben. Beziehungsweise, er hatte ihn freundlich überredet für die restliche Fahrt bei der Mannschaft zu schlafen.

So hatte ich endlich Raum für mich und verschlief das meiste des ersten Tages. Am Abend kam jedoch Norlos in mein Zimmer. Ich wusste, dass ich ihm nun genau erzählen musste, was in den Schmieden geschehen war. Und obwohl ich es die ganze Zeit gewusst hatte, war ich nicht wirklich darauf vorbereitet.

Ich gab mir Mühe sachlich zu bleiben und gab jedes Wort wieder, das die Meermenschen zu mir gesagt hatten, ohne mir selbst richtig zuzuhören. Ich erzählte auch die Details meiner Flucht, wobei ich versuchte mein Pokerface auch nach innen zu bewahren. Ich wollte nicht darüber nachdenken, dass ich getötet hatte.

Ich zupfte nervös an der Pumphose herum, die M’balla mir geliehen hatte und wartete auf Norlos‘ Reaktion.

„Liah. Sieh mich an.“

Ich sah in die dunklen Augen des Wolfes.

„Du hast alles richtig gemacht. Du bist noch so jung und nicht auf deine Aufgabe vorbereitet worden, aber du meisterst jede Hürde. Das bestärkt immer wieder die Tatsache, dass du und nur du die Pachanda bist.“

Ich glaubte Stolz in seiner Stimme zu hören und schluckte.

„Was denkst du darüber, dass er mich Kind des Feuers genannt hat?“, fragte ich vorsichtig.

Der Wolf dachte kurz nach, bevor er antwortete.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Die Meermenschen sind unkultivierte Gesetzlose, die sich nicht auf diese Dinge verstehen, auch wenn sie es vorgeben. Mach dir nicht zu viele Gedanken darüber. Wenn wir wieder an Land sind, werde ich versuchen Antworten zu beschaffen, versprochen.“

„Danke“, murmelte ich.

17. Kapitel

 

Ich lag schon wieder im Bett, als Sam die dunkle Kajüte betrat. Wie ein kleines Kind streckte ich reflexartig die Hand nach ihm aus und er trat ans Bett und ergriff sie.

„Du hast schon mit Norlos geredet, oder?“, fragte ich und war erleichtert, als er nickte.

Noch einmal hätte ich die Geschichte nicht erzählen wollen.

„Ich wollte nur sehen wie es dir geht. Ich will dich nicht vom Schlafen abhalten.“

„Ich hab den ganzen Tag geschlafen.“

Er schwieg.

„Dir liegen schon wieder hundert Fragen auf der Zunge. Das sehe ich dir an“, sagte er schließlich und ich nickte.

Er setzte sich am Kopfende meines Bettes auf die Matratze, da ich mich weigerte seine Hand loszulassen und sah mich abwartend an.

„Warum warst du nicht in den Wasserzellen? Und wieso hast du den Namenlosen bha’i genannt? Hat das Wort eine bestimmte Bedeutung? Kennt ihr euch? Hat er uns deshalb geholfen? Wollten die Meermenschen, dass du da bleibst? Hast du Verwandte getroffen?“

Sam hielt mir mit der eigenen Hand den Mund zu.

„Sieht so aus, als müsste ich etwas weiter ausholen.“

Ich nickte heftig und beobachtete ihn gespannt.

„Du lagst nach unserer Bruchlandung wohl etwas abseits, deshalb haben sie uns zuerst gefunden. Ich war bei Bewusstsein und konnte sie davon überzeugen, nicht auf die Mannschaft loszugehen. Sie nahmen uns gefangen und trennten uns. Ich wurde zum Grauen gebracht. Er erkannte sofort meine Mutter in mir und sagte mir, ich wäre ein Gast. Er ließ mich allerdings nicht zu den anderen und wollte mich die ganze Zeit nur davon überzeugen, den eigentlichen Grund, aus dem ich gekommen war, zu vergessen und dem Volk der Meernen beizutreten. Ich lehnte natürlich ab und er schickte mich weg. Ich wurde weiterhin bewacht und konnte den Raum, der mir zugewiesen war, nicht verlassen. Dann kam der Namenlose, wie du ihn nennst.“

Sam verstummte und ich merkte, dass er nun an einem Punkt angelangt war, über den er eigentlich nicht reden wollte. Ich wartete still ab, hielt es innerlich aber kaum aus.

„Um es… zusammenzufassen, er sagte mir, wir wären Zwillingsbrüder und nach der Geburt getrennt worden. Während ich beim Volk unseres Vaters aufgewachsen war, hatte er sein Leben bei den Meernen verbracht. Er wollte alles über das Wüstenvolk und den Grund meines Auftauchens wissen. Schließlich sagte er mir, was du im Begriff warst zu tun, und das kein Meerner außer ihm glauben würde, dass du aus den Schmieden zurückkehren würdest. Und er erzählte mir von seinem Plan, wie er vorhatte uns zur Flucht zu verhelfen, sobald du zurück wärest und so machten wir es. Aber er hat uns nicht nur geholfen, weil er mir helfen wollte. Er glaubt an unsere Mission und er will, dass du es schaffst.“

Fassungslos starrte ich Sam an. Es machte absolut Sinn. Die Ähnlichkeit war kein Zufall gewesen und das Vertrauen, dass ich bei Sam noch nie zuvor erlebt hatte, machte Sinn.

„Bha’i bedeutet Bruder“, schob Sam noch hinterher und ich nickte.

Er sah mich nicht an und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte schon früher gemerkt, dass Sam nicht auf seinen Meermensch-Anteil stolz war und auch jetzt hatte ich nicht das Gefühl, dass er es bereute, nicht im Meer aufgewachsen zu sein. Doch die Nachricht, dass er dort einen Bruder hatte, schien ihn verändert zu haben.

Wir schwiegen eine Weile, bis Sam schließlich mit den Schultern zuckte, als wollte er jetzt nicht mehr darüber nachdenken.

„Bist du nicht müde?“, fragte er.

„Warum? Willst du, dass ich einschlafe, damit du dich davonschleichen kannst?“, fragte ich grinsend.

„Sonst funktioniert das“, meinte er und ich machte eine begeisterte Geste, weil er auf meinen Witz eingegangen war.

Aber dann wurde ich wieder ernst.

„Kannst du heute Nacht hier bleiben?“

„Liah, das…“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn.

„Nur, weil ich so daran gewöhnt bin, dass du da bist. Und auf mich aufpasst.“

„Du bist hier sicher“, sagte er sanft. „Und ich bin ja nicht weit weg.“

„Na gut“, meinte ich leise und ließ seine Hand los damit er aufstehen konnte.

Als er gegangen war zog ich die Decke bis ans Kinn und starrte in die Dunkelheit. Viel zu bald packten mich die Klauen des Schlafs und rissen mich ins Reich der Träume.

 

Ich schrak auf. Mein Körper war schweißüberströmt und Tränen rannen mir übers Gesicht. Es war genau das Gleiche wie in den letzten vier Nächten, doch dieses Mal war es schlimmer gewesen. Es hatte sich realer angefühlt. Es war, als würde sich mit jeder Stunde, in der wir uns weiter von der Stadt unter dem Meer entfernten, meine Erinnerungen verdeutlichen.

Ich wischte die Tränen weg und versuchte zu Atem zu kommen, doch ich schaffte es nicht. Ich bekam einfach keine Luft.

Ich hatte angezogen geschlafen und schlüpfte jetzt nur in meine Stiefel und warf mir die Jacke über, dann stürzte ich nach draußen an Deck. Sam stand noch immer am gleichen Platz an der Reling wie am Tag und hatte den Blick nach Norden gerichtet, in der Hoffnung die Mondbucht durch den Nebel auszumachen, die wir heute hatten erreichen wollen.

„Du solltest schlafen. Bald werden wir da sein und dann brauchst du deine Kräfte“, sagte Sam ohne sich umzudrehen.

„Ich will aber nicht“, sagte ich erstickt.

Er drehte sich um und sein Blick wurde weich, als er meine roten Augen sah. Er ließ zu, dass ich mich an ihn drückte und legte die Arme um mich.

„Es sind nur Träume, Liah.“

„Es ist aber wirklich passiert.“

„Erinnerst du dich noch, was ich dir über das Töten gesagt habe?“, fragte er leise.

„Man kann es nicht lernen.“

„Und man soll es nur aus Gründen tun, mit denen man leben kann“, ergänzte er. „Warum musstest du den Schmied töten?“

„Weil ich sonst nicht hätte fliehen können“, wisperte ich.

„Und weil du uns andere retten wolltest.“

„Ich glaube trotzdem nicht, dass ich damit leben kann“, sagte ich leise.

„Das dachte ich nach dem ersten Mal auch.“

Ich sah zu ihm hoch und er ließ mich los.

„Aber ich bin immer noch hier.“

Ich atmete tief durch und straffte die Schultern.

Der Wolken brachen auf, kurz bevor wir die Bucht erreichten. Sie hatte sich in die hohen Klippen des Festlands gegraben und das Wasser schien dort viel heller als auf dem offenen Meer, da es nicht so tief war. Der helle Mond warf fahles Licht auf die Wellen und ließ sie glitzern, als würden hunderte Diamanten auf ihnen schwimmen.

Luna und Bast, die kleinen Dörfer, die sich am linken und am rechten Ende der Bucht befanden, bestanden jeweils nur aus einer Handvoll Fischerhütten, die sich an den kargen Stein klammerten. Ich sah Rauch aus den Schornsteinen der Häuser aufsteigen, doch es machte mich eher nervös als dass es mich beruhigte. Die Menschen durften uns nicht bemerken, denn jetzt wo wir so nah bei Kristalla waren, durfte sie nichts mehr von uns bemerken.

M’balla würde mit der Windrose nicht in die Bucht hineinfahren, da man uns dann auf jeden Fall gesehen hätte. Stattdessen sollten wir schwimmend zu unserem Treffpunkt zwischen den beiden Dörfern gelangen.

Jetzt wo ich die Bucht sah, erschien mir dieses Unterfangen noch unmöglicher, denn die Mondbucht war zwar nicht besonders groß, aber dafür umso tiefer und von hier bis zu der in Dunkelheit verhüllten Küste am anderen Ende war es sicher ein Kilometer.

„Können Wölfe überhaupt schwimmen?“, fragte ich missmutig und starrte auf das Wasser unter uns.

„Wölfe sind sogar sehr gute Schwimmer“, bestätigte Solos. „Scar und ich haben einmal die ganze Nanuk durchschwommen.“

Ich hörte die Freude in seiner Stimme, da er seine Gefährtin schon bald wieder sehen würde, und lächelte schwach.

„Was wenn die Meermenschen sich irgendwo hier verstecken?“, wollte ich wissen.

„Das Wasser ist hier zu kalt für sie. Außerdem haben wir das Klippenmeer schon lange hinter uns gelassen und das verlassen sie nie.“

„Hm“, machte ich und zog meine Jacke etwas enger um mich.

„Meine lieben Freunde.“ M’balla war zu uns getreten und grinste breit. „Nun ist der Augenblick gekommen sich zu verabschieden.“

Seitdem er seine Bezahlung von Norlos erhalten hatte, war der Kapitän wieder besserer Laune. Und die schien sich nun auch noch etwas mehr zu heben, als wir im Begriff waren sein Schiff zu verlassen. Ich konnte ihm das nicht übel nehmen, immerhin hatten wir ihn und seine Leute in Lebensgefahr gebracht.

„Ich wünsche euch allen Erfolg dieser Welt. Aber nehmt es mir nicht übel, wenn ich sage, auf Nimmerwiedersehen!“

Er zwinkerte mir zu und ich lächelte. Von der Mannschaft der Windrose war leider sonst niemand zu sehen, aber von R’kart und dem Smutje hatte ich mich bereits am Abend verabschiedet.

Das Wasser spritzte, als die drei Wölfe von der Reling sprangen und ich war überrascht, wie schnell sie lospaddelten.

Sam reichte mir seinen Bogen, den er während dem Schwimmen nicht tragen konnte und ich hängte ihn mir um. Er sprang ins Wasser und blieb an Ort und Stelle.

Ich verzog das Gesicht, absolut unerfreut über die Tatsache, wie nass ich gleich schon wieder sein würde, dann hielt ich den Atem an und sprang ihm hinter her.

Das Wasser war eiskalt und ich rang keuchend um Atem. Ich hatte das Gefühl es würde mir die Luft abschnüren und ich spürte einen stechenden Schmerz in den Schläfen. Noch bevor ich untergehen konnte, spürte ich Sams Hände an meiner Taille.

„Du musst dich gut festhalten. Lass auf keinen Fall los“, sagte er eindringlich und schob mich durchs Wasser hinter sich.

„Das ist der Plan“, presste ich hervor und schlang die Arme um ihn.

Ich hatte das Gefühl ich würde mich an einem Delfin festhalten und nicht an einem Menschen. Sam bewegte sich so schnell und grazil durchs Wasser als wäre er ein Teil der Wellen und dennoch hörte man ihn kaum. Ich wusste, dass er ohne mich noch viel schneller gewesen wäre und ich konnte nicht anders, als ihn für diese Fähigkeit zu bewundern.

Da ich damit beschäftigt war, kein Wasser in Nase und Augen zu bekommen, sah ich nicht wie wir vorankamen, doch mein Körper wurde immer tauber von der Kälte und meine Finger spürte ich schon gar nicht mehr. Meine Schulter und mein Nacken brannten und die Haut auf meinem Gesicht spannte. Gerade als ich dachte, ich würde es nicht mehr aushalten, wurde Sam langsamer, bis er sich schließlich aufrichtete und mich von seinem Rücken ließ. Das Wasser ging mir jetzt nur noch bis zur Brust und die Küste war nur noch einige Meter entfernt. Mit schweren Schritten stolperte ich Sam hinterher aus dem Wasser.

Meine Fellkleidung triefte und machte jede meiner Bewegungen schwerfällig und meine Gelenke und Muskel waren so steif, dass ich im Kiesstrand zu Boden fiel und kaum wieder auf die Beine kam.

Die Wölfe kamen kurz nach uns aus dem Wasser und schüttelten ihren Pelz einfach trocken.

Meine Zähne klapperten und ich fühlte mich wie ein begossener Pudel in der Gefriertruhe.

„K-kalt“, brachte ich heraus und schlang die Arme eng um meinen nassen Körper.

„Wir müssen ein Feuer machen und unsere Sachen trocknen“, sagte Sam, der auch nicht gerade so aussah, als wäre ihm warm.

„Nein, ein Feuer wird man sehen. In den Höhlen hier gibt es heiße Quellen, wir müssen sie nur finden“, sagte Solos und ich keuchte ungläubig.

Wie sollten wir die bitte finden bevor wir zu Eis am Stiel wurden?

Meine Stiefel schmatzten ekelerregend, als wir über den gefrorenen Kies den steilen Hang hinaufkletterten. Ein paar Mal biss ich mir ausversehen auf die Lippe, doch ich spürte es kaum.

Bald verwandelte sich der Kies in Felsbrocken und hier und da wuchsen verkrüppelte Fichten und kleine Büsche. Die Wölfe hielten immer wieder schnüffelnd die Schnauze in die Luft und schließlich spürte Damin eine Höhle auf, deren Eingang hinter Büschen versteckt war.

„Hier, ich kann die Wärme schon spüren“, rief er gedämpft und wir beeilten uns zu ihm zu kommen.

Die Höhle grub sich waagerecht in den Hang und als ich mich durch die Büsche drängte, spürte ich die Wärme ebenfalls auf der Haut. Ich ging den schmalen kurzen Gang entlang, der eine leichte Biegung machte und sich dann in eine kleine, niedrige Höhle öffnete, die von einem dampfenden, dunklen Wasserbecken ausgefüllt war.

Ich seufzte erleichtert und drehte mich zu den anderen um, die noch am Eingang standen.

Norlos sagte gerade: „Wir werden Osta, Gryf und Scar suchen, solange könnt ihr euch aufwärmen und eure Kleidung trocknen. Spätestens im Morgengrauen sollten wir zurück sein.“

Sam nickte und die Wölfe verschwanden aus meinem Blickfeld.

Ich betrat die Höhle und streifte meine klatschnasse Felljacke von den Schultern. Dann trat ich meine Stiefel von den Füßen und vergewisserte mich, dass sich noch beide Dolche in ihnen befanden. Als ich mich aufrichtete, sah ich Sam im Gang stehen und mich beobachten. Mein Blick wanderte von ihm zu dem kleinen Wasserbecken und ich wurde rot, als mir klar wurde, was wir im Begriff waren zu tun. Wir mussten aus unserer nassen Kleidung raus, wenn wir keine Lungenentzündung bekommen wollten und wir mussten uns aufwärmen. In dem Becken. Zu zweit. Ohne Kleidung.

Ich drehte mich um und zog mir das Hemd über den Kopf, das ich von den Piraten bekommen hatte. Jeder einzelne Zentimeter meines Körpers schmerzte von der Kälte und ich wusste, dass dies nicht der richtige Moment für Scham war. Ich schlüpfte aus den Pumphosen, von denen ich zwei über einander trug, da sie nicht besonders warm waren und es dauerte einen Moment, bis ich sie mit meinen tauben Fingern aus einander gefieselt hatte. Der BH gestaltete sich etwas komplizierter. Ich kam zwar an die Schnüre auf der Rückseite heran, doch ich konnte sie nicht lösen.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Sam hinter mir und ich hörte das Zögern in seiner Stimme.

Ich wusste, dass er nicht unsicher war. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Frauen er schon ausgezogen hatte. Wahrscheinlich wollte er mich nur nicht noch mehr verunsichern.

„Ähm, ja. Danke“, sagte ich ohne mich umzudrehen und ließ die Hände sinken.

Ich hörte seine nackten Füße auf dem Boden und mein ganzer Körper zitterte nicht mehr nur vor Kälte.

Er berührte mich nicht, als er die Fäden löste und ich verschränkte automatisch, die Arme vor der Brust, damit der BH nicht zu Boden fiel.

„Ich schau nicht hin“, sagte er plötzlich ernst. „Keine Angst.“

Ich hatte keine Angst! Naja, vielleicht ein bisschen, aber nicht vor ihm und ich wollte nicht, dass er das dachte.

Das Wasser plätscherte, als er sich in das Becken gleiten ließ und ich entledigte mich schnell meiner restlichen Kleidung und folgte ihm.

Ich stöhnte leise auf, als die Hitze mich umfing und bemerkte erleichtert, dass ich in dem Becken gerade so stehen konnte. Ich tauchte kurz meinen Kopf unter und meine Kopfhaut prickelte angenehm.

Es fiel nur so wenig Licht in die Höhle, dass das Wasser dunkel und nicht durchsichtig war und auch darüber war ich sehr erleichtert.

In der Mitte der Wände gab es kleine Vorsprünge wie Bänke und ich setzte mich auf einen gegenüber von Sam, dennoch trennte uns nur eineinhalb Meter Wasser. Er sah mich wirklich nicht an und sein Gesicht war die so ausdruckslos wie fast immer.

„Sowas gibt es auch in meiner Welt“, sagte ich unvermittelt und sein Blick traf meinen. „Solche Quellen meine ich. Aber ich war nie in einer. Es ist gar nicht so heiß wie ich dachte.“

„Noch heißer und es würde vermutlich kochen“, meinte Sam.

„Oh. Ja, ich… Ich glaube, ich empfinde Wärme nicht so wie andere“, erklärte ich zögerlich. „Sonst hätte ich die Feuerprobe ja auch nicht bestanden.“

„Ich denke es ist mehr als das.“

Ich nickte langsam und legte den Kopf auf den Rand des Beckens. Ich war erschöpft und gleichzeitig stand mein Körper unter Strom. Meine Finger und Zehen brannten schmerzhaft während das Wasser die Kälte aus ihnen vertrieb. Die Zeit zog sich zäh dahin und mehr als einmal fielen mir beinahe die Augen zu.

„Wie lange ist es noch bis zum Sonnenaufgang?“, fragte ich nach einer Weile.

„Nicht mehr sehr lange.“

„Ich glaube heute überstehe ich keinen langen Marsch“, murmelte ich.

„Sie werden die Pferde dabei haben und solange wir noch nicht tief im Gebirge sind, können wir reiten.“

Beim Gedanken an Eisblitz musste ich lächeln. Ich freute mich darauf, den weißen Hengst wieder zu sehen.

„Du solltest das öfter tun“, sagte Sam plötzlich und ich hob den Kopf.

„Was denn?“

„Lächeln. Du bist dann noch viel schöner.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus und meine Lippen öffneten sich, doch ich wusste absolut nichts darauf zu erwidern.

Vielleicht lag es am Licht aber Sams Augen erschienen mir dunkler als sonst und auch sein Blick hatte sich verändert. Etwas in mir zog sich zusammen und meine Fingerspitzen kribbelten. Ich leckte mir über die Lippen und versuchte meinem Hirn irgendetwas Sinnvolles zu entlocken, doch bevor es soweit war, ging ein Ruck durch Sam und er durchmaß das Becken mit zwei Schritten.

„Sam“, wisperte ich, doch da lagen seine Lippen schon auf meinen.

Es war, als würde etwas in mir explodieren und ich schlang die Arme um ihn. Er vergrub die Hände in meinen Haaren und drückte mich an die raue Wand des Beckens. Ich stöhnte völlig überfordert von so viel von ihm auf einmal in seinen Mund und zog ihn noch enger an mich. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich mir diesen Moment herbeigewünscht hatte…

Ein Geräusch am Eingang ließ Sam jäh zurückweichen.

„Liah? Sam?“

„Wir kommen“, rief Sam dem Wolf zu und sein Blick wich meinem aus.

Völlig unfähig mich zu bewegen blieb ich noch einige Sekunden im Becken. Ich konnte seine Lippen noch an meinen spüren, seine Haut auf meiner fühlen…

Ich sah zu Sam, der mir den Rücken zugewandt hatte. Seine schlanken Muskeln bewegten sich geschmeidig unter seiner Haut. Ich versuchte meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen und kletterte mit gesenktem Blick aus dem Becken, während ich versuchte mir zu erklären, was zur Hölle da eben passiert war.

Meine Kleidung war nur noch ein bisschen feucht, doch die Stiefel trieften. Mir fiel ein, dass in den Satteltaschen von Eisblitz noch meine Sportschuhe waren. Am besten wäre es wahrscheinlich wenn ich sie tragen würde, bis die Stiefel wieder einigermaßen trocken waren.

Ich tapste also barfuß an Sam vorbei nach draußen.

„Hallo Scar“, begrüßte ich die junge Wölfin, die mir dort entgegen kam.

„Liah! Geht es dir gut?“

Um ehrlich zu sein wusste ich nicht, wie es mir ging, aber ich nickte zuversichtlich.

„Eisblitz“, seufzte ich und das Pferd schnaubte leise, als ich ihm den Kopf streichelte.

Der Schnee brannte unter meinen nackten Füßen und ich zog mich hastig in den Sattel, wo ich mich im Vergleich zu dem Geschaukel auf der Windrose fast wie zuhause fühlte.

„Na, hast du mich vermisst?“, raunte ich Eisblitz leise zu, während ich meine Sportschuhe hervorzerrte und in sie hineinschlüpfte.

Der Hengst wieherte zustimmend und ich band lächelnd meine Stiefel am Sattelknauf fest.

Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Sam aus der Höhle trat, doch ich traute mich nicht, ihn anzusehen. Sein Pferd Nola wieherte leise, als sie Sam sah und ich hörte ihn ihr den Hals klopfen, bevor er aufsaß.

Wir ritten den Berghang hinauf und als das Tageslicht langsam über den Horizont kroch, konnte ich durch den dichten Nebel endlich das Gebirge sehen.

Es ragte so hoch in die Wolken hinauf, dass es mir lächerlich vorkam, dass ich es nicht schon früher bemerkt hatte. Wie eine grob gehauene Wand erstreckte sich die Bergkette von Osten nach Westen und ich konnte weder Anfang noch Ende erblicken.

„Das sieht ziemlich eindrucksvoll aus“, sagte ich trocken zu Solos und der Wolf nickte.

„Das Mirakurgebirge ist so gut wie undurchdringlich. Wir könnten einen Führer gebrauchen.“

„Und wo kriegen wir den her?“, fragte ich skeptisch und ließ meinen Blick über die trostlose Landschaft schweifen, die das Gebirge hinauf kroch.

„Seit Kristalla sich hier niedergelassen hat, verstecken die Bergvölker sich. Und da sie wahre Meister des Versteckens sind...“

„Na super.“

Die Wege wurden bald steiler und gewundener, aber wir kamen gut voran. Als es dunkel wurde, befahl Norlos jedoch sofort anzuhalten. Sobald die Sonne vollständig hinter den Bergen verschwunden war, war es stockdunkel und nicht ein einziger Stern erhellte den Himmel. Da war uns noch am Rand des Gebirges befanden, erlaubte Norlos ein kleines Feuer, doch während Sam es entfachte, entfernten sich die Wölfe und durchstreiften die felsige Umgebung, um sicherzugehen, dass wir allein waren.

Der Boden war hart und kalt, und ich benutzte Eisblitz Satteldecke, um wenigstens etwas Komfort zu erhalten.

Der Platz, an dem wir rasteten, war einigermaßen eben und von Felsbrocken umgeben. Ich lehnte mich gegen einen von ihnen und ließ den Blick schweifen, doch außerhalb des Lichtkreises des Feuers war nichts zu erkennen.

Meine Finger fuhren durch einen der kargen Grasbüschel, die hier und da zwischen den Steinen wucherten, und das trockene Gras knisterte leise.

„Die erste Nacht im Freien“, sagte ich leise und Sam hob den Kopf.

Es war das erste Mal, dass er mich wieder ansah und ich wandte den Blick schnell wieder ab.

„Hast du Angst?“, fragte er ernst.

„Nein!“, rief ich wie aus der Pistole geschossen. „Nein, ich …“

Ich verstummte, denn ich war zu müde, um mir eine Lüge auszudenken. Mir tat alles weh und mir war kalt. Ich vermisste das Bett auf der Windrose und die sichere Kajüte. Obwohl ich mich dort keinesfalls sicher gefühlt hatte, doch jetzt, wo wir nicht mehr auf dem Meer waren… wo uns die Meermenschen nicht mehr erreichen konnten…

Meine Hände fuhren über meine schmerzenden Beine hinab zu meinen Stiefeln. Ich ertastete die beiden Dolche, die ich dort versteckt hatte und zog den der Meermenschen hervor. Seit ich ihn in das Auge des Meermannes gerammt hatte, hatte ich ihn nur einmal wirklich angesehen, und zwar, als ich ihn Norlos gezeigt hatte. Da war es mir nicht aufgefallen, doch als ich ihn jetzt in den Händen hielt, fiel mir eine Veränderung auf.

„Er leuchtet nicht mehr“, wisperte ich erstaunt.

Sam trat zu mir und sah auf den Dolch herab.

„Sollte er das?“

„Wann immer ich ihn aufnehme, muss er leuchten. Das hat der Schmied gesagt.“

„Aber“, setzte Sam langsam an und kniete sich hin. „Er hat doch nie geleuchtet.“

„Doch, natürlich! Als wir noch unter Wasser waren… Habe ich ihn entweiht, als ich ihn mitgenommen habe?“, überlegte ich verwirrt.

„Liah, er hat nicht geleuchtet.“

Er sah mich eindringlich an und ich runzelte die Stirn.

„Doch, ich habe es doch gesehen, als der Schmied ihn mir gegeben…“

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen und mir wurde speiübel. Ich hatte den Dolch wirklich entweiht, ich hatte etwas mit getan, was mich unwürdig machte. Ich hatte getötet.

„Was ist los? Was hast du?“

Er packte mich an den Schultern, doch ich konnte nur mit aufgerissenen Augen ins Leere starren. Ich hatte getötet. Ich hatte getötet, und meine Tat war mit nichts zu rechtfertigen, das erkannte sogar diese Waffe! Sam hatte gesagt, dass man nur mit den Gründen leben musste, doch das konnte nicht stimmen. Denn ich hatte Gründe gehabt, und dennoch hatte ich etwas verloren. Ich war befleckt mit einer Sorte von Schmutz, die kein Wasser abzuwaschen vermochte.

„Liah!“, zischte Sam an meinem Ohr und ich schnappte nach Luft.

Meine Augen fanden seine und ich wusste, dass sie seine leichte Panik um ein zehnfaches wiederspiegelten.

„Was ist los?“, fragte er, jedes einzelne Wort betonend.

„Ich habe… mich geirrt“, sagte ich und glättete meine Gesichtsmuskeln. „Es ist nichts, vergiss es.“

Sam runzelte die Stirn.

„So sah es aber eben nicht aus.“

„Ich habe mich nur erinnert, dass ich jemanden mit dem Ding umgebracht habe. Und dass es nicht das letzte Mal war, dass ich so etwas tun werde“, sagte ich.

Das war keine Lüge. Aber es war auch nicht die Wahrheit und ich mein Herz raste. Ich senkte den Blick, weil ich Angst hatte, Sam könnte mir die Lüge ansehen.

„Würdest du mich jetzt bitte loslassen?“, fragte ich leise und Sam ließ die Hände sinken.

In der Dunkelheit meinte ich kurz zwei glühende Punkte zu sehen, wie die Augen eines Tiers, in denen sich das Feuer spiegelte, doch dann waren sie auch schon wieder verschwunden.

18. Kapitel

 

Ich bekam in dieser Nacht kein Auge zu. Zumindest kam es mir so vor, denn ich lag die ganze Zeit über regungslos da und spürte den kalten Dolch an meinem Knöchel. Aber es war nicht Kälte sondern die Angst, die mich lähmte.

Als die Morgendämmerung anbrach, fühlte ich mich wie gerädert. Ich sprach kein Wort und mein Gesicht war zu einer Maske gefroren. Jedes Mal wenn mich einer der Wölfe oder Sam auch nur ansah, hatte ich das Gefühl, sie könnten es mir ansehen. Dass etwas nicht in Ordnung war. Doch sie konnten es natürlich nicht wissen und sie durften es auch nicht wissen. Keiner von ihnen wusste, dass der Dolch leuchten musste. Nun ja, Sam wusste es, aber er wusste nicht warum. Und er sollte es auch nicht herausfinden. Ich würde das irgendwie wieder in Ordnung bringen, bevor es soweit war.

Ich fühlte mich wie eine Verräterin, als ich auf Eisblitz zwischen den anderen über die schmalen Wege ritt. Mir war schlecht und ich hatte Kopfschmerzen, doch ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen.

Gegen Mittag wurden die Pfade immer steiler, waren für die Pferde jedoch noch gut zu beschreiten. Nur wenige Pflanzen wuchsen zwischen den kahlen Felsbrocken und je höher wir kamen, umso weniger wurden es. Die Hufe der Pferde klapperten auf dem gefrorenen Boden und der Wind pfiff uns um die Ohren, doch das waren die einzigen Geräusche, die hier oben ertönten.

Die Sonne stand im Zenit, als Sam plötzlich sein Pferd anhielt. Er hatte den Blick gen Himmel gewandt und ich hielt neben ihm an.

„Was ist?“, fragte ich.

„Raubvögel.“

Ich runzelte die Stirn und sah nach oben. Der weiße Himmel blendete mich und es dauerte einen Moment, bis ich die zwei schwarzen Umrisse ausmachen konnte.

„Verdammt, sind die groß“, murmelte ich, denn trotz ihrer großen Entfernung wirkten sie eindrucksvoll, wie sie mit ausgebreiteten Flügeln durch die Lüfte glitten. „Sind das Adler?“

„Nein“, murmelte Sam. „Das sind Geier.“

Auch Damin und Solos waren stehen geblieben.

„Wenn die hier sind…“, begann Damin.

„…dann muss es irgendwo Aas geben“, beendete Solos den Satz.

„Und wo es Aas gibt…“, fuhr Sam fort. „…da gibt es auch lebendige Tiere.“

Die anderen Wölfe versammelten sich um uns. Mir war klar, dass sie jagen gehen mussten, wenn sie bei Kräften bleiben wollten. Und wenn ich mich in dieser trostlosen Umgebung umsah, dann war mir ebenfalls klar, dass Wild hier selten war.

Ich hatte sie schon einmal beim Jagen beobachtet und mein Herz schlug augenblicklich schneller, bei dem Gedanken, dass sie es gleich wieder tun würden.

„Wir müssen schnell sein“, meinte Norlos. „Denn wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Liah und ich reiten weiter. Ihr seid schneller als die Pferde und könnt uns bis zum Abend wieder einholen“, schlug Sam vor und der Wolf schien nicht abgeneigt sein, ihm zuzustimmen.

Dennoch konnte ich dem Alpha ansehen, dass er uns hier nicht allein lassen wollte. Doch da das Zurücklassen von einem oder zwei Wölfen für diesen keine Nahrung und auch keine Stärkung bedeutete, einigten sie sich schließlich auf Sams Vorschlag und wir ritten weiter.

Ich drehte mich noch ein paar Mal um, bis die Silhouetten der davontrabenden Wölfe aus meinem Blickfeld verschwunden waren, dann konzentrierte ich mich wieder auf den Weg.

Wir ritten schweigend, und nur das Knurren meines Magens durchbrach die Stille.

„Du hörst dich so an, als wolltest du auch jagen gehen“, sagte Sam nach einer Weile und der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.

Ich wurde rot, schaffte es aber ernst zu bleiben.

„Könntest du es mir beibringen?“

„Was?“

„Naja, zu jagen. Und Fährten zu lesen und all das.“

„Als du mich das letzte Mal gebeten hast, dir etwas beizubringen, ist es nicht so gut ausgegangen“, sagte Sam nachdenklich und ich runzelte die Stirn.

„Du meinst, das mit dem Kämpfen? Klar, ich habe … wie hast du das formuliert? Die Geschicklichkeit eines Bergtrolls? Aber letztendlich warst du ein guter Lehrer.“

Sam lachte und bei dem Geräusch lief mir ein Schauer über den Rücken, doch etwas sagte mir, dass er von etwas anderem gesprochen hatte. Vom Töten.

Als hätte er meinen Sinneswandel bemerkt, unterbrach er meinen Gedankengang, indem er sagte: „Was macht mich denn dazu?“

„Du hast einfach auf jede Frage eine Antwort.“

„Wenn es beim Lehrersein nur darum geht, Antworten zu haben, dann bist du eine ausgezeichnete Schülerin, denn die Fragen gehen dir niemals aus.“

Ich grinste breit.

„Ich bringe dir bei zu jagen, wenn wir wieder in einer Gegend sind, in der es sich lohnt.“

„Ist das ein Versprechen?“

Er antwortete nicht, und ich ließ es darauf beruhen.

Wir kamen gut voran. So gut, dass Sam am späten Nachmittag beschloss, zu rasten und auf die anderen zu warten, damit sie uns auch wirklich vor Einbruch der Dunkelheit einholten.

Die Stelle, die er ausgesucht hatte, war einigermaßen eben, wie ein kleines Plateau, und nachdem wir alles Geäst, was wir hatten finden können, für ein Feuer am Abend gesammelt, und etwas gegessen hatten, standen wir uns gegenüber.

„Also gut, an was erinnerst du dich noch?“, begann Sam.

„Gewicht gut verteilen, immer sicher auftreten, denn wenn man nicht gut steht, bleibt man auch nicht stehen.“

Er nickte zufrieden und ich fuhr fort.

„Man muss sich auf alles gleichzeitig konzentrieren. Den Gegner und die Umgebung.“

„Und warum?“

„Weil man die Umgebung vielleicht zum eigenen Vorteil nutzen kann, aber sich trotzdem nicht ablenken lassen darf.“

„Und was machst du, wenn du gegen jemanden mit jahrelanger Erfahrung kämpfst, der dir absolut überlegen ist?“

„Ich renne wie der Teufel.“

„Wenn du aber nicht wegrennen kannst?“

„Ich hoffe, dass du dieser Gegner bist, und nicht so hart zuschlägst, weil es nur ein Übungskampf ist?“, fragte ich flehend.

Sams Lippen zuckten belustigt, dann griff er an.

Seine Faust zielte auf meine Schulter und ich drehte mich zur Seite weg, genauso, wie er es mir beigebracht hatte. Doch er ließ mir keine Zeit, mich über meinen Erfolg zu freuen.

Sams Eleganz in seinen Bewegungen war erstaunlich. Es war, als würde er tanzen und nicht kämpfen. Als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Immer wieder schaffte ich es seinen Schlägen auszuweichen und zwei Mal landete ich selbst einen. Er traf selbstverständlich öfter, aber er tat mir nie wirklich weh.

Schließlich hob ich um Atemringend die Hand und keuchte: „Gib auf, alter Mann, du siehst doch, dass ich gewinne.“

Sam hob eine Augenbraue.

„Ich sehe da etwas anderes“, meinte er, doch auch sein Atem ging schwer.

„Na gut, du hast die besseren Augen. Aber du musst zugeben, dass ich gar nicht so schlecht bin.“

„Ich habe es dir einfach gemacht.“

„Du Lügner“, schnappte ich grinsend und bevor ich es mir versah, hatte er einen Schritt nach vorn gemacht, mir mit einem Fuß mein Standbein weggezogen und ich fiel zu Boden. Trotz meines Schocks, schaffte ich es ihn mit mir zu reißen und er landete direkt auf mir.

Ich wollte mich herumrollen, um ihn auf den Rücken zu werfen, doch Sams Hände schlossen sich um meine Handgelenke und er hielt mich an den Boden gedrückt.

„Keine Chance“, sagte er grinsend.

Dieses Grinsen war eine Seltenheit und mein Herz setzte einen Schlag aus.

Ich schluckte und versuchte wieder zu Atem zu kommen, doch Sams Körper auf mir machte das unmöglich. Unsere Lippen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und ohne mein Zutun hob sich mein Kopf.

Sam sprang auf und zog mich mit sich hoch. Dann ließ er mich los und trat einen Schritt zurück. Von dem Grinsen war keine Spur mehr zu sehen.

„Was?“, fragte ich, und versuchte weder verletzt noch trotzig zu klingen. „Warum denn nicht?“

„Das geht nicht, Liah“, sagte er leise, aber bestimmt.

„Gestern Morgen ging es scheinbar noch“, fauchte ich und verschränkte die Arme.

Sam schloss für eine Sekunde lang die Augen, dann sah er mich eindringlich an.

„Das hätte niemals geschehen dürfen. Es tut mir leid.“

„Es tut dir leid?“, wiederholte ich seine Worte trocken.

„Ich hätte das nicht tun dürfen.“

„Also ich habe es dir ganz bestimmt nicht verboten.“

„Nein“, schnaubte er und fuhr sich durchs Haar. „Hör zu, Liah. Ich bin viel zu alt für dich. Und außerdem gibt es viel wichtigere Dinge auf die du dich konzentrieren musst, und für mich ebenfalls.“

„Was ist das denn für eine Logik?!“, rief ich verärgert. „Du findest mich zu jung, um dich zu küssen, aber nicht um gegen die gefährlichste Person dieser Welt zu kämpfen?“

„Liah“, sagte er ernst und sah mir fest in die Augen. „Ich werde dich mit meinem Leben beschützen und ich werde alles tun, um dir zu helfen. Aber ich habe keinerlei romantisches Interesse an dir.“

Ich starrte ihn an, stumm wie ein Fisch. Was sollte das denn? Das konnte er doch nie im Leben ernst meinen! Ich war doch nicht die einzige, die die Spannungen zwischen uns gespürt hatte. Und immerhin war er es gewesen, der mich geküsst hatte.

„Dann sind wir wohl … Freunde“, sagte ich schließlich.

Die Worte hinterließen einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

Sam nickte.

Ich kniff die Lippen zusammen und drehte mich um. Ich wollte ihn jetzt nicht ansehen. Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus. War es Wut? Scham? Trauer?

Ich kletterte auf einen der Felsen und musterte den Weg, über den wir gekommen waren. Ich konnte nicht sehr weit sehen, da er von hohen weißen Felsbrocken umgeben war, die alle höher waren, als der, auf dem ich stand.

Ohne groß darüber nachzudenken, kletterte ich weiter, bis ich am höchsten Punkt angekommen war und den Pfad überschauen konnte, der sich durch das raue Gestein schlängelte. Ich hielt den Blick in die Ferne gerichtet, wohlwissend, dass mir speiübel werden würde, wenn ich direkt nach unten sah. Die Wölfe waren nirgends auszumachen, aber vielleicht nahmen sie ja auch einen anderen Weg.

Ich drehte mich nach Westen, wo die Sonne den weißschimmernden Bergketten immer näher kam. Die Tage vergingen so schnell. Bald würden wir die eisigen Höhen des Gebirges erreichen. Und dann waren wir fast da. Dragon, die Stadt in der Kristalla sich aufhielt, war irgendwo da oben im Schnee und wartete auf uns. Ich hatte keine Ahnung was uns dort erwarten würde. Versteckte sie sich? Oder erwartete sie uns, riesige Armeen vor sich wie ein Schutzschild? Wie sollten wir an sie herankommen? Und wie sollte ich sie töten, wenn der Dolch nicht funktionierte?

Nervös verlagerte ich mein Gewicht und zuckte überrascht zusammen. Es fühlte sich so an, als würde mein Fuß im Fels einsinken. Verwirrt starrte ich auf den massiven Stein unter mir. Ich hob meinen Fuß erneut und tippte leicht auf dieselbe Stelle. Nichts passierte. Ich stampfte auf und der Fels gab nach. Ich schrie laut auf, als ich den Boden unter den Füßen verlor und in den Fels hineinfiel. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und ich riss mir die Handfläche auf, beim panischen Versuch mich an den kalten, schwarzen Wänden festzuhalten. Dann schlug ich wie ein nasser Sack Kartoffeln auf dem Boden auf.

Meine Gelenke brannten von der Wucht des Aufpralls und mein linker Knöchel pochte unheilvoll. Ich war blind in der Dunkelheit doch der Wiederhall meines Keuchens ließ mich vermuten, dass ich mich in einer Höhle befand. Ich schluckte und versuchte mich zu beruhigen, doch der Schreck saß mir in den Knochen und mein Herz pumpte hektisch Adrenalin durch meine Venen. Meine Hände zitterten, als ich sie in der Dunkelheit ausstreckte, doch ich konnte keine Wände spüren. Da war nichts.

Ich war durch einen engen Tunnel gefallen und dieser musste mich in diese Höhle ausgespuckt haben. Ich sah nach oben, doch da waren weder Licht und noch der Himmel zu sehen.

„Sam!“

Meine Stimme wurde von den Wänden, die ich nicht sehen konnte, zurückgeworfen und das Echo jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Sam, kannst du mich hören?!“

Natürlich hörte er mich nicht. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal gesehen, wie ich gefallen war. Wenn er es überhaupt bemerkt hatte.

„Verdammt“, fluchte ich.

Ich stand mit wackeligen Beinen auf und streckte die Hände aus. Sie fuhren ziellos durch die Luft.

Ich kämpfte gegen die in mir aufsteigende Panik an und fuhr mir übers Gesicht. Etwas Feuchtes blieb an meinen Wangen kleben. Ich musste bluten.

„Ganz ruhig“, wisperte ich. „Es wird alles gut.“

Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, als könnte ich dann besser sehen. Plötzlich hörte ich hinter mir ein leises Rascheln. Ich fuhr herum und stierte wie eine Wahnsinnige in die Dunkelheit.

„Wer ist da?“, keuchte ich.

Wieder raschelte es. Das Geräusch bewegte sich auf mich zu. Ich hob abwehrend die Hände. Etwas Weiches streifte meine Handflächen und ich fuhr zurück.

„Wer ist da?“, wiederholte ich lauter.

„Niemand“, wisperte eine vorwurfsvolle Stimme und ich zuckte erneut zusammen.

Ein Mensch. Oder zumindest etwas, das sprechen konnte. Jetzt blieb nur noch die Frage, ob Niemand gefährlich war.

Meine Hand tastete zu meinem Stiefel, wo mein Dolch verborgen war.

„Nein“, sagte die Stimme gedehnt, als würde es mein Vorhaben voraussehen. „Das würden wir nicht tun.“

„Wer bist du?“

„Pok? Du sprichst mit Pok?“

Es klang wie eine Frage.

„Hallo Pok. Ich bin Liah. Was machst du hier unten?“ Meine Stimme zitterte.

„Wir leben hier“, antwortete Pok und dehnte die Vokale dabei solang, dass seine Stimme eine Oktave höher rutschte.

„Wir? Sind da noch mehr von mir?“

„Mehr von mir? Gibt es mehr von dir? Es gibt nur einmal uns, wir sind doch nicht …“ Die Stimme schraubte sich empört in die Höhe und ich hob abwehrend die Hände.

„Schon gut, schon gut! Ich meinte nur, bist du alleine hier?“

Kurz war es still. Ich hielt den Atem an.

„Wir sind schon so lang allein“, seufzte Pok. „Seit die anderen uns verstoßen haben …“

„Und wer sind die anderen?“

Durch den Verlauf unseres Gespräches erhoffte ich, dass Pok nicht von hatte, mir etwas zu tun, aber ob er mir hier raus helfen würde, das war die Frage.

„Die anderen, die anderen! Alle kümmern sich nur um die anderen, seit sie sich dem Zauber der weißen Frau ergeben haben.“

„Meinst du etwas die Eishexe?“

„Zssst!“, zischte es und plötzlich sprang mich etwas schweres pelziges an und warf mich zu Boden.

Pok presste seine Pranken auf meinen Mund und drückte mir dabei die Luft ab. Ich zappelte panisch unter ihm und versuchte ihn abzuschütteln, doch in dem kleinen Wesen schien eine ungeheure Kraft zu stecken.

„Du darfst sie nicht nennen! Sonst hören sie uns!“, zischte er mindestens so panisch wie ich und lockerte schließlich seinen Griff.

Ich schnappte nach Luft.

„Also …“, keuchte ich und hustete etwas aus, das stark nach Fellknäul schmeckte. „Diese anderen … haben sich ihr unterworfen, weil sie sie verzaubert hat?“

„Der Zauber des Goldes …“, seufzte Pok traurig.

Langsam verstand ich.

„Und weil du nicht käuflich bist, haben sie dich verstoßen?“

Das pelzige Wesen schniefte bestätigend und ich streckte die Hand aus um in der Dunkelheit das zu tätscheln, was ich für seine Schulter hielt.

Jetzt musste ich alles auf eine Karte setzen. Wenn ich richtig lag, wäre ich in null Komma nichts wieder an der Erdoberfläche bei Sam. Wenn nicht …

„Pok, ich sehe, dass du sehr mutig bist. Kann ich dir also ein Geheimnis anvertrauen?“

„Oh, ein Geheimnis! Wir lieben Geheimnisse“, quietschte Pok und begann auf meiner Brust auf und ab zu hüpfen.

„Oh Gott“, ächzte ich, als ich eine Rippe knacksen spürte und rollte mich blitzschnell zur Seite.

Hustend richtete ich mich auf.

„Es ist so, dass ich auch mit dieser Frau zu tun habe, verstehst du?“

Pok stieß ein langes Kreischen aus und ich riss die Arme schützend vors Gesicht, in der Erwartung, er würde mich angreifen.

„Warte! Es ist nicht so, wie du denkst!“ Ich senkte meine Stimme. „Ich werde sie aufhalten.“

„Aufhalten?“, wiederholte Pok gedehnt.

„Ja, genau. Meine Freunde und ich, wir haben einen Weg gefunden um sie zu vernichten.“

„Freunde? Wo sind die Freunde?“

„Sie sind oben. Ich bin hier runter gefallen, und ich bin sicher, sie suchen schon nach mir. Kannst du mir vielleicht hier raus helfen? Denn ich muss ganz dringend zurück und ich schaffe es nicht allein.“

„Allein, allein“, wiederholte Pok, und ich merkte, dass seine Gedanken schon wieder abschweiften. „Wir sind auch allein …“

„Aber du könntest doch mit uns kommen!“, sagte ich hastig. „Wir können alle Hilfe brauchen.“

Wieder war es still und mein Herz pochte heftig in meiner Brust.

„Aber natürlich!“, quietschte es da und das pelzige Ding flog mir schon wieder entgegen und warf mich um.

„Ist ja gut!“, ächzte ich und hoffte, dass ich soeben keinen gewaltigen Fehler gemacht hatte. „Aber jetzt musst du mich erst mal hier raus bringen, in Ordnung?“

„Ja, ja!“, raunte Pok begeistert.

Eine Hand, die sich erstaunlich menschlich anfühlte, legte sich in meine und zog mich hoch.

Gebückt humpelte ich ihm blind hinterher, wobei ich versuchte meinen schmerzenden Knöchel so wenig wie möglich zu belasten. Ich hatte keine Ahnung wohin er mich führte und mir wurde klar, dass es vielleicht ziemlich dumm war, einem Fremden so zu vertrauen. Aber wenn ich hier rauskommen wollte, hatte ich keine andere Wahl.

Also ließ ich mich von ihm mit sich ziehen und lauschte dem Hall unserer Schritte. Ich bemerkte keinen Anstieg oder Abstieg des Bodens, doch nach kurzer Zeit konnte ich die kalten Erdwände der Tunnel zu unseren Seiten spüren. Gerade als ich Pok fragen wollte, wie weit der Ausgang noch entfernt war, spürte ich einen Luftzug. Ein paar Sekunden später konnte ich einen schwachen Lichtschein ausmachen. Dann blieb Pok stehen. Er ließ meine klammen Finger los und ich hörte ein Rascheln, als würde er versuchen eine Wand direkt vor uns mit bloßen Händen einzureißen.

„Pok“, setzte ich an, doch da regnete es bereits einen Schwall Erde und Steine auf uns herab und helles Sonnenlicht blendete mich.

Ich kletterte blinzelnd nach draußen wobei ich mit Pok zusammenstieß und auf dem unebenen Boden ausrutschte. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen angeschlagenen Fuß mein Bein hinauf und schon kullerten Pok und ich in einander verkeilt einen Hügel hinab.

„Autsch“, stöhnte ich, als wir unten liegen blieben.

Ich kniff die Augen zusammen, da die tiefstehende Sonne mir jetzt direkt entgegen schien, doch plötzlich fiel ein Schatten auf mein Gesicht.

19. Kapitel

 

„Runter von ihr, Erdling, und zwar sofort“, knurrte Sam drohend.

Er stand über uns, einen Pfeil in seinen Bogen gespannt und dessen Spitze zeigte direkt auf Pok.

„Warte, er hat gar nichts getan!“, beeilte ich mich zu sagen, doch Pok war bereits von mir herunter gesprungen und hinter einen Fels geschossen, von wo aus er uns zitternd beobachtete.

„Was ist passiert? Geht es dir gut?“, fragte Sam, weiter auf das Wesen hinter dem Felsen fixiert.

„Ich bin in ein unterirdisches Tunnelsystem eingebrochen und er hat mich wieder heraus geführt“, erklärte ich hastig. „Jetzt nimm den Pfeil runter, du machst ihm Angst!“

Sam ließ ganz langsam und offensichtlich wiederwillig den Bogen sinken. Erst als er sich vergewissert hatte, dass Pok nicht aus seinem Versteck hervor springen würde, ging er vor mir in die Knie und sah mich an.

Sein Blick war vorwurfsvoll, aber auch fragend und besorgt.

„Geht es dir gut?“, wiederholte er und ich nickte.

„Du blutest.“

„Ein Kratzer.“

Er legte leicht den Kopf schief.

„Eher ein paar.“

Ich erzählte Sam noch einmal genau was passiert war. Wie sich herausstellte war ich zwar nicht einmal eine halbe Stunde weggewesen, doch Sam hatte in der Zwischenzeit schon das schlimmste vermutet. Als Pok und ich aus dem Tunnel gepurzelt waren, hatte er schon das ganze Gelände abgesucht und war kurz davor gewesen, den Wölfen entgegen zu reiten und Alarm zu schlagen.

„Tut mir leid“, sagte ich noch einmal entschuldigend, doch Sam schüttelte den Kopf.

„Mir tut es leid. Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen und dich nicht so weit weglaufen lassen dürfen.“

Ich senkte den Blick, da mir unser Streit, wegen dem ich überhaupt erst auf die Felsen geklettert war, wieder einfiel. Ich wusste nicht, ob Sam an das gleiche dachte, denn in diesem Moment kam Pok hinter dem Felsen hervor und Sam hob den Kopf.

Zum ersten Mal konnte ich Pok, oder den Erdling, wie Sam ihn genannt hatte, richtig sehen. Er sah seltsam aus. Zumindest war das das erste Wort, das mir in Bezug auf ihn in den Sinn kam. Pok war eine gedrungene Gestalt mit Beinen so kurz wie die Unterschenkel eines Menschen. Seine Füße waren hingegen verhältnismäßig groß und mit langen, dicken Zehen. Sein Oberkörper ähnelte dem eines Menschen, nur dass er um einiges kräftiger gebaut war und seine Arme waren muskulös und so lang, dass seine riesigen Pranken bis zum Boden reichten. Er war von oben bis unten mit dunklem, struppigem Fell bedeckt und auch sein pelziges Gesicht erinnerte mehr an einen Orang-Utan als an einen Menschen. Auch sein seitlicher Gang ähnelte dem eines Affen, da er sich mit einer Hand aufstützte und mehr krabbelte als lief. Die andere Hand hielt er sich vors Gesicht um sich vor dem Licht zu schützen und ich überlegte mir, dass er wohl schon eine Weile nicht mehr in der Sonne gewesen war.

„Pok, darf ich vorstellen, das ist Sam. Einer der Freunde, die ich erwähnt habe“, sagte ich vorsichtig.

Pok sagte nichts, und ich hatte den Eindruck, dass er schüchtern war. Oder aber er hatte einfach nur Respekt vor der Waffe in Sams Hand.

Sam, dem ich schon berichtet hatte, was ich Pok in der Höhle versprochen hatte, nickte dem Erdling zu und erhob sich.

„Ein Feind Kristallas ist mir immer willkommen“, sagte er düster und Pok zuckte bei der Erwähnung des Namens unweigerlich zusammen, drückte durch eine leichte Verbeugung jedoch seine Zustimmung aus.

„Gehen wir zum Lager. Die Wölfe müssten jeden Moment zu uns stoßen“, verkündete Sam.

Ich stand auf, doch als ich meinen linken Fuß belastete, ging ich japsend zurück in die Knie.

„Was hast du?“, fragte Sam allarmiert.

„Knöchel verstaucht“, keuchte ich.

„Sieht so aus, als müsste ich dich schon wieder verarzten“, knurrte Sam und ich lief feuerrot an.

Er hob mich hoch und trug mich zu unserem Lager zurück, wobei er Pok, der uns folgte, nicht aus den Augen ließ.

Sam hatte bereits ein kleines Feuer gemacht und setzte mich neben diesem ab. Ich streckte die Hände nach der kläglichen Wärme aus und mein knurrender Magen machte sich bemerkbar. Leider bestand Sam darauf, sich zu allererst meinen Fuß anzusehen.

Er zog mir den Stiefel aus, wobei ich mir fest auf die Zunge beißen musste, um nicht zu schreien.

Der Knöchel war jetzt schon ziemlich angeschwollen, doch Sam bestätigte, dass nichts gebrochen war.

„Das sollte sich in ein paar Tagen erledigt haben“, meinte er schließlich und stülpte mir den Stiefel soweit über den Fuß, wie es ging.

„Soll ich ihn jetzt kühlen?“, fragte ich stirnrunzelnd.

„Bei den Temperaturen? Da hast du morgen keinen Fuß mehr.“

„Also Zähne zusammenbeißen“, murmelte ich.

Das war auch gefragt, als Sam die Wunden in meinem Gesicht und an meinen Handflächen reinigte. Sie brannten höllisch, schienen aber nicht sehr tief zu sein.

Als Sam fertig war, stand er auf und ging zu den Satteltaschen um etwas zu essen zu holen. Kaum hatte er sich etwas von mir entfernt, kam Pok zu mir, der bisher auf der anderen Seite des Feuers gesessen hatte.

„Wir können dich heilen“, murmelte er gedehnt und seine Stimme überschlug sich fast.

„Wie meinst du das?“

„Was?“

Sam hatte sich umgedreht und musterte uns misstrauisch. Anscheinend vertraute er Pok immer noch nicht.

„Ich habe ihn gemeint“, erklärte ich und Sam wandte sich zögernd wieder den Satteltaschen zu.

„Also, was meinst du damit, Pok?“

Anstatt zu antworten griff Pok nach meiner Hand. Mir klappte der Mund auf, als ich beobachtete, wie die Kratzer auf meiner Handfläche verschwanden.

„Wie hast du das gemacht?! Das ist ja …“

Kichernd hüpfte der Erdling auf und ab. Sam kam zu uns zurück. Er wirkte, als wolle er Pok zurück stoßen, doch dann sah er meine Hand.

„Er hat dich geheilt“, stellte er erstaunt fest.

„Ja! Wie ist das nur möglich?“

„Erdlinge sind magische Wesen. Ich habe gehört, dass sie auf einer rohen Form der Magie Zugriff haben, aber so etwas … Auch nur die wenigsten Elfen beherrschen die Kunst des Heilens.“

Bewundernd sah ich Pok zu, wie er auf meine anderen Verletzungen heilte. Und das war es, ein Wunder. Auch die Meermenschen praktizierten eine Art von Magie, das hatte ich miterlebt, aber das was dieser seltsame Affe tun konnte, war unglaublich! Außerdem schien er eine so kindliche Freude dabei zu verspüren …

„Wie machst du das?“, fragte ich Pok.

„Jedes magische Wesen kann sich selbst heilen. Sie wissen nur nicht immer wie es geht.“

„Und Menschen sind auch magische Wesen?“, hakte ich nach.

„Nein“, kicherte Pok. „Aber du.“

„Liah, was machst du da?“, unterbrach Sam unsere Unterhaltung.

„Ich rede mit ihm, was glaubst du denn?“, meinte ich verwirrt.

Sam hob eine Augenbraue.

„Aber er antwortet nicht.“

„Doch?“

„Er hört uns nicht“, quietschte Pok und warf sich auf den Rücken. „Wir sind in deinem Kopf!“

„In meinem Kopf? Pok, jetzt drück dich doch mal normal aus!“

Pok setzte sich auf seinen Hintern und faltete die Hände im Schoß im Versuch ernst zu wirken.

„Ein zungenloser Mund ist stumm. Wir sprechen im Geiste. Doch nur magische Wesen hören uns! Und er hört uns nicht.“

Mein Blick wanderte von Pok zu Sam und wieder zurück. Und plötzlich fielen mir die Schmiede der Meermenschen wieder ein, die ebenfalls über ihren Geist kommuniziert hatten.

„Ich verstehe“, sagte ich langsam. „Erzähl mir mehr! Wieso bin ich ein magisches Wesen? Ich komme aus der Menschenwelt.“

„Wir wissen nicht alles“, schnappte Pok. „Aber wir spüren, dass in dir Magie ist. Sehr viel Magie.“

„Ich meine es ernst, was geht hier vor?“, funkte Sam wieder dazwischen.

Es schien ihm gar nicht zu gefallen, dass hier etwas vorging, was er nicht verstand.

„Er spricht mit mir durch seinen Geist und er meint, ich kann ihn nur hören, weil ich ein magisches Wesen bin“, wiederholte ich schnell für ihn.

Sam schien über diese Neuigkeit nicht einmal halb so überrascht wie ich zu sein.

„Ich habe mir schon gedacht, dass du Magie in dir trägst“, sagte er.

„Wegen dem Feuer?“, fragte ich aufgeregt. „Die Meermenschen haben auch so etwas angedeutet. Aber ihr habt mir doch gesagt, dass nur Elfen so eine Affinität zur Magie haben können.“

Sam nickte bedächtig. Ich konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, während er nach Antworten auf dieses Phänomen suchte.

„Die Elfen haben etwas, dass sich elementare Magie nennt. Jeder von ihnen kann die Magie eines Elements kontrollieren. Aber“, er senkte die Stimme, als würde er durch das Aussprechen des Folgenden ein Gesetz brechen, „es gibt Völker, wie die Meermenschen und die Erdlinge, die auch einen Zugang zu einer roheren Variante der Magie haben. Ich weiß nicht viel darüber, aber man nennt sie magische Wesen. Es sind Legenden, die man sich erzählt, da diese Wesen normalerweise nicht mit der Bevölkerung des Königreichs in Berührung kommen. Die Elfen nennen sie Zauberer und erkennen ihre Art von Magie nicht an.“

„Müsstest du dann nicht auch ein magisches Wesen sein?“, fragte ich, als mir einfiel, dass Sam ja eigentlich kein Mensch war.

Er schüttelte den Kopf.

„Nur Elfenblut ist stark genug, um die Magie auch an Halblinge weiter zu geben. Bei den anderen ist das nicht so.“

„Na gut, aber ich bin weder ein magisches Wesen noch ein Elfenhalbblut. Wie kann das also sein, dass ich Magie in mir habe?“

Sam schien bereits eine Theorie dazu zu haben, denn er antwortete augenblicklich: „Du wurdest durch eine hohe Konzentration von alter, starker Magie in diese Welt gebracht. Das Weltenwandeln ist unerforscht und geschieht so gut wie nie. Ich vermute, dass du, als die Magie dich hier herüber gebracht hat, etwas von ihr in dich aufgenommen hast.“

„Das würde so einiges erklären“, stimmte ich zu.

Es war mittlerweile stockdunkel und der Schein des Feuers spiegelte sich in Sams dunklen Augen.

„Was werden wohl die anderen dazu sagen?“, fragte ich leise.

Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass Norlos von unserer Theorie überzeugt werden könnte.

Sam bestätigte meine Annahme.

„Norlos ist etwas altmodisch was das angeht“, sagte er beherrscht und meine Lippen zuckten.

Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich vertraute den Wölfen und ich wollte mich nicht über sie lustig machen oder ihre Meinung abwerten. Aber ich fühlte mich Sam so viel mehr verbunden und fand seine „rebellischen“ Ansichten manchmal viel einleuchtender als Norlos‘ strenge Vorschriften einer Krone, die ich gar nicht kannte.

„Wo bleiben sie überhaupt? Sollten sie nicht so langsam hier sein?“

„Wir hören Pfoten auf der Erde“, raunte Pok.

Jetzt wo ich wusste, dass er in meinen Kopf hinein sprach, jagte es mir einen Schauer über den Rücken.

„Er sagt er hört sie“, sagte ich zu Sam. „Weißt du, wie weit sie noch entfernt sind?“

„Nicht mehr sehr weit. Und sie sind sechs. Sechs Freunde?“, hakte er nach und ich nickte lächelnd.

„Sie sind nicht weit entfernt, sagt er.“

„Erdlinge haben ein erstaunliches Gehör. Es ist wie mit den Augen von Meermenschen“, sagte Sam.

Ich unterdrückte ein Gähnen und ein Lächeln stahl sich auf Sams Gesicht.

„Geh schlafen, Liah. Ich werde Wache halten, bis sie hier sind.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

 

Da ich am Abend nichts mehr gegessen hatte, riss mich der Hunger noch vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf. Obwohl reißen vielleicht etwas zu viel gesagt wäre. Er quälte mich eher langsam aus dem Reich der Träume.

Mein Rücken schmerzte und meine Gelenke waren steif. Ich rieb mir müde den Schlaf aus den Augen und tapste zu den Satteltaschen, um mir etwas zu essen zu holen.

Hinter den Hügelketten am Horizont machte sich der Tag bereits mit einem dünnen silbernen Streifen bemerkbar und die letzten Sterne waren noch am Himmel zu sehen. Die Luft war eisig und trocken, aber immerhin wehte kein Wind. Meine Lippen waren spröde und rissen auf, als ich etwas trank.

Sam schlief und auch die Wölfe hatten sich zum Schlafen um unser kleines Feuer geschart, das mittlerweile aus war. Nur Damin, der wohl die letzte Wacht übernommen hatte, hockte träge auf einem Fels und beobachtete mit scharfen Augen die Umgebung.

Ich entdeckte Pok, der etwas abseits im Boden wühlte. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass er sich Würmer ausgrub und sie sich in den Mund stopfte. Ich zog die Nase kraus und wandte mich ab.

„Liah.“

„Norlos.“

Der graue Wolf kam von der Feuerstelle auf mich zu.

„Sam hat uns gestern berichtet was geschehen ist. Du musst in Zukunft vorsichtiger sein. Wir können es uns nicht leisten, dass dir etwas zustößt.“

Ich nickte und warf einen Blick in Poks Richtung.

„Zum Glück war er da.“

„Du solltest auch nicht jedem vertrauen, der dir über den Weg läuft. Schon gar nicht hier im Gebirge, wo wir ihr so nah sind.“

„Manchmal hat man keine Wahl“, meinte ich mit gerunzelter Stirn. „Hör zu, Norlos, ich dachte, Pok könnte vielleicht mit uns kommen. Pok kennt sich hier aus. Er könnte uns führen.“

Norlos musterte den Erdling, der immer noch mit seinen gewaltigen Pranken im Boden wühlte.

„Das habe ich mir bereits auch überlegt. Die Frage ist nur ob wir ihm trauen können. Vielleicht würde er uns geradewegs in eine Falle führen.“

„Solos hat gesagt, dass das Mirakurgebirge so gut wie undurchdringlich ist. Wenn wir es zu Kristalla schaffen wollen, ist das womöglich der einzige Weg“, sagte ich und wunderte mich gleichzeitig, wie abschätzend ich die Situation betrachtete. „Ich glaube, er weiß nicht einmal wer ich bin. Sein Volk hat ihn verstoßen, weil er sich Kristalla nicht unterwerfen wollte. Wenn du ihm nicht traust, müssen wir ihm ja nichts genaueres sagen. Aber er ist ein Feind Kristallas und er wird uns nach Dragon bringen.“

Norlos legte den Kopf nachdenklich schief. Noch bevor ich mich zurückhalten konnte, brach noch etwas aus mir heraus: „Auf dem Schiff haben wir darüber gesprochen, dass wir Antworten auf diese seltsamen Dinge finden sollten, die mir geschehen. Pok meint, ich trage Magie in mir. Und da er ein magisches Wesen ist, denke ich, dass er mir einiges darüber erzählen kann. Es könnte am Ende ziemlich nützlich sein, wenn ich Kristalla nicht nur mit einem Dolch gegenüber trete.“

Norlos nickte langsam.

„Du hast recht“, sagte er schließlich. „Auch wenn es mir nicht gefällt, aber er wird uns begleiten. Sein Nutzen ist größer, als die Risiken, die er mit sich bringt.“

Da die anderen mittlerweile auch aufgewacht waren, brachen wir bald auf. Pok schien sich nach dem ersten Schrecken über seine neue Aufgabe zu freuen. Er bewegte sich auch erstaunlich schnell fort und sein Körper schien wie dazu gemacht, über Stock und Stein zu klettern und uns so immer tiefer in das Gebirge zu führen.

Die Pferde hatten es nicht leicht, vor allem als wir gegen Nachmittag in immer steilere Gebiete kamen. Die riesigen Gletscher waren nicht mehr weit vor uns und der Weg, den wir nahmen, war nicht auch nur im Entferntesten mit einem Pfad zu vergleichen. Dennoch schien Poks Orientierungssinn unbeirrbar und er zögerte kein einziges Mal.

Der Himmel verdunkelte sich bald. Schwere, graue Gewitterwolken türmten sich über uns und der Wind peitschte über die raue Erde hinweg.

„Wir müssen einen Unterstand finden, bevor das Unwetter beginnt“, sagte Solos, und ich nickte.

Ich drückte leicht in Eisblitz‘ Flanken, sodass er zu Pok aufschloss, der ein Stück vor uns ging.

„Pok, wir müssen einen sicheren Unterschlupf finden. Eine Höhle oder irgendetwas in der Art“, teilte ich ihm mit und er hüpfte aufgeregt auf der Stelle.

„Unterschlupf, Höhle! Es gibt viele Gänge, geheime Tunnel, die nur wir kennen … Solange waren wir allein, solange …“

„Ja, Pok, ich weiß, aber wir haben es jetzt wirklich eilig“, unterbrach ich ihn mit einem Blick nach oben.

In der Ferne grollte bereits der Donner und es war schon fast so finster wie bei Nacht. Ich hatte noch nie ein Gewitter bei solch eisigen Temperaturen erlebt, doch ich war mir ziemlich sicher, dass es Hagel geben würden, und dann sollten wir nicht mehr unter freiem Himmel sein.

Pok hoppelte los und kletterte den steilen Hang zu unserer Linken hinauf. Ich stieg ab und folgte ihm, wobei ich Eisblitz am Zügel hinter mir her führte. Die Wölfe und Sam mit seinem Pferd folgten uns, doch ich konnte keinen Eingang zu einer Höhle oder etwas ähnlichem im Hang erkennen.

„Pok, bist du sicher …“, rief ich, doch da rammte der Erdling über mir auch schon die gewaltigen Arme in den Boden und riss die Erde auf.

„Wow“, murmelte ich.

Pok hatte so eine kindliche, verspielte Art, dass man schnell vergaß, was für ein Muskelpaket er eigentlich war. Er schaufelte die gefrorene Erde beiseite, als wäre sie lockerer Kompost und schuf schnell ein ein Meter breites und hohes Loch, das in einen Tunnel führte.

„Also dann Eisblitz, jetzt ist Ducken angesagt“, murmelte ich, doch der Hengst stemmte die Füße in den Boden und schien nicht einmal daran zu denken, in dieses dunkle och zu treten.

Solos und Damin überholten uns und betraten hinter Pok den Tunnel.

„Hier ist genug Platz“, schallte Solos von drinnen. „Kommt alle rein.“

„Hast du gehört?“, sagte ich zu Eisblitz. „Los jetzt!“

Ein Blitz zuckte über den Himmel und Eisblitz machte einen Satz nach vorn. Verschreckt von dem sich anbahnenden Gewitter ließ er sich in den Tunnel führen.

Der Tunnel führte steil abwärts in eine große Höhle. Eigentlich war es mehr eine Grotte als eine Höhle. Es war warm und mir wurde sofort klar, dass es sich bei den Tümpeln um heiße Quellen handeln musste. Dennoch hingen von der Decke spitze Eiszapfen herab. Manche von innen leuchteten, als wären Sterne in ihnen eingefroren.

„Wie kann das sein?“, wisperte ich und streckte die Hand nach einem Eiszapfen aus.

Er war kalt. Aber nicht kalt genug.

„Was ist das?“, fragte ich laut.

„Zauberkristalle“, meinte Solos, der ebenso fasziniert schien wie ich.

„Magische Kristalle“, quietschte Pok in meinem Kopf. „Sieh! Sieh was wir tun können!“

Er brach ein Stück eines der Kristallstalaktiten, der nicht leuchtete, ab, und tippte mit der Fingerspitze an sein unteres Ende.

Ein kleiner Punkt leuchtete auf und wanderte zur Mitte des Kristalls. Dann tippte Pok an die andere Seite und der Punkt wanderte zu seinem Finger und erlosch wieder.

„Unglaublich“, sagte ich leise.

Pok reichte mir den Kristall und hoppelte davon.

Ich trat ebenfalls weiter vor ins Innere der Grotte, um den Eingang frei zu machen. Eisblitz sattelte ich ab und band ihn auch nicht an, damit er sich frei bewegen konnte. Sam tat bei Nola dasselbe und die zwei Pferde drängten sich dicht aneinander in eine Ecke.

Draußen grollte der Donner immer lauter. Ich wollte zurück zum Tunneleingang, um zu sehen, ob es bereits hagelte. Doch als ich den Tunnel betrat, der nach draußen führte, hielt ich inne. Leise Stimmen wurden vom Wind, der in die Höhle rauschte zu mir getragen. Sie kamen aus einer Abzweigung des Tunnels. Ich erkannte Norlos und Damin.

„Wir sind schon viel näher als ich dachte“, raunte Norlos. „In wenigen Tagen werden wir Dragon erreicht haben.“

„Dieses Tunnelsystem muss sich durch das gesamte Gebirge erstrecken“, bemerkte Damin. „Vielleicht können wir es nutzen, um Liah in die Festung zu schmuggeln. Die Eishexe scheint nicht zu wissen, wie nahe wir ihr sind. Es sind keine Patrouillen unterwegs.“

Ich ging weiter. Ich wollte nicht lauschen und ich wollte auch nicht hören, worüber sie sprachen. Ich war noch nicht bereit. Irgendwie war mir das bevorstehende Erreichen der Stadt, in der Kristalla sich aufhielt, so unwirklich und weit entfernt vorgekommen.

Draußen war es jetzt noch dunkler als in der Höhle, bis auf die kurzen Augenblicke, in denen ein Blitz das Himmelszelt erhellte.

Während ich da stand und hinaus starrte, fiel mir das letzte Gewitter ein, das ich erlebt hatte. Sam und ich waren mit diesem Baby, das wir aus Dorne mitgenommen hatten, in einer kleinen Hütte unter gekommen. Die Erinnerung lag in so weiter Ferne. Dabei war es erst drei Wochen her.

Ich hörte Schritte und wusste, dass Sam hinter mir war.

„Was ist?“, fragte ich mit belegter Stimme ohne ihn anzusehen. „Hast du Angst, dass ich im Boden einbreche?“

„So in etwa.“

Ich drehte mich um.

Sam lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete mich.

„Ich fühle mich ganz anders“, sagte ich plötzlich.

„Wie meinst du das?“

„Eben anders als früher. Als ich hier angekommen bin.“

„Du hast dich ja auch verändert.“

Hinter uns trommelten die ersten Hagelkörner auf den Boden. Ich drehte mich wieder um und beobachtete wie immer größere herabregneten.

„Du wirst stärker mit jedem Tag an dem du hier bist.“

„Das muss ich ja wohl. Immerhin vertrauen so viele auf meine Stärke.“

20. Kapitel

 

Zum ersten Mal hatte ich das Bedürfnis, nicht mit Sam zu reden. Sein vertrauensvoller, wissender Blick gab mir dieses Mal keine Kraft, sondern lastete wie ein schweres Gewicht auf meinen Schultern.

Ich ging an ihm vorbei zurück nach drinnen, wo ich Pok suchte. Er planschte im hinteren Teil der Grotte in einem der Wasserbecken. Der Erdling schien völlig versunken in sein Spiel und bemerkte mich kaum, als ich mich neben ihn setzte.

„Hallo Pok“, sagte ich leise.

Sein Kopf fuhr zu mir herum.

„Wie geht es dir?“

„Wir sind so froh“, schnurrte er. „So viele Freunde!“

„Das ist schön.“

„Wir waren schon lange nicht mehr in Gesellschaft. Wir waren so lange allein …“

Ich spürte, wie seine Aufmerksamkeit davon driftete. Ich fragte mich, wie lange er einsam in den Tunneln gehaust hatte. Wahrscheinlich lange genug, um halb wahnsinnig zu werden. Oder aber sein Verhalten war typisch für Erdlinge.

„Pok, du hast du gestern gesagt, dass du mich nur heilen konntest, weil ich Magie in mir trage, genau wie du.“

Der Erdling nickte heftig, wobei er seinen gesamten Körper schüttelte.

„Gib es eine Möglichkeit diese Magie zu benutzen? Kannst du mir zeigen, wie ich an sie heran komme?“

„Sie ist in dir“, meinte er gedehnt.

„Ja, ich weiß, aber wie komme ich an sie heran? Ich denke, ich habe sie bereits einmal ausversehen genutzt und mir sind auch schon andere merkwürdige Dinge passiert, seitdem ich hier bin, die nur mit Magie zu erklären sind. Aber ich will das alles besser verstehen, ich möchte diese Magie, wenn sie denn da ist, nutzen können“, erklärte ich.

Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, wie genau mir die Magie helfen könnte, aber wenn es irgendeine Möglichkeit gab, mich gegen Kristalla zu wappnen, dann musste ich sie nutzen.

„Sie fließt durch dich hindurch?“, meinte Pok fragend, als wäre er sich selbst nicht sicher. „Du musst nur in sie eintauchen.“

„Aber wie finde ich sie? Wo genau ist sie?“

„Tief in dir“, kiekste Pok und seine Stimme über schlug sich.

Er nahm mir den Kristall aus der Hand, den ich immer noch fest hielt, seitdem er ihn mir vorhin gegeben hatte und tippte ihn erneut an. Der kleine leuchtende Punkt wanderte wieder in seine Mitte.

„Das ist Magie. Pure Magie. Licht“, hauchte er und reichte mir den Kristall, als wäre er aus hauchdünnem Glas.

Als meine Finger sich darum schlossen, bekam ich eine Gänsehaut. Ein Kribbeln lief mir über den ganzen Körper. Ich starrte auf den winzigen Punkt und es war, als wäre er das schönste, was ich je gesehen hatte.

„Sie ist überall in dir. Wir können es sehen. Öffne sie, und lasse sie frei!“

Wie gebannt starrte ich auf den Kristall in meinen Händen. Wenn so etwas Wundervolles in mir schlummerte, dann wollte ich es unbedingt finden! Nur wusste ich nicht wie …

Ich verlor mein Zeitgefühl, während ich einfach nur da saß und den leuchtenden Punkt betrachtete. Es mochten Stunden oder auch nur Minuten vergangen sein, doch irgendwann war mein Kopf völlig leer. Nicht ein einziger Gedanke oder ein Gefühl war übrig, nur dunkle, sanfte Leere. Ich nahm nichts mehr wahr, meine Augen sahen das Licht in meinen Händen, doch mein Gehirn verarbeitete diesen Reiz nicht. Ich saß nur da, in einem Zustand völliger Ruhe.

Und plötzlich erzitterte das Licht in dem Kristall.

Die Bewegung riss mich aus meiner Trance und ich zuckte erschrocken zurück. War das eben wirklich passiert? Hatte ich das getan? Und was hatte ich überhaupt getan?

Ich versuchte noch ein paar Mal in diesen tranceartigen Zustand zu gelangen, doch jetzt, wo ich dabei ein eindeutiges Ziel vor Augen hatte, wollte es mir einfach nicht mehr gelingen. Schließlich ging ich erschöpft zu den anderen in den vorderen Teil der Höhle, aß etwas und legte mich hin.

Ich war gerade dabei in den Schlaf zu gleiten, als sich mir eine Schnauze in den Rücken stieß.

Erschrocken fuhr ich hoch. Die anderen schliefen bereits, doch Osta, die eigentlich den Eingang bewachen sollte, hatte sich bedrohlich über mir aufgebaut.

„Was ist?“, fragte ich leise, um die anderen nicht zu wecken.

„Ich habe es gehört“, zischte sie. „Ich habe gehört, wie du sagtest, dass etwas mit dem Dolch nicht stimmt. Noch habe ich nichts gesagt, aber es steht zu viel auf dem Spiel.“

Die Erinnerung an den Abend, als ich bemerkt hatte, dass der Dolch nicht mehr leuchtete, durchzuckte meinen Geist. Ich hatte damals geglaubt, Augen in der Dunkelheit zu sehen. Jetzt wurde mir klar, dass wir wirklich beobachtet worden waren.

„Wenn du nicht fähig bist …“

„Osta“, unterbrach ich sie. „Ich bin nicht mehr das Mädchen, das verwirrt in diese Welt gestolpert ist. Bitte vertrau mir, dass ich für den Erfolg dieser Mission genauso viel opfern würde wie du.“

Ich sah der schwarzen Wölfin in die Augen und sie erwiderte meinen Blick. Es war, als würde sie direkt in meine Seele blicken. Ich wandte mich nicht ab und hielt ihrer Musterung stand. Schließlich nickte sie.

„Dann lass uns gehen.“

 

„Liah!“

Ich wurde hochgerissen und stolperte gegen denjenigen, der mich so unsanft geweckt hatte. Mit rasendem Herzen schnappte ich nach Luft und wollte mich schon beschweren, doch ich schluckte nur Staub. Der Boden unter meinen Füßen erzitterte und der Berg grollte, als würde er zusammen stürzen.

Sam riss mich mit sich, tiefer in die Höhle hinein. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Augenblick donnerten Steine und Geröll von der Decke.

„Was ist hier los?“, schrie ich.

„Die Höhle stürzt ein!“, brüllte Sam über den Lärm hinweg und zog mich weiter mit sich.

„Wo sind die anderen?!“

Ich stolperte in einen der Tümpel und heißes Wasser floss in meinen linken Stiefel.

Das Erdbeben war genauso schnell vorbei wie es begonnen hatte. Bewegungslos verharrten wir und starrte durch die vom aufgewirbelten Staub verklärte Luft zum verschütteten vorderen Teil der Höhle.

„Er hat uns doch in eine Falle geführt“, knurrte Sam.

„Pok konnte unmöglich wissen, dass das passiert“, zischte ich.

Der Erdling war nirgends zu sehen, ebenso wie die Wölfe oder unsere Pferde. Grauenhafte Bilder von zerschmetterten Leichen unter den Steinen tauchten vor meinem inneren Auge auf.

„Hallo?“, rief ich vorsichtig.

Es blieb still. Ich tauschte mit Sam einen Blick. In seinen Augen war die gleiche Sorge zu sehen wie in meinen.

„Norlos? Seid ihr … Seid ihr da?“

Ich drückte gegen die schwarzen Felsbrocken, die uns den Weg zum Ausgang versperrten, doch sie saßen so fest wie die Wände der Grotte.

Plötzlich kam das Geröll rechts von mir in Bewegung. Sam riss mich an die Schulter zurück, doch es war kein weiterer Einsturz, sondern Poks mächtige Arme, die sich ihren Weg ins Freie bahnten.

„Pok!“, rief ich und riss mich von Sam los. „Geht es dir gut?“

Pok taumelte auf mich zu und klopfte sich den Staub aus dem Fell.

„Wir haben es nicht gewusst“, winselte er. „Wir haben dich in Gefahr gebracht!“

„Niemand macht dir Vorwürfe“, sagte ich beruhigend und tätschelte seinen Kopf, während ich Sam einen warnenden Blick zuwarf. „Kannst du die anderen hören? Geht es ihnen gut?“, fragte ich aufgeregt.

Pok trat an die Geröllwand und lehnte sein Ohr prüfend dagegen.

„Da ist ein Wolf direkt hinter diesem Stein eingeschlossen“, sagte er schließlich gedehnt.

„Ist er verletzt? Kannst du ihn befreien?“

„Was ist los?“, schaltete Sam sich ein, der nur die Hälfte unseres Gesprächs mitbekam, doch ich war zu nervös um zu antworten.

Wie gebannt beobachtete ich Pok, wie er mit seinen starken Armen gegen die Steine drückte und versuchte sie zu bewegen und gleichzeitig zu stabilisieren. Der Boden erzitterte und Pok erstarrte. Ein unheilvolles Grollen rollte durch den Berg.

Pok packte meinen Arm und sprang zurück.

„Was passiert hier?“, rief ich.

„Einsturz! Einsturz!“, kreischte Pok und ich nahm die Beine in die Hand.

Sam dicht auf den Fersen rannten wir durch die flachen Tümpel immer tiefer hinab in die Tunnel, während die Grotte hinter uns in sich zusammenfiel.

Zu unserem Glück waren die Tunnel, die am hinteren Ende der Grotte begannen stabiler als die Grotte selbst und so waren wir sicher, sobald wir sie betreten hatten. Wir pressten uns an die kalte Wand und warteten bis alles wieder still war.

Wie erstarrt standen wir da und ich zählte langsam in meinem Kopf bis zehn, dann rannte ich zurück.

„Liah, warte!“, rief Sam, doch ich blieb erst stehen als ich am Tunneleingang angekommen war.

Er war komplett zu geschüttet, als hätte es die Grotte nie gegeben. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen die neu entstandene Wand und schrie verzweifelt auf.

„Verdammt!“

„Liah, beruhig dich.“

Sam zog mich von der Wand weg.

Ich trat um mich, doch er war zu stark.

„Wir werden einen anderen Weg hier raus finden“, sagte Sam, um mich zu beruhigen.

„Du verstehst nicht!“, rief ich und spürte heiße Tränen der Verzweiflung über meine Wangen rinnen. „Da war einer der Wölfe zwischen den Steinen eingeschlossen …“

„Liah. Beruhig dich“, wiederholte Sam eisern.

Ich atmete tief durch und gab ihm nach.

„Die Wölfe und die Pferde waren direkt am Eingang“, sagte er schließlich. „Die meisten von ihnen müssen es nach draußen geschafft haben.“

Ich schluckte und nickte.

„Und jetzt sag mir, was sie machen werden“, forderte Sam.

„Die … Mission“, sagte ich stockend.

„Genau. Sie werden alles daran setzen, die Mission zu beenden. Sie wissen das, wir wissen das. Es gibt einen Ort, wo wir uns treffen, sollte jemand verloren gehen. Wir schaffen das.“

Ich nickte erneut und machte mich langsam von ihm los. Für eine Weile hatte ich vergessen, dass Sam ein Soldat war. Jetzt konnte ich nicht anders, als ihn für seine Stärke und Entschiedenheit in dieser Situation zu bewundern.

„Pok, kennst du einen Weg hier raus?“, fragte ich den Erdling, der uns zur Grotte zurück gefolgt war.

„Raus?“, meinte er und legte den Kopf schief.

„Oder am besten direkt nach Dragon“, verbesserte Sam mich. „In den Tunneln sind unsere Chancen größer, nicht von der Eishexe entdeckt zu werden.“

Pok zuckte zusammen.

„Kannst du uns helfen?“, drängte ich ihn und schließlich nickte er.

„Es gibt geheime Gänge … verborgene Tunnel, die selbst die Erdlinge nicht benutzen.“

„Er sagt, er macht es“, sagte ich zu Sam.

Dann traten wir unseren Marsch in die Dunkelheit an.

 

Die Tunnel waren erdrückend. Ich konnte die Last des Berges förmlich spüren und die Luft war so dünn, dass ich nur flach atmen konnte. Wir kamen nur langsam voran, da Pok uns durch stockfinstere, abgelegene Tunnel führte, um nicht in Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Der Erdling konnte sich zwar problemlos orientieren, doch uns fiel das nicht so einfach.

Sam konnte zwar dank seinen besonderen Augen Umrisse wahrnehmen, aber ich war völlig blind. Ich ließ beim Laufen meine Hände rechts und links an den Tunnelwänden entlang gleiten, um mich wenigstens etwas sicherer zu fühlen.

Was auch ein Problem war, war das wir nicht reden durften. Erdlinge hatten ein so gutes Gehör, wie Meermenschen eine außerordentliche Seefähigkeit hatten. Schon allein der Hall unserer Schritte konnte uns verraten, daher schlichen wir so leise wie möglich.

Unser Marsch führte uns immer tiefer in das Gebirge und während wir gingen war ich völlig allein mit meinen Gedanken. Nichts war da, um mich von ihnen abzulenken. Keine Landschaft, kein Wind in meinen Haaren und auch keine blendende Sonne. Nur Dunkelheit und Kälte.

Und so verbrachte ich die endlosen Stunden damit nachzudenken.

Zuerst dachte ich selbstverständlich an die anderen, von denen ich nur hoffen konnte, dass es ihnen gut ging und dass sie ebenfalls auf dem Weg nach Dragon waren. Der Gedanke führte mich zu Kristalla, die in der Gebirgsstadt auf uns wartete. Und dabei war ich mir mittlerweile ziemlich sicher, denn selbst wenn sie uns nicht kommen sah, musste sie wissen, dass wir auf dem Weg waren. Immerhin war sie nicht dumm. Sondern die wohl mächtigste Hexe dieser Welt. Die ich bezwingen musste, mit einem magischen Dolch, dessen ich nicht mehr würdig war.

Auch dieser Gedanke quälte mich. Ich hatte mich niemandem anvertraut und ich hoffte, Osta würde ebenfalls nichts sagen. Denn was hätten sie ändern können? Jetzt, wo wir so weit gekommen waren, durfte mein Versagen uns nicht im Weg stehen. Vielleicht würde sich ja alles von selbst regeln, vielleicht würde ich mich doch noch als würdig erweisen, vielleicht würde ein Wunder geschehen … Und wenn nicht, dann hatte ich keine Wahl und musste es trotzdem versuchen. Denn wie Norlos gesagt hatte, konnte man sich sein Schicksal nicht aussuchen. Mein Schicksal war es, gegen Kristalla anzutreten und sie zu besiegen. Ob ich lebend aus der Sache herauskam, war etwas anderes. Aber war es überhaupt von Bedeutung, ob ich überlebte? Vielleicht war es die Dunkelheit, die mir das zu flüsterte, doch welchen Platz hatte ich noch in der Welt, wenn ich meine Aufgabe erfüllt hatte? Jetzt war ich die Auserwählte, diejenige, die eine ganze Welt retten sollte, doch wenn das getan war, was würde dann passieren? Damian hatte mir erzählt, dass die Ritter das Portal nicht einfach so öffneten, also konnte ich nicht zurück. Aber eigentlich wollte ich das auch gar nicht mehr. Natürlich gab es viel an dieser Welt, das ich nicht verstand oder wusste, aber dennoch hatte ich mich in den letzten Wochen hier mehr daheim gefühlt als in London, wo ich aufgewachsen war. Und außerdem war dieses Gefühl eine Aufgabe zu haben, eine Bedeutung zu haben, so unbeschreiblich. Es gefiel mir nicht, wie sehr dieser Gedanke und das Pflichtgefühl ich in meinem Kopf festgebissen hatten und dennoch tat ich nichts um sie wieder loszuwerden.

Meine Mutter hatte in ewiger Rastlosigkeit gelebt. Bevor sie mich bekommen hatte, war sie viel herum gereist, doch die Schwangerschaft hatte sie zur Ruhe gezwungen. Dennoch hatte ich immer gespürt, dass sie auf etwas wartete oder nach etwas suchte. Natürlich hatte sie mich geliebt, aber das Leben, das wir in London gefühlt hatten, war nie das gewesen, was sie gewollt hatte. Sie hatte das nie ausgesprochen, aber ich hatte es immer gewusst. Erst jetzt verstand ich es auch. Sie hatte nach ihrer Bestimmung gesucht, ihrem Platz in der Welt. Ich hatte meinen nun gefunden.

Ich erinnerte mich an meine erste Nacht in dieser Welt, als ich mich im Fleidr Wald verirrt hatte und der Geist des Waldes zu mir gesprochen hatte. Er hatte zu mir gesprochen und gesagt, ich wäre auf der Suche. Hatte er diese Suche gemeint, auf der meine Mutter ihr ganzes Leben lang gewesen war? Und die vermutlich ganz unterbewusst auch in mir geschlummert hatte?

Als ich darüber nachdachte, bemerkte ich plötzlich die innere Ruhe, die ich verspürte, als ich an meine Mutter dachte. Sie war ganz beiläufig in meinen wirren Gedankengängen aufgetaucht und ich war nicht zurückgezuckt. Da war kein schmerzhaftes Ziehen in meinem Inneren mehr. Als ich das begriff, schämte ich mich zu Tode. Wie hatte ich sie nur so in den Hintergrund rücken lassen können? Bei meiner Ankunft hier war sie das einzige gewesen, an das ich hatte denken können. Ich war sogar davon überzeugt gewesen, dass sie noch am Leben war, sich vielleicht sogar in dieser Welt aufhielt. Und nun hatte ich alles innerhalb weniger Wochen akzeptiert und vermisste sie nicht einmal mehr.

Zu der Scham gesellte sich Trotz. Warum sollte ich mich auch mit ihrem Tod quälen, wenn ich es nicht musste? Warum sollte ich mich mit irgendwelchen Gefühlen, zum Beispiel für Sam, quälen? Es gab nun wichtigere Dinge in meinem Leben. Dinge, die meine volle Konzentration erforderten und die mir die eiserne, kalte Maske aufs Gesicht zwangen, die auch Sam fast immer trug. Ich hatte mich gefragt, wie er nur seine Gefühle so sehr verstecken und unterdrücken konnten. Jetzt, wo ich dasselbe tat wie er, wusste ich, dass er gar keine Gefühle zuließ, die er hätte verbergen können.

 

An den ersten zwei Tag legten wir uns einfach im Tunnel hinter einander auf den Boden und schliefen so, doch am dritten Abend meinte Pok, in der Nähe wäre ein kleines Plateau, wo wir rasten konnten. Mir kam das sehr entgegen, denn ich fühlte mich mittlerweile wie in einem Albtraum, dem ich nicht entkommen konnte.

Als wir an die kalte Luft traten, brannten meine Augen allein vom Licht den Sterne, das vom Schnee, der uns umgab, reflektiert wurde.

Wir befanden uns in einer ein paar Quadratmeter großen Nische, die nur durch den Tunnel zugänglich war. Sie sah aus, als wäre sie durch den Faustschlag eines Riesen in den Berg gehauen worden. Als ich an ihren Rand trat, wurde mir schwindlig und ich sprang zurück. Der Berg fiel steil ab und der Boden war so weit entfernt, dass ich ihn in der Sekunde, die ich riskiert hatte, nicht gesehen hatte. Wenn man gerade aus blickte, sah man über ein schneebedecktes, weißes Tal hinüber zu den nächsten Bergen. Doch die eingeschneite Landschaft hatte nichts Beruhigendes. Ich fühlte mich, als würde der Schnee mich beobachten und als würden hinter den Zacken der Berge unbekannte Gefahren lauern.

Der Himmel war wolkenleer und so richtete ich meinen Blick auf ihn. Es gab unzählig viele Sterne hier. Wie Glitzerstaub waren sie über den tintenschwarzen Himmel verteilt und je länger man hin sah, umso mehr entdeckte man. Meine Mutter hatte die Sterne geliebt und manchmal waren wir mitten in der Nacht aus London herausgefahren, nur um fern ab der künstlichen Lichter die Sterne am Himmelszelt zu betrachten.

Sam riss mich aus meiner Betrachtung, als er mir ein Stück Trockenfleisch reichte.

„Danke“, krächzte ich.

Meine Stimme war eingerostet, von den vielen Stunden des Schweigens.

Sam setzte sich neben mich. Eine Weile aßen wir schweigend. Pok hatte sich in die Tunnel auf gemacht um nach Würmern zu graben und so waren wir allein.

„Geht es dir gut?“, fragte Sam schließlich.

„Ich bin müde.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“

Ich sagte nichts. Ich spürte seinen Blick auf mir und ich wusste, dass er sich genau überlegte, ob er das, was ihm auf der Zunge lag, wirklich aussprechen sollte.

„Bist du wütend auf mich?“

Mein Kopf, den ich an die Steinwand gelehnt hatte, rollte zu ihm herum.

„Warum?“

Sein Blick war so unergründlich und ich spürte, wie die Maske, die ich mir zu gelegt hatte, erste Risse aufwies.

„Du bist viel zurückhaltender seit …“

Seine Worte hingen in der Luft und ich sah wieder weg.

„Ist es nicht das, was du wolltest?“

Er schwieg und behielt so seine Gedanken für sich.

Ein freudloses Lächeln stahl sich auf meine Lippen und ich seufzte.

„Willst du überhaupt etwas?“, fragte ich.

„Ich will viele Dinge. Ich will Freiheit für mein Land. Sicherheit für mein Volk. Ich will das Ende dieses Winters.“

„Natürlich.“ Ich fixierte einen Stern, der besonders hell leuchtete. „Aber für dich allein willst du nichts. Ich finde das bewundernswert. Wie konzentriert du immer bist.“

„Vielleicht ist deine Meinung von mir zu hoch.“

„Ich meine es ernst, Sam. Du lässt dich von nichts ablenken, du drehst nie durch, egal was passiert. Weil du selbstlos bist. Du hast keine solchen Gefühle.“

„Natürlich habe ich Gefühle“, sagte Sam ruhig. „Es wäre dumm, keine zu haben. Aber sie gehören mir, niemand sonst braucht sie zu kennen.“

„Ist das nicht viel dümmer? Alles für sich zu behalten? Ist es dann nicht besser, erst gar nichts zu fühlen um sich nicht damit … abzulenken.“

Sam schwieg eine Weile. Was er als nächstes sagte, empfand ich als viel persönlicher als irgendeinen anderer Satz aus unserem Gespräch.

„Vielleicht machen wir es beide falsch.“

Wenige Minuten später kam Pok aus der Höhle.

Ich fragte mich, ob er unsere Unterhaltung mit angehört hatte. Falls ja hatte er es wahrscheinlich nicht verstanden.

„Pok, kannst du mir noch etwas über Magie erzählen?“, fragte ich ihn unvermittelt und der Erdling sah überrascht auf. „Es könnte sehr nützlich sein, wenn ich weiß, welche Kräfte Kristalla hat.“

Er zuckte zusammen, als ich ihren Namen nannte.

„Nun“, sprach er langsam in meinen Kopf hinein. „Sie ist ein Elfenhalbling. Sie besitzt die Elfenmagie über die Kälte.“

„Nennt man sie darum Eishexe? Weil sie das Eis kontrollieren kann?“

Pok fuhr sich mit den pelzigen Händen über den Schädel. Er schien mit sich zu ringen, doch die Informationen waren zu wichtig. Ich musste das wissen!

„Auch deshalb“, meinte er. „Aber eine Hexe ist sie, weil sie sich dem Tod ergeben hat.“

„Was bedeutet das?“

Fürst Bertang hatte mir gesagt, dass Kristalla ihren Geist gegen die Magie des Todes eingetauscht hatte und deshalb nicht durch eine normale Waffe getötet werden konnte. Doch welche weiteren Fähigkeiten hatte sie dadurch erhalten?

„Sie nimmt das Leben fort.“

Ich sah Pok fragend an und er begann auf den Füßen vor und zurück zu wippen.

„Leben und Tod ziehen sich an. Wir wissen das …“, raunte er. „Das Leben nimmt den Tod und der Tod nimmt das Leben. In ihrem Körper ist kein Leben mehr, das man nehmen kann. Daher nimmt sie das Leben von Lebendigem. Sie saugt es heraus, aus dem Berg, aus der Luft, aus allen.“

„Du meinst also ihre bloße Anwesenheit ist tödlich?“, fragte ich erschrocken.

Wenn das der Fall war, wie sollte ich jemals an sie heran kommen?

„Nein“, sagte Pok zu meiner Erleichterung. „Aber sie kann es sein.“

„Kann ich mich mit meiner Magie vor ihr schützen?“, wollte ich hoffnungsvoll wissen.

Pok wippte immer heftiger.

„Magie ist das pure Leben …“, bestätigte er meinen Verdacht. „Doch du musst dich ihrer Anwesenheit bewusst sein, um sie um dich zu ziehen.“

„Und wie mache ich mich ihr bewusst? Ich habe es versucht, in der Höhle. Ich glaube, ich habe sogar etwas gespürt, aber in ein paar Tagen sind wir in Dragon. Es muss einen schnelleren Weg geben, sie zu erlernen!“

Pok kippte zur Seite und fing sich gerade noch rechtzeitig auf um den Sturz abzufangen. Danach kauerte er sich ruhig auf den Boden und starrte mich mit seinen Käferaugen an.

„Magie ist Leben. Musst du lernen zu leben?“

„Ja, aber wie komme ich an sie heran?“, drängte ich weiter, doch der Erdling schüttelte nur den Kopf.

„Sie ist da“, sagte er gedehnt. „Direkt unter der Oberfläche.“

21. Kapitel

 

Wir liefen den gesamten nächsten Tag. Meine Füße taten mir weh, doch ich wollte auch nicht stehen bleiben, da es mittlerweile so kalt war, dass ich vermutlich festfrieren würde. Ich hatte die Arme um meinen Körper geschlungen und tappte Pok hinterher. Das führte zwar dazu, dass ich manchmal an den unsichtbaren Wänden entlang schrammte, doch es war mir egal. Meine Lunge brannte und ich hatte stechende Kopfschmerzen. In der Nacht hatte ich von der sengenden Hitze einer Wüste geträumt. Als ich aufgewacht war, hatte ich kaum atmen können vor Kälte. Es war ein Wunder, dass Sam und ich noch alle unsere Zehen und Finger hatten.

Um mich abzulenken, versuchte ich die Magie in mir zu finden. Ich dachte über das nach, was Pok mir am vergangenen Abend erzählt hatte. Magie war Leben. Sollte ich sie in meiner Brust bei meinem Herzen suchen? Nein, vermutlich war es abstrakter zu verstehen. Magie konnte keine physische Substanz haben, sie musste in meinem Geist stecken. Doch konnte ich sie überhaupt erreichen? Wenn ich sie, wie Sam vermutete, durch das Weltenwandeln erlangt hatte, war ich vielleicht nur von ihr berührt worden und trug sie nur wie einen Stempel auf mir. Vielleicht war sie gar nicht tief genug vorgedrungen, dass ich sie jetzt benutzen konnte. Die Elfenmagie, die sich auf ein Element bezog, konnte ich auf keinen Fall besitzen, da ich ja keine Elfe war. Gegen Feuer war ich wohl nur wegen der „Naturmagie“, wie ich sie nannte, resistent.

Es war zum Verrücktwerden. Wenn ich wenigstens eine Vorstellung gehabt hätte, wonach ich suchen musste. Doch ich hatte einfach keine Ahnung. Und der Druck, den Kristalla in meinem Hinterkopf machte, erleichterte die Sache nicht gerade. Ich zermarterte mir das Hirn, doch mein ganzer Körper schien wegen den eisigen Temperaturen zu kapitulieren. Was ich an Hitze vertrug, schien mich an Kälte umzubringen und ich ertappte mich dabei, wie ich im Geist darum flehte, die Feuerprobe der Meermenschen zu wiederholen.

Wie im Delirium stolperte ich durch die Tunnel. Mein Herz flatterte in meiner Brust und mein Körper schwankte zwischen unheimlichen Schmerzen und völliger Taubheit.

Irgendwann sagte Pok mir, dass es Abend war.

„Gut. Wir müssen … eine Pause“, ächzte ich und fiel an Ort und Stelle auf die Knie.

„Liah!“

Sam, dem die Kälte nicht allzu sehr zuzusetzen schien, griff nach meinen Schultern, um mein Kollidieren mit dem Boden zu verhindern.

„Wir müssen etwas tun! Sie ist völlig entkräftet, aber wenn sie jetzt einschläft, erfriert sie!“

Ich fragte mich, mit wem er sprach, da Pok sowieso nur über mich antworten konnte. Meine Zunge war viel zu träge um Worte zu formen …

„Verdammt, nun tu doch etwas!“

Sam klang so wütend … und hilflos.

Ich sackte gegen ihn. Meine Muskeln schienen sich aufzulösen, genau wie meine Knochen. Durch die ständige Dunkelheit merkte ich nicht, wie mir schwarz vor Augen wurde. Alles was ich spürte, war ein starker Zug, der mich nach hinten riss.

„Liah! Liah, wach auf!“

Wie durch Watte drang Sams Stimme zu mir durch. Doch er war so unendlich weit weg. Es war viel zu anstrengend zu antworten und langsam wurde mir endlich wieder warm …

Ein Stromschlag schoss durch meinen Körper. Ein Schrei drang an mein Ohr und brauchte einige Sekunden, um zu merken, dass es mein eigener war.

Keuchend riss ich die Augen auf und sah. Ich konnte die Wände des Tunnels sehen, Pok, der meine Handgelenke umschlungen hielt und Sam, der vor mir kniete. Doch alles war rot, wie in Blut getränkt.

Ich schnappte nach Luft. Meine Haut glühte, oder besser gesagt, etwas unter meiner Haut glühte. Es durchdrang mich heiß und pulsierte in mir. Ich versuchte zu sprechen, doch ich konnte nicht. Mein Körper wurde von der Energie, die ihn durchdrang, geschüttelt und ich riss an meinen Händen, doch Pok hielt sie eisern umschlungen.

„Halte sie fest!“, raunte er in meinem Kopf. „Akzeptiere sie als Teil von dir!“

Es war genau wie bei der Feuerprobe. Nur dass es nicht der Schmerz war, den ich akzeptierte, sondern die pure Energie, der ich mich ergab. Ich ließ jegliche Gegenwehr fallen.

Anstatt dass der Strom an Magie aus mir heraus floss und verpuffte, geschah das genaue Gegenteil. Es war plötzlich nicht mehr so, als würde die Magie durch mich hindurch fließen, sondern als wäre sie wirklich ein Teil von mir. Wie mein Blut, das ich zwar nicht spürte, von dem ich aber wusste, dass es da war.

Noch immer war mir warm, als würde ein Feuer in mir brennen. Eines, dass bis in meine Augen züngelte, denn meine Sicht war nach wie vor vorhanden.

„Was ist hier gerade passiert?“, fragte ich atemlos.

„Ist wie das heilen“, quietschte Pok vergnügt über seine Rettungsaktion. „Wir haben deine Magie gesteuert. Nur, du hast sie selbst übernommen.“

„Das ist unglaublich“, murmelte ich und starrte Sam an, der in Rotlicht getaucht war. „Hält das an?“

„Solange du es aufrecht erhältst. Und von nun an wird es leichter sein, diesen Zustand zu erreichen.“

„Das ist … Ich danke dir“, sagte ich schließlich.

„Jetzt müssen wir aber den Tunnel überprüfen“, meinte Pok gedehnt. „Ihr bleibt hier und wir werden nachsehen, ob der Durchgang frei ist.“

„Warum sollte er das nicht sein?“

„Wir sind sehr nah an der Stadt. Viele Tunnel sind blockiert, damit niemand eindringen kann.“

Er wartete nicht auf meine Antwort und hoppelte davon.

„Wo will er hin?“, fragte Sam sofort, dachte jedoch daran, seine Stimme zu dämpfen.

Während ich es ihm erklärte, verdunkelte sich seine Miene.

„Mir gefällt das nicht. Es könnte eine Falle sein.“

„Verdammt noch mal“, zischte ich. „Er hat mir gerade das Leben gerettet!“

„Er hätte was auch immer er getan hat schon viel früher tun können, dann wärst du erst gar nicht in so eine Gefahr gekommen.“

„Warum kannst du ihm nicht vertrauen?!“, fuhr ich Sam heftiger als nötig an, doch er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Jetzt wo die Wölfe nicht bei uns sind, ist es umso mehr meine Aufgabe auf dich aufzupassen. Sollte dir etwas geschehen, war all das umsonst.“

„Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass Pok das auch tut? Ohne ihn wären wir nie so weit gekommen!“

„Ohne ihn säßen wir nicht in diesen Tunneln fest.“

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Eine ungeheure Wut hatte mich gepackt und ich tat mein bestes um sie nieder zu kämpfen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und mein Herz arbeitete auf Hochtouren. Ich wollte ihn anschreien, ich wollte auf ihn einschlagen …

„Liah, was ist los?“

Seine Hände legten sich auf meine Schultern, doch ich stieß ihn weg.

„Liah“, sagte Sam ruhig und hob die Hände, doch das machte mich nur noch wütender.

Ich schubste ihn, doch anstatt zurück zu weichen, packte Sam meine Arme und drückte mich gegen die Tunnelwand. Ich wehrte mich und stemmte mich gegen ihn, doch er war zu stark.

Die kalte Wand saugte die plötzliche Wut aus mir heraus und holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück, während meine Sicht sich verdunkelte bis ich schließlich wieder blind war.

„Sie ist weg“, keuchte ich tonlos.

Sam trat zurück und ich musste ihn nicht sehen können, um zu wissen, dass seine Augen zornig funkelten.

„Das hat er getan, nicht wahr?“

„Nein“, unterbrach ich ihn sofort. „Das war die Magie und nicht Pok.“

„Aber du hattest sie von ihm.“

„Er hat sie in mir erweckt“, korrigierte ich ihn. „Ich kann nur nicht mit ihr umgehen.“

Ich trat von der Mauer zurück und schlang die Arme um mich, da die kurzweilige Wärme sich bereits wieder verflüchtigte.

„Und jetzt lass uns hoffen, dass er bald wieder da ist und uns hier raus holt, bevor wir erfrieren.“

Die Stille legte sich über uns wie ein stummer Schatten. Wir standen uns schweigend in der Dunkelheit gegenüber und ich starrte stumpf vor mich hin.

Wie konnte ich nur mit ihm streiten? Wo er doch mein einziger echter Freund hier war.

Ich fragte mich, ob er das auch so sah. Dass wir Freunde waren.

Ich konnte diesem Gedanken nicht länger nachhängen, da Pok sich durch das Tapsen seiner großen Füße ankündigte.

„Die großen Tunnel sind alle versperrt, aber wir kennen einen Weg. Er führt zu einem Ausgang außerhalb der Stadt. Der wird offen sein!“

Ich gab die Information an Sam weiter und wir machten uns auf den Weg.

Es kam mir vor, als würden wir einen weiteren Tag lang gehen, doch dann spürte ich endlich den Luftzug und es konnte nicht mehr weit sein. Der Tunnel machte einen scharfen Knick und dann sah ich auch schon den Sternenhimmel.

„Wartet hier“, sagte Sam leise. „Ich werde zuerst nachsehen, ob die Luft rein ist.“

Mein Magen knurrte.

Da der Großteil unseres Proviants in den Satteltaschen gewesen war, hatten wir nur sehr wenig in den Tunneln dabei gehabt. Die letzten vier Tage hatte ich so gut wie nichts zu mir genommen und so langsam machte sich das bemerkbar. Allerdings bezweifelte ich, dass wir in dieser Gegend Thersra finden würden.

Ich warf Pok einen Blick zu. Der Erdling schien sichtlich nervös.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich leise.

„Sie ist so nah“, quietsche er. „Wir sollten nicht so nah sein, nein, nein!“

„Keine Angst“, murmelte ich und fixierte den Tunneleingang.

Einen Moment später kam Sam zurück.

„Alles in Ordnung.“

Wir folgten ihm nach draußen. Die Nacht war sternenklar und der beinahe volle Mond beschien die Szenerie. Wir standen mitten im Abhang im Gestrüpp. Dieses war vom Schnee zum Großteil komplett verdeckt, und ich fiel beinahe hin, als ich Sam folgte, der auf einen Felskamm links von uns zusteuerte. Er kniete sich hinter die Deckung und bedeutete mir dasselbe zu tun.

Bisher hatte ich nur einen Fluss gesehen, der sich durch das Tal wand, doch hinter dem Felskamm öffnete sich das Tal zu einem Kessel und der Fluss ergoss sich in einen riesigen See. Auf diesem trieben riesige Eisschollen und in seiner Mitte auf einer kleinen Insel lag die Stadt. Es gab keine Anlegestelle, keine Boote und keine Brücken. Keine Möglichkeit Dragon zu erreichen.

Plötzlich deutete Sam auf einen Punkt am Seeufer. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte in der Dunkelheit den Schemen auszumachen, den Sam entdeckt hatte.

„Bärenreiter“, wisperte er.

Die Eisbären, die uns auf unserem Weg nach Erepo begegnet waren, waren nichts im Vergleich zu diesem Tier. Selbst aus der Entfernung wirkte der Bär riesig.

„Sie patrouillieren hier überall. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen“, sagte Sam leise und ich nickte.

Ich erinnerte mich an unseren blutigen Kampf, bei dem wir drei der Wölfe verloren hatten. Das wollte ich nicht unbedingt wiederholen.

Meine Augen wanderten zurück zu der Häuseransammlung auf dem See. Es gab ein paar größere Gebäude, doch nichts, was auch nur ansatzweise an ein Schloss oder eine Festung heran kam.

„Wo ist sie?“, flüsterte ich. „Das ist doch nur eine kleine Stadt. Wo ist Kristallas Festung?“

„Unter dem See.“

Ich sah Sam erschrocken an.

„Man sagt, sie habe den kompletten See zwei Meter unter der Oberfläche eingefroren und sich ein Eisschloss in seinem Inneren erbaut. Es muss gigantisch sein. Der einzige Zugang liegt in Dragon.“

„Aber wie sollen wir dort jemals hinein kommen? Allein über den See zu kommen ist unmöglich. Wir wären erfroren, bevor wir bei der Hälfte sind, wenn uns nicht vorher ein Eisbär zerfleischt.“

Sam drehte sich zu mir um. Doch sein Blick blieb nicht an mir hängen, er wanderte über meine Schulter. Sams Stirn legte sich in Falten.

„Wo ist er?“

„Wer?“

Ich drehte mich ebenfalls um. Der Hang hinter uns war leer. Keine Spur von Pok.

„Vielleicht ist er zurück in den Tunnel gegangen“, meinte ich langsam.

Doch die Spuren im Schnee deuteten in eine andere Richtung. Man musste kein geübter Fährtenleser sein, um zu sehen, dass Pok den Berg hinunter gegangen war, während wir uns unterhalten hatten.

„Verdammt“, zischte Sam.

Er stand geduckt da, hin und her gerissen, ob es gefährlicher war, ihm nachzugehen, oder ihn laufen zu lassen.

„Siehst du ihn?“, fragte ich.

„Nein“, knurrte Sam, den Blick starr auf den Hang gerichtet.

„Vielleicht sucht er sich einfach nur etwas zu essen oder er hat Angst gekriegt.“

„Oder er ist auf dem Weg zu dem Bärenreiter, um ihm zu sagen, dass die Pachanda hier oben ist.“

„Ich glaube nicht, dass Pok auf Kristallas Seite ist“, beteuerte ich erneut, denn ich war wirklich fest davon überzeugt.

Pok war vielleicht etwas seltsam, aber er war ehrlich. Er war viel zu unschuldig, um des Lügens fähig zu sein.

„Ob mit Absicht oder nicht, wenn er in die Arme eines Bärenreiters läuft, wird er keine andere Wahl haben als uns zu verraten.“

Ich schluckte schwer. Ich hatte den Erdling mit seiner tapsigen Art ins Herz geschlossen und selbst wenn ich ihn nicht gemocht hätte – er hatte uns hier her gebracht und ich wollte nicht, dass ihm etwas geschah.

„Wir müssen ihn finden“, sagte ich, doch Sam schüttelte den Kopf.

„Sobald wir unsere Position verlassen, laufen wir in Gefahr, entdeckt zu werden.“

„Du hast doch selbst gesagt, dass er uns auch in Gefahr bringt.“

Sam fuhr sich übers Gesicht.

„Es geht nicht“, seufzte er schließlich und setzte sich wieder neben mich.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich nach einer kurzen Pause.

„Wir müssen zum Treffpunkt kommen, solange es noch dunkel ist. Sobald es Tag ist, wird uns sogar ein Blinder im Schnee ausmachen können.“

„Und wie machen wir das, ohne Spuren zu hinterlassen oder einem Bärenreiter in die Arme zu fallen?“

Wie sich herausstellte, war es unmöglich keine Spuren zu hinterlassen, wenn man durch kniehohen Schnee stapfte. Wir versuchten den Schaden insofern zu begrenzen, dass Sam voraus ging und ich in seine Fußstapfen trat. Er ging am Abhang entlang in die entgegengesetzte Richtung der Stadt und parallel zum Fluss, der sich unter uns im Tal entlang schlängelte. Ich hörte ihn leise rauschen und das Geräusch beruhigte mich seltsamerweise. Es hatte so etwas Natürliches. Und ich wusste nicht warum, doch plötzlich musste ich an die Themse im Winter denken, an der meine Mutter und ich oft spazieren gegangen waren.

Ich schob den Gedanken beiseite und fühlte stattdessen in mich hinein, um die Magie wie ein wärmendes Schutzschild um mich zu ziehen. Es gelang mir nicht einmal ansatzweise so gut wie zusammen mit Pok in den Tunneln, aber ich bemerkte dennoch eine kleine Flamme in meinem Inneren, die die Kälte aus meinen Knochen vertrieb.

Der Erfolg berauschte mich. Plötzlich fühlte ich mich viel wacher und es fiel mir leichter, mit Sam Schritt zu halten. Dieser schien viel zu diszipliniert, um müde zu werden.

Meine neu entdeckte Magie nahm meine gesamte Konzentration in Anspruch und so bemerkte ich gar nicht, wie das Rauschen des Flusses immer lauter wurde. Auch bemerkte ich die Biegung des Flusses nicht und so stolperte ich beinahe gegen Sam, als dieser am Flussufer stehen blieb, der hier den Hang hinunter floss.

Links von uns, wo der Berg steil in den Himmel ragte, donnerte das Wasser an dem vereisten Fels herunter. Wie eine Mischung aus Gletscher und Wasserfall.

Früher einmal musste der Wasserfall breiter gewesen sein, denn er hatte tiefe Furchen in den Berg gegraben und dort fanden wir einen Unterschlupf, wo wir uns verstecken konnten.

„Und das also ist der Treffpunkt?“, fragte ich, als wir uns hingesetzt hatten.

Sam nickte.

„Und was glaubst du, wann werden sie hier sein?“

„Ihr Weg kann nicht viel länger gewesen sein als unserer. Außerdem sind sie schneller. Spätestens heute Abend.“

Ich schwieg einen Augenblick, doch dann konnte ich die Frage nicht mehr zurückhalten.

„Und was machen wir, wenn sie nicht kommen?“

Sam lehnte sich zurück und sah in den immer heller werdenden Himmel.

„Dann suchen wir uns allein einen Weg hinein.“

 

Die Sonne ging nicht richtig auf. Zumindest hatte es den Anschein, da sie sich hinter einer dunstigen Wolkenschicht verbarg und es nur halb über die Bergkette schaffte. Die Wölfe blieben weiterhin verschwunden und insgeheim hatte ich das Gefühl, dass sie auch nicht mehr kommen würden. Allerdings hatte ich keine Ahnung, was wir dann machen sollten. Selbst mit den Wölfen erschien es unmöglich in Kristallas Unterwasserfestung einzudringen, doch Norlos hatte sicherlich einen geheimen Plan gemacht.

Sam sagte die ganze Zeit über kein Wort und irgendwann merkte ich, dass er eingeschlafen war. Erst ließ ich ihn schlafen, da er die Erholung eindeutig nötig hatte, doch dann wurde ich nervös.

Seine Haut war ungewöhnlich bleich und er regte sich nicht.

Schließlich hob ich den Arm und rüttelte ihn an der Schulter, doch er reagierte nicht.

„Sam?“, fragte ich leise.

Ich legte eine Hand an sein Gesicht. Es war so kalt wie Eis.

Erschrocken fuhr ich hoch und schüttelte ihn.

„Hey, wach auf!“, rief ich leise.

Ich legte meine Hände an seinen Hals und konzentrierte mich darauf, die Magie, die mich warmhielt dorthin zu leiten. Meine Handflächen prickelten. Es funktionierte. Dann öffnete ich seine Jacke und rieb über seine Brust, während ich immer wieder seinen Namen sagte.

Meine Ohren rauschten, doch ich verfiel nicht in Panik. Denn das würde ihm nicht helfen. Ich musste ihn nur irgendwie aufwärmen, doch hier konnte ich kein Feuer machen. Wenn ich nur meine Magie in ihn überleiten könnte, doch ich hatte keine Ahnung wie ich das tun sollte.

„Komm schon, bitte wach jetzt auf“, flüsterte ich.

Seine Lider zuckten.

„Sam?“

Langsam öffnete er die Augen. Einen Moment lang sah er mich träge an, dann fragte er: „Was tust du da?“

Erleichtert sank ich mit der Stirn gegen seine Schulter.

„Ich dachte schon, du wachst nicht mehr auf“, sagte ich und meine Stimme klang wackeliger als gedacht.

„Ich … Wie hast du das gemacht? Du bist so warm“, murmelte Sam verwirrt und legte langsam die Arme um mich.

„Das ist wegen der Magie. Ich glaube ich weiß jetzt, wie das funktioniert. Zumindest ein bisschen.“

„Ich wusste, dass du das kannst“, meinte er ernst.

„Ja“, sagte ich leise und legte meine Hände wieder auf seine Brust, in der Hoffnung, er würde sich so schneller wieder aufwärmen.

„Danke“, sagte er schließlich.

Ich antwortete nicht. Ich hatte ihm vielleicht gerade das Leben gerettet, doch das konnte ich mir nicht eingestehen. Denn der Gedanke, dass Sam gerade fast gestorben wäre, würde mir den letzten Rest an Kraft rauben, den ich noch besaß.

22. Kapitel

 

Der Tag verstrich quälend langsam. Sam und ich saßen eng an einander gedrängt in unserer Deckung um uns warmzuhalten, doch ich war bald zu müde um die Magie aufrecht zu erhalten und so wurde es von Minute zu Minute kälter.

„Sam, was machen wir, wenn sie nicht kommen?“, fragte ich leise, als die Sonne unter gegangen war.

„Ich habe eine Idee. Aber sie gefällt mir nicht.“

Das war zumindest ein Anfang.

„Du musst irgendwie an sie heran kommen. Aber wir würden es wahrscheinlich nicht einmal mit der Hilfe des gesamten Dorfes in die Festung schaffen.“

„Mit wessen Hilfe dann?“, fragte ich, denn ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte.

„Mit ihrer Hilfe.“

Verwirrt starrte ich ihn an.

Dann durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitz.

„Das kannst du nicht ernst meinen“, keuchte ich. „Wir sollen uns ausliefern?“

„Ich weiß, es ist riskant. Aber sie wird dich lebendig haben wollen.“

„Woher willst du das wissen? Es wäre doch viel logischer, wenn sie uns sofort umbringen würde, damit wir ihr nicht mehr gefährlich werden können!“

„Ja, das wäre logischer“, bestätigte Sam. „Aber sie handelt nicht logisch. Sie strebt nach der ultimativen Macht. Nur du kannst sie aufhalten und sie weiß das. Sie will auch Macht über dich und wenn sie es schafft, dich gefangen zu nehmen, wird sie das demonstrieren wollen.“

„Du meinst also ihr Machthunger ist ihre Schwäche“, schlussfolgerte ich.

„Genau. Und das müssen wir ausnutzen. Eine andere Chance haben wir nicht.“

In stillem Einverständnis erhoben wir uns. Die Wolken verdeckten den Himmel und die Nacht war stockfinster.

Wir folgten dem Flusslauf den Berg hinunter ins Tal. Ich stolperte ein paar Mal über das unter dem Schnee verborgene Gestrüpp und auch Sam schien nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Kräfte zu sein. Wir waren einfach zu ausgelaugt. Irgendwie hatte ich nicht erwartet, dass mein Zusammentreffen mit Kristalla so ablaufen würde.

Aber hatte ich überhaupt etwas erwartet? Eigentlich hatte ich mir die größte Mühe gegeben, nicht zu genau über diesen Moment nachzudenken. Ich hatte gedacht, dass die Wölfe bei mir wären, mit einem guten Plan. Aber wenn sie einen Plan hatten, warum hatten sie nicht sichergestellt, dass ich ihn erfuhr?

Ich durfte nicht ihnen die Schuld geben. Ich hatte mich zu sehr treiben lassen und jetzt, wo ich kurz davor war, meine Aufgabe zu erfüllen, zweifelte ich. Warum hatte ich angenommen, dass ich das schaffen könnte? Nur weil eine alte Prophezeiung besagt, dass ich die Auserwählte war, hieß das nicht, dass ich nicht auch versagen konnte. Kristalla war so mächtig, dass weder die Königin noch die Armee dieses Landes sie hatten schlagen können. Sie hielt eine ganze verdammte Welt im Winter gefangen. Sie hatte ihren Geist an den Tod verkauft um unsterblich zu werden. Und ich, eine sechzehnjährige, die keine Ahnung von Magie oder dem Töten hatte, sollte sie zur Strecke bringen. Wer auch immer sich das hatte einfallen lassen, war nicht mehr ganz richtig im Kopf.

Wir waren bereits eine Weile unterwegs und bisher war noch nichts geschehen. Wir hatten bereits die Biegung des Flusses hinter uns gelassen und der See konnte nicht mehr weit sein.

„Sam“, setzte ich an, um auszusprechen, was mir durch den Kopf ging, doch so weit kam ich nicht.

„Sie sind hier“, flüsterte Sam und griff nach dem langen Dolch in seinem Gürtel. „Wir müssen uns wehren, damit sie keinen Verdacht schöpfen.“

Ich nickte langsam und zog den Dolch aus meinem Stiefel, den Fürst Bertang mir geschenkt hatte.

Mein Herz raste. Ich konnte nicht weit sehen in der Dunkelheit, doch das Knirschen des Schnees war bereits so nah, dass der rauschende Fluss es nicht länger übertönte.

Sam stellte sich schützend vor mich, doch ich wusste, dass er mich nicht länger beschützen konnte. Plötzlich wurde mir klar, dass ich gar keinen Schutz brauchte, bis ich Kristalla gegenüber stand, aber Sam war wertlos für sie. Er war in viel größerer Gefahr als ich.

Ein Schrei zerriss die Nacht und noch bevor ich aus meiner Schockstarre erwacht war, hatte Sam einen Satz nach vorn gemacht. Doch er war dennoch nicht schnell genug. Die Pranke des Eisbären ratschte ihm quer über die Brust und er fiel zur Seite.

„Nein!“, schrie ich erschrocken, doch er rappelte sich bereits hoch und erwischte den Eisbären am Hals.

Doch das Fell war zu dick für den Dolch. Sam hatte seinen Bogen nicht bei sich gehabt, als die Grotte eingestürzt war und nun war er so gut wie unbewaffnet.

Der Mann auf dem Rücken des Eisbären stieß mit seiner Lanze nach ihm, und Sam packte den Schaft und zog sich in einer fließenden Bewegung auf den Rücken des Tiers. Er legte den Arm um den Hals des Mannes und drückte zu.

Dieser schlug röchelnd um sich und versuchte sich zu befreien, doch Sam war stärker. Ich war mir sicher, dass er ihn im nächsten Moment überwältigen würde, als der Eisbär sich plötzlich auf die Seite warf und beide Reiter unter sich begrub.

Endlich fiel meine Lähmung von mir ab. Ich sprang nach vorn und stieß genauso wie ich es schon einmal getan hatte meine Klinge durch das Auge des Bären.

Das Tier schlug brüllend vor Schmerz um sich und ein brennender Schmerz zuckte durch meinen linken Oberschenkel. Dann sackte der Eisbär in sich zusammen und rührte sich nicht mehr.

Keuchend fiel ich in den Schnee und spürte heißes Blut aus meinem Bein strömen.

„Sam“, ächzte ich, doch auf einmal wurde ich in die Luft gerissen.

Ich hatte den zweiten Bärenreiter gar nicht bemerkt, der sich von der anderen Seite genähert hatte. Jetzt preschte er an uns vorbei, machte sich nicht mal die Mühe anzuhalten und riss mich hinter sich auf den Bären.

Ich schrie vor Schmerz, denn mein Bein fühlte sich an, als würde es von meinem Körper fallen, doch ich konnte mich nicht wehren. Stattdessen krallte ich mich in das Fell des Tiers, das durch den Schnee heizte, als hinge sein Leben davon ab.

Ich starrte angestrengt zurück, doch der Kampfschauplatz war bereits außer Sichtweite.

„Sam“, wisperte ich erneut. „Sam.“

Der Mann krallte die Hand in meine Jacke und zog mich etwas weiter hoch, damit ich nicht runter fiel. Dann drehte er sich halb zu mir um und grinste mich durch seinen Helm an.

„Willkommen in Dragon, Pachanda“, sagte er mit schnarrender Stimme. „Die Eisige will dich lebend, aber sie hat nichts von unverletzt gesagt. Wenn du dich wehrst, kann ich für nichts garantieren.“

Ich schluckte und nickte langsam.

Er warf mir noch einen abschätzenden Blick zu, bevor er sich wieder umdrehte.

„Ein kleines Mädchen“, schnaubte er. „Und darum machen alle so ein Aufheben …“

Ich atmete langsam aus und ein. Der Schmerz in meinem Bein machte mich wahnsinnig und als ich an mir herunter sah, war da viel zu viel Blut. Das war nicht der Plan gewesen. Der Mann brachte mich jetzt zwar zu Kristalla aber Sam lag noch dort draußen und ich hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Sam diese Möglichkeit mit einberechnet hatte. Natürlich hatte er das getan. Vermutlich gab es überhaupt kein Ereignis, das Sam überraschen konnte. Ich blickte auf den großen See hinaus, der sich vor uns erstreckte und wünschte mir, diese Fähigkeit ebenfalls zu besitzen.

Am Rande nahm ich wahr, wie der Eisbär ins Wasser glitt. Eine Eisscholle stieß gegen meinen Fuß, doch ich konnte mein Bein nicht anziehen und musste zulassen, dass das kalte Wasser in meinen Schuh lief. Mir wurde schwindlig und der Schmerz in meinem Bein wich der Taubheit. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie Pok mich geheilt hatte, doch meine Gedanken waren zäh wie Honig.

Der Eisbär schwankte im Wasser hin und her und in meinem Kopf drehte sich alles. Ich krallte mich stöhnend in das Fell, dann dämmerte ich weg.

Verschwommene Bilder einer Stadt wanderten an meinem Geist vorbei. Dunkle Häuser, zerbrochene Scheiben. Müde Gesichter, Menschen, die durch stille Gassen huschten. Ein weinendes Kind. Eingeschneite Dächer und vereiste Straßen, doch nirgendwo ein helles Licht. Es war, als wäre dem Ort jegliche Wärme entzogen worden.

Ich lag quer über dem Rücken des Eisbären und meine Arme und Beine hingen an seinen Seiten herunter. Ich fühlte mich wie eine Puppe, ohne Muskel und Knochen, nur ein nutzloser Körper, völlig ausgeliefert …

 

Es war kalt. Irgendwo tropfte es. Das monotone Tropfen hallte von den Wänden wieder. Langsam hob ich meine bleischweren Lider. Mein Kopf tat weh und mir war eiskalt. Ich setzte mich auf und rieb meine Hände an einander. Mein Bein war mit langen Stoffstreifen verbunden.

Mein Bein!

Schlagartig kamen meine Erinnerungen an die letzten Stunden zurück. Wie lange hatte ich geschlafen? Wo war ich? Und wo war Sam?

Ich wollte aufstehen, doch mir wurde schwindelig und mein Bein knickte ein, als ich es belastete. Ich ließ mich zurück auf den Boden fallen und schnappte keuchend nach Luft.

Nachdem ich zu Atem gekommen war, sah ich mich genauer um. Ich befand mich in einem kleinen Raum, einer Art Zelle. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass die Wände nicht aus Stein, sondern aus Eis waren. Der Raum war in massives Eis gehauen worden. Ich befand mich in Kristallas Festung.

Mein Herz machte einen Satz und ich presste die Hände auf die Brust.

Aus den Wänden drang ein dunkles Leuchten. Es erinnerte mich an das Licht in den Kristallen in den Tunneln, doch dieses Licht hatte nichts Reines. Es wirkte schmutzig. Verdorben.

Ich wagte einen neuen Versuch und stand auf. Wieder wurde mir schwindelig, doch ich stützte mich an der Wand ab und wartete, bis ich wieder klar sehen konnte. Die Verletzung musste doch etwas schwerer sein, als ich gedacht hatte. Der Verband half, doch immer wenn ich versuchte, das Bein zu belasten, drohte es unter mir einzubrechen. Ich lehnte mich gegen die Wand und schob mich so vorwärts.

Der Zelleneingang war offen. Es gab weder Tür noch Gitterstäbe. Nicht einmal Wachen konnte ich im dunklen Gang ausmachen.

Misstrauisch runzelte ich die Stirn. Was sollte das? Ich war Kristallas wichtigste Gefangene und sie ließ mich nicht einmal bewachen. Oder war das ein Trick?

Hilflos stand ich da und wusste nicht, was ich als nächstes tun sollte. Doch eins wusste ich. Von hier aus konnte ich nichts ausrichten. Vielleicht gelang es mir ja unbemerkt zu Kristalla zu gelangen. Es war unwahrscheinlich, aber dann hatte ich immerhin das Überraschungsmoment auf meiner Seite.

Ich schob mich den Gang entlang. Mein Magen hatte sich zu einem festen Knoten verkrampft und mein Herz flatterte, als wolle es davon fliegen, doch ich blieb nicht stehen. Auch nachdem ich um eine Ecke gebogen war, konnte ich keine Wache entdecken.

Ich fragte mich, wo Kristallas mächtige Armee sich aufhielt. Wenn sie seit zwanzig Jahren Krieg führte, mussten es einige sein und Dragon war viel zu klein und tausende Krieger zu beherbergen. Außer den wenigen Bärenreitern hatte ich noch keinen ihrer Schergen gesehen.

Der Gang endete an einer Treppe, die nach oben führte. Es gab kein Geländer und ich hielt einen Moment inne, nicht sicher, wie ich es nach oben schaffen sollte. Probeweise nahm ich die erste Stufe, doch ich rutschte auf der spiegelglatten Oberfläche aus und fiel auf die harten Stufen.

„Autsch“, ächzte ich.

Jetzt, wo ich auf den Stufen lag, hatte ich eine bessere Idee. Ich setzte mich auf und stemmte mich rückwärts mit den Armen hoch, um mich auf die nächste Stufe zu setzen. Auf diesem Weg gelang es mir, die Treppe zu erklimmen, ohne mein verletztes Bein zu belasten. Allerdings war es auch ziemlich anstrengend und mein Keuchen hallte durch den Flur, als ich oben angekommen war.

Ich hielt den Atem an und späte um die Ecke, doch vor mir erstreckte sich nur ein weiterer Flur.

Ich rappelte mich hoch und schob mich den Gang entlang. Wieder kam ich an eine Treppe, wieder kletterte ich sie nach oben und erneut fand ich mich in einem Gang wieder, an dessen Ende eine Treppe war.

Bei der siebten Treppe war ich völlig außer Atem.

„Verdammt“, stöhnte ich und hielt inne um eine Pause zu machen.

Was tat ich hier überhaupt? Ich wusste nicht mal ob ich in die richtige Richtung ging. Immerhin befand sich die Festung unterhalb des Sees und vielleicht war der Thronsaal in einem unteren Stockwerk. Falls es überhaupt einen solchen gab und Kristalla sich dort aufhielt. Auf einmal erschienen mir meine Anstrengungen sinnlos und dumm. Ich hatte ja sowieso keine Ahnung, wohin ich musste und was ich tun sollte, wenn ich dort ankam. Wahrscheinlich würden mich Kristallas Wachen sofort überwältigen, wenn ich in ihre Nähe kam. Wie hatte ich nur annehmen können, sie überraschen zu können? Am besten sollte ich zurück in meine Zelle gehen und darauf warten, dass sie mich holen ließ …

Stopp. Ich tauchte aus meinen Gedanken auf, wie aus kaltem Wasser. Als hätte jemand ein Streichholz in meinem Kopf entzündet, wurde mir urplötzlich bewusst, was hier vor sich ging. Das alles war ein Trick! Und ich war darauf hereingefallen.

Niemand würde seine wichtigste Gefangene in eine offene Zelle stecken, und die ganzen Gänge und Treppen, die sich bis aufs Haar glichen und sich bis ins Unendliche in die Höhe schrauben zu schienen! Sie mussten verzaubert sein, wie ein Labyrinth und ich ging immer wieder den gleichen Weg. Kristalla brauchte keine Wachen, wenn ihr Gefängnis gar keinen Ausgang besaß. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass meine Gedanken immer träger geworden waren, während ich ging, also musste ich annehmen, dass sie auch da dahinter steckte.

Doch wie sollte ich nun hier raus kommen?

Jetzt, wo ich den Zauber bemerkt hatte, war mein Kopf wieder klar und meine Gedanken rasten. Wie konnte sie eine solche Täuschung hervorrufen?

Ich musterte die Wände. Dann warf ich einen Blick über die Schulter, in die Richtung, aus der ich gekommen war. Das Eis leuchtete in seinem gleichmäßig dunklen Licht.

Magie. Selbstverständlich hatte sie es mit Magie getan. Vielleicht eine Art Wurmloch, das einen am oberen Ende der Treppe wieder an den Anfang des Ganges teleportierte? Ich wusste zwar wenig über Magie, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie so funktionierte. Sie schien eher eine Art Kopfsache zu sein. Etwas Mentales, dass sich zwar manifestieren ließ, aber kein Hokuspokus war, wie das, was in meiner Welt als Magie verkauft wurde.

Ich legte eine Hand an die Wand, gegen die ich mich gelehnt hatte. Sie war kalt. Doch meine Haut blieb weder an dem gefrorenen Wasser kleben, noch begann es zu tauen.

Ich schloss die Augen und tastete nach der Magie in mir und sobald ich sie spürte, zog ich sie an die Oberfläche.

Es war als würde die Wand, oder was auch immer da in ihr leuchtete, mir einen Schlag verpassen. Die Welt kippte aus ihren Fugen und ich riss keuchend die Hand zurück und öffnete die Augen.

Ich lag auf dem Boden der Zelle und als ich mich auf den Rücken rollte war ich mir sicher, dass ich sie auch nie verlassen hatte. Es war eine Kopfsache. Kristallas dunkle Magie, mit der hier alles durchtränkt war, hatte mich nur glauben lassen, ich wäre auf dem Weg nach draußen.

Ich klammerte mich an meiner eigenen Magie fest. Sie schirmte mich vor Kristallas Einfluss ab, genau wie Pok es gesagt hatte. Solange ich sie an der Oberfläche hielt, würde ich einen klaren Kopf behalten. So wie ich es verstanden hatte, trugen nur wenige Völker in dieser Welt Magie in sich. Nur die, die fähig waren, sie zu benutzen, konnten Kristallas Zauber durchschauen. Und zu meinem Glück schien sie nicht zu wissen, dass ich das konnte. Ich besaß einen echten Trumpf.

Ein irres Lachen kroch meine Kehle hinauf.

Dieser Trick hier war ziemlich genial und wahrscheinlich fielen alle Gefangenen darauf herein. Die meisten mussten Menschen sein, die nicht magisch waren und gar keine Chance hatten. In ihrer Angst stürmten sie auf der Suche nach dem Ausgang die Treppen nach oben, bis sie nicht mehr konnten und verzweifelten. Und dabei bewegten sie sich in Wahrheit keinen Millimeter vom Fleck.

Doch ich wollte nicht fliehen. Ich wollte Kristalla finden und nicht vor ihr davon laufen. Und allein die Tatsache, dass ich sie zumindest in diesem Punkt durchschaut hatte, verlieh mir Mut.

Das Kribbeln an meinem Oberschenkel verriet mir, dass die Magie begonnen hatte, mich zu heilen und ich setzte mich probeweise auf. Es fühlte sich nicht besonders gut an, aber ich würde das Bein belasten können.

Ich stand auf und trat aus der Zelle.

Der Gang, in dem ich mich wiederfand, war ein völlig anderer als zuvor. Rechts und links öffnete sich die Wand zu vielen Zellen, wie die meine. Ich schluckte und betrat eine der Zellen.

Ein Mann lag auf dem Boden. Sein schwarzes Haar und der Bart waren lang und verfilzt. Er hatte die Arme abgespreizt und starrte an die Wand vor sich.

„Hallo?“, sagte ich leise, doch er reagierte nicht.

Er befand sich in der gleichen Trance wie ich zuvor.

Ich warf einen Blick in ein paar andere Zellen, wo weitere Männer und auch ein paar Frauen in ähnlichen Posen lagen, alles Menschen, genau wie ich angenommen hatte. Keiner von ihnen reagierte auf mich.

Was, wenn Sam irgendwo hier war? Oder noch schlimmer, wenn er dort draußen im Schnee lag und verblutete …

Ich fuhr mir übers Gesicht und versuchte ruhig zu atmen. Ich hatte mir schon einmal ein Beispiel an Sam genommen und ich sollte es wieder tun. Sam würde ruhig bleiben, also musste ich das auch tun. Sam würde sich nicht ablenken lassen, er würde sich auf die Mission konzentrieren. Auch Norlos würde mir sagen, ich solle mich auf die Mission konzentrieren. Die Mission war das wichtigste im Moment. Es ging um tausende Leben und nicht nur um meine Freunde. Ich hatte die letzten Wochen auf genau diesen Punkt hingearbeitet und eine ganze Welt vertraute darauf, dass ich jetzt ruhig blieb und meine Aufgabe erfüllte.

Ich straffte die Schultern und machte mich auf den Weg.

Als ich das Ende des Zellengangs erreicht hatte, verließ mich mein Glück. Ich spähte vorsichtig um die Ecke, riss den Kopf aber sogleich wieder zurück. Da standen Wachen im Flur. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich schloss kurz die Augen.

Dann riskierte ich einen zweiten Blick.

Es waren gedrungene Gestalten und sie standen mit dem Rücken zu mir. Selbstverständlich, denn Kristalla erwartete ja keinen Ausbruch. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte die Wachen genauer zu erkennen. Sie hielten spitze Lanzen in den Händen, die viel zu groß für ihre kindlichen Körper wirkten. Ihre Rüstung war seltsam eng und kantig.

Ein Quietschen kündigte weitere Wachen an, die eine Wendeltreppe herunter kamen. Sie waren von der gleichen Statur wie die anderen und gingen an ihnen vorbei ohne eine Wort zu sagen. Sie kamen direkt auf mich zu.

Hektisch wich ich zurück und huschte in die nächste Zelle. Dort drückte ich mich an die Wand und wartete.

Als die Wachen an der Zelle vorbei gingen, konnte ich sie genauer erkennen und mein Magen drehte sich um.

Es waren Herzstehler. Die in Metallrüstungen gesperrte Dämonen, die uns bereits kurz nach meiner Ankunft im Fleidr Wald begegnet waren und die nur das Sonnenlicht fürchteten. An das ich hier unmöglich herankommen konnte.

Als sie die Zelle passiert hatten, huschte ich hinaus und zurück zum Ende des Ganges. Meine Finger schlossen sich um etwas in meiner Jackentasche. Ich hatte eine Idee.

Diese anderen Wachen waren sicher auf dem Weg zu meiner Zelle. Gleich würden sie bemerken, dass ich ausgebrochen war und ich hatte nur noch Minuten, wenn nicht sogar Sekunden, um hier herauszukommen. Und um das zu schaffen, musste ich darauf vertrauen, dass Sonnenlicht nicht das einzige Licht war, was diese Dinger scheuten.

Ich zog den Kristall aus meiner Jackentasche und ließ meine Magie hinein fließen. Der Lichtpunkt leuchtete grell auf und ich sprang um die Ecke.

Mit einem trommelfellzerreißenden Gekreische stoben die Herzstehler auseinander und ich rannte ohne einen Wimpernschlag zu zögern, auf die Wendeltreppe zu. Ich hielt den Kristall hoch über meinen Kopf, auch noch, als ich die Stufen erreicht hatte und sie nach oben hechtete.

Als ich oben ankam, war mir klar, dass der Lärm nicht unbemerkt geblieben war, und im Gang links und rechts von mir hörte ich bereits quietschende Schritte. Ich steckte den Kristall wieder in meine Jackentasche und rannte nach rechts. Dort war eine Nische in der Wand, in die ich hechtete und dann mit angehaltenem Atem verharrte.

Weitere Herzstehler kamen an mir vorbei, ohne mich zu bemerken, und gingen die Treppe hinunter. Ich verlor keine Sekunde und rannte auf Zehenspitzen den Gang hinunter. Er war breiter und höher als der unten, aber nicht heller.

Ich hatte Glück, denn die Wachen in der Nähe schienen alle dem Lärm nach unten gefolgt zu sein. Doch gleich würden sie bemerken, dass ich bereits hier war und bis dahin musste ich mich an einem anderen Ort befinden.

Ich fand eine weitere Wendeltreppe, die nach oben führte und hechtete sie immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben.

Das Leuchten der Wände war in diesem Stockwerk heller. Ich musste Kristalla näher sein.

Meine Lunge brannte von der kalten, feuchten Luft und ich verlangsamte meine Schritte.

Der Gang wurde zunehmend breiter und an seinem Ende konnte ich eine große Doppeltür ausmachen, deren rechter Flügel einen Spalt breit offen war. Vor ihr standen keine Wachen.

Ich schluckte und näherte mich langsam.

Das musste einfach der Ort sein nach dem ich suchte. Ich konnte es spüren, fühlte das Prickeln im Nacken und den Drang wegzulaufen. Und gleichzeitig zog mich die Tür magisch an.

Im Gehen bückte ich mich und zog den Dolch aus den Schmieden von Mjendra aus meinem Stiefel. Anscheinend hatten sie mich nicht durchsucht, nachdem ich meine andere Waffe im Auge des Eisbären gelassen hatte.

Aber konnte es so einfach sein? Was wenn es eine Falle war?

Ich hatte keine Zeit mehr, das genauer zu erörtern, denn da hatte ich die Tür bereits erreicht.

Sie war der erste Teil dieser Festung, der nicht aus Eis geformt war. Ich streckte die Hand auf und drückte gegen den angelehnten Türflügel. Er schwang ohne jeglichen Widerstand zu bieten auf und ich trat ein.

23. Kapitel

 

Der Raum war kein Raum. Auch kein Saal. Es war eine gigantische, in einem schmutzigen Weiß leuchtende, mit Eiszapfen verhangene Höhle. Sie verschlang mich wie eine eigene kleine Welt, ein Fantasiereich, unergründet und von wilder Schönheit.

Die Höhle musste den restlichen Platz unter dem See komplett in Anspruch nehmen. Der Boden war nicht eben sondern hügelig und mit Schneewehen bedeckt. Hier und da ragten Eisstalagmiten aus dem Boden. Von der Decke rieselten feine Schneeflocken, die sich auf mein Haar legten und mich zu einem Teil dieser Landschaft machten. Weiter vorn war der Boden spiegelglatt wie in einer Eishalle zum Schlittschuhlaufen. Zwischen diesem Bereich und der Tür war ein erhöhtes Podest und dort stand ein Thron.

Und auf diesem Thron saß sie. Wie eine wunderschöne Statue, in fließende Seide gehüllt und von Reif überzogen. Ich konnte nicht anders als wie fest gefroren dazustehen und sie anzustarren.

Ihre Augen waren geschlossen und auf ihren dunklen Wimperkränzen lagen Schneeflocken. Ihre Haut war bleich und ebenmäßig wie Porzellan. Ihre Gesichtszüge wirkten außerirdisch, nahezu übermenschlich. Ihr Haar ergoss sich in dunklen, braunen Locken sanft über ihre Schultern. Es glitzerte, als wäre es mit tausend winzigen Eiskristallen bedeckt. Ihr Körper war filigran und wirkte zerbrechlich, als wären ihre Knochen aus dünnem Eis.

Nur ihre Lippen waren blutleer und tot.

Ich trat langsam näher. Sie schien mich nicht zu bemerken und ich konnte meine Studie fortsetzen. Da war etwas an ihr, etwas so unschuldiges. Vertrautes.

Ich stand jetzt direkt vor den Stufen ihres Throns. Wenn ich die Hand ausgestreckte hätte, würde ich ihr Knie berühren. Meine Angst war komplett gewichen. Ich sah nur diese Frau an und war völlig unfähig, sie mit den Gräueltaten und den Morden, die dort draußen in der Welt geschahen, in Verbindung zu bringen.

Kristalla war schrecklich. Doch sie war schrecklich schön. Ihre Kälte war nicht grausam, sondern pur. Und ihre Magie war nicht dunkel, sondern mächtig.

Ich hatte die Stufen erklommen ohne so recht darauf zu achten. Jetzt stand ich direkt vor ihr. Langsam beugte ich mich zu ihr hinab und streckte die Hand aus.

Als ich das tat, sah ich den Dolch, den ich noch immer festhielt. Ein Gedanke sickerte langsam in mein Bewusstsein, doch es war zu spät. Meine Fingerspitzen berührten bereits ihre Schulter.

Ein Schmerz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, jagte meinen Arm hinauf. Ich schrie, doch ich war machtlos. Der Dolch fiel mir aus der Hand, als ich nach vorne gerissen wurde, durch den Körper vor mir hindurch. Ich wand mich, doch ich kam gegen den gewaltigen Sog nicht an. Er zwang mich in eine sitzende Position und das Eis verformte sich leicht und nahm mich einige Zentimeter in mich auf, sodass ich unfähig mich zu bewegen, starr auf dem Thron saß.

Verdammt, verdammt, verdammt. Schon wieder ein Trugbild und ich war darauf hereingefallen. Ich hatte mich in ihren Zauberbann ziehen lassen ohne es überhaupt zu merken.

„Das war ja wirklich einfach“, sagte eine sanfte Stimme.

Ich versuchte hektisch den Kopf zu bewegen, um den Sprecher auszumachen, doch es war unmöglich.

„Nach deiner Aktion in meinem Gefängnis hätte ich wirklich mehr von dir erwartet, Liah.“

Jetzt wehte die Stimme von einer anderen Seite zu mir herüber, doch noch immer konnte ich niemanden sehen.

„Ich bin nahezu … enttäuscht“, säuselte sie.

„Woher kennst du meinen Namen?“, presste ich hervor.

Es war wohl nicht die schlag fertigste Antwort, aber ich war schon überrascht, dass ich überhaupt etwas herausbrachte.

„Oh, ich weiß viel mehr über dich, als du denkst. Ich weiß sogar mehr über dich, als du selbst.“

„Das glaube ich nicht“, murmelte ich mit zusammen gebissenen Zähnen.

„Ach ja? Wer bist du, Liah Jones? Wer bist du wirklich?“

Sie sprach meinen Nachnamen mit einer solchen Verachtung aus, dass ich zusammen zuckte.

„Wer bist du überhaupt? Zeig dich, oder hast du Angst?“

Ein kaltes Lachen ertönte direkt hinter mir und ich verkrampfte mich.

„Du weißt, wer ich bin“, hauchte sie in mein Ohr. „Oder zumindest glaubst du es zu wissen. Denn über unsere Verbindung weißt du nichts.“

„Uns verbindet nicht mehr als die Tatsache, dass ich dich töten werde.“

Sie lachte wieder.

„Wie kühn du bist. Aber schlau bist du nicht. Mut haben dir Fionas Puppen gegeben, und deinen Geist haben sie schön unterdrückt.“

„Wer ist Fiona?“, fragte ich verwirrt.

„Ach ja, richtig. Du kennst sie ja unter einem anderen Namen. Ich spreche von meiner Halbschwester, Liah.“

„Die Königin.“

„Ganz genau. Die Frau, für die du töten sollst.“

„Ich tue das nicht für sie, sondern für die Freiheit dieser Welt.“

Ich hatte keine Ahnung, woher ich den ganzen Mut nahm, doch irgendwie hatte ich einfach keine Angst mehr.

„Es sieht so aus, als hätte der gute Sam auch zu deiner Gehirnwäsche beigetragen.“

Ich biss mir auf die Zunge.

„Ist er hier?“

Es folgte eine qualvolle Pause. Dann sagte Kristalla endlich: „Ja. Und wenn du dich brav mit mir unterhältst, dann darfst du ihn auch sehen.“

Ich wollte nicken, doch mein Kopf steckte im Eis fest.

„Gut. Reden wir.“

Was hätte ich auch anderes tun sollen? Ich steckte fest und der Überraschungseffekt war verloren.

„Wo ist Pok?“, fragte ich.

Ein schweres Seufzen ertönte.

„Immer so auf deine Freunde konzentriert … So selbstlos … Ist dir nicht klar, dass du hier in größter Gefahr bist? Jeder Atemzug könnte dein letzter sein.“

Ich schluckte.

„Wenn du mich töten wolltest, hättest du es längst getan.“

„Sehr richtig. Kommen wir also zu meiner Frage zurück. Wer bist du, Liah?“

„Ich bin … eben ich“, sagte ich wahllos. „Die Pachanda.“

Kristalla schnaubte.

„Unsere Wurzeln machen aus, wer wir sind. Nicht das, wozu andere uns machen.“

„Dann bist du nichts weiter als ein verstoßener Bastard des Königshofes?“

Ich verkrampfte mich. Jetzt war ich zu weit gegangen. Doch nichts geschah. Stattdessen antwortete Kristalla völlig ruhig: „Genau. Ich gehöre zum Königshof, genau wie meine Halbschwester und wie meine Nichte.“

„Die Königin hat eine Tochter?“, platzte es aus mir heraus.

„Ja. Aber das wissen nur wenige. Sie ist in einer anderen Welt geboren worden, wo meine Schwester sich vor mir versteckte, anstatt zu kämpfen, wie ein wahrer Herrscher es tut.“

Ich erinnerte mich, dass Norlos mir erzählt hatte, die Königin wäre mehrere Jahre zu ihrem Schutz weit weg gewesen. Doch jetzt, als Kristalla es sagte, gab ein Teil von mir ihr Recht. Eine Königin sollte ihr Volk im Angesicht der Gefahr nicht verlassen.

„Wieso erzählst du mir das?“

„Du sollst die ganze Wahrheit kennen und nicht nur das, was die treuesten Diener der Königin dir eingetrichtert haben. Woher weißt du, dass ich nicht die Gute bin? Dass ich nicht gekommen bin, um das Land von einer unterdrückerischen Herrschaft der Elfen zu befreien? Du bist erst seit ein paar Wochen hier. Du weißt nichts über diesen Krieg oder dieses Königreich, wie es war und ist.“

„Auf unserem Weg hier her, kamen wir durch ein Dorf. Alle Bewohner waren abgeschlachtet und zu einem Leichenberg aufgetürmt. Nur ein kleines Baby haben deine Bärenreiter übersehen und das wäre auch gestorben, wenn wir es nicht mitgenommen hätten.“ Meine Stimme zitterte vor Wut, als ich mich an das Massaker in Dorne erinnerte. „Vielleicht weiß ich nichts über den Krieg oder die Krone, aber ich weiß, dass du Menschen leiden lässt. Und das lasse ich nicht zu.“

„Wie edel.“

Sie spie das Wort förmlich aus. Die Stimmung war von einem Moment auf den anderen umgeschlagen.

„All diese Leute haben dich angelogen! Verstehst du das nicht? Ich bin gekommen um diese Welt zu befreien! Und ja, dafür müssen Opfer erbracht werden, doch ich bin wenigstens ehrlich. Ich bin die erste ehrliche Person, die dir in deinem Leben begegnet, Liah Jones!“

Mit diesen Worten tauchte sie plötzlich in meinem Blickfeld auf und trat direkt vor den Thron. Sie sah genauso aus, wie das Trugbild, auf das ich herein gefallen war, doch ihre Porzellanzüge waren nun verzerrt und voller Emotionen.

Sie stützte sich mit den Händen auf den Armlehnen des Throns ab und beugte sich zu mir herunter, bis unsere Gesichter nur noch eine Hand breit voneinander entfernt waren. Sturmgraue Augen blickten mir entgegen. Augen, von denen ich gedacht hatte, sie nie wieder zu sehen.

„Du willst wissen wer ich bin? Was uns verbindet, ist unser Blut. Deine Mutter heißt nicht Mary-Ann Jones. Ihr Name ist Fiona und sie hält sich für die rechtmäßige Königin dieser Welt.“

Ich starrte sie an.

Ihre Worte drangen in mein Hirn vor, doch dieses verweigerte die Informationen zu verarbeiten.

„Meine Mutter ist tot“, sagte ich schließlich heiser. „Sie ist in einem Brand gestorben, kurz bevor ich hier her kam.“

„Mary-Ann ist in dem Moment gestorben, als Fiona in diese Welt zurückkehrte. Als deine Mutter dich aufgegeben hat, um eine Königin zu sein.“

Ich holte tief Luft. Mein Herz stolperte vor sich hin und ich wusste nicht, wie ich irgendeinen Teil ihrer Worte verstehen sollte.

„Soll das heißen, meine Mum ist noch am Leben?“, wisperte ich.

„Deine Mutter wie du sie kennst, existiert nicht einmal, verstehst du das nicht?! Sie hat dich zurückgelassen. Sie hat dir nur vorgespielt, jemand zu sein, der sie nicht ist. Und was noch schlimmer ist, sie hat dich glauben lassen, du wärst jemand, der du nicht bist.“

Mein ganzer Körper vibrierte förmlich. Meine Mutter war am Leben! Sie war hier in dieser Welt und ich würde sie wieder sehen!

„Sie hat mich nicht zurückgelassen. Sie hat mir eine Nachricht geschrieben“, sagte ich aufgeregt, da ich nun endlich die Bestätigung zu meiner einstigen Vermutung hatte.

Etwas in Kristallas Blick veränderte sich. Sie wirbelte herum und ein freundloses Lachen kam über ihre Lippen.

„Nicht sie hat dir diese Nachricht geschickt. Ich war das.“

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus und all die Euphorie in mir verpuffte. Ungläubig starrte ich auf Kristallas Rücken.

„Das ist nicht wahr“, flüsterte ich. „Warum solltest du das tun?“

Sie schnaubte und drehte sich wieder zu mir um.

„Ich wusste, dass sich das Portal in dieser Nacht aufgrund der Prophezeiung öffnen würde. Es war die einzige Möglichkeit, dich in unsere Welt zu holen. Ich konnte ja nicht wissen, dass du die großartige Auserwählte bist und sowieso herkommen würdest.“

Verächtlich blickte sie auf mich herab.

„Warum solltest du das tun?“, wiederholte ich ungläubig.

„Weil mir Blut etwas bedeutet. Auch wenn du für Fiona und die Krone wie ich nur ein wertloser Halbling bist, bist du für mich meine Nichte. Und ich lasse meines Gleichen nicht zurück.“

„Ich bin ein Mensch“, sagte ich langsam, unfähig auf etwas anderes von ihren Worten einzugehen.

„Du bist kein Mensch, Liah. Hast du dich in letzter Zeit einmal angesehen? Als Kind magst du vielleicht wie deine Spielkameraden ausgesehen haben, doch jetzt, wo du zur Frau wirst, machen sich die Gene deiner Mutter bemerkbar.“

Als ich sie immer noch verständnislos anstarrte, packte sie meinen Arm, riss mich aus der Umklammerung des Eises und schleifte mich die Stufen hinab. Stolpernd kam ich auf die Füße und folgte ihr zu der spiegelglatten Oberfläche, die ich zuvor bereits bemerkt hatte.

Sie stieß mich auf die Knie und ich konnte mich gerade noch mit den Händen abfangen, um nicht mit dem Gesicht auf das Eis zu knallen.

Mein Gesicht.

Als ich mein Spiegelbild unter mir sah, erkannte ich mich für einige Sekunden nicht mehr wieder. Die Person, die mir da ungläubig entgegenstarrte, war ohne Zweifel ich. Doch etwas war anders.

Mein Haar war trotz den verfilzten Stellen viel schöner und kräftiger als zuvor, doch meine Wangenknochen und mein Kinn wirkten noch spitzer als sonst. Meine Augen, deren schräge Stellung mir noch nie gefallen hatte, sahen auch anders aus.

„Ich habe in letzter Zeit wenig … gegessen“, stammelte ich. „Das ist … Unterernährung. Ich bin ausgezehrt.“

„Bist du das? Oder zeigt dir dein Gesicht nun endlich deine Herkunft?“

Obwohl ich es nicht zugeben konnte, hatte ich dieselben außerirdischen Züge wie Kristalla. Die Züge, die uns unsere Elfen-Elternteile vermacht hatten.

„Das kann nicht sein“, murmelte ich wider meinen eigenen Gedanken.

„Doch, das kann es und das weißt du auch.“

Ich antwortete nicht.

„Sie haben dich belogen und sie wollen dich zu Dingen zwingen, die du nicht tun willst. Du warst dein Leben lang die Marionette dieser Leute. Lass mich die Schere sein, die dich befreit. Lass diese Chance nicht verstreichen, die wohl deine letzte sein wird. Gemeinsam können wir diese Welt von der Unterdrückung unserer Vorfahren befreien und eine neue Ära beginnen!“

Ich erhob mich und sah an Kristalla vorbei zu dem Thron, den sie sich errichtet hatte.

„Du willst niemanden töten, also musst du das auch nicht. Und du musst auch nicht länger machtlos sein. Ich verleihe dir die Macht, selbst zu wählen, was dein Schicksal ist.“

Ich ging zu dem Thron zurück und erklomm langsam die Stufen. Meine Augen fanden das Objekt, das ich gesucht hatte. Ich sah zu Kristalla, die mich erwartungsvoll anblickte.

„Ich weiß nicht, ob du über alles de Wahrheit gesagt hast. Aber es gibt eine Person, von der ich weiß, dass sie mich noch nie belogen hat.“

Kristalla riss die Hände in die Höhe. Wut entstellte erneut ihr schönes Gesicht.

„Du bist ein dummes, verliebtes, kleines Mädchen! Wann wirst du endlich lernen, dass Liebe nichts ist, was wir im Leben bekommen können. Dein toller Sam liebt dich auch nicht. Er kann es gar nicht. Er ist tot.“

Ich erstarrte.

„Du lügst.“

„Nein. Ich sage dir nur die Wahrheit, die du nicht hören willst“, fauchte sie.

„Du hast gesagt, er wäre hier!“, rief ich wütend und ängstlich zugleich.

„Das ist er auch. Sein Körper liegt unten in einer der Zellen. Sein Geist hat sie bereits verlassen.“

„Das ist nicht wahr!“, schrie ich.

„Ist es nicht viel besser so? War er nicht eine weitere Ablenkung? Ein Einfluss, jemand, der dich zu etwas machen wollte, was du nicht bist?“

„Er war mein Freund“, sagte ich mit erstickter Stimme.

„Leute wie du und ich haben keine Freunde. Du lügst, wenn du sagst, du hättest dir nicht gewünscht, deine Gefühle für ihn und auch ihn selbst loszuwerden.“

Ich zuckte zurück. Es war, als hätte sie mich geschlagen.

„Nein“, flüsterte ich.

„Du lügst und du weißt es.“

„Nein!“, schrie ich, griff nach dem Dolch, der auf neben dem Thron auf dem Boden lag und sprang von dem Podest auf Kristalla zu.

Es war nichts weiter nötig, als eine Bewegung mit ihrer Hand und schon schlang das Eis unter mir sich bis zur Brust um meinen Körper. Die plötzliche Kälte drückte mir alle Luft aus der Lunge und keuchte erschrocken.

„Du enttäuschst mich wieder“, seufzte sie gelangweilt und kam auf mich zu. „Ich dachte, du wärst stärker. Intelligenter. Aufgrund unserer Gemeinsamkeiten habe ich mich hinreißen lassen und angenommen, du wärst mir ähnlich.“ Sie blieb direkt vor mir stehen. Ich biss die Zähne zusammen um sie nicht aus Hass anzuspucken. „Aber das bist du nicht. Du bist ein kleines Mädchen mit einer zu großen Aufgabe. Du bist emotional und schwach. Du bist so leicht zu manipulieren, ich könnte dich wohl mit drei Sätzen dazu bringen, dich selbst umzubringen.“

Ich atmete tief und schnell.

Ruhe bewahren. Das würde Sam tun. Er würde Ruhe bewahren und dann die Situation retten. Und da er das jetzt nicht mehr konnte, musste ich das tun.

Kristalla war an mir vorbei gegangen und stand jetzt mit dem Rücken zu mir. Ich drehte den Kopf um sie sehen zu können.

„Wir sind uns wirklich nicht ähnlich. Aber ich bin nicht die Schwache von uns beiden.“

Sie drehte sich zu mir um.

„Du kannst nicht vertrauen. Du bist einsam und dein Streben nach Macht hat deine Gefühle aufgefressen.“

„Wage es nicht, dir anzumaßen, mich zu kennen“, fauchte sie, doch ich redete einfach weiter.

„Ich bin nicht das kleine Mädchen. Das bist du. Du schreist nach der Liebe von deinem Vater und du tust mir leid, weil du sie nicht bekommen hast. Aber egal was du sagst, meine Mutter hat mich geliebt. Ich habe die Liebe erfahren, die du nicht kennst und deshalb bin ich stärker als du. Ich bin fähig zu lieben und deshalb kann ich das Wohl anderer über mein eigenes stellen. Und das macht mich mächtiger als dich.“

„Du …“, setzte sie verächtlich an, doch ihre Worte gingen in der Explosion meiner Magie unter.

Während ich gesprochen hatte, war die Magie, die ich unter der Oberfläche gehalten hatte, ohne mein Zutun stärker geworden. Ich hatte ihr Anschwellen gespürt und das hatte mich bestärkt.

Doch was als nächstes geschah, übertraf meine Vorstellungskraft.

Ein Strudel aus Feuer brach aus meinem Körper, verwandelte das Eis, das mich festhielt, innerhalb eines Wimpernschlages in Wasser und ich schoss mit erhobener Hand auf sie zu.

Schreiend riss sie die Hände hoch, doch kein Eis, das sie in dieser kurzen Zeit hätte heraufbeschwören können, hätte der Hitzewelle, die mich umgab, standhalten können.

In dem Wissen, dass es das letzte sein würde, was ich tun würde, prallte ich gegen sie und rammte ihr den Dolch in die Brust.

Als das Metall ihr Fleisch durch schnitt, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Ihr Körper zerbarst in tausend Eiskristalle und eine schwarze Rauchwolke schoss aus dem Schutt ihrer Leiche in die Höhe.

„Nein!“, schrie ich und schleuderte das Feuer, das mich umgab, dem Rauch, den ich für ihren Geist hielt, hinterher.

Er fuhr durch die Eiszapfen in der Decke und das Feuer prallte gegen diese. Das Eis zersplitterte und schmolz in Sekunden. Ich riss schützend die Arme über den Kopf, als es auf mich herabregnete.

Dann war alles plötzlich vorbei.

Die Stille kehrte zurück. Und ich war noch am Leben.

24. Kapitel

 

Keuchend fiel ich auf die Knie. Mein Körper zitterte vor Anspannung und Erschöpfung.

Verwundert starrte ich auf den Dolch in meiner Hand, dessen Benutzung mich eigentlich hätte töten müssen. Das Metall leuchtete. Und scheinbar hatte es das eben auch schon getan.

Ich hatte keine Zeit mir eine Erklärung auszudenken oder mich auszuruhen. Ein unheilvolles Donnern der Höhlendecke kündigte den bevorstehenden Einsturz dieser Festung an.

Keuchend kam ich auf die Füße und rannte los.

Im Gang vor der Höhle warteten die Herzstehler bereits auf mich.

„Zurück!“, schrie ich und schleuderte ihnen Feuer entgegen, dass aus dem Nichts in meinen Händen auftauchte.

Ich dachte nicht darüber nach und rannte weiter.

Den Weg hinunter in den Kerker fand ich leichter als gedacht.

Bereits bevor ich in den Gang einbog hörte ich bereits das Murmeln der Menschen, die aus ihrer Trance erwacht waren, nachdem Kristallas Macht gebrochen war.

„Ihr seid frei!“, rief ich atemlos. „Verschwindet, ihr müsst alle raus hier.“

Die Leute, die bereits aus ihren Zellen gestolpert waren starrten mich überfordert an.

„Sie ist tot! Es wird alles einstürzen, ihr müsst hier raus.“

Sie starrten mich weiter an.

„Versteht ihr denn nicht?“, rief ich panisch. „Ihr seid frei, aber das bringt euch nichts, wenn ihr hier bleibt!“

„Es ist die Pachanda“, hörte ich plötzlich einen Mann direkt vor mir murmeln.

Und schon war der Gang mit dem Raunen des Wortes „Pachanda“ erfüllt.

„Ja, ja, genau. Das bin ich. Und jetzt raus hier.“

Der Mann, der mich erkannt hatte, rannte als erstes los. Einen Moment später folgten ihm die anderen.

Es waren mehr, als ich gedacht hatte, doch ich kämpfte mich zwischen ihnen hindurch in die andere Richtung.

„Sam?!“, schrie ich über den Lärm hinweg. „Sam, bist du hier?“

Die Zellen waren alle leer und Kristallas grausame Worte schienen sich zu bewahrheiten, als ich schon hoffnungslos die letzte Zelle erreichte und ihn dort auf dem Boden liegen sah.

„Sam!“, keuchte ich und fiel neben ihm auf die Knie. „Sam, wach auf! Wach bitte auf!“

Seine Kleidung war nass und mir wurde bewusst, dass sie nicht von Wasser durchtränkt war, als das Blut an meinen Händen kleben blieb.

Ich zog an ihm, doch er war fiel zu schwer.

„Sam, bitte du musste aufstehen“, wimmerte ich.

Ein dunkelhäutiger Mann trat in die Zelle. Als er sprach, erkannte ich den gleichen Akzent wie bei M’balla und seiner Mannschaft.

„Pachanda, wir müssen fliehen“, sagte er, als er mich sah.

„Ich gehe nicht ohne ihn.“

„Ist er noch am Leben?“

Ich zuckte hilflos mit den Schultern und der Mann beugte sich zu uns herab. Er hielt Sam eine Hand vors Gesicht, dann tastete er seinen Hals ab. Ich hielt den Atem an, bis er schließlich nickte.

„Ich helfe dir“, sagte der Mann.

„Danke!“, sagte ich in tiefster Dankbarkeit und kam auf die Füße, während der Mann Sam einfach auf seine Arme hob.

„Ich bin Liah.“

„M’nah“, stellte er sich mit einem Nicken vor.

Ein Beben rollte durch das Eis und oben war ein lautes Krachen zu hören.

Wir liefen los. Ich ging voraus für den Fall, dass uns noch einmal Herzstehler begegneten, doch diese schienen alle verschwunden zu sein.

„Gibt es noch andere Gefangene?“, fragte ich M’nah, nachdem ich mich versichert hatte, dass alle Zellen leer waren.

„Nein, nur die hier.“

Als wir auf der Treppe waren, erbete die Festung erneut und ich fiel hart auf die Stufen. Oben waren Schreie zu hören.

„Verdammt“, keuchte ich und rannte auf die Stimmen zu.

Die Leute, die ich nach oben geschickt hatte, drängten sich in dem breiten Gang zusammen. Große Eisbrocken lagen im Gang und eine der Frauen blutete am Kopf.

„Ihr müsst weiter!“, rief ich ihnen entgegen. „Weiß jemand, wo der Ausgang ist?“

Die Leute sahen mich erschrocken an, als hätten sie erwartet, ich wüsste, wohin es ginge.

M’nah kam mir zu Hilfe.

„Dort entlang“, sagte er.

Wir folgten der Richtung. Dieses Mal blieben wir in einer Gruppe. Ich blieb hinten bei M’nah, da ich Sam nicht aus den Augen lassen konnte.

Ein Fehler.

Als die Leute vor uns um die Ecke bogen, ertönten wieder Schreie.

Ein allzu vertrautes Quietschen und Kreischen ließ meine Ohren klingeln und ich beschleunigte meine Schritte.

„Zurück!“, schrie ich.

Ich hielt den Kristall noch in der Hand und er erstrahlte hell, als ich vor den Herzstehlern zum Stehen kam.

Es mussten dutzende sein. Auf der Flucht aus der einstürzenden Festung waren sie aufgehalten worden und ich sah jetzt auch von was. Der Gang hinter ihnen war mit Eisgeröll verschüttet.

Mit dem gleißenden Licht vor sich und dem Eis hinter sich, waren die Dämonen gefangen und warfen sich kreischend auf mich.

Beinahe ohne mein Zutun explodierte die Magie in mir erneut und jagte den Gestalten einen riesigen Feuerball entgegen, der sie zurück schleuderte und so gewaltig war, dass er die Wand vor uns sprengte.

Ich sah die Sonne vor mir.

„Los jetzt!“, rief ich den anderen zu und sie rannte durch das Loch in den Tunnel, durch den sich das Feuer gefressen hatte, hinaus ins Tageslicht.

Hinter uns regnete es Eis, doch ich wich erst von der Stelle, als der letzte an mir vorbei gegangen war. Keine Sekunde zu spät, denn ein ohrenbetäubendes Krachen verkündete das komplette Einstürzen der großen Höhle und mit einem gewaltigen Rauschen kündigten sich die Wassermassen des Sees an.

Ich hechtete aus dem Tunnel und wurde am Stadtrand von Dragon ausgespuckt. Ich rannte den anderen hinter her auf die Häuser zu, während der See implodierte.

Das Beben der Erde unter unseren Füßen ließ erst nach einigen Minuten nach. Als es still wurde, starrten wir uns alle abwartend an, doch nichts geschah.

„Es ist vorbei“, stellte ich schließlich fest.

Und als ich in die Gesichter der Menschen um mich sah, wurde mir bewusst, was dieser Satz für sie bedeutete.

Sie tauschten Blicke, dann rissen sie die Arme in die Höhe und ihr Jubel scholl durch ganz Dragon. Bald taumelten die Bewohner der Stadt aus ihren heruntergekommenen Häusern, als wären sie eben aus einem Albtraum erwacht. Sie lachten und weinten und umarmten sich und ich konnte nicht anders als ebenfalls zu lachen. Sie kamen zu mir, hoben mich hoch und riefen meinen Namen. Die Luft war erfüllt von purer Freude und Erleichterung. Wohin man blickte, sah man keine Armut sondern den Reichtum der Freiheit.

Es wurde wärmer.

Die wenigen Brieftauben, die die Stadt besaß, wurden ausgeschickt um die Nachricht zu verbreiten und auf dem Marktplatz wurde ein Lagerfeuer errichtet. Leute formten Schneebälle und warfen sie johlend in die Flammen und alle Frauen schafften ihre Vorräte aus dem Haus um ein Fest zu verrichten, dass Dragon seit über zwanzig Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Doch ich konnte mich nicht auf die Feier einlassen. Nach der ersten Erleichterung machte ich mich auf die Suche nach M’nah und Sam. Ich fand sie in einem der Häuser.

Eine Frau ließ mich ein und führte mich in das obere Stockwerk. Hier war es etwas stiller.

„Vielleicht solltet Ihr nicht hinein gehen. Er sieht nicht gut aus.“

„Ich gehe hinein“, sagte ich mit fester Stimme und sie öffnete die Tür.

Ich erstarrte, als ich Sam auf dem Bett liegen sah. Er war kalkweiß und seine Augen waren geschlossen. Eine weitere Frau war gerade dabei, ihm seine Jacke auszuziehen. M’nah stand am Fenster und beobachtete sie dabei.

Die Frau, die mir aufgemacht hatte, ging an mir vorbei und half der anderen Frau.

Ich schnappte entsetzt nach Luft, als sie ihm auch das Hemd ausgezogen hatten.

Sein Oberkörper war entstellt. Quer über der Brust war ein tiefer Riss und die Haut über den Rippen war violett verfärbt. Auch über seinem Bauch waren zwei Schnitte, die immer noch bluteten.

„Könnt ihr … Wird er wieder …“, stammelte ich und blinzelte mir die Tränen aus den Augen.

„Wir haben in den letzten Jahren einige Verletzung dieser Art behandelt“, sagte eine der Frauen sanft. „Es steht schlecht um ihn, aber vertraut uns, wenn wir sagen, wir wissen was wir tun.“

Ich schluckte schwer und nickte.

„Vielleicht solltet Ihr lieber unten warten, Pachanda. Ruht Euch aus. Ich werde gleich herunter kommen und euch etwas zu essen machen.“

Ich nickte und stolperte die Treppen hinunter. M’nah folgte mir, doch ich beachtete ihn nicht. Stattdessen riss ich unten die Tür auf und erbrach mich auf die Straße.

Schwer atmend stand ich gebückt in der Tür.

Es war alles zu viel. Ich war so erschöpft und in den letzten Stunden war so viel geschehen, dass ich mit der Verarbeitung so überfordert war, dass ich mich an kaum etwas erinnerte.

„Du solltest dich hinsetzen“, sagte M’nah hinter mir und zog mich nach drinnen.

Ich ließ zu, dass er mich auf eine Holzbank drückte.

„Er … Die Wölfe müssen hier irgendwo sein, ich muss sie finden, und Pok …“

Die Luft ging mir aus und ich atmete tief ein.

„Ich …“, setzte ich an, doch M’nah unterbrach mich.

„Er wird schon nicht sterben.“

Mein Körper erbebte, doch ich war zu kraftlos, um zu weinen. Stattdessen schloss ich die Augen und ließ den Kopf auf die Tischplatte vor mir sinken.

„Wenn er stirbt, weiß ich nicht, was ich machen soll“, wisperte ich.

„Du bist nicht allein“, meinte M’nah bestimmt und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du hast unser aller Leben gerettet. Und wenn du Hilfe brauchst, werden wir da sein.“

Irgendwann kam die Frau herunter und sagte, dass sie nun fertig wären. Sie wollte mir etwas zu essen machen, doch ich konnte jetzt nicht an so etwas denken. Stattdessen ging ich nach oben.

„Wir haben seine Wunden genäht und verbunden. Jetzt muss er nur noch aufwachen“, teilte mir die andere Frau mit, die noch oben war.

„Aber er hat viel Blut verloren“, sagte ich.

„Ja.“

Ich begegnete ihrem Blick und ließ mich mit einem sanften Lächeln mit Sam allein. Ich schloss die Tür hinter ihr und trat an das Bett.

Sie hatten ihn zugedeckt. Jetzt, wo man die Wunden nicht mehr sah, wirkte er ganz friedlich. Als würde er einfach nur schlafen.

Ich hob die Hand und legte sie an seine kühle Wange.

„Du musst wieder gesund werden“, wisperte ich. „Wenn du stirbst, bring ich dich um.“

Obwohl ich wusste, dass es nicht funktionieren konnte, tastete ich nach meiner Magie. Sie war schwach und es fiel mir schwer, sie an die Oberfläche zu holen, doch als sie da war, versuchte ich sie in Sam strömen zu lassen, um ihn zu heilen. Nichts geschah, und ich ließ die Hand wieder sinken.

Ich setzte mich auf die Bettkante und verwob meine Finger mit seinen.

„Dann musst du es wohl ohne mich schaffen.“

 

Ich verschlief den restlichen Tag und erwachte erst wieder in der Nacht. Der Vollmond schien durchs Fenster und ich blinzelte träge in das weiße Licht.

„Norlos‘ Schwur“, murmelte ich zu mir selbst. „Er hat sich erfüllt.“

Von draußen wehten immer noch die Klänge der Feier herein. Ich hatte neben Sam im Bett gelegen, doch jetzt, wo ich etwas geschlafen hatte, hielt ich es hier nicht mehr aus.

Ich stand auf und ging nach unten.

Die Frau, der das Haus offensichtlich gehörte, hatte mich wohl schon erwartet, denn sie stellte mir einen Teller heiße Suppe hin und ging dann kurz nach oben, um nach Sam zu sehen.

„Wie heißt du?“, fragte ich sie, als sie wieder herunter kam.

„Meja, Pachanda.“

„Danke für die Hilfe, Meja. Ohne euch wäre er wahrscheinlich …“

„Denkt nicht darüber nach. Es ist ja nichts geschehen“, sagte sie und ging wieder zurück an die Feuerstelle, wo sie kochte.

Ich sah mich etwas genauer im Raum um. Von der Decke hingen kleine Kräuterbündel und an den Wänden waren Kupfertöpfe angebracht.

„Bist du eine Heilerin?“, fragte ich schließlich.

„Nun, mit der Zeit lernt man sich mit manchen Dingen auszukennen.“

Ich nickte langsam.

Plötzlich ging die Tür auf und ein kleines Mädchen kam herein gerannt. Als sie mich sah, blieb sie mit großen Augen stehen und starrte mich an.

„Hallo“, sagte ich. „Ich bin Liah, und was ist dein Name?“

Sie antwortete nicht, also wandte ich mich an Meja.

„Ist das deine Tochter?“

Sie lachte.

„Nein, ich habe keine Kinder. Das ist Kora. Sie wohnt neben an. Was gibt es denn, Kora?“

Die Kleine verschränkte die Arme hinter dem Rücken, holte tief Luft und sagte: „Magst du raus kommen und was erzählen?“

Ich sah sie erstaunt an, aber auf ein Nicken von Meja hin, erhob ich mich schließlich.

Kora griff nach meiner Hand und zog mich mit sich nach draußen. Sie reichte mir kaum bis zur Hüfte, und war unter ihrer Fellkleidung spindeldürr.

Beim Lagerfeuer, wo sich das Dorf versammelt hatte, hielt sie bei einer Gruppe von Kindern an. Sie ließ meine Hand los, setzte sich hin und sah mich wie die anderen erwartungsvoll an.

Ich räusperte mich und setzte mich ebenfalls.

„Also, was soll ich denn erzählen?“, fragte ich vorsichtig.

„Erzähl uns von deiner Welt!“

„Wie ist es da?“

Ich lachte und strich mir das Haar aus der Stirn.

„Also gut. Was soll ich sagen … Dort ist vieles anders. Unsere Kutschen fahren mit eigenem Antrieb und sind viel schneller als Pferde.“

„Das ist ja Magie“, staunte Kora.

„Nein“, murmelte ich. „Magie gibt es dort nicht.“

Ich erzählte alles Mögliche und bald hörten mir auch viele Erwachsene zu. Die Stunden verstrichen und irgendwann fand ich mich bei einer Gruppe Fischern wieder, die mir über ihre Arbeit erzählten.

„In den Gewässern hier halten es nur wenige Fische aus. Vor allem wegen der Kälte“, erklärte mir einer der Männer. „Jetzt, wo … Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass sie die heimischen Fische wieder im See ansiedeln.“

Ich spürte, dass die Angst vor Kristalla noch immer bestand. Dem Wasser, das uns umgab wurden immer wieder misstrauische Blicke zugeworfen und nachdem die erste Freude über das Ende dieses Krieges abgeklungen war, machten sich die Schatten über der Hoffnung wieder breit.

Wer konnte es ihnen verdenken? Kristalla hatte diese Menschen Jahre lang terrorisiert und ausgebeutet, und vor allem hier in Dragon, wo sie sich oft aufgehalten hatte, hatte die Menschen in ständiger Angst gelebt.

M’nah hatte mir erzählt, dass er als Händler an der Küste vor dem Gebirge gewesen war. Nach einer kritischen Äußerung über Kristalla hatten die Bärenreiter sein Schiff zerstört und ihn und einige andere verschleppt. Er sagte, es wäre ein Wunder, dass sie ihn nicht sofort getötet hatten.

Hier, erzählte mir ein Fischer mit gesenkter Stimme, wäre es nicht einmal möglich gewesen, selbst zu denken, da die dunkle Magie ihre Geister vergiftet und ihnen ihren Willen genommen hatte.

Irgendwann wurde ich müde. Der Rummel laugte mich aus und ich hatte noch immer keine Gelegenheit gehabt, um über die Geschehnisse oder das, was Kristalla mir erzählt hatte, nachzudenken.

Ich ging zurück zu Mejas Haus. Als ich eintrat, sagte sie mir, dass Sam noch nicht aufgewachte war, dass er aber auch kein Fieber bekommen hatte, was ein gutes Zeichen war. Außerdem sagte sie mir, dass im Zimmer neben Sam Wasser und Kleidung für mich bereit stand. Mir wurde bewusst, wie verdreckt ich von der Reise war und dass meine Hose voller Blut war. Ich bedankte mich und ging nach oben.

Das Zimmer war klein und dunkel, aber da es von der Straße abgewandt war, war es wenigstens ruhig. Ich zog mich trotz der kalten Luft komplett aus und warf meine Klamotten in eine Ecke. Dann beugte ich mich über die Schüssel mit heißem Wasser und wusch mir die Haare und schließlich meinen restlichen Körper. An meinem Oberschenkel klebte getrocknetes Blut, doch die Haut war weiß und unversehrt.

Als ich mich abtrocknete, spürte ich meine Rippen und Hüftknochen deutlich hervortreten. Ich schlüpfte in die Unterkleider und das grobe Wollkleid, das Meja mir bereit gelegt hatte und begann mir mit den Fingern die nassen Haare zu kämmen.

Als ich gerade fertig war, klopfte es an der Tür und Meja trat ein.

„Gebt sie mir, ich kümmere mich darum“, sagte sie und wies auf meiner Kleider in der Ecke.

„Danke“, sagte ich und reichte sie ihr.

„Ich schulde Euch mein Leben, Pachanda. Es ist mir eine Ehre, mich um Euch und Euren Gefährten zu kümmern.“

Ich nickte leicht und sie lies mich wieder allein.

Seufzend ließ ich mich auf das Bett sinken, dass hier stand. Ich vermutete, dass es Mejas Bett war und ich wollte auch gleich wieder aufstehen und zu Sam hinüber gehen, doch ich brauchte einen Augenblick für mich.

Langsam spulte ich meine Erinnerungen zurück, bis ich mein Gespräch mit Kristalla erreichte. Meiner Tante. Meiner bösen, wahnsinnigen Tante, die tausende Tode zu verantworten hatte, und die ich selbst getötet hatte. Mit einem Dolch, der mich auch hätte töten sollen. Ich verstand immer noch nicht, warum es letztendlich funktioniert hatte. Und all die Magie, die in mir explodiert war, ohne dass ich wusste, was ich eigentlich tat.

Schon wieder wirbelten meine Gedanken durcheinander und ich rief sie zur Ruhe. Ich wollte mit irgendjemand darüber sprechen. Ich wollte Erklärungen für all die Dinge, die ich getan hatte.

Und ich wollte eine Erklärung von meiner Mutter. Die Dinge, die Kristalla über sie gesagt hatten, waren mir unverständlich, aber allein die Tatsache, dass sie am Leben war, überforderte mich. Ich wollte und konnte mir nicht den Kopf über sie zerbrechen, ich wollte sie einfach nur sehen. Und vielleicht wollte ich auch, dass alles wieder so wie früher war.

Nein. Nein, das wollte ich nicht. Mein Leben war nicht schlecht gewesen, aber in dieser Welt war es trotz all den schrecklichen Dingen um so viel bereichert worden. Ich fühlte mich so vollständig, als wäre ich endlich zuhause. Und wenn ich Kristalla glaubte, dann war ich das hier auch. Schon allein meine Gene passten nicht in meine alte Welt. In den letzten Wochen hatte ich so viel gelernt und jetzt fühlte ich mich stärker als je zuvor. Nur das Chaos in meinem Kopf war unerträglich.

Ich schlief ein bevor ich aufstehen konnte und erwachte am nächsten Tag auch erst spät. Im Zimmer neben an sprach jemand, und als ich Sams Stimme erkannte, sprang ich auf und rannte über den Flur nach drüben.

Ich riss die Tür auf ohne zu klopfen und trat den überraschten Blicken von M’nah und Sam entgegen.

„Du bist wach“, sagte ich und stützte mich am Türrahmen ab, da mir vom plötzlichen Aufstehen schwindlig war.

Sam nickte.

„Wie fühlst du dich?“, fragte ich und trat näher.

„Ging mir nie besser“, meinte er mit rauer Stimme.

Ich hob die Augenbrauen.

„Ernsthaft? Das erste, was du sagst, ist ein Witz? Hast du eine Kopfverletzung, die wir übersehen haben?“

Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht.

Meine Schultern bebten und ich atmete tief ein und aus, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich setzte mich auf seine Bettkante und öffnete den Mund, doch ich wusste absolut nicht, wo ich anfangen sollte.

„Sie ist tot“, war schließlich das einzige, was aus meinem Mund kam und Sam nickte.

„M’nah hat es mir erzählt. Geht es dir gut?“

„Ja. Ich weiß nicht. Da ist so viel, worüber ich nachdenken muss.“

Ich bemerkte es kaum, dass M’nah uns verließ. Sam und ich sahen uns einfach nur an und ich spürte wie all die Anspannung und das Chaos endlich wichen. Er war da. Es würde alles wieder gut werden.

Und dann konnte ich endlich erzählen, was geschehen war. Ich berichtete, wie ich aus den Zellen gekommen war, von der riesigen Höhle und Kristallas Trugbild. Ich erzählte auch von unserem Gespräch, doch aus einem Impuls heraus sagte ich nichts über die Dinge, die sie über mich und meine Mutter gesagt hatte.

„Sie hat versucht, mich auf ihre Seite zu ziehen“, meinte ich. „Aber ich bin nicht noch einmal auf sie herein gefallen.“

Als ich fertig war, schwieg Sam eine Weile. Dann sagte er: „Du hast sie getötet, obwohl du nicht wusstest, ob es dich umbringt.“

Ich zuckte mit den Schultern und sah weg.          

„Ich weiß nicht, was ich …“

„Letztendlich hättet ihr doch alle das gleiche getan“, unterbrach ich ihn. „Das war keine große Entscheidung. Es war eben für die Mission.“

„Ja, wir hätten das getan. Weil es unsere Welt ist und unser Kampf. Aber du hast alles riskiert. Du hättest dein Leben für eine Sache gegeben, die dich nicht einmal betrifft.“

Ich sah ihn an. Es dauerte einen Augenblick, bis ich den Ausdruck in seinem Gesicht verstand. Es war derselbe, mit ich auch ihn immer ansah. Es war tiefe Bewunderung.

Doch entgegen meiner Erwartung war es mir plötzlich unangenehm. War ich dieser Meinung würdig? Es war doch größtenteils Glück gewesen und die meiste Zeit hatte ich nicht einmal gewusst, was ich tat. Und jetzt wusste ich nicht einmal mehr, wer ich war.

Ich stand auf.

„Du solltest dich ausruhen. Damit du schnell wieder gesund wirst.“

„Ja“, meinte Sam und runzelte die Stirn.

Ich ging nach unten.

Meja kochte etwas für Sam und ich bot ihr meine Hilfe an, doch sie lehnte sie ab. Schließlich ging ich nach draußen, um M’nah zu suchen.

Dragon war voll von geschäftigem Treiben. Häuser wurden repariert und geputzt, am Hafen wurden alte Boote wieder in Schuss gebracht und Kinder rannten schreiend und lachend durch die Gassen.

Ich fand M’nah in einem Wirtshaus. Er unterhielt sich eindringlich mit einer Gruppe von Männern. Als sie mich sahen verstummten alle und andächtige Blicke wandten sich mir zu. Das Wort „Pachanda“ wanderte durch den Raum und ich verschränkte unwohl die Arme vor der Brust. Ich nickte den Leuten höflich zu, doch als M’nah mit mir nach draußen ging, verspürte ich kein Bedauern wieder allein zu sein.

„Das ist etwas seltsam“, sagte ich zu M’nah und er fuhr sich über seinen kurzen schwarzen Bart.

„Du wirst dich daran gewöhnen. Du bist unsere Retterin. Und noch dazu aus einer anderen Welt.“

„Hm“, machte ich nachdenklich. „Ich weiß nicht, ob ich diese Aufmerksamkeit mag.“

„Du wirst doch daran gewöhnen“, wiederholte er.

Wir gingen schweigend die Hauptstraße entlang auf das Seeufer zu.

„Weißt du schon, was du als nächstes tun wirst?“, fragte ich schließlich.

„Ich habe mit Sam gesprochen. Die Drachenwüste erscheint mir gerade sehr attraktiv.“

Ich grinste.

„Ich weiß genau was du meinst.“

„Und was wirst du tun?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Das gleiche, denke ich. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Jetzt kann ich gehen wohin ich will.“

M’nah nickte.

„Jetzt musst du deinen Platz in dieser Welt finden.“

„Und damit fange ich am besten an dem Ort an, wo alle sind, die ihren Platz verloren haben.“

Was Sam mir über die Wüstenstämme erzählt hatte, klang aufs Neue wundervoll. So sehr es mir auch gefallen hatte, eine Aufgabe zu haben, wollte ich jetzt nur noch meine Ruhe. Und Freiheit. Ich wollte keine Marionette sein und ich wollte mir über einiges klar werden.

Und dennoch fühlte ich mich nicht so, als wäre mir das möglich. Denn wenn es stimmte, was Kristalla mir gesagt hatte, dann hatte ich bereits einen Platz in dieser Welt. Einen Platz, den ich vielleicht gar nicht wollte.

„Was ist das?“, fragte M’nah plötzlich und starrte zum anderen Ufer des Sees.

Ich folgte seinem Blick. Dort standen Männer. Mindestens zwei Dutzend, und ihre Rüstungen reflektierten das Sonnenlicht.

Die Leute um uns herum schienen die Soldaten auch zu bemerken und helle Aufregung machte sich breit.

„Gehören die zu Kristalla?“, fragte ich leise, doch dann rief ein Mann: „Sie tragen das Wappen der Königin! Macht die Boote bereit!“

„Was tun die hier?“

„Sie müssen über die Gebirgsstraße gekommen sein“, sagte ein Fischer neben mir. „Männer, die Straße muss wieder offen sein!“

„Was für eine Straße?“, wollte ich wissen. „Ich dachte, das Gebirge wäre undurchdringlich.“

„Das ist es auch, wenn man nicht gerade ein Erdling ist“, meinte M’nah. „Darum wurde auch die Straße angelegt. Die Eishexe hat sie versperrt, sodass sie niemand passieren konnte. Jetzt muss ihr Zauber gebrochen sein.“

„Ja“, murmelte ich.

Hatten die Wölfe diese Männer gerufen? Wenn sie es nicht durch das Gebirge geschafft hatten, waren sie sicher umgekehrt, um die Truppen der Krone zu verständigen. Immerhin hatten sie nicht wissen können, ob wir noch am Leben waren.

„Ich gehe zu Sam“, meinte ich unvermittelt und drehte auf dem Absatz um.

Ich ging zögerlich die Straße hinauf. Ich hatte so eine Ahnung, dass die Soldaten nicht nur hier waren, um sich über unseren Erfolg zu versichern. Doch ich wollte nicht, dass sie Kristallas Worte bestätigten, bevor ich nicht Sam davon erzählt hatte.

Sam war wach und saß aufrecht im Bett. Er spähte aus dem Fenster und als ich eintrat, fragte er sofort: „Was ist da draußen los?“

„Es sind Soldaten der Krone angekommen“, tat ich es beiläufig ab. „Hör zu, ich muss dir etwas sagen. Etwas, was ich dir schon vorhin hätte sagen sollen.“

„Ja, ich muss dir auch etwas sagen“, meinte Sam und ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Kann das nicht warten? Es ist wirklich wichtig“, erklärte ich und warf einen Blick aus dem Fenster.

„Nein, es kann nicht warten. Sieh mich an, Liah.“

Ich tat, was er sagte.

„Wir haben darüber gesprochen, was du machst, wenn das alles hier vorbei ist“, begann er.

„Ja, genau, darum …“

„Ob du mit mir in die Drachenwüste kommst.“

„Das will ich ja auch, aber ich weiß nicht, ob …“

Er hob die Hand und ich biss mir auf die Zunge.

„Ich möchte, dass du mit mir kommst, Liah. Ich möchte … Was ich gesagt habe, als … Naja, in den letzten Tagen habe ich vielleicht oft etwas gesagt, was dumm war, aber …“

Ich starrte ungläubig an in seinem Ringen nach Worten. War er etwa gerade dabei, mir das zu sagen, von dem ich glaubte, was er sagen wollte?

„Liah, du bist so anders als alle Frauen, die mir je begegnet sind. Du bist intelligent, selbstlos, du lernst schnell und du bist mutiger als viele große Krieger. Du sagst, was du denkst und du denkst die komischsten Sachen. Und auch wenn unheimlich nerven kannst, bist du doch auf deine Art unglaublich besonders. Auch wenn unsere Mission beendet ist, würde ich noch immer mein Leben für deines geben und ich will nicht, dass du an einem anderen Ort bist als ich. Was ich sagen will, ist …“

Er stockte und ich sah ihn erwartungsvoll an.

Mein Herz schlug gegen meine Rippen, als wolle es mir aus der Brust springen. Ich konnte es nicht fassen. Er würde es wirklich sagen. Aber würde er immer noch so denken, wenn er erfuhr wer ich war? Die Angst packte mich und ich öffnete den Mund, um es ihm zu sagen, damit es nicht von jemand anderem hörte.

Unten waren laute Stimmen zu hören. Die Treppenstufen knarrten und die Tür ging auf.

Sam setzte sich augenblicklich aufrechter hin und ich drehte mich um.

Ein Mann stand in der Tür. Er trug eine braune Lederuniform, einen silbernen Brustpanzer auf dem ein gekrönter, vierzackiger Stern eingraviert war und einen schwarzen Mantel. Seinen Helm hatte er sich unter den Arm geklemmt und an seinem Gürtel hing ein langes Schwert.

Als er mich sah, ging er augenblicklich auf die Knie und senkte den Blick.

„Hauptmann Blay, zu Euren Diensten, Kumari Liah. Wir sind hier um Euch nach Migrass zu Eurer Mutter, der Königin, zu geleiten, die sich schon darauf freut, Euch zu sehen und mit Euch den Sieg über die Eishexe zu feiern.“

„Kumari? Prinzessin?“, wiederholte Sam trocken und ich schluckte.

„Ja“, sagte ich und straffte die Schultern. „Das habe ich mir schon gedacht.“

Epilog

 

Ihre Essenz flog durch Raum und Zeit ohne Widerstand wahrzunehmen. Sie ließ sich treibend, wohl wissend, dass er sie zu sich führen würde.

Der Sog griff nach ihr und zog sie in eine andere Dimension, wo die Luft schwarz war und das Licht nicht existierte.

„Meister.“ Ihre Stimme hallte klanglos durch die Leere. „Ich habe versagt.“

„Oh nein“, antwortete der Meister. „Du hast dich endlich von allem Weltlichen befreit. Und nun bist du ein Schatten, so wie ich. Unsere Macht wird unermesslich sein.“

*

Das war's. Aus die Maus. Sagt mir doch in einem Kommentar, wie es euch gefallen hat ;)

 

Wenn ihr wollt, dann macht doch gleich weiter mit Teil 2 "Das Tor zwischen den Welten"! Infos zu Teil 2 und allem anderen, wie immer in meiner Gruppe "Bücher von Clara S."

 

Impressum

Texte: Clara Schilling
Bildmaterialien: Die Cara :D
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Pia, die von Anfang an dabei war und mich durch ihre Begeisterung angetrieben hat - und das immer noch tut! Und für meine lieben Leser - und die anderen auch ;)

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