Grinsend schlenderte ich durch die Straßen Crawleys. Die Stadt lag etwa 30 Kilometer entfernt von unserer Hauptstadt London und obwohl ich hier mein ganzes, fast 18 Jahre junges Leben hier verbracht hatte, mochte ich Crawley nicht besonders. Vor knapp zwei Monaten hatte ich meine A-Levels bestanden, sogar ziemlich gut, was wohl keiner erwartet hatte, und jetzt stand ich kurz davor auszuziehen. Sobald ich volljährig war, würde ich weggehen. In eine große Stadt, weit weg von meiner spießigen Heimat. Klar, Geld war auch ein Problem beim Auszug, aber ich könnte meinen College Font plündern. Ich wollte nicht studieren, zumindest noch nicht. Bis jetzt hatte ich laut meinen Eltern keine vernünftige Idee, aber ich wollte Künstlerin werden. Ich konnte stundenlang mit lauter Musik in meinem Zimmer verbringen und Farbe auf eine Leinwand schmieren. Das erfüllte mich komplett.
Ich schloss die Tür unseres großen Hauses auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Es war so still, obwohl ich meine Eltern im Wohnzimmer miteinander reden hörte. Ich überlegte ob ich sofort in mein Zimmer verschwinden, oder zu ihnen gehen sollte.
„Tamara?“
Zu spät.
„Was gibt’s, Mum?“ Lächelnd betrat ich das Wohnzimmer und hoffte, dass es nicht um meine neuen Bleistiftzeichnungen ging. Ich hatte die Bilder von verdrehten Körpern unter meiner Matratze versteckt, aber ich wusste wie misstrauisch meine Mutter war und wenn es um abstrakte Kunst ging, kannte sie kein Erbarmen.
„Tamara, du bist jetzt fast 18 Jahre alt“, begann mein Vater, der vor dem Kamin stand.
Also ging es doch um mein Studium, oder? Ganz ehrlich: Ich war ein stinknormales, zickiges Mädchen, das kurz vor dem Ende der Pubertät stand und niemand in meinem Alter wollte Jura studieren! Schon gar nicht, wenn man in die Fußstapfen seines spießigen Vaters treten sollte. Bei aller Liebe, das würde ich niemals tun.
„Mara, wir haben getan, was wir tun mussten! Bitte hasse uns nicht dafür“, sagte meine Mutter, die Hände auf ihren runden Bauch gebetet.
„Ähm… was soll das denn heißen?“ Ich zog meine Jacke aus und warf sie über einen Stuhl.
„Schau, wir hatten Probleme und ein Mann hat uns geholfen… Der Preis war hoch, aber du musst uns vergeben. Wir konnten nichts anderes tun!“
„Was redest du da?“ Ich lachte verwirrt auf.
Dann trat ein junger Mann mit der Statur eines Boxers aus dem Schatten und meine Mutter gab ein wimmerndes Geräusch von sich.
„Hallo“, sagte der Mann grinsend und drückte mir einen Stofffetzen ins Gesicht. Ein penetranter Geruch stach mir in die Nase, dann wurde alles schwarz.
Als ich erwachte pochte mein Kopf schrecklich. Ich presste mir stöhnend die Handflächen an die Schläfen.
„Du hättest ihr weniger Chloroform geben sollen, George.“
Woah, nicht so laut! Hier stirbt jemand an Kopfschmerzen.
Ich öffnete die Augen einen Spalt breit und sah einen Mann und eine ältere Frau neben dem Sofa stehen, auf dem ich lag. Den Mann erkannte ich, es war der, der mich im Zuhause betäubt hatte und anscheinend George hieß. Ich konnte mich kaum erinnern, was zuletzt geschehen war… Wo waren meine Eltern gewesen? Ich glaubte, dass sie dabei gewesen waren, aber dann hätten sie doch verhindert, dass der Freak mich mitnahm, oder?
„Du!“, stöhnte ich gequält und versuchte den Arsch, der mit einem Vorschlaghammer auf meinen Schädel eindrosch, zu ignorieren.
„Ich glaube fast, sie mag dich nicht“, sagte die Frau, die sich wohl lustig vorkam.
Ich beachtete sie nicht und nuschelte: „Ich hasse dich. Irgendjemand schlägt auf meinen Kopf ein…“
Die Frau lachte und die hellen Töne, bohrten sich in mein Trommelfell.
„Na los, George. Geh zu deinem Bruder, damit ich seine Braut fertig machen kann“, zwitscherte die sie.
„Ja, genau. Verschwinde… Moment mal, WAS?!“ Ich riss die Augen auf, doch er war schon aus dem Zimmer geflohen.
„Was meinen Sie mit Braut?“, fragte ich die Frau hysterisch.
Diese lachte wieder nur vergnügt und zog mich hoch. Alles drehte sich und mein Kopf beklagte sich heftig.
„Na, Sie heiraten doch heute, meine Liebe. Und ich muss Ihnen noch das Kleid anziehen, die Haare machen und…“
„Das ist jetzt ein schlechter Scherz, oder?“, fragte ich ruhig. Heiraten? Hatten die sie noch alle? Und vor allem WEN?
Die Frau lachte schon wieder und begann mich aus meinen Klamotten zu schälen.
„Warte Sie, stopp! Wen zur Hölle soll ich heiraten und warum?!“, quietschte ich. Mein Plan fürs Leben war, niemals heiraten und niemals Kinder. Und wenn doch, dann erst ab 30, da ist das Leben sowieso vorbei.
„Na, Jim Wolve!“, sagte die Frau, als wäre es selbstverständlich.
„Wer ist das? Ich kenne ihn nicht. Und ich werde ihn ganz bestimmt nicht heiraten!“, rief ich, doch die Frau, deren Namen ich noch nicht einmal kannte, zog mir einfach ein Brautkleid über den Kopf.
„Das Kleid steht dir wunderbar“, sagte sie verzückt. Dann kämmte sie meine langen, braunen Haare und flocht sie geschickt zu einem Zopf, den sie mir zu einem Dutt hochsteckte.
„Sag mal, spinnt ihr hier denn alle?! Ich werde ganz bestimmt nicht heiraten! Ihr seid doch verrückt. Ihr könnt mich doch nicht einfach so…“, schrie ich, während mich Goerge durch die Gänge des Hauses bugsierte.
„Seid ihr denn vollkommen übergeschnappt? Ich bin noch nicht mal 18, rechtlich gesehen darf ich ohne die Zustimmung meiner Eltern nicht mal heiraten, wenn ich es wollte. Lasst mich los, ihr Idioten! Ich werde ganz bestimmt nicht…“, wetterte ich weiter, doch dann kam der wohl attraktivste Mann, den ich je gesehen hatte um die Ecke und hob eine Augenbraue. Ich verstummte. Er hatte schwarze Haare, hohe Wangenknochen, war noch größer als George und hatte stechend graue Augen. Seine Schultern waren breit und ich war mir ziemlich sicher, dass er unter dem Anzug, den er trug, durchtrainiert war.
„Ist das Tamara Brook?“, fragte er, als wäre ich nicht anwesend.
Aber, Freundchen, unhöflich sein kann ich auch.
„Nur Mara bitte. Und bitte, bitte, bitte sei nicht der Vollidiot, der sich einbildet, dass ich ihn heiraten würde“, seufzte ich resigniert.
„Denkst du ich habe mir das ausgedacht?“, fragte er sarkastisch.
„Irgendjemand muss sich den Müll ja überlegt haben. Und wenn ich das nochmal betonen darf, ICH WERDE NICHT HEIRATEN, VERDAMMT!“
„Doch wirst du. Du hast gar keine Wahl.“ Ein weiterer, älterer Mann war um die Ecke getreten. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinen Söhnen war nicht zu verkennen und ich stöhnte genervt auf.
„Leute, was glaubt ihr eigentlich wo wir hier sind? In Disney Land? Ihr könnt mich nicht dazu zwingen jemanden zu heiraten, warum sollte ich das tun?“
„Wenn du nicht genau das tust, was wir dir sagen, könnte es sein, dass deinen Eltern unschöne Dinge geschehen.“
„Meine Eltern gehören zu den einflussreichsten Menschen in der Gegend. Wenn Sie Geld wollen, bitte, können Sie haben, aber ich werde nicht heiraten!“, stellte ich klar und sah Daddy Wolve fest an.
„Du hast einen kleinen Bruder, Timmy heißt er, nicht wahr? Er müsste jetzt neun Jahre alt sein, oder? Und deine Mutter ist im achten Monat schwanger, wie ich gehört habe.“ Der Senior lächelte mich kalt an und das Blut in meinem Adern gefror.
„Das können Sie nicht tun!“, wisperte ich. „Sie verfluchtes Arschloch, wenn Sie meiner Familie etwas antun…“
Mein Bruder war mein ein und alles. Ich würde niemals zu lassen, dass ihm jemand etwas antun würde und es schien, als wüssten diese Geisteskranken das.
Ich gab allen Wiederstand auf. Sie hatten gewonnen. Aber nur vorerst.
„Schön, dass du doch kooperierst“, lächelte Mr. Wolve schmierig. „Du wirst jetzt gleich Jim heiraten und wenn auch nur ein Gast hier Verdacht schöpft, ist dein Bruder tot. Noch Fragen?“
„Ja, eine. Warum wollt ihr das?“, fragte ich tonlos.
„Das geht dich nichts an. Runter jetzt, die Trauung beginnt gleich.“
Ich stand alleine vor der großen Eichentür, die in den Saal führte. Die anderen waren alle schon drinnen. Was sollte das alles? Ich verstand nichts mehr… Von einer Sekunde auf die andere wurde ich entführt und jetzt war ich dabei einen Fremden zu heiraten und den Grund, warum ich das tun sollte, wusste ich nicht. Ich versuchte die Tränen zu unterdrücken, doch ich konnte nicht verhindern, dass sich zwei aus meinen Augenwinkeln stahlen. Egal, wenn sie jemand durch den Schleier sehen sollte, würde er sie für Freudentränen halten.
Die Türen schwangen auf und der Hochzeitsmarsch ertönte, obwohl er für mich wie der Marsch zu meiner eigenen Beerdigung klang.
Tam-tam-ta-dam. Tam-tam-ta-daaam.
Ich setzte mich in Bewegung und schritt auf den Altar zu. Die Gäste – beinahe hätte ich Trauergäste gedacht – hatten sich erhoben und strahlten mir fröhlich entgegen. Dieser Jim stand am Altar und hatte ein perfektes, glückliches Lächeln aufgesetzt. Ich trug eine steinerne Maske und versuchte nicht zu schluchzten.
Dann stand ich neben ihm und der Pfarrer begann seine Rede. Als mir DIESE eine Frage stellte, war meine Zunge bleischwer. Für Timmy. Für Timmy. Außerdem kann man sich scheiden lassen. Alles wird gut, mein Vater hatte bestimmt schon Suchtrupps organisiert, alles wird gut.
„Äh…“, brachte ich heraus und der Pfarrer runzelte die Stirn. Jims Hand, die meine hielt, drückte zu.
„Ja!“, sagte ich schnell und gepresst.
„Ja“, sagte auch Jim und er musste ein ziemlich guter Schauspieler sein, denn das Wort klang voller Freude. Dann steckten wir uns die Ringe an.
„Sie dürfen die Braut jetzt küssen!“, rief der Pfarrer und Jim lüftete meinen Schleier.
„Wag es nicht!“, flüsterte ich, doch es war zu spät. Seine Lippen lagen bereits auf meinen. Er legte einen Arm um mich und zog mich näher heran.
Die Gäste applaudierten und Jim ließ von mir ab. Zu seinem Glück, ich hätte ihm nämlich sonst in die Lippe gebissen.
„Herzlichen Glückwunsch!“, rief es von allen Seiten und ich wurde von einem Schwall Menschen umarmt. Niemand davon kannte ich.
Satzfetzen, wie „So ein hübsches Paar!“ und „Sie weint vor Freude, wie rührend!“ drangen an mein Ohr.
Es gab Sekt zum Anstoßen und eine junge Frau zog mich beiseite.
„Es ist so schön dich kennen zu lernen. Und mit Jim hast du wirklich Glück und ich muss es ja wissen. Ich war mit ihm zusammen bevor ich George kennen gelernt habe. Aber kein Grund eifersüchtig zu sein, ich will nichts von deinem Mann.“ Sie lachte fröhlich und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Mein Mann.
„Wie hast du gesagt, ist dein Name?“, fragte ich gespielt höflich.
„Jessica. Tut mir leid, ich hab ganz vergessen mich vorzustellen. Ach das ist ja so schön, dass Jim endlich jemanden gefunden hat!“
„Mhm“, machte ich und zuckte zusammen als sich ein Arm um meine Taille legte. Als ich den Kopf drehte sah ich Jim. Wahrscheinlich wollte er kontrollieren, dass ich nichts ausplauderte.
„Wie lang seid ihr eigentlich schon zusammen?“, fragte Jessica aufgedreht.
„Nicht so lange“, meinte ich.
„Und da habt ihr einfach so geheiratet? Meine Schwester hat sehr früh geheiratet und ich sag euch, das ging total in die Hose! Ihr Mann war Alkoholiker und sie haben auch gar nicht zusammen gepasst“, schnatterte Jessica.
„Ja, der Antrag kam für mich auch ziemlich überraschend“, meinte ich, aber sie bemerkte den Sarkasmus nicht.
„Oh, erzähl doch, wie hat er dich gefragt! Ich finde das ja so romantisch.“
„Ja, Schatz. Wie war das noch mal mit dem Antrag? Ich kann mich gerade nicht so genau daran erinnern“, flötete ich und sah Jim gespielt fröhlich an. Dieser schien kein bisschen nervös.
„Wir waren in deinem Lieblingscafé, weißt du nicht mehr? Mara ist die Tasse runter gefallen und als wir sie gleichzeitig die Scherben aufheben wollten, haben sich unsere Hände berührt. In diesem Moment wusste ich, dass ich für immer mit ihr zusammen sein will.“
„Und jetzt sind wir verheiratet“, schloss ich seinen Bericht und lachte. Doch wer genauer hinhörte, wusste, dass dies kein Lachen war. Ich fragte mich ob Jim improvisiert hatte, oder ob er das vor dem Spiegel geübt hatte. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter damit niemand sah wie ich das Gesicht verzog.
„Wie süüüüüß!“, quiekte Jessica.
„Total“, nuschelte ich in Jims Anzug.
Kurze Zeit später saßen wir an einem großen Tisch, aßen Torte, tranken Sekt und hörten langweilige, belanglose Reden an. Das heißt, ich würgte Torte herunter und lehnte den Sekt ab, weil ich dieses Gesöff schon immer hasste. Und den Reden hörte ich auch nicht zu, da ich mich nicht mal auf meine eigenen Gedanken konzentrieren konnte.
„Tja, wir müssen dann auch los“, sagte Jim nach einer Weile und strich mir über den Rücken.
Los? Wohin los?
„Viel Spaß in den Flitterwochen“, zwitscherte Jessica, die neben mir saß und ich verschluckte mich an meiner Spucke.
„Ich kenne dich noch nicht, aber ich hasse dich jetzt schon“, raunte ich zu Jim, während wir das Haus verließen und die Gäste uns Reis nach schmissen.
Er platzierte mich auf den Beifahrersitzt eines schwarzen Porsches und setzte sich hinters Steuer. Ich starrte fassungslos aus dem Fenster als wir das Anwesen verließen.
„Dir ist klar, dass die Polizei nach mir sucht und dass die mich auch demnächst finden? Und dass du und deine Familie alle in den Knast kommen?“, fragte ich ruhig.
„Ich mach mir da keine Sorge“, sagte mein… Mann beruhigend.
Ich schwieg eine Weile. Draußen war es dunkel und ich konnte nicht sehen wohin wir fuhren.
„Wie alt bist du eigentlich?“ Ich war mir ziemlich sicher, dass Jim viel älter als ich war.
Er räusperte sich, dann fragte er: „Du bist 17, stimmt‘s?“
„Ja.“
„Ich bin acht Jahre älter als du.“
„Heilige Scheiße“, entfuhr es mir.
Oh Gott, diese Penner hatten mich mit einem totalen Opa verheiratet. Plötzlich hatte ich sogar Angst vor ihm. Verdammt, er war viel älter und natürlich stärker. Vor Panik krallte ich mich in den Lederbezug meines Sitzes und versuchte nicht aus zu ticken.
„Wir fahren jetzt aber nicht ernsthaft in die Flitterwochen?“, fragte ich nach einiger Zeit.
„Ob es Flitterwochen werden, hängt davon ab, ob ich dich rumkriege oder nicht“, meinte er leichthin. „Aber ja, wir fahren weg und da wo wir hin fahren, werden wir ganz alleine sein.“ Er zwinkerte mir zu und ich sah rot.
„Jetzt hör mir mal zu, du arroganter Arsch. Ich werde ganz bestimmt nicht bei dir bleiben. Und ich werde auf gar keinen Fall mit dir… Allein die Vorstellung ist so eklig, dass ich es nicht mal aussprechen kann ohne zu kotzen!“, rief ich aufgebracht. Tränen der Wut und der Verzweiflung stiegen mir in die Augen.
„Du weißt genau was passiert, wenn du wegläufst“, sagte Jim trocken.
„Ich hasse dich“, sagte ich wieder und dachte an meinen armen Bruder. Warum taten sie uns das an? Wie konnte man nur so grausam sein?
„Wie schön, Schatz. Wir fahren noch eine Weile, ich empfehle dir zu schlafen“, sagte Jim.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und versuchte runter zu kommen. Mein Kopf pulsierte und ich war noch sehr mitgenommen von dem Betäubungsmittel, dass George mir verabreicht hatte, also schlief ich irgendwann doch ein.
Ich wachte auf, weil mich jemand hoch hob und durch die Gegend trug. Es war gemütlich in den Armen dieses jemands und ich öffnete die Augen nicht. Ich kuschelte mich an seine harte Brust und murmelte: „Bist du das, Alex?“
„Wer ist Alex?“, fragte jemand zurück, den ich total vergessen hatte.
„Lass mich runter, Jim“, sagte ich wenig überzeugend und öffnete die Augen, was ein Fehler, weil sich alles zu drehen begann und mir schlecht wurde. Jim stand mit mir auf den Armen auf der Veranda eines Blockhauses. Ringsherum war nichts als Wald, nur der Porsche stand etwas fehl am Platz zwei Meter entfernt. Die Tür des Blockhauses stand offen und im Flur waren zwei Koffer.
„Nein. Ich muss dich schließlich über die Schwelle tragen.“ Er grinste zu mir herunter und ich sah ihm direkt in die grauen Augen.
„Ich mag deine Augen“, sagte ich und zuckte zusammen. „Das wollte ich eigentlich nicht sagen. Ich bin immer verwirrt, wenn ich geschlafen habe“, fügte ich hinzu, doch Jim lachte auf.
„Wer ist Alex?“, fragte er erneut und ich bildete mir ein, Eifersucht in seiner Stimme zu hören.
„Trag mich über die dumme Schwelle und lass mich runter. Dann sag ich‘s dir“, brummelte ich.
„Nein, du sagst es mir und dann trage ich dich über die Schwelle und lasse dich vielleicht runter.“
„Alex“, seufzte ich. „ist… wie erkläre ich das jetzt?“
„Ist er dein Freund?“, fragte Jim und runzelte die Stirn. „Du gehörst jetzt mir und ich dulde keine anderen Männer.“
„Krieg dich wieder ein. Ich gehöre niemandem und schon gar nicht dir! Und Alex ist nicht mein Freund sondern… Er ist…“ Es war schwierig, das zwischen Alex und mir zu erklären. „Wir sind nur manchmal ein bisschen mehr als Freunde. Aber er ist der Sohn von einer Freundin meiner Mutter. Alex ist der Mann, den meine Eltern sich als Schwiegersohn wünschen würden.“
Ich hatte einmal für ihn seine Freundin gespielt um ein anderes Mädchen eifersüchtig zu machen, dass er mochte, aber geküsst hatten wir uns nie und waren auch sonst nur gute Freunde.
Jim schnaubte und ich verdrehte die Augen. Was stimmte nicht mit dem Typ? Erst sagte er, er wolle mich nicht heiraten und jetzt war er besitzergreifend?
Aber er ließ mir keine Zeit weiter nachzudenken und trug mich kurzer Hand ins Haus, stieß die Tür mit dem Fuß zu und blieb wieder stehen.
„Okay, jetzt kommt der Teil in dem du mich runter lässt“, klärte ich ihn höflich auf.
„Nein, ich glaube ich trage dich bis ins Schlafzimmer.“
„Moment, DAS Schlafzimmer?!“, rief ich panisch.
„Was dachtest du denn?“
„Ich dachte an MEIN Schlafzimmer und DEIN Schlafzimmer und nicht an DAS Schlafzimmer“, sagte ich und meine Stimme zitterte vor Nervosität. Ich war in sexuellen Dingen jungfräulicher als Jesus‘ Mutter. Sogar dass ein Mann, für den ich keine unkomplizierten freundschaftliche Gefühle hegte, mich durch die Gegend trug, war etwas Neues für mich.
Jim blieb vor einer Tür stehen, öffnete sie etwas ungeschickt, da er seine Hände ja damit beschäftigt waren, mich nicht runterzulassen.
Er schaltete das Licht erst gar nicht an, sondern ließ mich direkt auf das Doppelbett fallen.
Ich schrie erschrocken auf, als ich auf der weichen Matratze aufkam.
„Ich komme gleich wieder. Nicht weglaufen“, sagte er mahnend und verschwand durch die Tür.
Ich schrie erschrocken auf, als ich auf der weichen Matratze aufkam.
„Ich komme gleich wieder. Nicht weglaufen“, sagte er mahnend und verschwand durch die Tür.
Ich sah mich vorsichtig um. Lange Vorhänge waren vor dem Fenster angebracht und ich konnte einen großen Schrank ausmachen. Außerdem zwei Nachttische, einer links, der andere rechts vom Bett. Das Zimmer war schlicht und es gefiel mir eigentlich sehr, doch der Gedanke dieses Bett mit einem Fremden, der seit ein paar Stunden mein Ehemann und außerdem acht Jahre älter als ich war, zu teilen ließ mir die Galle aufsteigen. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und mir war schlecht.
Ich stand auf und in diesem Moment kam Jim wieder ins Zimmer.
„Wo ist das Bad?“, fragte ich ohne ihn anzusehen.
„Den Flur runter rechts. Du brauchst nicht zu versuchen abzuhauen. Die Fenster und Türen sind alle abgeschlossen“, rief er mir noch hinter her, doch ich hatte mich bereits im Bad eingeschlossen. Zitternd setzte ich mich dort auf die kalten Fließen. Oh Gott. Oh Gott. Erst jetzt begann ich zu realisieren, was geschehen war. Ich war zwangsverheiratet worden. Und ich war hier eingesperrt, zusammen mit Jim, den ich kaum kannte. Vielleicht hatte der Freak sogar vor mit mir zu schlafen. Das Zittern wurde stärker und ich robbte zum Klo. Gerade noch rechtzeitig um meinen kümmerlichen Mageninhalt dort hinein zu befördern. Als ich damit fertig war und sich nicht mehr alles drehte, riss ich mir das abscheuliche Brautkleid vom Körper und schlüpfte aus meiner Unterwäsche. Es gab eine Dusche und eine Badewanne, doch ich entschied mich für die Dusche. Da konnte ich einfach besser entspannen. Ich ließ erst kaltes, dann warmes Wasser auf mich prasseln. Ich wusch meine Haare gründlich mit einem Shampoo das hier stand. Mango Duft, genau wie meins, das ich zuhause hatte.
Zuhause. Würde ich je wieder dorthin zurückkehren? Jedenfalls durfte ich nicht unüberlegt flüchten, sonst würden sie Timmy Dinge antun, über die ich gar nicht nachdenken wollte. Tränen krochen in meine Augen und liefen zusammen mit dem Duschwasser meine Wangen herunter. Ich wollte das nicht. Ich wollte, dass das alles nur ein Traum war, ein grausamer Traum aus dem ich erwachen konnte. Doch ich wusste, dass es kein Traum war. Ich sank auf den Boden der Dusche und schluchzte wie ein Schlosshund, während das Wasser auf mich nieder prasselte.
Nachdem ich nicht mehr weinte kam ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Ich fand einen Föhn in einer Schublade und trocknete auch meine Haare.
Ein Blick in den Spiegel versicherte mir, dass meine Augen rot umrandet, die Iris wie immer wenn ich geweint hatte, extrem Türkis waren und ich allgemein wie ein Häufchen Elend aussah.
Ich kämmte meine Haare mit einer Bürste die ich in einer weiteren Schublade fand. Dann schlüpfte ich wieder in meine alte Unterwäsche. Das Kleid kickte ich in eine Ecke, ich würde es garantiert nicht noch einmal anziehen. Dann wickelte ich mich in ein Handtuch und öffnete die Tür. Prompt stolperte ich über einen Stoffhaufen. Jim musste ihn dort hingelegt haben. Ich hob die Sachen auf und ging wieder ins Bad.
Der Haufen bestand aus einer schwarzen Unterhose und einem Negligé. Dieses war auch schwarz, kurz und ziemlich durchscheinend.
„Der spinnt doch“, wisperte ich. Ich zog die Sachen an und musste leider zugeben, dass ich trotz verheultem Gesicht ziemlich heiß darin aussah. Da das Negligé an der Brust zwar eng war, aber nicht durchsichtig, beschloss ich es zu tragen. Ansonsten hätte ich nur in Unterwäsche zu Jim zurückgehen müssen und das kam nicht in Frage. Ich zupfte diesen Hauch von einem Nichts zu Recht und atmete tief durch. Dann verließ ich das Bad und ging ins Schafzimmer zurück.
Ich schenkte Jim, der schon im Bett lag, keinen einzigen Blick und legte mich soweit wie möglich von ihm entfernt hin. Doch es wäre zu einfach gewesen. Jims Arm legte sich um meine Taille und zog mich an sich. Ich sträubte mich kurz, doch als ich ihn belustigt kichern hörte, ließ ich es sein.
Jim zog mich noch enger an sich und ich registrierte geschockt, dass er nur Boxershorts trug.
„Ich nehme an, dass du nicht vor hast, mich loszulassen?“, fragte ich.
„Keine Chance. Dafür fühlst du dich viel zu gut an.“
„Du bist verrückt.“ Obwohl ich flüsterte, zitterte meine Stimme und alle meine Muskeln waren angespannt.
Er sagte nichts, sondern vergrub das Gesicht in meinen Haaren. Es fühlte sich tatsächlich gut an so an ihn gekuschelt zu liegen. Aber das würde ich niemals zu geben, außerdem wollte ich das gar nicht. Ich wollte, dass er mich los ließ, nachhause brachte und versprach, dass Timmy nichts geschehen würde.
Ich drückte meinen Kopf ins Kissen und versuchte nicht zu weinen. Ich war stark, redete ich mir ein, ich würde Jim keine Schwäche zeigen.
„Wie geht es dir, Mara?“, fragte Jim so leise, dass ich es kaum hörte.
Ich drehte mich in seinen Armen um und sah ihn wütend an. „Findest du nicht auch, dass das im Augenblick eine ziemlich bescheuerte Frage ist?“
Er sah mich so mitleidig an, dass ich nicht mehr anders konnte und zu schluchzen begann.
„Hey, hey, bitte nicht weinen!“, sagte Jim hilflos und drückte mich an sich.
„Lass mich los“, wimmerte ich. „Ich kenn dich nicht, lass mich los!“
„Beruhig dich erst mal.“ Er strich mir sanft übers Haar und ich schluchzte noch lauter und schlug auf ihn ein.
„Ich verstehe das nicht, was soll das? Warum tut ihr das?“, presste ich hervor, doch Jim antwortete nicht.
„WARUM?!“, schrie ich und begann mich heftiger gegen ihn zu wehren. Ich wollte seinen Armen entfliehen, wollte nicht, dass er weiter meine Haut berührte, doch er hielt mich zu fest. Ich war machtlos.
Irgendwann hörte ich auf mich zu wehren und schlief frustriert und verzweifelt ein.
„Schatz, gehst du bitte von mir runter?“, hörte ich eine belustigte Stimme sagen.
Ich grummelte etwas und kuschelte mich enger an den warmen Körper auf dem ich lag.
„Im Ernst, ich würde gerne aufstehen.“
„Halt die Klappe, Jim“, nuschelte ich. Ich wusste, dass ich es bereuen würde, doch ich wollte einfach nicht von ihm runter. Es war so warm und gemütlich… meine Hormone spielten verrückt. Gestern Abend hatte mich jede Berührung von ihm angeekelt und jetzt wollte ich ihn gar nicht mehr hergeben.
„Ich finde es ja total süß, dass du zur Abwechslung mal nicht rumschreist und alles. Aber es ist schon Mittag und ich hatte vor, heute noch aufzustehen.“
Ich stöhnte genervt, verschränkt die Arme auf seiner Brust und legte den Kopf auf sie, sodass ich Jim ansehen konnte.
„Weißt du, dass du unglaublich nerven kannst?“
„Da musst du was verwechseln. Ich hätte nie gedacht, dass du freiwillig auf mir liegst. Obwohl, ich bin unwiderstehlich, so unlogisch ist es also gar nicht.“
„Du hast zu viel Selbstbewusstsein“, stellte ich fest und rollte von ihm runter. Die Decke rutschte weg, sodass ich einen fantastischen Ausblick auf Jims muskulösen Oberkörper hatte.
„Also wenn ich dich nicht so verabscheuen würde, dann…“ Ich machte eine Pause und betrachtete ihn eingehend. „Nein, selbst dann nicht.“ Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf und Jim verdrehte die Augen.
„Das werden wir ja noch sehen.“
„Wovon träumst du eigentlich?“
„Von dir“, grinste er und jetzt verdrehte ich die Augen.
Jim stand auf und verließ, ohne sich noch etwas anzuziehen das Zimmer. Da ich nichts Besseres zu tun hatte und ich hoffte, dass die Panik von gestern nicht zurückkehren würde, folgte ich ihm in eine gemütliche Küche mit gelben Schränken und grüner Wandvertäfelung. Auf der einen Seite war eine Küchenzeile mit Herd, Ofen und Kühlschrank, auf der anderen stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen.
„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte ich.
„In einem Haus.“
„Geht’s noch genauer?“
„In einem Wald.“ Jim hielt sich anscheinend für witzig.
„Ach nee“, machte ich.
„Wir sind südlich von London. Mehr sag ich nicht.“
„Na super“, grummelte ich und hockte mich auf die Arbeitsfläche. Jim musterte mich und ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Was?“
„Darf ich nicht mal mehr meine Frau ansehen?“, fragte er.
„Nein, darfst du nicht, weil ich das nämlich nur auf dem Papier bin und ich schwöre dir, sobald ich kann, werde ich euch anzeigen und mich scheiden lassen.“
„Jaja, schon klar. Kannst du kochen?“
„Wie bitte?“ Völlig perplex starrte ich ihn an.
„Ob du kochen kannst.“
„Ähm… Ein bisschen vielleicht?“
„Dann koch was. Der Kühlschrank ist voll und mein Magen leer.“
„Sag mal, hast du einen Schaden?“, fragte ich gefährlich ruhig.
„Na los!“ Er wedelte mit der Hand. Ich war so fassungslos, dass ich von der Arbeitsfläche rutschte und tatsächlich einen Blick in den Kühlschrank warf.
„Ich zieh mir erst was an“, sagte ich dann und ging zurück ins Schlafzimmer.
Als ich wieder in einer Jeans und einem schwarzen Rollkragenpullover steckte, die ich im Schrank gefunden hatte, fühlte ich mich schon mal wohler.
Jim saß am Küchentisch und beobachtete mich aufmerksam, während ich ihn anstarrte und den Mund auf und zu klappte.
Einerseits war ich nicht seine Dienerin, andererseits hatte ich Hunger.
„Willst du mir etwas sagen?“, fragt Jim irgendwann.
„Ja. Ich koche jetzt etwas, aber nicht weil du gesagt hast, dass ich es soll, sondern weil ich es möchte, kapiert?“
„Natürlich.“
Ich begann Zutaten zusammen zu suchen und sagte währenddessen: „Morgen kochst aber du.“
Jim sah mich völlig perplex an.
„Du wirst morgen kochen“, wiederholte ich.
„Ich kann gar nicht kochen. Und ich will es auch nicht, dafür bist schließlich du da.“
„Wenn du so weiter machst, koche ich überhaupt nie mehr“, stellte ich klar und funkelte ihn böse an.
„Ich bin ja schon still.“
Jim sah mir beim Kochen zu, was mich ziemlich ablenkte.
„Kannst du nicht wo anders hin gehen?“, fragte ich, während ich etwas anbriet.
„Und nachher entwendest du ein Messer oder eine Bratpfanne und das war’s dann mit meinen perfekten Gesichtszügen?“, fragte er mit gehobener Augenbraue.
Ich schüttelte genervt den Kopf. Nach einer halben Stunde war ich fast fertig.
„Jim, kannst du bitte den Tisch decken?“, fragte ich wie selbstverständlich. Es erschrak mich, wie locker ich mit der Situation umging. Als wäre alles normal.
„Wenn du ganz lieb fragst.“ Er grinste breit und ich konnte mir denken wie er sich das vorstellte.
„Deck den Tisch oder ich vergifte dein Essen, Schatz“, säuselte ich mit dem unschuldigsten Lächeln, das ich zustande brachte.
Jim lachte, deckte aber tatsächlich den Tisch.
Ich hatte Scholle mit Kartoffelgratin und grünen Salat gemacht und Jim schien von dem Fisch nicht sonderlich begeistert. Mir sollte es recht sein.
„Schmeckt es dir etwa nicht, Liebling?“, fragte ich mit großen Augen. Er sah mich an und ich brach über seinen Blick in Gelächter aus.
„Geschieht dir recht“, sagte ich grinsend als ich mich wieder gefangen hatte.
Nachdem wir fertig waren, räumten wir gemeinsam alles auf. Ich war ein bisschen beeindruckt von Jim, weil er einfach so half und sich zur Ausnahme mal nicht wie ein Arschloch verhielt.
Als ich eine Schublade schloss gab es plötzlich ein leises Klonk-Geräusch. Ich hob verwundert meine Hand und sah den Ehering. Das kühle Metall schmiegte sich um meinen Ringfinger als wollte es sich nie wieder weg bewegen. Ich runzelte die Stirn und betrachtete den Ring genauer. Nach dem Jim ihn mir angesteckt hatte, hatte ich ihn gleich vergessen.
Ich versuchte den Ehering abzustreifen, aber er bewegte sich nicht vom Fleck. So ein verdammtes Ding. Er war golden und schmal. Sehr unauffällig, aber doch schön.
Ich war so in den Anblick versunken, dass ich gar nicht bemerkte, dass Jim hinter mich trat und die Arme um mich schlang.
„Wo bist du in Gedanken?“, flüsterte er in mein Ohr und ich zuckte zusammen.
„Was? Ich hab nur… nur den Ring angeschaut. Ich hab ihn ganz vergessen. Er geht nicht mehr ab“, sagte ich hastig und zog zum Beweis in dem Ring.
„Soll er ja auch nicht.“
„Doch, soll er. Wir sind nicht wirklich verheiratet. Lass mich los.“ Ich wollte mich aus seiner Umarmung winden, doch er gab mich nicht frei. Es war ein seltsames Gefühl von einem so viel älteren Mann angefasst zu werden.
„Du bist schon so pädophil, weißt du das? Und jetzt nimm deine Pfoten weg.“
„Nö.“
„Das ist so ermüdend“, seufzte ich und blieb steif stehen, bis er mich endlich los ließ.
„Du hast nicht vor mit mir zu schlafen, stimmt’s?“
„Wie bitte?“ Ich sah von meinem Buch auf und schaute Jim verwirrt an, der mir gegenüber auf einer Couch lag.
Ich saß in einem hohen Sessel, der wunderbar bequem war und ich hatte im Bücherregal des Blockhauses einige Schätze gefunden, die ich gerade verschlang.
Jim wiederholte seine Frage und er grinste nicht mal dreckig, er sah einfach nachdenklich aus. Und sexy.
Halt, stopp, nicht sexy, sondern dumm. Nur dumm. Sonst nichts. Wie kam ich auch auf so was?
„Ich kenne dich ja gar nicht“, sagte ich mit gerunzelter Stirn.
„Ein bisschen schon“ Ein Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Den Teil, den ich kenne, mag ich nicht. Außerdem bist du mir viel zu alt. Also, nein, definitiv nicht.“ Ich widmete mich wieder Winnetou und Old Shatterhand doch Jim störte mich nach einer Seite schon wieder.
„Hast du was gegen Fremdgehen?“
„Wer hat das nicht?“, fragte ich und schaute nicht mal von meinem Buch hoch. Was wollte er eigentlich?
„Nein, hast du etwas dagegen, wenn ICH fremdgehe?“
Ich hob ganz langsam den Blick und schaute Jim entgeistert an, der meinen Blick ruhig und fragend erwiderte. Dann dachte ich ausführlich über die Frage nach. Ich hatte Jim nicht freiwillig geheiratet, ich kannte ihn kaum und ich hatte keine Gefühle für ihn, oder doch?
„Ich weiß ja nicht wie das bei dir so ist – ich bin eben schon älter als du – Sex gehört zu meinem Alltag. Und… wenn du nicht mit mir schläfst dann…“ Er ließ das Ende des Satzes unausgesprochen im Raum schweben und sah mich abwartend an.
Nachdem ich eine halbe Ewigkeit das Für und Wider abgewogen hatte, leckte ich mir über die trockenen Lippen und sagte langsam: „Ich bin mir nicht sicher.“
Jim begann wieder zu Grinsen also fügte ich hastig hinzu: „Es würde mich nicht verletzten oder so. Eigentlich ist es mir ziemlich egal was du machst. Wenn ich so drüber nachdenke, dann macht es mir überhaupt nichts aus.“ Doch während ich das aussprach, wusste ich, dass es nicht die Wahrheit war. Das zeigte ich Jim natürlich nicht. Dieser hatte sich in zwischen aufgesetzt.
„Gut. Dann bist du heute Abend wohl allein.“
Allein. Meine Augen hellten sich auf.
„Denk nicht mal dran abzuhauen. Zu Fuß brauchst du drei Stunden bis zur nächsten Stadt.“
„Wie lang bist du weg?“, fragte ich, als hätte er nichts gesagt.
„Wohl etwas länger. Ich denke, ich sollte dich trotzdem irgendwo festbinden…“
„Ich bin kein Hund, du Penner“, sagte ich eisig.
„Du würdest sonst weg laufen.“ Er zuckte mit den Schultern.
Ich würdigte ihm keinen weiteren Blick und las weiter. Er würde mich doch nicht wirklich festbinden…
Ich merkte gar nicht wie es draußen dunkel wurde, so tief war ich in Winnetous Welt eingetaucht.
Jim riss mich unsanft aus dieser Welt, indem er mich kurzer Hand hoch hob und ins Schlafzimmer trug.
„Ahhh Jim, was soll das?“, kreischte ich erschrocken, doch er ließ mich wortlos aufs Bett fallen. Dann beugte er sich über mich, packte meine Hände und ich hörte ein leises Klicken. Kaltes Metall schloss sich um meine Handgelenke.
„Sag mal hast du sie noch alle?“, keuchte ich.
Er sagte immer noch nichts, sondern hob meine Arme über meinen Kopf und kettete mich mit einer weiteren Handschelle an einen Bettpfosten.
„Halt, was soll das? Mach mich wieder los!“, rief ich als er das Zimmer verlassen wollte.
„Ich bin spätestens in fünf Stunden zurück“, sagte Jim ohne sich umzudrehen, dann war er weg.
„Was…? KOMM SOFORT ZURÜCK, DU ARSCH!“, schrie ich verzweifelt und rüttelte an den Handschellen.
Tränen stiegen mir in die Augen und ich rief verzweifelt Jims Namen. Nach einer Weile akzeptierte ich, dass er weg war und setzte mich so gut es ging auf. Ich wischte mir die Tränen an meiner Schulter ab und sah mich nach einer Uhr um. Auf dem Nachttisch entdeckte ich schließlich einen Wecker. Es war jetzt sieben Uhr abends. Ich wusste nicht, wie lange Jim schon war, aber lange konnte es noch nicht sein. Ich atmete tief durch und rechnete. Um Mitternacht war er wieder da. Und dann konnte Jim was erleben.
Nach ein paar Panikattacken, einigen erfolglosen Versuchen, die Handschellen zu öffnen und sehr vielen Flüchen die alle auf Jims Konto gingen, hatte ich mich soweit beruhigt.
Doch dann fiel mir ein, was Jim gerade machte und bekam einen Heulkrampf. Warum hatte ich das nur zugelassen? Warum störte es mich überhaupt, dass er jetzt bei einer anderen war? Wahrscheinlich wäre er auch ohne meine Zustimmung gegangen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er mich an dieses dumme Bett gefesselt hatte. Und ich konnte nicht glauben, dass ich entführt und verheiratet war. Ich wimmerte auf, da dran ein leises Piepen an meine Ohren. Ein Handy!
Ich keuchte auf und lauschte. Es kam aus dem Nachttisch. Hatte Jim vielleicht sein Handy vergessen?
Mit den Füßen öffnete ich die kleine Schublade, und tatsächlich, dort lag ein Handy. Das Akku-schwach-Symbol leuchtete hell auf. Ich beugte mich vor und schaffte es nach drei Anläufen, das Handy heraus zu fischen.
Meine Finger zitterten als ich wählte. Es tutete fünf Mal bis jemand abhob.
„Melanie Brook, guten Abend?“
„Mama?“, fragte ich und meine Stimme zitterte vor Freude. „Mama, es geht mir gut, aber ich wurde entführt und…“
„Schatz, ich bin so froh! Und es tut mir so leid…“
„Was tut dir leid?“, fragte ich verwirrt. „Hör zu, die haben mich einfach so verheiratet! Aber das ist doch ungültig, oder? Oder?!“
„Mara, es tut mir so leid, dass wir es dir nicht gesagt haben.“
„Was gesagt? Von was redest du?“ Meine Mutter klang überhaupt nicht besorgt, was mich noch ängstlicher machte.
„Es ist so, dass… Weißt du, als ich mit Timmy schwanger war, da gab es schlimme Komplikationen und Mr Wolve hat mein und sein Leben gerettet. Im Gegenzug dafür, mussten wir ihm versprechen, dass du später seinen Sohn heiratest… Wir wollten fliehen, aber er hat gedroht dir oder Timmy etwas an zu tun. Er würde uns überall finden…“
„Was meinst du? Wie hat er dir geholfen?“, fragte ich entsetzt.
„Mr Wolve ist eine Art Arzt, nur er konnte uns helfen. Es war alles so geplant. Gut, das mit der Betäubung fand ich unmöglich, aber es ist nun mal so, dass wir zu gestimmt haben dich zu verheiraten, aber doch nur damit Timmy leben konnte!“
„Ihr habt mich für ein ungeborenes Kind verkauft“, flüstere ich geschockt, ängstlich und vor allem wütend. Ich liebte Timmy. Und es war unmoralisch, abstoßend, so etwas zu denken, aber warum gaben meine Eltern ein Kind für das Leben von einem, das sie noch nicht hatten, her. Verrat, dreckiger Verrat!
„Eines Tages wirst du es verstehen. Es tut mir so leid. Ich liebe dich, Tamy. Bitte, es ist zu viel, von dir zu verlangen da mitzumachen, aber es gab keinen Ausweg. Bestimmt ist dein Mann auch sehr nett und ihr kommt euch noch näher…“
Das Handy hatte getan, wozu ich nicht fähig gewesen war: Es hatte aufgelegt, indem es sich ausgeschalten hatten, da der Akku leer war. Ich ließ das Teil auf den Boden fallen. Wie versteinert saß ich da und starrte auf die Bettdecke.
Meine Eltern hatten mich weggeben und ich versuchte ihre Gründe zu verstehen. Es war für Timmy gewesen, aber bedeutete das, dass sie mich nicht liebten? Ich hatte sowieso nie in ihre perfekte Familie gepasst, trotzdem gehörten wir doch zusammen!
Ich kam mir wie ein ausgesetztes, verstoßenes Kind vor. Niemand suchte nach mir, niemand wollte mich nachhause holen. Und ich würde dieser Ehe niemals entkommen können, weil diese Sadisten meiner Familie sonst etwas antun würden und meine Familie mich anscheinend auch nicht zurück wollte. Ich würde einen auf Vorbildehefrau machen müssen, vielleicht zwangen die mich sogar dazu, Kinder bekommen zu müssen!
Warum hatten meine Eltern mir das nur angetan? Fassungslos schluchzte ich auf und zum zweiten Mal an diesem Abend hatte ich einen Heulkrampf.
So fand Jim mich schließlich spät in der Nacht. Weinend und hilflos saß ich da.
Er stürzte ans Bett und schloss die Handschellen auf.
„Hey Mara, bitte hör auf. Hey, ich bin ja da. Bitte nicht weinen“, murmelte er und zog mich in seine Arme.
„M-meine Eltern ha-haben d-das alles gew-wusst!“, schluchzte ich an seine Brust. Sein Blick fiel auf das Handy, das auf dem Boden lag. „Sie haben mich verk-kauft. Ich b-bin noch nicht mal v-v-volljährig und einfach so…“ Meine Stimme versagte.
„Oh. Du hast es rausgefunden.“ Seine Stimme klang seltsam hohl.
Ich wimmerte zur Antwort.
„Du wirst das irgendwann verstehen…“
„Sie haben m-mich verkauft!“, rief ich verzweifelt.
„Sie hatten Gründe dafür…“
„SIE WOLLTEN MICH NICHT HABEN, SCHEIß AUF GRÜNDE!“
Ich weinte einfach weiter und ignorierte alles was er sagte um mich zu beruhigen. Jim verlagerte sein Gewicht und legte uns vorsichtig hin. Nach einer Weile hatte ich mich beruhigt. Ich rückte etwas von ihm ab und rümpfte die Nase.
„Du stinkst nach Rauch und… schlechtem Parfum.“
Jim räusperte sich verlegen.
„Ich meins ernst, das ätzt einem ja die Riechnerven weg!“, stieß ich hervor.
„Ich war in einer Kneipe…“, begann er.
„Spars dir. Ich will gar nicht wissen, wo du sonst noch so drin warst.“ Ich versuchte den bitteren Unterton in meiner Stimme zu verbergen, doch es gelang mir kaum.
Ich drehte mich von Jim weg.
„Gute Nacht“, murmelte ich und wir gaben beide keinen Ton mehr von uns.
Ich war so verwirrt. Die Gedanken schwirrten durch meinen Kopf und wollten mich nicht schlafen lassen. Ich sah keinen Sinn darin, mich umzuziehen und rollte mich, wie ich war unter der Decke zusammen.
Warum hatten meine Eltern das getan? Warum hatte Mr. Wolve gewollt, dass sein Sohn eine fremde Frau heiratete? Und wieso machte Jim bei der Sache mit?
Jim. Er war so seltsam… Mal grob und ein totales Arschloch und dann wieder süß und einfühlsam. Der konnte sich auch nicht entscheiden. Es war zum Verrücktwerden.
Als ich am nächsten Tag erwachte, flutete Licht ins Zimmer. Jim war nicht da, doch ich hörte Geräusche aus der Küche und vermutete, dass er dort war.
Ich räkelte mich ausgiebig. Mir tat alles weh, innerlich und äußerlich. Doch ich hatte genug davon schwach zu sein. Ich wollte nicht ständig weinen, auch wenn ich allen Grund dazu hatte.
Zu aller erst ging ich ins Bad, duschte kurz und zog mich etwas Frisches an. Ein Blick in den Wäschekorb zeigte mir, dass ich vielleicht mal waschen sollte. Wie seltsam es war, selbst dafür verantwortlich zu sein…
Ich ging in die Küche, wo Jim am Esstisch saß und telefonierte.
„Keine Ahnung, George, ich weiß nicht, was – Morgen, Mara – … Ja, sie ist grad aufgestanden.“
Ich setzte mich ihm gegenüber und schenkte mir Wasser ein. Ich trank zwei Gläser, bevor ich mir eine Scheibe Brot nahm.
Jim hielt mir das Telefon entgegen.
„Jessica will dich sprechen.“ Er sah mir nicht in die Augen und ich starrte das Telefon an. Schließlich griff ich danach.
„Hallo?“ Meine Stimme klang rau und um zehn Jahre gealtert.
„Hi Süße!“, zwitscherte mir die junge Frau ins Ohr. „Wie geht’s dir? Ich will dich ja gar nicht lang in deinen Flitterwochen stören. Aber erzähl doch mal, was gibt’s so neues?“
Ich stierte aus dem Küchenfenster und musterte den Porsche von Jim, der draußen stand.
„Also… Es ist toll.“ Ich versuchte es fröhlich klingen zu lassen.
„Oh nein. Toll ist die kleine Schwester von scheiße. Erzähl es mir, was ist passiert? Läuft es im Bett nicht, oder was?“
Mein Blick traf den von Jim und ich antwortet etwas hilflos: „Äh, doch, er ist toll… ich meine … großartig.“
„Das hört sich aber nicht so an, Schätzchen! Du kannst mir alles erzählen, ich bin für dich da!“
„Ich… also ich… Das Problem ist, dass…“ Dann viel mir etwas Gutes ein und ich sagte: „Ich hab meine Tage bekommen!“
Jim riss die Augen auf und ich schüttelte schnell den Kopf um zu zeigen, dass ich log.
„Was? In den Flitterwochen? Das ist ja schrecklich! Aber immerhin besser, als wenn sie ausbleiben, nicht wahr?“ Sie lachte hell auf und irgendwie fand ich es süß von ihr, dass sie sich so um mich sorgte.
„Ja, besser als schwanger zu sein ist es auf jeden Fall.“ Ich grinste und es war gar nicht gespielt. „Hör mal, ich muss auflegen, aber wir sprechen uns bald mal wieder, ja?“
„Natürlich, Mara! Mach’s gut!“
„Ciao.“ Ich legte auf und gab Jim das Telefon zurück.
Dann begann ich zu frühstücken, ohne ihn groß zu beachten.
„Also wegen gestern…“
Ich sah auf und er hörte auf zu sprechen.
„Vergessen wir das einfach, okay? Das Letzte was ich will, ist daran erinnert zu werden, wie beschissen meine Eltern sind.“ Ich war überrascht wie locker mir das über die Lippen kam.
„Ja gut, aber das hab ich gar nicht gemeint.“
„Sondern?“
„Ich habe dich nicht… betrogen. Ich hatte es echt vor, aber dann erschien es mir… falsch.“
Ich sah ihn perplex an und die Freude und die Abscheu über die Freude, die ich empfand, wirbelten durch mich hindurch. Nach außen hin ließ ich mir nichts anmerken.
„Ich wollte nur, dass du das weißt“, meinte Jim leise und begann sein Geschirr abzuräumen.
Als er die Küche verließ sprang ich auf und lief ihm hinterher.
„Warte, Jim!“ Ich stellte mich vor ihn und mir fiel auf wie viel größer er als ich war… und älter. „Ich… Danke, dass du’s mir gesagt hast.“
Gott, wie peinlich war das eigentlich?
Jim grinste und zog mich an sich.
„Ich darf dich wahrscheinlich trotzdem nicht küssen, stimmt’s?“
„Du bist schlauer, als du aussiehst“, meinte ich und grinste zurück.
„Ich krieg dich noch rum, du brauchst dir gar nichts einbilden.“
„Sicher doch, mein Schatz“, sagte ich sarkastisch und ging zurück in die Küche.
Wollte Jim etwas von mir oder war er nur allgemein unterfordert? Langweilte ich ihn? Und warum kümmerte mich das etwas?
Nachdem ich ein paar Dinge im Haushalt erledigt hatte – aus purem Eigennutz versteht sich – setzte ich mich wieder in meinen Sessel und las Winnetou weiter.
Nach einer Weile tauchte ein nur mit dunklen Jeans bekleideter Jim in meinem Blickfeld auf. Seine schwarzen Haare waren nass und ich war mir mal wieder sicher, dass er viel zu alt und reif – wenn auch nur auf eine bestimmte Art und Weise – für mich war.
„Du weißt nicht zufälliger Weise wo ich mein grünes Hemd gelassen habe?“
„Warum zur Hölle sollte ich das wissen?“, schnaubte ich und versuchte ihn nicht anzustarren. Oh verdammt, er war so…
„Ja stimmt.“ Er sah sich suchend im Wohnzimmer um und drehte mir seinen Rücken zu. Auch nicht schlecht… Halt, stopp ich war hier nicht im Freibad wo ich regelmäßig heiße Typen angaffte, sondern bei meinem Ehemann. Den ich nicht mochte.
Jim drehte sich um und sah meinen Gesichtsausdruck.
„Darf ich gemein sein?“, fragte er grinsend.
„Nein, bitte nicht.“ Ich biss mir auf die Unterlippe als er näher kam. Er nahm mir das Buch aus den Händen und legte es weg. Dann hob er mich kurz hoch und setzte sich unter mich, sodass ich in seinem Armen seitlich auf seinem Schoß saß.
Ich gab einen unbestimmten Laut von mir und er legte eine Hand in meinen Nacken um mich näher zu ziehen.
„Hör auf, das ist voll uncool“, presste ich hervor und versuchte ihm zu entkommen. Tropfen lösten sich von seinen Haaren und vielen auf mein Oberteil. „Du machst mich nass.“
Seine Augen funkelten und ich schlug mir die Hände auf den Mund.
„Nein! Nein, ich habe gemeint, weil… Ich meinte wegen deinen Haaren und nicht… weil ich nicht, also…“
„Ich weiß was du gemeint hast, Süße“, meinte Jim grinsend und es sah so aus als würde er einen Lachanfall unterdrücken. „Wie kann man nur so schüchtern sein wie du?“
„Ich bin nicht schüchtern.“ Mann, der hatte so tolle Augen und...
„In solchen Sachen schon. Kann es sein, dass du noch Jungfrau bist?“
„Was heißt da noch? Ich bin erst 17.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte klar im Kopf zu bleiben.
„Gott, ist das süß“, kicherte Jim.
„Ist es nicht. Lass mich los. Geh weg.“
„Wie heißt das Zauberwort?“, schnurrte er belustigt.
„Sonst mache ich dich zeugungsunfähig.“
Er sah mich überrascht an, dann lachte er los.
„Ich weiß wie das geht, ich hab mal einem Tierarzt bei einer Hundekastration zugesehen!“
„Hölle, warum das denn?“
„Ich wollte mal Tierärztin werden. Jetzt aber nicht mehr.“
„Dir ist klar, dass du mich da unten anfassen müsstest um mich zu kastrieren? Und das traust du dich nicht.“ Jim grinste mich so provozierend an, dass ich einen ganz trockenen Mund bekam.
„Doch.“
„Beweis es.“ Er funkelte mich abwartend an und ich starrte perplex zurück.
Mein Hirn setzte aus und ich rutschte etwas von Jim weg, öffnete mit einer schnellen Bewegung seine Jeans und griff hinein. Jim riss die Augen auf und zuckte zusammen und ich versuchte nicht darüber nachzudenken, wie es sich angefühlt hatte, sprang auf, nahm mein Buch und ging ins Schlafzimmer.
Heilige Scheiße, hatte ich gerade tatsächlich sein… Ding in der Hand gehabt? Ich war von allen guten Geistern verlassen. Verdammt war das peinlich! Aber ich durfte ihm auf keinen Fall zeigen, dass es mir peinlich war, dann würde er mich nur auslachen. Wenn ich so tat als ob es keine große Sache für mich wäre, dann wäre er einfach nur verwirrt oder so. Genau. Okay.
Ich setzte mich aufs Bett und versuchte mich auf mein Buch zu konzentrieren, doch da räusperte sich jemand in der Tür.
„Was?“, murmelte ich und starrte auf die Buchstaben, die keinen Sinn ergaben.
„Hast du das grade echt gemacht?“
„Was genau meinst du?“, fragte ich ruhig und sah ihn an.
Sein Hosenladen war wieder zu, aber obenrum hatte er immer noch nichts an. Mit verschränkten Armen lehnte er im Türrahmen und sah mich belustigt aber auch etwas nachdenklich an.
„Du würdest mich umbringen, wenn ich das bei dir gemacht hätte“, stellte er mit schiefem Grinsen fest.
Ich dachte kurz nach, dann stellte ich klar: „Du hast es mir erlaubt. Und ich hoffe doch schwer, dass ich niemals so geistig verwirrt sein werde, um dich zu so was aufzufordern.“
„Dann bleibst du aber für immer eine Jungfrau“, meinte er theatralisch und setzte sich neben mich.
„Ach was. Du wirst früh sterben und dann kann ich machen was ich will.“
„Ist das eine Morddrohung?“
„Nö, nur ne Feststellung.“
Er stand kopfschüttelnd auf und holte ein Hemd aus dem Schrank. Er schlüpfte hinein und ich beobachtete wie er es zuknöpfte. Wie konnte man nur so sexy sein? Ja, toll, ich gab es zu, vor mir stad der heißeste Mann der Welt und ich war mit ihm verheiratet. Aber er war so viel älter als ich…
„Du starrst mich an“, stellte er fest.
„Danke für den Hinweis. Allein wär ich da nie drauf gekommen.“
„Dann gibst du jetzt zu, dass du voll auf mich stehst?“
„Nein. Weißt du, das ist wie mit Brad Pit. Der ist in „Troja“ als Achill so unglaublich zum Sabbern, dass ich, immer wenn ich den Film anschaue, die Augen nicht abwenden kann, aber wenn der Film dann aus ist, dann denk ich wieder an andere Sachen, wie zum Beispiel Hausaufgaben und… Ach übrigens, du kannst froh sein, dass ich schon mit der Schule fertig bin! Vor zwei Monaten war ich noch voll im Prüfungsstress!“
„Ja… Worauf wolltest du grad raus?“
„Ach so ja, also wenn ich dich sehe, dann denke ich schon, dass du heiß bist, aber wenn ich dich dann nicht mehr sehe, dann denke ich gar nicht an dich. Ich stehe also nicht auf dich, ich finde nur, dass du gut aussiehst.“ Ich nickte zufrieden und Jim verdreht die Augen.
„Ist okay. Ich muss jetzt weg, aber ich bin in ein paar Stunden wieder da. Und weil du höchstwahrscheinlich abhauen willst…“ Er holte die Handschellen aus dem Nachttischchen hervor, und ich machte einen Satz von ihm weg.
„Nein! Nein, du kettest mich nicht nochmal an dieses dumme Bett! Überleg mal es brennt oder da kommen Verbrecher – noch schlimmere als du mein ich – und die wollen mich umbringen oder so!“ Ein Kichern entschlüpfte meinem Mund, als Jim die Augen verdrehte.
„Du bist heute viel gesprächiger als sonst.“
„Du weißt doch gar nicht wie ich sonst bin. Bitte, du kannst doch einfach alles abschließen, dann kann ich auch nicht weg.“ Ich wich noch weiter zurück.
„Und dann wirst du mir eine Scheibe ein? Sicher nicht.“ Er fing mich ohne Mühe ein und schnappte sich meine Hände.
„Bitte, ich mach alles was du willst!“ Ich klimperte mit den Augen und Jim hielt inne.
„Alles?“
„Naja, fast alles.“ Ich biss mir auf die Lippe und sah ihn hoffnungsvoll an.
„Hör auf damit, wenn ich dich doch mal küsse, sollten deine Lippen nicht so zerfleischt sein.“
„Ist das das, was ich machen soll, oder willst du das allgemein?“
„Allgemein.“
Ich machte einen Schmollmund, beschloss aber wirklich damit aufzuhören. Sonst würde das noch zur Zwangsneurose.
„Also… Ich kette dich nicht an, wenn…“ Er legte nachdenklich den Kopf schief und musterte mich. „Ich schätze, ich kann dich nicht zu irgendwas Erotischem überreden?“
Ich schüttelte den Kopf und er überlegte weiter.
„Ich krieg ab sofort jeden Tag einen Kuss von dir?“
„Du kriegst jetzt einen und eine Ohrfeige, wenn du mich danach noch mal küsst?“
„Einverstanden. Und du trägst dass hier.“ Er zog einen schmalen Metallreif aus der Hosentasche und legte ihn mir ums Handgelenk. Es klickte leise und dann saß er fest. Ich sah ein kleines Schloss daran und wusste, dass ich ihn nicht selbstständig ausziehen konnte.
„Es ist ein Peilsender“, erklärte Jim stolz und ich hob eine Augenbraue.
„Dann kriegst du aber keinen Kuss.“
„Den Sender hätte ich dir so oder so gegeben, den Kuss krieg ich, damit ich dich nicht ankette.“
„Du bist ein Kontrollfreak.“ Ich sah ihn unsicher an und er zog mich an sich.
„Damit komm ich klar“, meinte er leise und seine Lippe kamen näher.
„Halt, warte! Woher weiß ich, dass du mich dann nicht doch anbindest? Du kriegst den Kuss wenn du wieder da bist.“
Er seufzte und sah auf die Uhr.
„Ich hab keine Zeit um noch länger zu diskutieren. Bis später.“
Und dann war er auch schon weg und ich ließ mich wieder aufs Bett sinken. Mein Herz raste. Ich hatte ihn nicht küssen können. Warum konnte ich ihm in die Hose fassen und ihn zu küssen überforderte mich?
Ich las weiter und nach einiger Zeit war Jim tatsächlich aus meinem Kopf verschwunden.
Es war draußen schon dunkel als ich wieder aufsah. Ich sah aus dem Fenster, aber da war nichts als Dunkelheit. Ich trat näher an die Scheibe und machte schreiend einen Satz davon weg, als ich eine Silhouette erkannte. Blitzschnell löschte ich das Licht im Zimmer und starrte nach draußen. Da war eindeutig jemand! Da schlich jemand ums Haus rum. Einbrecher. Panisch rannte ich durch alle Zimmer, löschte das Licht und kontrollierte ob überall abgeschlossen war. Verdammt, was jetzt? Ich suchte hektisch nach einem Telefon, aber da war nirgends eins.
Im Nachttisch! Ich schlich ins Schlafzimmer zurück, fischte das Handy und ein Ladekabel aus der Schublade und ging schnell wieder in den Flur. Der Akku war leer, wie ich es in Erinnerung hatte, aber als ich es in die Steckdose einstöpselte leuchtete Gott sei Dank das Display auf. Ich blätterte mit zittrigen Fingern durch die Kontaktliste. Jims Handy, da war die Nummer.
Ich drückte den grünen Hörer und presste das Telefon an mein Ohr.
„Ja, hallo?“, meldete sich Jim höflich.
„Jim?“, wisperte ich.
„Mara?“ Es hörte sich skeptisch an. „Was ist los?“
„Hier ist wer“, flüsterte ich und drückte mich gegen die Wand. „Irgendwelche Leute schleichen da ums Haus rum.“
„Was?! Ist überall abgeschlossen?“
„Ja natürlich, ich bin doch nicht blöd!“, zischte ich. „Kommst du jetzt bitte?!“
„Ja, ja, keine Angst, ich bin auf dem Weg.“ Ich hörte eine Autotür zuschlagen. „Wo genau bist du jetzt?“
„Im Flur.“
„Okay, du gehst jetzt in den Keller…“
„Wir haben einen Keller?“
„Ja. Die Tür neben dem Bad.“
„Aber die ist abgeschlossen.“
„Der Schlüssel ist in der Küche. Du holst jetzt den Schlüssel, gehst in den Keller und schließt ab! Und du bleibst da drin, bis ich komme, klar?“
„Okay.“ Die Verbindung brach ab und ich schlich geduckt in die Küche.
Wo zur Hölle war jetzt der dumme Schlüssel. Ich kauerte mich auf den Boden und schielte auf die Arbeitsfläche. Da! Direkt unter dem Fenster, auf dem Sims lag er. Na super. Adrenalin pumpte durch meine Adern und ich ballte die Hände fest zusammen. Dann stand ich todesmutig auf und ging zum Fenster. Ich packte den Schlüssel und sah hinaus. Direkt vor mir, hinter der Scheibe erschien ein Mann und ich rannte schreiend aus der Küche.
Oh Gott, oh Gott. Ich schloss hastig mit zitternden Fingern die Kellertür auf, huschte hindurch und schloss sie wieder ab. Hier war es stockfinster. Ich tastete an den staubigen Wänden neben der Tür nach einem Lichtschalter, aber da war keiner.
Schon als kleines Kind hatte ich Angst im Dunkeln gehabt, die Einbrecher neben an machten das nicht besser. Ich machte einen Schritt nach vorne und konnte mich gerade rechtzeitig noch an ein Geländer klammern, sonst wäre ich eine Treppe hinter gefallen.
„Okay, ganz ruhig“, flüsterte ich. Vorsichtig tastete ich mich die Treppe hinunter. Unten angekommen ließ ich mich auf alle viere nieder und fuhr mit den Fingern über den dreckigen Boden. Meine Finger schlossen sich um genau das, was ich gesucht hatte. Ich schaltete die Taschenlampe ein und ein schwacher gelblicher Lichtstrahl leuchtete auf. Vor mir lag ein kleiner, fensterloser Raum voller alter Möbel und Weinregalen. Ich krabbelte zu den Weinregalen und versteckte mich dahinter. Ich fuhr mir übers Gesicht und verschmierte den Dreck darüber.
„Verdammt“, zischte ich und zog die Beine an.
Die Taschenlampe flackerte und ich leuchtete schnell in dem Raum umher um mir ein Bild von meiner Umgebung zu machen, bevor die Batterien leer waren.
Die Treppe, die zur Tür führte, die zwei Meter über dem Boden war, hatte flache Stufen und ein rostiges Geländer. Die Decke des Raums war schräg und der Boden unglaublich dreckig. Nichts im Vergleich zu der fast peinlich sauberen Wohnung oben.
Ich bereute es unglaublich, dass ich das Handy nicht mitgenommen hatte. Obwohl es hier wahrscheinlich keine Steckdosen gab…
Die Taschenlampe flackerte erneut auf, dann erlosch sie. Wer legte so ein dummes Ding in den Keller? Ich hatte nirgends Ersatz gesehen, aber ich traute mich sowieso nicht mich zu bewegen. Ich ließ den Kopf auf die Knie sinken und versuchte ruhig zu bleiben.
Ich zählte leise vor mich hin um mich zu beruhigen, aber ich verhaspelte mich so oft, dass ich nur noch hysterischer wurde. Wie viel Zeit war schon vergangen? Wo blieb Jim denn nur?
Ich hörte Glas splittern und schwere Schritte oben. Wimmernd presste ich mir die Hände aufs Gesicht. Die Panik machte mir das Atmen schwer und ich biss mir auf die Finger um nicht laut zu schreien. Die Anspannung war fast greifbar und Angsttränen rannen mir über die Wangen.
Jetzt hämmerte jemand gegen die Tür und rief etwas, doch ich verstand es nicht. Ich schluchzte verzweifelt und hielt dann den Atem an, als die Tür aufsprang und jemand die Treppe runterkam.
Oh Gott, oh Gott. Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten betete ich wieder und kniff fest die Augen zu. Dann schlossen sich starke Arme um mich und ich begann zu schreien.
„Ganz ruhig, meine Kleine, ich bin’s.“ Er hob mich hoch, aber schluchzte ängstlich weiter und konnte mich nicht bewegen oder die Augen öffnen. Jim trug mich nach oben ins hell erleuchtete Wohnzimmer. Ich hörte Stimmen. Polizei… Ein Krankenwagen.
„Beruhig dich, du bist in Sicherheit“, flüsterte Jim mir zu und streichelte mir sanft den Rücken und ich schaffte es die Augen zu öffnen.
Wir saßen auf der Couch, ein Polizist stand vor uns und machte sich auf einem Block Notizen.
„Wie es aussieht haben wir dank Ihnen soeben ein bekanntes Einbrechertrio geschnappt“, erklärte der Polizist.
„Nichts zu danken“, knurrte Jim.
„Nun, ich verstehe, die Umstände sind sehr bedauerlich, aber…“
„Herr Kommissar, die Dame hat einen Schock, wir müssen sie untersuchen.“
Ein Sanitäter trat vor und Jim setzte mich so auf seinen Schoß, dass der Typ mir in die Augen leuchten und meinen Puls messen konnte.
„Tja“, fuhr der Polizist fort. „Auch die Täter war eine Belohnung ausgesetzt und da Sie geholfen haben…“
„Meine Frau ist verängstigt und unsere Flitterwochen sind auf eine nicht gerade schöne Weise unterbrochen worden. Wir verzichten auf die Belohnung“, fauchte Jim genervt.
„Gut, dann… sollte Ihre Frau nur schnell ihre Aussage machen und dann sind wir auch schon wieder weg.“
„Sie steht nur unter einem leichten Schock“, stellte der Sani fest und packte sein Zeug ein.
Leichter Schock? Die Worte drangen durch eine Wand von Watte zu mir durch.
Der Kommissar stellte mir ein paar Fragen und ich beantwortete sie mechanisch. Nur als ich meinen ganzen Namen sagen musste, stockte ich kurz. Tamara Brook gab es nicht mehr, ich war jetzt Tamara Wolve. Wie sich das anhörte.
Ich erfuhr, dass Jim kurz vor der Polizei hier gewesen war und die Einbrecher bewusstlos geschlagen hatte, aus reiner Notwehr natürlich. Wahrscheinlich hatte er einen auf Chuck Norris gemacht und sie in die Hölle geroundhousekickt. Ich konnte mir tatsächlich vorstellen, dass er dazu in der Lage war. Obwohl es schon ein bisschen merkwürdig war, dass er selbst nichts abgekriegt hatte.
Der Kommissar verabschiedete sich schließlich und wir waren wieder allein.
Ich saß noch immer auf Jims Schoß und er wiegte mich sanft hin und her.
„Ist alles okay?“, fragt er mich leise.
„Ja. Können wir hier weggehen?“
„Klar, wir ziehen vorerst mal in ein Hotel. Warte hier, ich pack schnell ein paar Sachen zusammen, ja?“
„Lass mich nicht allein!“ Ich klammerte mich an ihn und er trug mich ins Schlafzimmer, wo ich ihm beim Packen zusehen konnte.
Er schmiss einige Klamotten und Kleinkram in eine Reisetasche und einen Koffer. Dann trug er mich ins Bad und setzte mich auf den Rand der Badewanne.
„Du bist total staubig, weißt du das?“, fragte er leise und ich ließ zu, dass er mir wie einem kleinen Kind den Pullover auszog. Er war so ritterlich und gab keinen Kommentar zu meinem BH oder sonst etwas ab, sondern wusch mir nur mit einem Waschlappen Hände und Gesicht. Ich fühlte mich so hilflos und war ziemlich froh, dass er da war. Mein Retter in der Not. Wie ironisch das in Bezug auf Jim klang.
Er nahm mir den Peilsender ab und gab mir ein frisches Oberteil und nachdem ich es angezogen hatte, kämmte er mir sogar noch die Haare.
„Jetzt siehst du schon mal viel besser aus.“ Er lächelte mich vorsichtig an, dann gingen wir zum Auto und fuhren los.
Ich saß mit angezogenen Beinen auf dem Sitz und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Straße.
Jim warf mir immer wieder unsichere Blicke zu. Plötzlich schlug er wütend auf das Lenkrad und ich schrie erschrocken auf.
„Tut mir leid, Mara. Ich bin nur so… wütend auf diese Typen. Du bist noch so jung und … ich hasse es, dich so ängstlich zusehen.“
Ich sagte nichts und sah ihn nur an. Ihm zu liebe schaffte ich es tatsächlich die größte Anspannung abzuschütteln.
„Ich bin überhaupt nicht so jung, du bist nur so alt“, meinte ich und meine Stimme klang überraschend ruhig.
„Du bist noch nicht mal volljährig. Und ich bin nicht alt.“
„Jaja, schon recht Schätzchen.“ Ich lachte zittrig und kurz darauf hielten wir vor einem Hotel. Wir stiegen aus und holten das Gepäck aus dem Kofferraum. Ich ließ es mir nicht nehmen die Reisetasche selber zu tragen und Jim ließ einen Pagen das Auto parken.
An der Rezeption hatte er uns schnell ein Zimmer besorgt und darüber war ich ziemlich froh, da ich sehr erschöpft war.
Im Aufzug lehnte ich mich an Jim und er lachte leise.
„Ich dachte, du bist nur anhänglich, wenn du grade geschlafen hast und nicht, wenn kurz davor bist einzupennen.“
„Fühl dich doch einfach geehrt. Danke übrigens. Dass du gerade so nett bist.“
„Ich bin immer nett“, behauptete er großspurig und ich lachte.
Der Aufzug hielt und wir stiegen aus. Jim schloss eine Tür auf und wir betraten die Ein-Raum-Suite. Es gab eine Sofaecke, gegenüber führte eine Tür in ein Bad, das schon von hier aus groß aussah und in der anderen Ecke stand ein herzförmiges Doppelbett. Jetzt fiel mir auch auf, dass alles in Rottönen gehalten war und unendlich kitschig aussah.
„Ihhh bäh, Jim, was ist das?“
„Die Honey Moon Suite“, kicherte Jim. „Tut mir leid, die hatten nichts anderes.“
„Bestimmt hatten sie das, du willst mich nur ärgern.“
„Sicher…“
Jim verschwand im Bad und ich zog mir schnell ein Nachthemd an, das nicht so aufreizend wie das Negligee war, aber auch nicht gerade langweilig. Woher hatte Jim so ein Zeug?
Ich legte mich in das schreckliche Bett und schloss die Augen. Nach einer Weile legte Jim sich neben mich. Ich war nicht wirklich überrascht als er mich an sich zog, trotzdem seufzte ich genervt. Ich drehte mich um, damit ich ihn sehen konnte, da fiel mir etwas ein.
Ich legte eine Hand auf seine Schulter und bevor er irgendwie reagieren konnte, küsste ich ihn. Und ich hörte auch schon wieder auf bevor er den Kuss erwidern konnte, weil ich mir sicher war, dass ich dann nicht mehr selbstständig aufhören konnte.
„Was…?“, fragte Jim perplex und ich lachte leise.
„Bild dir nichts darauf ein. Ich hatte dir doch einen Kuss versprochen, weißt du nicht mehr?“
„Ach so.“ Obwohl es dunkel war, konnte ich sehen, dass er mich anstarrte. Und dann rollte er sich ohne Vorwarnung auf mich und küsste mich heftig. Seine weichen Lippen pressten sich auf meine und raubten mir jeglichen Verstand. Als er aufhörte schnappte ich nach Luft und gab ihm eine kräftige Ohrfeige.
Er grinste und raunte mir ins Ohr: „Das war es so was von wert.“
Mein Herz raste und auch als er wieder von mir runter war und mich in einer lockeren Umarmung an sich zog, brachte ich noch keinen Ton heraus.
Unser erster Kuss war auf der Hochzeit gewesen und außerdem auch mein allererster Kuss. Keine Ahnung wie ich es hinbekommen hatte die Jungs so abzuschrecken, jedenfalls hatte ich außer Jim noch nie jemand geküsst und selbst wenn man den gespielten auf der Hochzeit nicht mitzählte und den, den ich ihm gegeben hatte auch nicht, DAS eben, das war auch jeden Fall ein waschechter Kuss gewesen.
„Jim?“, wisperte ich, doch er antwortete nicht und an dem regelmäßigen Atem den ich im Nacken spürte, erkannte ich, dass er schon schlief.
Wie konnte er einfach so einschlafen? War der schon total abgehärtet und ich unreifes Ding lag jetzt hier, total aufgewühlt mit einer schlaflosen Nacht vor mir?
Ich war tatsächlich erst sehr spät ins Land der Träume geglitten und hatte auch nicht wirklich tief geschlafen. Als ich aufwachte, lag ich halb auf Jim und ich stellte fest, dass ich nichts dagegen hätte, in der nächsten Zeit immer so aufzuwachen.
Ich bewegte mich ein bisschen hin und her, bis ich noch bequemer lag, dann schmiegte ich mein Gesicht an seine warme Haut und dachte an nichts…
„Bist du wach?“, fragte Jim leise und strich über meinen Rücken.
„Mh“, machte ich.
„Bist du gewillt demnächst aufzustehen?“
„Sollte nicht der Mann der Langschläfer sein und die Frau ihn aus dem Bett scheuchen?“, nuschelte ich und meine Lippen streiften beim Sprechen seine Haut.
„Ich bin chronischer Frühaufsteher.“
„Dann hast du jetzt ein Problem.“ Ich rutschte ein Stück hoch und schmiegte mein Gesicht in seine Halsbeuge. „Du bist viel zu bequem, als dass ich jetzt aufstehen würde.“
„Mhmm. Aber mögen tust du mich trotzdem nicht, was?“
„Kopfkissen sind bequem, trotzdem mach ich ihnen kein Liebesgeständnis. Obwohl ich das eher machen würde, als bei dir.“
„Autsch, jetzt hast du meine Gefühle verletzt.“
„Wie alt bist du noch mal? Du benimmst dich wie ein Teenager.“
Er lachte und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Sind unsere… Flitterwochen jetzt eigentlich zu Ende? Was machen wir wenn sie vorbei sind?“
„Tja, also ich dachte du willst unser neues Zuhause vielleicht mit aussuchen, deshalb hab ich ein paar Adressen, die wir uns anschauen können. Das was uns am besten gefällt nehmen wir und dann… ich schätze, dann leben wir einfach unser Leben.“
„Du meinst, du lebst dein Leben und ich kann mitmachen, wenn ich brav bin?“
„Du bist für dein Alter echt zynisch.“
„Du tust immer so, als wär ich ein Kleinkind!“ War ich ja auch irgendwie.
„Und du zeigst nie Respekt vor mir. Junges Fräulein, ich bin immerhin acht Jahre älter.“
„Ihhh beton das nicht auch noch so, ich komm mir vor wie eine Schlampe.“ Jetzt fühlte es sich wirklich seltsam an, so mit ihm da zu liegen und ich setzte ich auf. Angucken konnte man ja auch. Und Jim guckte ich echt gern an.
„Wieso das denn?“, fragte Jim und strich sich durch die Haare.
„Also, fassen wir mal zusammen: Ich bin mit einem viel älteren Typen verheiratet, den ich kaum kenne und dann auch noch unter Zwang. Und obwohl ich dich kaum kenne liege ich mit dir im Bett und tu so als wäre das ganz normal. Ich meine, solange ich nicht darüber nachdenke ist es ja okay, aber… Ich hatte in meinem letzten Schuljahr einen Lehrer, der war so alt wie du. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich glaube schon. Dein einziges Problem ist also, dass ich älter bin als du?“
„Und dass ich dich nicht kenne, und dass ich dich nicht freiwillig geheiratet habe.“
Er ignorierte was ich gesagt hatte und fuhr grinsend fort. „Ich gehe also mal davon aus, dass du nicht zu den Frauen gehörst, die auf ältere Typen stehen?“
„Eben. Und ich versteh auch nicht, warum dir das nichts ausmacht. Ich mein, wir haben fast den gleichen Abstand wie mein Bruder und ich. Es liegen Welten zwischen unseren… Charakter-Dingern. Ich mein, wenn wir schon über 40 wären, dann wäre das ja voll okay, aber so?“
„Zwischen deinem Bruder und dir liegt die komplette Pubertät. Zwischen uns liegt nur ein bisschen Lebenserfahrung. Außerdem, ich hab nie gesagt, dass es mich nicht stört.“
Ich stieß Luft aus und sah ihn erschöpft an.
„Man merkt dir jedenfalls nichts an.“
„Aber du weißt doch gar nicht wie ich zu Frauen in meinem Alter bin.“
Obwohl wir uns ganz normal unterhielten tat mir dieser Satz weh. Na gut, er tat nicht weh, aber es fühlte sich nicht gut an. Fand er mich denn gar nicht attraktiv? Ich verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. Irgendwie wünschte ich mir, dass er das eben nicht gesagt hätte. Jetzt kam ich mir richtig kindisch vor. Er hatte mich schließlich auch nicht wirklich freiwillig geheiratet und nur weil er derjenige war, der den Ton angab, hieß das ja nicht, dass er zufrieden war.
„Tut mir leid“, meinte ich zerknirscht.
„Was? Nein, du musst dich doch für nichts entschuldigen.“
„Doch… Ich nerv dich bestimmt total, du machst das hier ja auch nicht freiwillig.“
„Aber trotzdem freiwilliger als du. Und du nervst mich nicht.“
Okay, das Gespräch wurde nicht angenehmer.
„Worüber haben wir gerade eigentlich geredet?“, fragte ich.
„Über Wohnungen.“
„Ach ja.“ Ich lies mich wieder in die Kissen sinken. Die Unterhaltung hatte mich angestrengt und ich war immer noch total müde.
„Komm her“, brummte Jim mitleidig und zog mich wieder an sich, um mich fest zu umarmen.
„Hast du so ein Teddy-Syndrom? Dass du immer irgendwas zum Kuscheln brauchst.“
Er lachte und ich schmiegte mich an ihn. Jetzt war es doch nicht mehr unangenehm. Ich hasste es mich unwohl zu fühlen. Und außerdem war Jim ziemlich nett. Wenn ich meinem jetzigen Leben die Chance gab angenehm zu sein, hieß das ja auch nicht, dass ich mich für immer damit zufrieden geben würde. Ich musste mir nur erst mal über meine Alternativen klar werden. Außerdem wollte ich mit meinem alten Leben abschließen. Ich wollte nicht, dass meinen Eltern oder Timmy etwas geschah, aber ich wollte auch nicht wieder zu ihnen zurück. Dieser Teil meines Lebens war wohl vorbei.
„An was denkst du?“, fragte Jim.
„An nichts. Was für Wohnungen hast du denn rausgesucht?“
„Also, ich weiß nicht. Bist du eher der Stadt Typ oder der ländliche?“
„Ich weiß nicht. Irgendwas zwischen drin vielleicht.“
„Dann hätte ich was in einem Vorort und was in der City.“
„Arbeitest du in London?“
„Ja. Da ist der Firmensitz von meinem Vater.“
„Ist der nicht Arzt?“, fragte ich verwirrt.
„Nein, er hatte nur mal… so eine Heilpraktiker-Phase.“
„Ach so. Ich kann deinen Vater nicht leiden.“
„Du kennst ihn doch kaum.“
„Aber das was ich über ihn weiß ist nicht so toll. Als was arbeitest du denn? Was ist das für eine Firma?“
„Wir organisieren Sportevents und wir sponsern Vereine… So ein Zeug eben. Ich arbeite im Management, aber in ein paar Jahren werde ich wohl Junior Chef.“
„Bäh, das hört sich spießig an“, lachte ich. „Darf ich auch arbeiten gehen?“, fragte ich dann vorsichtig.
„Klar. Aber noch nicht jetzt, wir müssen noch so viel organisieren. Weißt du schon, was du machen willst?“
„Eigentlich nicht. Meine Eltern wollten das ich Jura studiere wie mein Vater, aber… das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wäre gerne Künstlerin… Liegen wir jetzt eigentlich nur hier rum oder machen wir noch was?“
„Im Bett?“ Er grinste und ich schlug nach seinem Gesicht, traf aber nur das Kissen.
„Nein, außerhalb des Bettes.“
„Wo denn dann? Auf dem Boden oder was?“
„Du bist ein perverser Idiot.“
„So ist es.“
Die erste Wohnung, die wir uns ansahen, fand ich schrecklich. Sie war im ersten Stock eines großen Mehrfamilienhauses und war so extrem Familien zum Ziel gerichtet, dass sie mich total abschreckte.
Als wir wieder im Auto saßen schüttelte ich mich angeekelt.
„Ich will niemals Kinder haben!“
„Warum nicht?“, fragte Jim überrascht.
„Weil… die Vorstellung jagt mir total Angst ein. Da hast du neun Monate lang so ein lebendiges Godzilla in dir drin und kannst nicht davor weglaufen und musst so wahnsinnig viel beachten. Und dann musst du es durch deine Vagina an die frische Luft befördern und wenn ich überlege, dass es schon weh tut einen Tampon, der noch nicht voll ist, da rauszuholen, dann will ich mir das erst gar nicht mit einem Kind vorstellen. Und dann trägst du so wahnsinnig viel Verantwortung und überhaupt kann ich Kinder nicht leiden.“
„Ich find es wahnsinnig, wie viel du manchmal reden kannst.“ Er lachte und bog in eine andere Straße ein. Die Häuser hier waren höher und es wirkte etwas anonymer.
„Willst du denn Kinder haben?“
„Klar. In ein paar Jahren… Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als eine richtige Familie.“
Wir erwähnten nicht, ob wir in unseren Vorstellungen da noch zusammen waren oder wie es wäre, mit dem anderen Kinder zu haben. Dafür waren wir noch nicht bereit, das spürte ich.
Wir fuhren nur noch zehn Minuten, dann parkte Jim.
„So, da wären wir, Wohnung Nummer 2.“
Wir stiegen aus. Die junge Maklerin erwartete uns schon. Sie trug ein enges schwarzes Kostüm und ihre Bluse war weiter aufgeknöpft als nötig. Ich mochte sie von Anfang an nicht, vor allem weil sie Jim mit ihren Blicken auszog.
„Folgen Sie mir bitte“, flötete sie und wir betraten den Aufzug.
Sie zählte beim Hochfahren die ganzen Vorteile der Wohnung auf. Sie war groß und man hatte eine tolle Aussicht – während sie das sagte zupfte sie ihre Bluse noch weiter nach unten – man genoss trotz vielen Nachbarn Privatsphäre und Anonymität und weiß der Himmel was noch.
Die Wohnung gefiel mir tatsächlich sehr gut. Die Zimmer waren groß, es gab ein Wohn- und Esszimmer, an das eine offene Küche mit Edelstahlverkleidung anschloss, außerdem gab es ein Schlafzimmer, zwei Arbeitszimmer und ein Gästezimmer. Ein großes Bad und ein kleines.
„Das ist doch gar nicht schlecht, oder?“, fragte ich Jim und er nickte leicht.
„Haben Sie Haustiere?“, fragte die Maklerin und Jim nickte.
„Einen Hund.“
Ich sah ihn überrascht an. Das hatte ich gar nicht gewusst.
„Und haben Sie vor in der nächsten Zeit eine Familie zu gründen?“
Sie sprach ausschließlich mit Jim und als sie ihm jetzt auch noch einen Augenaufschlag schenkte reichte es mir. Ich war nicht eifersüchtig, nein, es kotzte mich einfach nur an, wie sie mich und die Tatsache, dass wir verheiratet waren, ignorierte.
„Sie sollen die Wohnung verkaufen und nicht Ihren Körper, Bitch“, fauchte ich und Jim biss sich auf die Lippen um nicht zu grinsen.
Die Maklerin sah mich fassungslos an.
„Wie bitte?“, stammelte sie.
„Nein, wir haben nicht vor in nächster Zeit Kinder zu kriegen. Ja, er ist schon verheiratet und zwar mit mir.“ Wir lieferten uns ein Blickduell, das ich mit meinem Killer-Blick gewann.
Ab da sagte sie kaum noch etwas und wenn doch, sah sie weder mich noch Jim an. Als die Führung zu Ende war, sahen wir es uns noch mal zu zweit an. Die Möbel fehlten noch, aber ich konnte es mir super vorstellen wie es aussehen könnte.
„Wie findest du es?“, fragte ich Jim.
„Klasse. Und du?“
„Echt super. Auf jeden Fall besser als das andere.“
„Ich hatte was Ähnliches nur in kleiner. Aber das hier ist echt gut. Und vor allem haben wir alles in der Nähe und eine Tube Station ist auch fast direkt vor der Tür.“
Mir kam das alles so surreal vor. Wir kannten uns kaum vier Tage, waren verheiratet und jetzt kauften wir eine Wohnung. Das hieß, Jim kaufte sie. Ich wusste gar nicht ob ich eigenes Geld hatte. Oder ob meine persönlichen Sachen noch in meinem Besitz waren.
„Willst du es nehmen?“, fragte Jim mich leise.
Obwohl ich ihn kaum kannte, sah ich ihm an, dass es ihm richtig gut gefiel. Und es war abgeschieden, gleichzeitig in der Stadt. So hatte ich mir meine erste eigene Wohnung vorgestellt. Ich überlegte noch mal genau, obwohl ich meine Antwort schon wusste.
„Ja.“
Wir grinsten gleichzeitig.
Als wir wieder bei der Maklerin waren, beredete Jim mit ihr kurz das Geschäftliche und ich verstand nur so viel, dass die Maklerin im Lauf der nächsten Tage melden würde und dann… Dann hätten wir unsere eigene Wohnung.
Wir aßen in einem schicken Restaurant zu Mittag und ich fühlte mich absolut unwohl. Jim passte hier super rein, aber nicht zusammen mit mir. Schon wieder wurde der Altersunterschied zwischen uns deutlich. Ich wusste nicht warum, doch wenn ich mit Jim alleine war, fühlte es sich gar nicht so schlimm an, aber in der Öffentlichkeit, zusammen mit fremden Menschen, war es irgendwie ein bisschen krank.
Als wir endlich wieder im Auto saßen, waren wir beide ziemlich müde und freuten uns aufs Hotel. Wir redeten kaum, bis Jim sich neben mich auf Sofa fallen ließ, mir die Hotelzeitschrift aus der Hand nahm und dann meine Beine auf seinen Schoß zog.
„Und das wird jetzt was?“, fragte ich und runzelte die Stirn.
„Wann hast du Geburtstag?“
„Hm, wievielter ist heute?“
„24. September.“
„Dann hab ich genau in einem Monat Geburtstag. Und du?“
„6. August.“
„Wow, dann haben wir ja doch nur sieben Jahre und zwei ein halb Monate Altersunterschied“, meinte ich gespielt euphorisch und er verdrehte die Augen.
„Du bist total aufs Alter fixiert.“
„Und du auf… öhm… Sex.“
„Da hast du jetzt zwar Recht, aber wenn ich dir zeigen würde, wie sehr ich darauf fixiert bin, wärst du, glaube ich, nicht mehr in der Lage neben mir zu schlafen.“
Ich stöhnte angeekelt und wollte meine Beine von seinem Schoß nehmen, doch er hielt sie fest und zog mich sogar noch weiter zu sich.
„Warum wehrst du dich immer so? Du bist doch auf mich scharf. Schau mich nicht so an, dass merkt sogar ein Blinder.“
„Ich… Ich würde nicht mal mit dir schlafen, wenn ich mit dich mögen würde.“
„Du magst mich aber. Und du vertraust mir. Sonst hättest du gestern gleich die Polizei angerufen und nicht mich.“
„Ich habe dich angerufen, weil ich der Polizei nicht hätte sagen können wo ich bin“, sagte ich unsicher. In Wahrheit war ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen die Polizei anzurufen. „Und mal rein hypothetisch gesehen, selbst wenn ich dich mag, dir vertraue und finde, dass du gut aussiehst, heißt das nicht, dass ich mit dir schlafen will oder sonst was in die Richtung.“
„Rein hypothetisch: Warum nicht?“ Für ihn schien das alles nur ein Witz zu sein. Für mich war es ernst.
„Weil ich dann genauso gut mit Alex hätte schlafen können, obwohl wir nur Freunde sind. Ich gehöre nicht zu diesen Meine-Vagina-ist-ein-heiliger-Tempel-Tussis oder zu der Ich-will-nur-mit-einem-Mann- in-meinem-Leben-schlafen-Fraktion. Ich will mein erstes Mal einfach mit meinem Freund, den ich liebe und weil du das nicht bist, schlafe ich nicht mit dir.“
„Dann hast du doch einen Freund?“, fragte er misstrauisch.
„Nein, sonst wäre ich ja keine Jungfrau mehr“, stöhnte ich genervt. „Ich hab vor dir noch nicht mal jemanden geküsst.“ Oh, hm, ja, das hatte ich ihm ja nicht sagen wollen.
„Echt nicht?“ Er sah aus, als wisse er nicht, ob er lachen oder fassungslos sein sollte.
„Nein, aber das ist nicht meine Schuld!“
„Sicher nicht. Warum hast du noch nie jemand geküsst?!“
„Ja, da war halt nie jemand an mir interessiert.“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Langsam wurde ich wütend. Nur weil der so ein Frühstarter war, musste das ja nicht jeder sein.
„Das kann ich nicht glauben.“
„Dann geh doch in die Kirche. Penner.“
„Das ist trotzdem unglaublich süß“, kicherte Jim jetzt und ich rollte genervt mit den Augen.
„Nein, ist es nicht“, murmelte ich, lies aber zu, dass er mich ganz auf seinen Schoß zog.
„Jetzt hast du gar keine Vergleichsmöglichkeiten mit mir. Dann weißt du ja gar nicht, wie unglaublich ich bin.“
„Ich weiß auch so, dass du unglaublich doof bist“, meinte ich und sah ihm genervt in die Augen. Was ich besser nicht getan hätte. „Du hast echt tolle Augen.“
„Hast du schon mal gesagt. Trotzdem danke.“ Er zwinkerte mir zu. „Schlägst du mich wieder, wenn ich dich jetzt küsse?“, fragte er vorsichtig.
Warum eigentlich nicht? Warum sollte ich das nicht zulassen? Ich war mit Jim ja auf eine verkorkste Art und Weise zusammen und ich hatte nichts zu verlieren. Außer meiner Ehre natürlich.
„Erwartest du jetzt von mir, dass ich etwas sage?“, fragte ich vorsichtig.
„Nein, das reicht mir schon als Antwort.“ Er zog mich näher du ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.
„Ich mag dich wirklich sehr, Mara. Willst du mit mir zusammen sein?“, flüsterte er gegen meine Lippen und ich schluckte schwer.
„Eigentlich sind wir schon verheiratet.“
„Willst du mit mir zusammen sein, und versuchen mich kennenzulernen? Versuchen, ob es mit uns funktioniert und dem Ganzen eine Chance geben?“
„Und was wenn es nicht funktioniert?“, flüsterte ich ängstlich zurück.
„Dann haben wir es wenigstens versucht.“
„Wie sehr magst du mich denn?“
„Ich weiß nicht. Irgendwas zwischen Freundschaft und ich-will-mit-dir-schlafen schätze ich.“
„Wie wär’s wenn wir einfach so weiter machen wie bisher und versuchen… uns irgendwie näher zu kommen? Ich weiß nicht, ob ich einfach so mit dir zusammen sein kann, aber wir können doch so eine Art Halb-Beziehung haben oder? Dann wird auch niemand verletzt.“ Ich wusste gar nicht, ob ich selbst wusste was ich da redete. Es schien nicht mal Sinn zu machen.
„Meinst du ohne Gefühle?“
„Nein, ich meine… wir lernen uns kennen und so, aber wir sind kein Paar. Ohne Gefühle, aber mit der Möglichkeit jederzeit welche zu entwickeln. Ich rede Blödsinn, oder?“
„Nein, das hört sich sogar fast vernünftig an.“
Wir hatten die ganze Zeit sehr leise geredet, jetzt räusperte er sich und grinste mich an. „Darf ich dich jetzt küssen oder ist das in einer Halb-Beziehung nicht erlaubt?“
„Ich denke es ist okay.“ Und damit war es beschlossene Sache.
Als wir abends im Bett lagen brauchte ich eine Weile, um mich an das neue Gefühl zu gewöhnen, mit Jim irgendwie zusammen sein. Aber nach einer Weile beschloss ich nicht an ein Morgen zu denken und immer das zu tun, was ich gerade wollte. Ich hatte ja sowieso keine Zukunft.
„Ist es schlimm, mit mir verheiratet zu sein?“, fragte ich nach einer Weile.
„Spinnst du?“, lachte er. „Am liebsten würde ich dich zu meinen Freunden mitnehmen und mit dir angeben.“
„Man kann angeben, wenn man mit einer 17jährigen Jungfrau verheiratet ist? Was ist daran cool?“
„Es kommt nicht darauf an was du bist, sondern wie du bist. Außerdem bist du heiß.“
„Ah ja. Aber mal im Ernst. Findest du’s nicht bescheuert, dass dein Vater dich einfach so verheiratet? Ich meine, du bist 25, du kannst doch machen was du willst.“
„Ich verstehe warum mein Vater wollte, dass ich heirate. Und wenn ich jemand gekannt hätte, mit dem ich eine längere Beziehung gewollt hätte…“
„Und warum wollte er, dass du heiratest?“
Jim seufzte und suchte nach Worten. „Meine Familie ist altmodisch. Arrangierte Ehen sind nicht so außergewöhnlich bei uns.“
„Aber das wurde arrangiert, als ich noch ein Kind war!“
„Es ist kompliziert, aber ich habe freiwillig entschieden, dass ich die heirate, die er mir vorschlägt. Und das warst dann eben du. Ich war nicht begeistert, aber inzwischen finde ich es halb so schlimm.“
„Hm.“
„Ist es denn schlimm mit MIR verheiratet zu sein?“, fragte er leise lachend und küsste meinen Nacken.
Ich wollte abrücken, aber er hielt mich zu fest.
„Ja“, seufzte ich gespielt frustriert. „Du bist aufdringlich, alt, nervig, dann bist du auch noch heißer als ich. Ich meine welche Frau will mit einem Typen verheiratet sein, der heißer ist als sie selbst?“
„Jede?“
„Keine! Der Typ stellt sie dann doch voll in den Schatten, außerdem muss sie sich Sorgen machen, ob er sie betrügt oder verlässt.“
„Ich würde dich niemals betrügen“, säuselte er mir ins Ohr.
Weil ich mit dem Rücken zu ihm gelegen hatte, drehte ich mich jetzt um.
„Wirklich nicht? Also mit der Maklerin von vorhin hättest du doch leichtes Spiel gehabt. Die hätte sich doch sogar im Aufzug schon fast ausgezogen.“
„Ich bitte dich, die war mindestens vier oder fünf Jahre älter als ich.“
„Aha, hat da jemand ein Problem mit dem Altersunterschied?“
„Ach komm schon, es ist was anderes, wenn die Frau älter ist. Dann ist die am Ende noch dominant oder so…“
„Weißt du, ich glaube, ich sollte auch eine Domina werden, vielleicht würdest du dann mal die Finger von meinem Arsch lassen.“
Seine Hände rutschten ertappt wieder nach oben, sonst ließ er sich nichts anmerken.
„Bei dir wäre das sogar heiß. Wenn ich mir dich in so einem Kostüm vorstelle…“
„Ihh hör auf“, kicherte ich und vergrub mein Gesicht an seinem Hals. Jim und ich redeten viel mit einander, aber ich hatte das Gefühl, dass unsere Gespräche gegen Ende immer pervers wurden.
„Schlaf schön, Süße“, sagte er belustigt. „Träum was Nettes… von mir.“
„Wenn du von mir träumst, dann gibt’s Ärger“, nuschelte ich, dann schlief ich ein.
Als ich aufwachte, überlegte ich als erstes ob ich tatsächlich von Jim geträumt hatte und dann überlegte ich, ob der Penner tatsächlich eine Morgenlatte hatte.
Wie sich heraus stellte hatte ich tatsächlich gar nichts geträumt und er hatte tatsächlich eine Morgenlatte.
Dann fiel mir auf, was „tatsächlich“ für ein tolles Wort war, und dass ich mich nicht bewegen konnte, weil Jim auf mir drauf lag. Sein Ständer drückte gegen meinen Oberschenkel und mir wurde die Situation zunehmend unangenehm.
„Jim! Hey, aufwachen!“ Ich versuchte einen Arm frei zu bekommen, aber auch das ging nicht. Immerhin war er nicht so schwer, dass ich nicht mehr atmen konnte.
„Schatz, würdest du bitte aufwachen?“, flötete ich genervt und ruckelte unter ihm hin und her.
Er gab ein Brummen von sich und öffnete die Augen.
„Wie war das? Chronischer Frühaufsteher?“
„Ich hab grad was tolles geträumt“, nuschelte er und ich lachte sarkastisch.
„Was das wohl war? Ich bin mir nicht sicher, ob ich will, dass du von mir oder von einer anderen Frau geträumt hast. Nein, warte, wahrscheinlich bist du schwul und hast von einem Mann geträumt. Deshalb musstest du mich auch heiraten, als Alibifrau!“
„Was faselst du da? Warum willst du nicht, dass ich von dir träume?“ Er blinzelte mich verschlafen an.
„Ich weiß nicht. Ich fände es wahrscheinlich schräg. Nimmst du jetzt bitte dein… Dings da weg?“
„Was..? Oh hm, tut mir leid.“ Widerwillig stand er auch und ging ins Bad.
Kurz darauf hörte ich die Dusche laufen und versuchte mir nicht vorzustellen, was er da gerade machte.
Ich schloss die Augen, dachte an dies und das und überlegte was wir heute wohl so machen würden.
Jims Handy klingelte. Er war noch unter der Dusche, deshalb stand ich nach kurzem Zögern auf und holte es aus seiner Hosentasche. Wir waren verheiratet, er würde mir wohl kaum den Kopf abreisen, nur weil ich an sein Telefon ging.
„Jim Wolves Handy, hallo?“ Wie sich das anhörte.
„Guten Tag, spreche ich mit Mrs Wolve?“
Bäh, das hörte sich ja noch dämlicher an.
„Genau.“
„Wie schön, mein Name ist Gerald Fisher, von der Makler GmbH. Sie sind beabsichtigt eines unserer Objekte zu kaufen. Eine Wohnung in…“ Er nannte eine Adresse, die ich mit 80 prozentiger Sicherheit der coolen Wohnung zuordnen konnte, die wir ausgesucht hatten.
„Ja, richtig.“
„Gut, ich denke, Sie werden sich freuen, wenn ich Ihnen sage, dass Sie und ihr Mann heute Nachmittag zur Vertragsunterzeichnung kommen können.“
„Oh, wow, das ist ja toll!“
Er nannte mir die Adresse seines Büros, dann beendeten wir das Telefonat. Ich steckte Jims Handy wieder in seine Hosentasche und lies mich grinsend aufs Bett fallen.
Ich strampelte gerade die Decke weg und räkelte mich ausgiebig als Jim, frisch geduscht und angezogen, aus dem Bad kam. Er musterte mich und warf einen Blick ins Bad zurück. Dann seufzte er und setzte sich, mit dem Rücken zu mir, auf die Bettkante.
Ich rollte mich so zusammen, dass meine Beine hinter seinem Rücken lagen und mein Kopf auf seinem Oberschenkel.
„So ein Makler hat gerufen und gemeint wir sollen heute in sein Büro kommen, um den Vertrag für die Wohnung zu unterschreiben.“
„Tatsächlich?“
„Das ist ein tolles Wort!“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mir nicht in die Augen sah. Ich zog den Ausschnitt meines Nachthemdes nach oben und Jim grinste leicht.
„Wann sollen wir denn da hin?“, fragte er.
„Um drei hat er gemeint.“
„Soso.“ Seine Hand strich über meine Schulter, bis zu meiner Taille. Dann zog er mein Nachthemd ein Stück hoch und ich wand mich kichernd, weil seine Finger mich kitzelten.
„Lass das!“, lachte ich und er zog mich hoch, auf seinen Schoß.
„Rein hypothetisch: kann ich dich dazu bringen mit mir zu schlafen?“
„Wann?“
„Jetzt. Heute Abend. Irgendwann.“
„Jetzt eher nicht, es sei denn, du vergewaltigst mich.“ Ich meinte es als Witz, aber er schaute mich so beleidigt an, dass ich schnell weiterredete. „Heute Abend auch nicht, außer jemand löscht mein Gedächtnis und setzt mir andere Erinnerungen ein. Und irgendwann… ich weiß nicht.“
„Und wie?“, hauchte er mir ins Ohr und ein Schauer jagte mir den Rücken hinunter.
„Rein hypothetisch?“
„Mhmm.“
„Was weiß ich, das ist dein Problem, nicht meins.“
Er lachte und küsste mich kurz.
„Du bist manchmal so… erfrischend jung.“
„Das hört sich jetzt echt pädophil an. Im Ernst, ich bin noch nicht mal volljährig. Du stehst auf Kinder, alter Mann, das ist voll eklig.“ Ich wollte aufstehen, doch stattdessen wurde ich von Jim aufs Bett gezogen. Er legte sich auf mich, sodass ich nicht weggehen konnte und küsste mich wild. Ich schlang die Arme um ihn und hörte wirklich komplett auf nachzudenken.
Es gab nichts Besseres als von Jim Wolve geküsst zu werden. Außer vielleicht… andere Dinge mit Jim Wolve tun.
Ich begann das Hemd, dass er trug, aufzuknöpfen, doch als seine Hand unter mein Nachthemd kriechen wollte, bekam ich plötzlich Panik und alles ging mir zu schnell, obwohl wir nur Rummachten.
Ich schob ihn weg und spürte wie ich rot wurde, doch Jim lachte nur leise und drückte einen Kuss auf meine Schulter.
„Sollen wir unten im Restaurant was essen und dann zu den Maklern fahren?“, fragte er.
„Ja, ich zieh mir nur schnell was an. Augen zu!“
Etwas widerstrebend schloss Jim die Augen und ich zog mich aus. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie fand ich das lustig, wie Jim da auf dem Bett saß und anscheinend angestrengt auf irgendetwas konzentriert war.
Ich zog mich schnell an, dann stellte ich mich vor ihn und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen.
„Du hast jetzt aber schon was an?“, fragte er und öffnete die Augen. „Okay, gut. Gehen wir.“
Lachend folgte ich ihm aus dem Zimmer.
Nachdem wir den Vertrag unterzeichnet hatten, tätigte Jim einige Anrufe, um irgendwelche Leute irgendwelchen Kram in die Wohnung schaffen zu lassen. Am nächsten Tag würden wir einziehen und dann schauen was uns an Einrichtungsgegenständen noch so fehlte.
„Du hast doch einen Hund, hast du gemeint.“
„Ja. Er heißt Cesar, ist ein Berner-Sennen.“
„Ah. Hm, ich weiß nicht genau, was das ist.“ Ich lachte.
„Er ist ganz lieb, siehst du ja dann.“ Er lachte. „Hast du Lust, in eine Bar zu gehen?“
„Ich darf noch nicht in Bars.“
„Doch, darfst du. Da wird schon keiner nachfragen.“
„Also gut.“
Jim erzählte mir von ein paar Freunden die er dort treffen wollte und dass ich mich von ihnen nicht verunsichern lassen sollte. Sie wären nur zu selbstbewusst und machten manchmal dumme Kommentare.
„So wie du also?“, fragte ich grinsend. Wir saßen im Auto und gurkten durch den späten Feierabendverkehr.
„Vielleicht sogar schlimmer. Zumindest in Bezug auf dich.“
„Na dann wird’s bestimmt lustig“, meinte ich und stieß ein ironisches Lachen aus. „Wissen die, dass ich dich unfreiwillig geheiratet hab?“
„Ja, aber ich denke nicht, dass sie es ansprechen.“ Jim lachte. „Ich hoffe sie blamieren mich nicht.“
Wir fuhren auf einen Parkplatz und stiegen aus. Mittlerweile war es schon ziemlich frisch, aber ich ließ mir nicht anmerken, dass ich fror.
Jim nahm wie selbstverständlich meine Hand und ließ sie auch nicht los, als ich eine frustrierte Rede über die Sinnlosigkeit von Händchenhalten schwang. Wir liefen die Straße hinunter, dann über eine kleine Treppe in einen Innenhof, in dem die Bar war.
Die Bar war klein, aber nicht so klein, dass einzelne Leute auffielen. Es kam leise Musik aus einer Jukebox und ein stetiges Rauschen von Stimmen übertönte das Ende meiner Rede.
Jim zog mich in den hinteren Teil, wo zwei Typen in seinem Alter an einem Tisch saßen, jeder ein Bier vor sich, und sich gut gelaunt unterhielten.
„Na, wann das nicht unser Jimmy ist“, grinste ein blonder, großer Typ.
„Hi Leute. Das ist Mara. Mara, das sind Tom und Maelle.“
Wie zur Hölle konnte man Maelle heißen? Als Mann? Ich behielt den Gedanken für mich und sagte erst mal hallo.
„Möchtest du was trinken?“, fragte Jim.
„Äh… Cola“, murmelte ich.
„Oho, ohne Alkohol, Jim, wo hast du so eine anständige Frau her bekommen?“, lachte Maelle, der Blonde.
Jim verdrehte die Augen. „Ich bin gleich wieder da.“
Oh Gott, der ließ mich jetzt doch nicht mit denen allein? Sobald er weg war, tauschten die drei einen Blick, dann fragte Tom mich: „Wie alt bist du eigentlich?“
„Fast 18“, sagte ich nach kurzem Zögern.
„Ach du Schande“, lachte Maelle. „Du bist ja noch fast ein Kind.“
„Ich finde Jim ist viel kindischer als ich“, sagte ich locker.
In dem Moment kam Jim mit einem Bier und einer Cola zurück.
„Hast du gehört, Mann, sie findet dich kindisch“, teilte Maelle ihm sofort mit und Jim zuckte mit den Schultern.
„Ich denke, das kommt vor.“ Grinsend legte er einen Arm um mich und ich schnaubte.
Dann begannen sie über total begeistert über Sport zu reden und ich schaltete auf Durchzug, bis Jim aufstand.
„Ich hab da hinten jemand gesehen, mit dem ich reden muss“, murmelte er.
„Reden oder reden?“, fragte Tom und betonte das zweite „reden“ seltsam, doch Jim winkte nur ab und ging davon.
Goldlöckchen – ich hatte beschlossen Maelle so zu nennen – rutschte näher zu mir und leise sagte: „Ich sollte dich warnen, dass dein Mann sobald er wieder arbeitet nicht so viel zuhause sein wird. Falls du dich also je allein fühlen solltest…“ Er reichte mir seine Karte und ich starrte ihn perplex an, während ich versuchte, heraus zu finden, ob das ein Witz war oder nicht.
„Wie kommst du drauf, dass ich mit dir Zeit verbringen möchte?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und Tom lachte leise.
„Ich bitte dich, wer möchte das nicht? Ich bin schließlich der Hammer.“
„Wie kann jemand mit einem so bescheuerten Namen nur eine so große Klappe haben?“, fragte ich und sah ihn fasziniert an.
Bin ich unhöflich? Nein, ich bin nur direkt. Und dieser Maelle ging mir ziemlich auf den Keks.
„Du findest meinen Namen bescheuert?“, fragte er geschockt.
„Nimm es nicht persönlich, Goldlöckchen, aber ist es denn überhaupt ein richtiger Name?“
„Natürlich!“, schnaubte Maelle und Tom brach in schallendes Gelächter aus.
„Mara? Ma chérie, c’est toi?!“ Die glockenhelle Stimme ließ mich überrascht zusammen zucken.
„Miru, was machst du denn hier?“, rief ich überrascht aus und stand auf um meine französische Freundin zu umarmen.
„Isch bin ‘ier für eine ganze Jahr, jetzt! Isch ‘abe disch angerufen, aber es war niemand zu’ause!“, flötete Miru mit ihrem starken Akzent. „Willst du mir nischt deine netten Freunde vorstellen?“
„Das sind Tom und Maelle. Ja, und da kommt Jim. Wir sind sozusagen verheiratet.“
„Waaas, du bist ver’eiratet?“, lachte Miru und ließ den überraschten Männer keine Möglichkeit auch etwas zu sagen.
„Ja… Ähm, Leute, das ist Miru. Wir haben uns über ein Austauschprogramm vorletztes Jahr kennengelernt.“
Da mein Französisch noch schlechter war, als Mirus Englisch, hatten meine Eltern mir drei Monate in Frankreich aufgezwungen. Doch mit Miru als Gastschwester war es echt cool gewesen. Wir hatten uns anschließend so oft wie möglich in den Ferien besucht und waren ziemlich gute Freunde geworden.
„Hi Miru“, sagte Maelle und spätestens jetzt war mir klar, dass er ein totaler Aufreißer war.
Sie strahlte ihn so fröhlich an, dass ich beschloss, sie vorzuwarnen.
„Von Goldlöckchen lässt du mal lieber die Finger. Grad eben hat er noch mich angebaggert.“
„Er hat was?“, fragte Jim sofort alarmiert und Maelle hob abwehrend die Hände.
„Ich hab nur Spaß gemacht, Mann. Ehrlich!“
Miru und ich ließen die Männer mit ihren Problemen alleine und gingen an die Bar.
„Zwei Cocktails für misch und meine Begleitung“, zwitscherte Miru.
„Ich sollte keinen Alkohol trinken, du weißt genau wie schnell ich betrunken bin!“
„Papperlapapp. Wir müssen doch unser Wiedersehen feiern! Und jetzt erzähl mir von diesem Jim.“ Sie nippte elegant an ihrem Drink und ich grinste in mein Glas.
„Tja, das ging irgendwie alles ziemlich schnell…“ Ich hasste es sie anzulügen.
„Das kann isch mir denken, wo du misch nischt einmal zur ‘ochzeit eingeladen ‘ast. Aber keine Sorge, isch vergebe dir.“
„Da bin ich unendlich froh“, kicherte ich.
„Er ist viel älter als du, nischt wahr?“, fragte sie mit gesenkter Stimme.
„Ja… Aber das Alter spielt schließlich keine Rolle“, sagte ich ziemlich unüberzeugt.
Ein paar Drinks später waren Miru und ich leicht angetrunken – ich etwas mehr als sie – und tief in unser Gespräch über Männer vertieft. Mirus Freund hatte sie betrogen was ich absolut nicht verstehen konnte, weil sie das hübscheste und coolste Mädchen war, das ich kannte. Daraufhin hatte sie Schluss gemacht und sich für das Jahr in England entschieden, weil sie Abstand von zuhause brauchte.
Ich war mächtig stolz auf mich, weil ich ihr nicht die Wahrheit verriet und mir ganz viele Einzelheiten über Jim einfielen.
Mirus Akzent wurde mit jedem Drink stärker und irgendwann redeten wir eine Mischung aus Englisch und Französisch.
Irgendwann trat Jim hinter uns und legte mir einen Arm um die Taille.
„Ich glaube wir sollten langsam gehen.“
„Mhm“, machte ich und Miru begann zu kichern.
„Gibst du mir noch deine nouvelle adresse, chérie?“
Ich biss mir auf die Lippe und dachte angestrengt nach.
Jim verdrehte die Augen bei diesem Trauerspiel und schrieb Miru die Adresse auf.
„Okay Schatz, wir gehen jetzt“, meinte er leise und grinste verstohlen.
„Mach’s gut, Miru“, sagte ich schwermütig und gab mir Mühe nicht zu Lallen. Ich wollte Jim nicht zeigen, dass ich betrunken war.
„À bientôt, Mara“, schnurrte sie und gab mir Küsschen auf die Wangen.
Ich lehnte mich gegen Jim während wir die Bar verließen und langsam zum Auto gingen.
„Du bist betrunken“, stellte Jim fest.
„Und du riechst nach Rauch. Hast du geraucht? Wenn ja küss ich dich heut nicht mehr.“
„Es war nur eine Zigarette.“
„Ihh warum machst du das? Man kriegt Falten vom Rauchen. Und es stinkt total.“
Jim setzte mich ins Auto und schnallte mich an. Dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr los.
„Ich mein‘s ernst! Ich will nich, dass du rauchst.“
„Ich rauche ja auch nur selten…“
„Warum machst du’s überhaupt? Sind das Anzeichen für Gruppenzwang, Mister Wolve?“
„Dafür, dass du dicht bist, redest du noch ziemlich deutlich.“
„Lenk nich vom Thema ab.“
„Wenn, dann lenkst du hier ab, Süße.“
„Ich bin nich süß“, meinte ich und verschränkte schmollend die Arme.
Gott, ich war so müde und ich hatte dieses Hui-die-Welt-dreht-sich Gefühl. Ich kuschelte mich in den Sitz und versuchte an nichts zu denken. Es funktionierte überraschend gut und ich war bald eingedöst. Leider musste Jim dieser Penner ja irgendwann anhalten, mich aus dem Auto heben und dann quer durchs Hotel tragen.
Irgendwann waren wir in unserer Suite, aber ich nahm alles nur noch verschwommen wahr. Jim legte mich auf das Bett und sah mich unschlüssig an.
Ich war zu müde um auch nur zu blinzeln.
„Oh Mara“, seufzte Jim und setzte sich neben mich. Er streichelte mir über die Haare und murmelte irgendwas vor sich hin.
Ich erwachte und das erste, was ich wahrnahm, waren die Kopfschmerzen, die mir signalisierten, dass ich mich weder bewegen noch die Augen öffnen sollte. Meine Muskeln waren verkrampft und der vergangene Abend war in meinen Erinnerungen nur noch verschwommen vorhanden. Verdammt, so betrunken war ich nicht gewesen, dass diese Folgen angemessen waren. Ich versuchte mich zu entspannen und ging langsam alles durch was gestern passiert war, nachdem Miru aufgetaucht war. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl etwas allzu peinliches gemacht zu haben, zumindest nichts, was ich nicht auch nüchtern hätte machen können. Aber was war passiert, nachdem Jim und ich wieder im Hotel gewesen waren? Er hatte mich aufs Bett gelegt, aber dann musste ich eingeschlafen sein, denn ich hatte keine Ahnung was sonst noch passiert sein könnte. Meine Schuhe hatte er mir wohl ausgezogen, aber ansonsten hatte ich anscheinend noch alles an, was ich gestern getragen hatte. Die Klamotten klebten mir an der Haut und ich wünschte mich nur noch unter die Dusche.
„Süße?“, hörte ich Jims Stimme belustigt von dort, wo ich die Tür vermutete.
„Ich bin nicht süß, du Idiot“, knurrte ich, ohne mich irgendwie zu bewegen.
„Ich wünsch dir auch einen guten Morgen und hoffe, dass du gut geschlafen hast. Mir geht es gut, danke der Nachfrage.“
„Ach, halt doch die Klappe“, lachte ich und öffnete endlich die Augen.
Jim hatte eine Schachtel Donuts in der einen Hand, in der anderen den Zimmerschlüssel. Jetzt kickte er lässig die Tür zu und stellte die Schachtel auf den Tisch.
„Du solltest besser aufstehen, wenn du noch duschen willst, bevor wir gehen.“
„Wohin denn?“, grummelte ich und strampelte die Decke weg.
„In die Wohnung? Schon vergessen?“
„Och nee…“ Ich verließ schwankend das Bett und gab dabei eine Mischung von Stöhnen und Gähnen von mir. Ich hörte Jim hinter mir lachen, während ich ins Bad ging, und ich hätte gern etwas nach ihm geworfen, aber ich hatte nichts zur Hand, außerdem war mir klar, dass ich sowieso nicht treffen würde.
Ich sah erst gar nicht in den Spiegel, da mir klar war, dass ich ziemlich beschissen aussehen musste. Also stellte ich mich unter die Dusche und ließ erst mal heißes Wasser auf mich herab regnen. Ich beobachtete die Tropfen, die an dem wässrig blauen Duschvorhang herabliefen. Ich gab mir Mühe nicht melancholisch zu werden und über mein Leben nachzudenken, in dem gerade so ziemlich alles drunter und drüber ging. Meine ganze Träume, Pläne und Erwartungen waren wie ein Kartenhaus in sich zusammen gefallen und ich hatte absolut keine Ahnung wie ich es wieder aufbauen konnte. Und dann auch noch die seltsamen, unangebrachten Gefühle die ich Jim gegenüber hegte. Und die er mir gegenüber hegte. Ich verstand einfach nicht was der Typ in mir sah. Er müsste mich hassen oder zumindest seinen Vater. Tatsächlich schien es ihm kaum etwas auszumachen, an mich gekettet zu sein. Er mochte mich sogar.
Ich wusch meine Haare gründlich, dann trocknete ich mich ab und zog mich an. Meine Haare kämmte ich nur schnell durch, aber ich hatte keine Lust sie zu föhnen. Ich ging wieder in das andere Zimmer und schnappte mir einen zuckrigen Donut aus der Schachtel. Er schmeckte sehr süß, aber unglaublich gut. Eine geballte Ladung Zucker, das hatte ich in letzter Zeit vermisst. Mein Blick fiel auf Jim, der auf dem Sofa saß, und ich musste lachen.
„Du liest Zeitung?“, fragte ich ungläubig.
„Hm. Viele Leute tun das, ist nichts Besonderes“, meinte er abwesend.
Ich verschlang kopfschüttelnd noch einen Donut, dann packte ich die restlichen Sachen ein, die noch herum lagen und schließlich setzte ich mich neben Jim.
„Steht denn was Interessantes drin?“
„Ja, natürlich“, sagte Jim gedehnt.
„Du kannst es nicht leiden beim Zeitunglesen gestört zu werden, hab ich recht?“
„So ziemlich.“
Ich lachte und lehnte mich zurück. Es machte schon Spaß, Jim zu ärgern.
„Das passt so gar nicht zu dir! Das Zeitunglesen, mein ich. Klar, du bist alt. Aber so alt?“
„Was hat das mit dem Alter zu tun?“, fragte Jim nach, ohne den Blick von dem Bericht abzuwenden, den er gerade las.
„Na… ältere Leute lesen Zeitung. Meine Lehrer haben immer gesagt, wir sollen Zeitung lesen und so… Aber wer macht das schon? Dafür gibt’s das Fernsehen und das Internet“, erklärte ich versonnen.
„Hat das auch der Lehrer gesagt, von dem du meintest, er wäre so alt wie ich?“, fragte Jim belustigt.
„Ja schon, aber… Du hast dir das echt gemerkt, dass ich das gesagt habe?“ Ich hob skeptisch die Augenbrauen.
Jim gab seufzend auf zu lesen und legte die Zeitung weg.
„Du redest zwar viel, wenn du erst mal angefangen hast, aber manchmal sind auch ganz interessante Sachen dabei.“ Er zwinkerte mir zu und stand auf. „Bist du fertig? Können wir los?“
„Von mir aus…“, murrte ich und erhob mich ebenfalls.
Wir zogen unsere Jacken an und gingen mit unseren Sachen nach unten, wo Jim auscheckte. Diese Wohnung… Die machte es amtlich. Mein altes Leben wollte ich nicht wirklich wieder, aber was sollte ich mit diesem hier anfangen? Jim musste mir endlich mal eindeutig erklären was das alles sollte. Ich vermutete nämlich, dass da noch viel mehr dahinter steckte.
Wir gingen schweigend zum Auto und ich erinnerte mich an eine Geschichte, die ich mal gelesen hatte. Ein durchschnittliches Mädchen wurde von einem heißen Typen entführt, der ihr offenbarte, dass sie irgendetwas Besonderes war und die Welt retten musste. Und dann am Ende, als alles wieder gut war, wurden die beiden ein Paar. Aber solche Geschichten, las man in jedem dritten Buch und was ich nicht vergessen sollte: es waren nur Geschichten und wenn ich mein Leben mit ihnen assoziierte, sollte ich mich mal untersuchen lassen. Es wäre ja auch zu lächerlich. Trotzdem wurde ich den Gedanken nicht los, dass Jim mir etwas Entscheidendes verschwieg.
„Also…“, begann ich. „Wann musst du eigentlich wieder arbeiten?“
„Morgen.“
„Oh. Okay. Und ich mache dann was…?“
„Was du willst. Außer abhauen, zur Polizei gehen oder einen Scheidungsanwalt aufsuchen.“ Er grinste mich kurz an, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte.
„Aha“, machte ich und überlegte was ich machen könnte.
„Ach ja, ich hab dir deine Sachen herbringen lassen“, sagte Jim beiläufig und ich riss ungläubig meine Augen auf.
„Alles?“
„Alles, was deine Eltern als deine persönlichen, eigenen Gegenstände bezeichnet und eingepackt haben.“
Dazu sagte ich vorerst nichts. Dann waren wohl auch meine Eltern überzeugt, dass ich nicht mehr heimkommen würde. Naja, wenn ich Glück hatte, dann hatte ich immerhin meine Malsachen und die Staffelei wieder. Ich nahm mir vor, heute alles einzuräumen und Bestandsaufnahme zu machen, um morgen dann gegebenenfalls alles einzukaufen, was ich noch brauchte. Und dann würde ich endlich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen.
Ich hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere, während Jim die Tür der Wohnung aufschloss.
Ich beachtete die Möbel die herumstanden gar nicht und ging nach hinten zu den Arbeitszimmern. In dem einen sah ich sofort meine Staffelei und viele Kisten stehen.
Hinten an der Wand stand mein altes, grünes Sofa, das auch in meinem alten Zimmer gestanden hatte. Außer der Staffelei hatte ich noch drei mit Leinwand bespannte Holzrahmen und eine Rolle Leinwand. Von meinen alten Bildern waren nur die Zeichnungen da, die in einer großen Mappe verstaut waren. In einem Karton fand ich einen Ordner mit meinen Versicherungsunterlagen und einer Klarsichthülle, in der meine ganzen Karten waren.
Ich begann auszupacken und räumte meine Malutensilien ein. Ich war mindestens eine Stunde beschäftigt, bis Jim rein kam.
„Ich habe George gebeten Cesar vorbei zu bringen und ich glaube Jessica wollte mitkommen.“
„Wann kommen sie denn?“, fragte ich und sah hoch. Erschrocken wandte ich jedoch sofort wieder den Blick ab, da Jim nichts als Boxershorts trug.
„In einer halben Stunde.“
„Solltest du dir dann nicht etwas anziehen?“, fragte ich und hielt den Blick auf einen Graphitstift gerichtet.
„Hm“, macht er nur und aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass er auf mich zukam.
„Nein, stopp hör auf!“, rief ich sofort und sprang auf. „Versuch es erst gar nicht. Wir bekommen gleich Besuch also zieh dir gefälligst etwas an.“
Ich wagte nicht mal genauer darüber nachzudenken, was er vorgehabt hatte und meine Selbstkontrolle geriet stark an ihre Grenzen, als ich mich an ihm vorbei schob und ins Bad flüchtete, wo ich mir die Haare kämmte.
Verdammt, heute Nacht neben ihm im Bett würde ich mich kaum beherrschen können.
Ich ging ins Schlafzimmer – unser gemeinsames Schlafzimmer – und fand dort zwei Koffer vor, die ich als mein Eigentum identifizieren konnte. In ihnen befanden sich all meine Kleider, Schuhe und Handtaschen. Ich quietschte erneut glücklich auf und räumte das Zeug schnell in den großen Wandschrank.
Nach getaner Arbeit setzte ich mich auf die Bettkante. Die Matratze war weich und das Bett ziemlich groß. Vielleicht würde ich doch unbeschadet durch die Nacht kommen.
Jim kam ins Zimmer. Er trug jetzt eine Jeans die ihm so tief auf den Hüften saß, als hätte er vor für eine Durex Werbung Model zu stehen. Ich atmete leise tief aus und versuchte nicht zu hyperventilieren. Er öffnete seine Seite des Schranks und holte ein weißes T-Shirt heraus.
„Wann musst du morgen los?“, fragte ich um mich von seinem Adoniskörper abzulenken.
„Ich steh gegen halb sieben auf, aber ich werd dich schon nicht wecken“, meinte Jim und zwinkerte mir zu.
„Und wann kommst du wieder?“
„So gegen fünf – hoffe ich zumindest.“
Und dann klingelte es auch schon und wir gingen ins Wohnzimmer um aufzumachen.
„Hay“, quietsche mir Jessica ins Ohr und umarmte mich herzlich.
„Hallo“, murmelte ich etwas überfahren.
Etwas stupste mir in die Kniekehle und bellte aufgeregt.
„Und du bist dann wohl Cesar“, begrüßte ich den Vierbeiner und ging in die Knie um ihn zu streicheln.
Der Hund war wunderschön und ich wusste vom ersten Augenblick an, dass wir uns super verstehen würden. Während ich ihm den Kopf kraulte, verkündete Jessica, dass sie Kuchen mitgebracht hatte und ich überlegte, wie ich den Nachmittag überstehen sollte.
Kuchen? Waren wir schon so alt? Am liebsten hätte ich jetzt irgendetwas Hochprozentiges getrunken und nicht den Kaffee, den die junge Frau in der Küche braute. Meiner Küche wohlgemerkt. Oh Schande. Mein Leben war vorbei.
George und Jim gingen nach unten um sich Georges neues Auto anzusehen und schon war ich alleine mit einem hyperaktiven Hund, der die Wohnung erkundete und einer schnatternden Jessica, die mich über das Leben in einer Ehe ausfragte.
„Weißt du, ich warte ja schon solange darauf, dass George mir einen Antrag macht… Aber er kommt einfach nicht in Gänge.“
„Sei doch froh, dass du noch frei bist. So ein Ring kann ganz schön nerven“, meinte ich und half ihr den Tisch zu decken.
„Bist du nicht froh, dass dir keine mehr Jim wegnehmen kann?“
„Er kann mich immer noch betrügen“, meinte ich leichthin und Jessica sah mich geschockt an.
„Aber ihr liebt euch doch! Nein, sag nichts. Hast du ihn etwa betrogen? Habt ihr euch gestritten? Bereust du die Heirat?“
„Oh Gott“, lachte ich nervös. Ich sollte vorsichtiger sein, mit dem was ich sagte.
Vier scheinbar endlose Stunden später fiel die Tür hinter unseren Gästen ins Schloss und ich streckte mich müde auf der Couch aus.
„Soll ich das jetzt aufräumen?“, fragte er mit einem Blick auf das benutzte Geschirr.
„Ja. Du kriegst auch was dafür“, schnurrte ich und räkelte mich träge.
„Und zwar?“
„Hm… Was willst du denn?“
Jim drehte sich zu mir um und sah mich skeptisch an.
„Hab ich was verpasst?“
„Nein“, kicherte ich und stand auf. „Ich geh mal… Dinge tun.“
Bevor er widersprechen konnte war ich schon in mein neues Atelier geflohen. Ich hörte ein bisschen Musik und übte plastische Formen zu zeichnen. Ich brauchte mal wieder ein menschliches Model. Gerade, als ich ernsthaft darüber nachdachte, Jim zu fragen, berührte mich plötzlich jemand an der Schulter und ich schrie erschrocken auf.
„Ich bin’s doch nur“, lachte mein Model in spe und ich drehte mich um.
„Kannst du nicht anklopfen?“, fauchte ich mit klopfendem Herzen.
„Du bist so süß, wenn du dich erschreckst.“
„Du bist so ein Penner!“
„Ach Mara. Jetzt hab ich die Küche aufgeräumt und zur Belohnung werd ich beleidigt?“, fragte er gespielt beleidigt, aber ich hörte nicht wirklich hin.
„Wenn du angebetet werden willst, dann such dir Groupies.“
„Ach, du machst das schon ganz gut. Was ist jetzt übrigens meine Belohnung?“, wollte er wissen und ich verdrehte die Augen.
„Ich bringe dich nicht um, sobald du schläfst?“
„Verlockend, aber nicht das, was mir vorschwebt.“
Jim hob mich kurzerhand hoch und beachtete nicht, dass ich mich mit Händen und Füßen wehrte.
Er setzte sich mit mir auf dem Schoß auf die grüne Couch.
Schmollend verschränkte ich die Arme.
„Also, wo waren wir grade“, schnurrte Jim und seine Lippen streiften beim Sprechen meinen Hals.
„Ähm“, machte ich äußerst geistreich.
Mein Herz meinte wieder voll aufdrehen zu müssen und mein Atem wurde zittrig.
Jim küsste mich ganz kurz auf den Mund und löschte somit alle meiner Gedanken außer „mehr“.
„Ich glaube, du wolltest mich küssen“, half mir Jim auf die Sprünge.
„Ähm“, wiederholte ich. Das hatte ich nicht gewollt… Aber jetzt hatte ich wirklich nichts dagegen. Deshalb wehrte ich mich auch nicht weiter als der heißeste Typ dieses Universums mich endlich richtig küsste.
Ich wollte gerade richtig in diesem Kuss versinken als plötzlich ein Fiepen ertönte und etwas kühles, feuchtes gegen mein Knie stieß.
„Was…?“, japste ich erschrocken und Jim zuckte zusammen.
„Cesar! Stör mich gefälligst nicht, wenn ich dein Frauchen endlich mal rumkriege“, stöhnte Jim genervt in Richtung seines Hundes und ich kicherte etwas verstört.
Ich versuchte einen Teil meiner Ehre zu bewahren, indem ich von Jims Schoß kletterte und aufsprang.
„Ich, also… Ich glaube, er will Gassi gehen“, sagte ich schließlich und nahm die Leine aus Cesars Maul. „Ich mach das mal. Bis später!“, rief ich und floh mit samt Hund aus dem Atelier.
„Ich bin hier, wenn du zurückkommst“, rief Jim mir gut gelaunt nach, doch da hatte ich schon den Schlüssel genommen und verschwand schnell aus der Wohnung.
Ich streifte mit dem Berner Sennen durch die Straßen und nutzte die Gelegenheit um mich umzusehen. In der Nähe gab es einen Becker, einen Supermarkt und ein Fitnessstudio. Dort war auch noch ein kleines Restaurant und hinter dem Supermarkt gab es noch eine Drogerie. Ich beschloss morgen einkaufen zu gehen und Jim dafür etwas Geld aus der Tasche zu leiern. Wenn er schon so viel hatte, würde es ihn sicher nicht stören und für irgendetwas musste diese Ehe ja gut sein.
Jim… Ich wusste einfach nicht was ich mit ihm machen sollte. Ich mochte ihn sehr und es störte mich nicht ihn zu berühren. Aber es war eine so komplizierte und außergewöhnliche Situation in der wir uns befanden und ich hatte keine Ahnung wie ich am besten damit umgehen sollte, weil ewig nur vor mich hin leben konnte ich ja nicht. Überhaupt musste ich mir langsam mal überlegen, was ich mit meinem Leben anstellen sollte. Aber Himmel, ich war ja noch nicht einmal 18.
Ein ekelerregender Gedanke drängte sich mir auf: Konnte es sein, dass Jim gerade die Verantwortung für mich trug? Oder lag die noch bei meinen Eltern? Ich schüttelte mich, dann die Tatsache, dass mein… Ehemann mein Sorgerecht hatte war extrem verstörend.
Leider hatte Cesar bereits sein Geschäft erledigt und war auch ausreichend herumgetollt und jetzt stupste er mir ständig mit der Schnauze in die Kniekehlen, was wohl hieß, dass ich mich nachhause bewegen sollte. Also zurück zu Jim. Der vermutlich auf mich wartete. Oder etwas erwartete. Aber irgendwie war mir jetzt nicht nach Körperkontakt, zumindest nicht nach Rumgeknutsche.
Widerwillig schloss ich die Haustür auf und ging zum Fahrstuhl, während Cesar neben mir her tapste.
Ich wollte gerade auf die Nummer des Stocks drücken, in den ich musste, als eine Stimme rief „Warten Sie!“. Verwirrt hielt ich eine Hand zwischen die sich schließenden Aufzugtüren, damit der junge Mann noch rein konnte.
„Danke“, keuchte er und schenkte mir ein atemloses Lächeln.
„Kein Problem.“
Der Aufzug fuhr los und Cesar fiepte nervös.
„Ihr Hund?“, fragte der Mann. Er sah eigentlich relativ gut aus. Kein Vergleich zu Jim, aber richtig nett und kaum zwei Jahre älter als ich.
„Ja.“
„Ich bin übrigens Mark. Sind Sie neu eingezogen? Ich hab Sie hier noch gar nicht gesehen.“
„Ja, ich bin neu hier. Und ich heiße Mara, du kannst Du sagen, so alt bin ich ja noch nicht.“ Jim erwähnte ich mit keinem Wort. Warum wusste ich nicht.
Die Aufzugtüren öffneten sich und Mark stieg aus.
„War schön dich kennenzulernen. Man sieht sich.“
Kurz darauf betrat ich die Wohnung und ließ Cesar von der Leine, der es sich sofort unter dem Esstisch gemütlich machte.
Ich selbst ging erst mal ins Bad, betrieb etwas ausführlicher als sonst mein Waschprogramm und betrat dann recht widerwillig das Schlafzimmer.
Da ich eine Weile weg gewesen war, war es schon spät und Jim lag bereits im Bett. Ich betete, dass ich ihn jetzt nicht weckte, doch er zerstörte meine Hoffnungen, indem er sich, sobald ich unter die Decke gekrochen war, zu mir umdrehte und sagte: „Muss ich jetzt auf meinen eigenen Hund eifersüchtig sein, weil er mir die Frau ausspannt?“
„Was? Nein… Nein, ich… Also… Ach egal.“
„Das war jetzt nicht unbedingt das, was ich hören wollte, aber ich lass es durchgehen.“ Er rückte näher zu mir heran und sagte dicht an meinem Ohr: „Ausnahmsweise.“
„Mhmm“, machte ich und spannte mich an.
Seine Finger fuhren über meine Seite und seine Lippen streiften meine Haut. Abrupt setzte ich mich auf und schob ihn weg.
„Kannst du das mal lassen?“, fauchte ich schärfer als beabsichtigt.
„Was ist denn los?“, fragte Jim verwirrt und stützte sich auf den Ellenbogen auf.
„Nichts“, brummte ich und fuhr mir übers Gesicht. „Ich bin einfach müde, okay?“
„Okay“, meinte er gedehnt und ich legte mich wieder mit dem Rücken zu ihm hin.
Kurz war es still, dann legte er einen Arm um meine Taille und zog mich an sich. Erst wehrte ich mich etwas, aber nur halbherzig und Jim ließ mich auch nicht los.
„Komm schon, was ist?“, fragte er leise.
„Ich weiß auch nicht“, seufzte ich. „Du eben. Über etwas anderes denke ich in letzter Zeit ja irgendwie nicht mehr nach.“
Er schwieg und jetzt, wo ich angefangen hatte zu reden, fühlte ich mich gezwungen, weiter zu machen.
„Es ist einfach… Zuhause bei meinen Eltern, da hatte ich zwar auch keine Ahnung was mit meiner Zukunft mache, aber ich hatte Ideen und Optionen. Und jetzt… Jetzt bin ich verheiratet und ich weiß nicht was du von mir erwartest und was ich noch von meinem Leben zu erwarten habe.“
„Du kannst immer noch dein Leben leben und ich erwarte nichts von dir“, meinte Jim beschwichtigend.
„Ach wirklich? Du hast gesagt du willst eine richtige Familie und Kinder. Weißt du was für eine Panik allein der Gedanke in mir auslöst? Ich bin noch nicht so weit, noch lange nicht! Ich will was von der Welt sehen, mir mein Herz brechen lassen und andere brechen. Ich will nicht… Ich kann doch nicht… Ich kann doch nicht in jemanden verliebt sein, der mir aufgezwungen wurde.“
Die Tränen rannen mir übers Gesicht und Jim drehte mich sanft zu sich um.
„Ist schon okay“, murmelte er und umarmte mich fest. „Du musst vor nichts Angst haben. Du musst überhaupt nicht über so was nachdenken. Natürlich hat diese… neue Situation Einfluss auf deine Zukunft. Aber du kannst trotzdem Künstlerin oder sonst was werden. Ich möchte, dass du glücklich bist und nicht immer weinen musst.“
„Und das andere?“, schluchzte ich. „Das mit… mit den Kindern?“
„Darüber denken wir jetzt auch noch nicht nach. Dafür haben wir noch Zeit. Ich will jetzt ja auch noch keine.“
„Okay“, schniefte ich und wagte kaum mein Gesicht zu heben, das ich an seinen nackten Oberkörper gedrückt hatte.
Jim streichelte mich beruhigend, bis ich ruhig in seinen Armen lag. Dann drehte er sich auf den Rücken und ich kuschelte mich weiter an ihn. Seine Brust hob und senkte sich leicht unter meinem Kopf und ich begann gedankenverloren Lienen auf seinen Bauch zu zeichnen.
„Willst du mich irgendwie umbringen?“, stöhnte Jim, als meine Hand tiefer wanderte.
„Soll ich aufhören?“
„Nein! Du kannst gern noch weiter runter“, murmelte er und lachte, obwohl es etwas gepresst klang.
Vorsichtshalber nahm ich meine Hand doch weg und begnügte mich damit, ein Bein zwischen seinen zu platzieren und mich an ihn zu schmiegen wie eine Katze.
„Tut mir leid“, sagte Jim plötzlich. „Normalerweise reagiere ich nicht so schnell und stark.“
Verwirrt öffnete ich die Augen und sah die Erhebung unter Decke, die im dunklen Zimmer kaum zu erkennen war. Hatte er jetzt etwa wegen mir…?
„Wenn es dich nicht stört, dann… Also, mich stört es zumindest nicht“, stammelte ich unsicher. „Und es tut mir leid, dass du wegen mir grad nicht mehr kannst.“
Jim lachte leise und bewegte sich unruhig unter mir.
„Schon okay. Aber ich sollte vielleicht trotzdem kurz raus, sonst falle ich wirklich noch über dich her.“
Er hatte sich bereits aufgesetzt, als ich schüchtern wisperte: „Willst du mich denn nicht?“
Verblüfft drehte er sich zu mir um. Dann nahm er meine Hand und legte sie in seinen Schritt. Ich zuckte erschrocken zurück, doch er hielt sie fest und drückte sie leicht gegen seine harte Erregung – die im Übrigen viel härter war, als ich gedacht hatte.
„Spürst du das? Das ist wegen dir. Nur weil du mich ein bisschen berührt hast. Es ist mir schon ewig nicht mehr passiert, dass ich mich so schlecht unter Kontrolle hatte. Also wenn es eine Sache gibt, über die du wirklich nicht nachdenken musst, ist es die Frage, ob ich dich will.“
„Warum bleibst du dann nicht?“, krächzte ich und es musste ich unglaublich erbärmlich anhören, doch Jim lachte nicht. Er saß einfach nur ruhig da, mit seiner Hand über meiner und sah mich durch die Dunkelheit hindurch an.
„Wenn ich jetzt bleibe, dann werde ich dich nicht schlafen lassen. Ist dir das klar?“
„Können wir… Kann ich nicht… Nur ein bisschen, verstehst du?“
Tatsächlich schien er mein Gestammel zu verstehen, denn er legte sich wieder hin und begrub mich unter seinem Körper.
„Sag mir was du willst und du bekommst es“, raunte er mir ins Ohr und küsste meinen Hals.
Seine Erregung presste sich gegen meinen Schritt und ich stöhnte leise.
„Ich… ich w-weiß nicht“, stotterte ich und wagte kaum mich zu rühren. „Ich weiß nicht wie es geht, ich hab wirklich keine Ahnung.“
„Aber ich.“
Er ließ kurz von mir ab, um mich anzusehen.
„Du musst keine Angst haben. Du darfst alles machen, was du willst. Sag mir einfach, wie weit ich gehen darf.“
Plötzlich öffnete sich die Tür und ein leises Fiepen drang an meine Ohren.
„Cesar!“, knurrte Jim, doch der Hund sprang unbekümmert aufs Bett und rollte sich neben uns zusammen.
„Warum muss er immer in solchen Momenten rein kommen?“, brummte Jim und ließ den Kopf frustriert gegen meine Schulter sinken und ich kicherte.
„Raus hier, Hund. Und wenn du mich nochmal um mein Vergnügen bringst, lasse ich dich kastrieren.“
Cesar hob die Schnauze und bellte beleidigt, als Jim ihn aus dem Bett schubste.
„Lass ihn doch, er weiß es doch nicht besser“, sagte ich lächelnd.
„Natürlich weiß er es. Er hat mich noch nie im Leben von so etwas abgehalten, aber anscheinend hat er sich es jetzt zum Ziel gesetzt, mich auf ewig vom Sex fernzuhalten.“
Ich hob eine Augenbraue.
„Den hättest du heute sowieso nicht gekriegt.“
„Du weißt wie ich es meine. Immer wenn ich dich mal soweit habe, dass du dich richtig anfassen lässt, kommt er an und bringt mich um meinen Spaß… Tut mir leid, das hat sich jetzt blöder angehört, als es gemeint war.“
„Ja, das hat es“, sagte ich eisig und drehte mich von ihm weg.
„Komm schon, Mara, jetzt sei nicht sauer.“
„Bin ich nicht. Es kann dir ja niemand etwas vorwerfen, weil du nicht auf Sex verzichten willst, nur weil du mit einer verklemmten Jungfrau verheiratet bist. Man sollte es dir sogar hoch anrechnen, dass du nicht einfach fremdgehst“, schnappte ich und Jim stöhnte genervt.
Okay, vielleicht reagierte ich über. Aber eben, da hatte es sich angefühlt, als wäre da tatsächlich etwas zwischen uns. Etwas, das sich richtig anfühlte und echt war. Wie konnte ich so naiv sein? Jim wollte doch auch nur Bettgesellschaft. Er wollte auch gar nicht wirklich mit mir zusammen sein, wahrscheinlich hatte er das nur gesagt, damit er leichteres Spiel hatte. Und ich war darauf reingefallen.
„Du suchst doch jetzt nur nach einer Ausrede, weil du einfach Panik kriegst, sobald wir uns näher kommen.“
„Das stimmt nicht“, fauchte ich.
„Natürlich stimmt es. Und wenn du dich wieder eingekriegt hast und mich nicht mehr sinnlos an zickst, sondern mit mir reden kannst, sag mir Bescheid. Ich penn dann auf der Couch“, sagte Jim trocken, stand auf und verließ das Zimmer.
Fassungslos sah ich ihm nach. Wie hatte er es jetzt geschafft, dass ich Schuldgefühle wegen etwas hatte, das er verbockt hatte?
Ich schnaubte und blinzelte mehrmals um die unangebrachten Tränen zu verscheuchen. Also ich würde ihm jetzt ganz bestimmt nicht hinter her rennen. Trotzig rollte ich mich unter der Decke zusammen und gab mein bestes nicht aus purer Frustration zu heulen.
Ich hatte schlecht geschlafen und als ich mich endlich aus dem Bett quälte, war Jim schon weg.
Schließlich saß ich mit Kaffee und Toast Brot auf der Küchenzeile und überlegte was ich heute zu tun hatte. Auf jeden Fall sollte ich einkaufen gehen, da wir kaum Lebensmittel im Haus hatten. Cesar würde ich einfach mitnehmen. Mein Blick viel auf die Couch, auf der eine zerknüllte Wolldecke lag. Beim Gedanken, dass Jim heute Nacht dort geschlafen hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen und überlegte, ob ich mich später vielleicht mit einem leckeren Abendessen entschuldigen sollte. Immerhin war es ja nicht so, als hätte er mich zu irgendetwas zwingen wollen und sonst war er ja auch immer so nett. Ich hatte wohl wirklich überreagiert. Eigentlich war es ja sogar ein Kompliment, dass er mit mir schlafen wollte. Und ich wollte ja auch irgendwie mit ihm schlafen, ich traute mich nur nicht so wirklich.
„Aber darüber denken wir jetzt nicht nach, nicht wahr, Cesar?“
Ich beugte mich zu dem fiependen Berner Sennen hinunter und streichelte seinen Kopf.
„Wir gehen jetzt raus. Magst du Gassi gehen? Ja?“
Lachend verdrehte ich die Augen. Ich sprach mit einem Hund und dazu noch in einem Tonfall, als wäre er ein Kleinkind. Es ging wirklich mit mir zu Ende… Mit einem Blick aus dem Fenster wurde mir klar, dass ich wohl eine Regenjacke brauchen würde und als ich schließlich bereit war und Cesar angeleint hatte verließ ich die Wohnung und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.
Draußen war es nasskalt und windig. Ich zog mir die Kapuze tief ins Gesicht und ging zügig den Weg zum Supermarkt entlang. Meinen vierbeinigen Begleiter schien das Wetter nicht zu stören. Er wetzte von Baum zu Laternenpfahl, schnüffelte und markierte sein neues Revier.
Leider durfte er nicht mit in den Supermarkt und ich war mir unsicher ob ich ihn einfach so draußen anbinden konnte, doch er legte sich ganz brav hin und schloss halb die Augen.
Als ich eine halbe Stunde später schwer bepackt mit zwei Einkaufstüten wieder nach draußen kam, lag er immer noch so da, sprang aber sofort auf als ich die Leine löste.
„So, jetzt bringen wir das mal nachhause“, murmelte ich und in dem Moment hörte ich ein leises Ratschen.
Erschrocken stellte ich die Tüten ab und sah sie mir genauer an. Tatsächlich war eine unten leicht angerissen und ich hob sie vorsichtig auf die Arme um von unten dagegen zu stützen. Die andere nahm ich in die Hand, mit der ich auch Cesars Leine hielt und so trat ich dann den Heimweg an.
Ich schaffte es, ohne dass ein Unglück geschah, doch dann vor der Haustür, als ich mich schon in Sicherheit wiegte, trat plötzlich jemand eilig heraus, stieß mit mir zusammen und wir gingen samt Einkäufen zu Boden.
„Oh nein“, stöhnte ich und versuchte hochzukommen, was sich als schwierig gestaltete, da der Typ auf mir lag.
Hektisch rappelte er sich hoch und hielt mir die Hand hin.
„Tut mir leid, Mara, ich war so in Eile, dass ich dich gar nicht gesehen hab. Alles in Ordnung?“
Ich nahm seine Hand und er half mir hoch. Als ich wieder stand konnte ich ihn, als den jungen Mann aus dem Fahrstuhl identifizieren und lächelte ihn beruhigend an.
„Schon okay, kann passieren. Mike, richtig?“
„Mark“, grinste er.
„Oh, sorry. Mark.“
Ich lachte und kniete mich hin um die Sachen einzusammeln und Mark folgte sofort meinem Beispiel, wobei er mir aber eher im Weg war, anstatt sich nützlich zu machen.
„Tut mir echt leid, ist etwas kaputt gegangen?“
„Nein, ich glaube nicht…“, sagte ich, doch dann fiel mein Blick auf den Eierkarton, um den sich eine labbrige Pfütze ausbreitete. „… bis auf die Eier.“
„Ich kauf dir neue! Ich wollte sowieso zum Supermarkt, dann kann ich dir welche mitbringen.“
„Das ist wirklich nicht…“
„Ich bestehe darauf.“
„Na gut. Danke“, seufzte ich und richtete mich auf.
„Soll ich dir beim Hochtragen helfen?“, bot er an, doch ich schüttelte nur lachend den Kopf.
„In welchem Apartment wohnst du denn? Damit ich weiß, wohin die Eier müssen.“ Ich beschrieb ihm schnell den Weg, dann verabschiedeten wir uns und ich ging mit Cesar hoch.
Während ich auf Mark und die Eier wartete, war ich nicht sehr produktiv. Ich sollte mir dringend einen Job suchen. Aber was? Vielleicht Kellnerin oder so… Hauptsache ich war beschäftigt. Oder ich könnte mir autodidaktisch Kunst beibringen, einen Kurs besuchen… Ich sollte Yoga machen! Und vielleicht einem Literaturclub beitreten.
Ich lachte über meine Ideen. Heute Abend sollte ich unbedingt mit Jim reden. Nachdem ich mich entschuldigt hatte. Ich schämte mich ein bisschen, dass ich so ausgerastet war. Wie ein kleines Kind.
In diesem Moment klingelte es und ich ging aufmachen. Mark reichte mir gutgelaunt den Eierkarton und dazu noch eine Packung Milka Schokolade in Kleeblattform.
„Als Entschuldigung“, meinte er grinsend.
„Danke. Willst du… einen Kaffee oder so?“
Er sah mich unsicher an, dann sagte er zerknirscht: „Ich muss zur Arbeit. Morgen vielleicht?“
„Klar.“ Ein bisschen Gesellschaft würde mir sicher gut tun. „Du kannst mir bei der Jobsuche helfen.“
„Sicher! Also dann bis morgen.“
Ich saß schlecht gelaunt auf dem Sofa und zappte durch die Fernsehkanäle. Es war bereits nach zehn und Jim war immer noch nicht da. Einerseits war ich wütend, weil ich ihn nicht erreichen konnte, andererseits machte ich mir auch ein bisschen Sorgen.
Genervt schaltete ich die Flimmerkiste aus und sank gegen die Lehne. Wo steckte er denn nur? Er hatte doch gesagt, dass er um fünf wieder hier sein wollte. Und mein Entschuldigungsessen war jetzt auch kalt und während der Zeiger immer weiter über die Uhr kroch, kühlte auch meine Reue ab.
Dann endlich ertönte das erwartete Geräusch des Schlüssels im Türschloss und kurz darauf betrat Jim leise Wohnung.
Er trug eine schwarze Jeans und ein Jackett, welches er samt einer schwarzen Aktentasche auf einem Stuhl ablegte. Sein Blick glitt über die dunkle Küche bis ins Wohnzimmer, wo er mich entdeckte.
„Hi“, meinte er nur und schlüpfte aus seinen Schuhen.
„Hi“, erwiderte ich ziemlich entmutigt und verschränkte die Arme, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
„Du bist noch wach.“ Es war mehr Frage als Feststellung, auch wenn er keine Antwort zu erwarten schien.
„Ich hab was gekocht. Als Entschuldigung für gestern. Steht im Backofen, falls du’s willst. Ist jetzt halt kalt“, murmelte ich unbeholfen und Jim zuckte nur ablehnend mit den Schultern.
Jim war wirklich sauer und ich fühlte mich mieser als beabsichtigt.
„Hör mal, es tut mir echt leid, dass ich so ausgerastet bin. Ich bin eben manchmal eine überempfindliche Zicke, das müsstest du doch langsam mitgekriegt haben.“ Beim Reden war ich aufgestanden und unsicher auf ihn zu gegangen. Jetzt blieb ich nervös zwei Schritte vor ihm stehen.
Jim hob die Augenbrauen.
„Komm schon, es tut mir leid, okay? Sei bitte nicht mehr sauer auf mich, du darfst mich auch den restlichen Tag nerven, ohne, dass ich ausraste.“
„Das schaffst du doch sowieso nicht“, brummte Jim, doch seine Lippen verzogen sich, zu einem halben Grinsen.
„Wahrscheinlich. Aber ich werde mir Mühe geben, versprochen.“
„Hm. Du musst mich schon noch ein bisschen mehr von deiner Reue überzeugen“, sagte er schließlich dreckig grinsend und ich schnaubte verärgert.
„Du bist so ein…“
„Perverser Dreckskerl, ich weiß“, murmelte er und zog mich an sich um mich zu küssen.
Kurz darauf lagen wir eng aneinander gekuschelt im Bett und Jim streckte sich unter mir zufrieden.
„Dieses Bett ist so viel bequemer als die Couch. Ich glaube, ich streite mich nie wieder mit dir.“
Ich verbiss mir einen Kommentar du lächelte nur glücklich in mich hinein.
„Ich brauche übrigens deine Handynummer und die Nummer von deinem Büro, damit ich dich mit hysterischen Kontrollanrufen bombardieren kann.“
„Ich schreibe dir morgen einen Zettel“, versprach er und streichelte gedankenverloren meinen Rücken.
„Hast du eine Sekretärin?“
„Ja.“ Er schien etwas verwirrt.
„Ist sie hübsch?“
„Ich… Schon, ja.“
„Wenn du mich mit ihr oder einer anderen Kollegin betrügst dann,…“
Jim brach in leises Gelächter aus, dann drehte er uns so, dass er oben lag. Grinsend strich er mir über die Wangen und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen.
„Sie ist 50 Jahre alt und ich habe kaum weibliche Kollegen.“
„Okay.“
„Du bist so süß, wenn du eifersüchtig bist“, sagte er feixend und ich verdrehte die Augen.
„Ich bin nicht eifersüchtig“, erklärte ich sachlich. „Aber du bist ja jetzt anscheinend tagsüber immer weg und ich schlafe nicht mit dir, also wäre es nur logisch, wenn du früher oder später…“
„Mara!“, seufzte er.
„Was denn?“, fragte ich unschuldig.
„Du bist unmöglich, weißt du das?“
Ich kicherte und zog ihn zu mir herunter, damit ich mein Gesicht an seine Schulter drücken konnte. Jim drehte den Kopf und seine Lippen wanderten über meinen Hals.
„Es ist unpraktisch unten zu liegen“, murmelte ich.
„Aha?“ Das Grinsen war nicht zu überhören.
„Da ist man so… unbeweglich.“
„Hm“, murmelte er und seine Hände schlüpften unter den Saum meines T-Shirts. Er zog es mir über den Kopf und sein Oberteil folgte kurz darauf.
Meine Gedanken verabschiedeten sich und ich nahm nichts mehr war, außer seinem Körper auf mir und dem sanften Druck seiner Lippen, die über mein Dekolleté wanderten. Er streifte mir die Hose über die Hüften und ließ kurz von mir ab, um sie mir komplett auszuziehen und auch seine abzulegen.
Kurz darauf lag er wieder auf mir und küsste mich endlich richtig. Er raubte mir den Atem und mein Herz schlug so schnell, dass die einzelnen Schläge nicht mehr auseinander zu halten waren. Wenn er jetzt weiter gemacht hätte, dann wäre ich nicht im Stande gewesen, mich zu wehren. Aber er hörte auf.
Er rollte sich auf die Seite, zog mich fest an sich und vergrub das Gesicht in meinen Haaren. Ich kuschelte mich an ihn und genoss das Glücksgefühl und die Leere in meinem Kopf. Wenig später war ich tief eingeschlafen.
Ich wurde von einer Bewegung neben mir geweckt. Es war Jim, der gerade aufstehen wollte. Ich richtete mich halb auf und schlang von hinten die Arme um seine Mitte.
„Bleib da“, murmelte ich verschlafen.
Jim drehte sich um und zog mich zu sich, sodass ich mich auf seinem Schoß zusammen rollen konnte. Ich war immer noch im Halbschlaf und hielt die Augen geschlossen.
„Ich muss leider aufstehen, tut mir leid“, wisperte er und küsste meine Schläfe.
„Sei doch einfach krank.“
„Seit wann bist du denn so interessiert daran, mich hier zu haben?“, fragte er belustigt, obwohl ich merkte, dass es ihn freute.
„Seitdem mir gestern echt langweilig war. Kommst du heute früher heim?“
„Ich versuche es.“
„Hm“, brummte ich und klammerte mich an ihn, als er mich wegschieben wollte.
„So sehr ich das auch bedaure, Süße. Ich muss jetzt duschen und dann arbeiten.“
„Kann ich mitkommen?“
Jim erstarrte und sah mich an. Ich linste durch halb geöffnete Lider zurück.
„Unter die Dusche?“, brachte er irgendwann mit rauer Stimme hervor und ich schüttelte grinsend den Kopf.
„Auf die Arbeit, du Idiot.“
Er stieß Luft aus und lachte.
„Nein, das geht nicht, tut mir leid.“
„War’s das jetzt? Sieht so mein restliches Leben aus? Du bist die ganze Zeit weg und ich sitz hier rum?“
„Nein, natürlich nicht. Wir reden heute Abend darüber, okay? Ich versuche so früh wie möglich heimzukommen.“
Ich brummte genervt etwas in mich hinein und kletterte von seinem Schoß.
„Mir ist jetzt schon langweilig.“
„Wir kümmern uns heute Abend darum, versprochen.“
Schlecht gelaunt kuschelte ich mich wieder ins Bett und schlief weiter, bis mich irgendwann ein Klingeln aus dem Dämmerzustand riss.
Halb blind vor Müdigkeit tapste ich zur Tür und machte auf. Vor mir stand Mike, äh Mark und anstatt hallo zu sagen wurde er rot.
Mir fiel auch sofort ein warum: Ich trug nur Unterwäsche.
„Sorry, ich… Wie spät ist es?“, murmelte ich.
„Halb elf, ich dachte du wärst schon wach. Aber ich kann auch später wiederkommen.“
„Nein nein, komm rein, setz dich, ich geh mich anziehen.“
Im Schlafzimmer schlüpfte ich schnell in Jeans und Pullover, dann ging ich ins Wohnzimmer zurück, wohl wissend, dass meine Haare wie ein Vogelnest aussehen mussten.
„Willst du einen Tee oder Kaffee oder was zu essen?“, fragte ich deutlich wacher.
„Nein, danke, ich hab schon gefrühstückt.“
„Okay.“ Ich machte mir Kaffee und setzte mich damit zu ihm auf die Couch.
Ich hatte fast vergessen, dass ich ihn eingeladen hatte und jetzt wusste ich nicht so recht was ich mit dem Kerl anfangen sollte.
„Also, du hast doch gemeint, du suchst einen Job, richtig?“
„Ja. Hast du eine Idee was ich machen könnte?“
„Mhmm. Also ich hab bei mir auf der Arbeit gefragt und zufälligerweise brauchen die echt noch jemand.“
„Und wo arbeitest du?“, fragte ich begeistert.
„Im Fitnessstudio die Straße rauf.“
Sofort fiel die Begeisterung von mir ab.
„Ich glaub, dafür bin ich nicht die richtige. Ich bin nicht wirklich sportlich.“
„Komm schon, du kannst es doch wenigstens mal versuchen.“
Ich sah ihn kritisch an, aber dann gab ich mir einen Ruck. Verheiratete Frauen mussten schließlich mal was Neues machen und sich weiterentwickeln.
„Ich schau es mir an.“
„Klasse!“
Mike… Mark erzählte mir alles mögliche über das Studio und gegen Mittag beschlossen wir in einem Bistro in der Nähe etwas zu essen.
Ich fand heraus, dass mein Nachbar ein richtig netter Kerl war, nur etwas schüchtern und tollpatschig.
Ich begleitete ihn zur Arbeit, aber das Fitnessstudio sagte mir überhaupt nicht zu. Trotzdem sagte ich Mark ich würde darüber nachdenken und ging nachhause, wo ich Mirou anrief.
„Hey ma petite!“
„Hi selber Kleine“, lachte ich. „Wie geht’s dir?“
Es tat gut mal wieder mit ihr zu reden und wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag in einem Café am Southwalk.
Mir wurde klar, dass ich jetzt zwar in London lebte, aber noch nie in der Innenstadt gewesen war. Als ich ein Blick auf den Zettel war, auf den Zettel warf, auf dem Jim seine Nummern geschrieben hatte, sah ich, dass dort auch die Firmenadresse stand. Sollte ich ihn vielleicht besuchen? Immerhin hatte ich absolut nichts zu tun.
Ich gab die Adresse bei Google ein und sah, dass es ein schickes Bürogebäude an der Themse in der Nähe von Big Ben war. Mein Gott, was mussten die Geld haben.
Kopfschüttelnd nahm ich meine Handtasche und verließ das Haus.
Ich liebte es Underground zu fahren, so war es schon immer gewesen. Die Hitze und das Klappern der Wagons, als würden sie gleich auseinander fallen beruhigte mich irgendwie.
Eine viertel Stunde später trat ich wieder an die kühle Luft. Die Sonne schien warm, wenn auch schwach auf mich herab als ich über die Millenniumbridge ging. Von hier aus konnte ich die Kuppel der Kathedrale sehen, hinter mir lag die Tate Modern, das berühmte Kunstmuseum. Ich notierte mir in Gedanken, dass ich es unbedingt besuchen musste.
Nachdem ich links an der Themse entlang gegangen war, bog ich in die Straßen ein und hatte zwei Minuten das schicke Bürogebäude entdeckt.
Auf dem Parkplatz standen lauter schicke Autos und die Leute, die eben das Haus verließen trugen teure Anzüge.
Ich atmete tief durch, dann ging ich die fünf Steinstufen hoch und betrat die Halle.
Der Boden war Stein auf dem Absätze verteufelt laut klackern mussten. Es gab Aufzüge und einen Treppenaufgang, außerdem eine Rezeption, auf die ich zuging. Die beiden Sekretärinnen unterhielten sich angeregt und bemerkten mich nicht mal, als ich mich leise räusperte.
Ich zuckte mit den Schultern und ging zu den Aufzügen. Über dem Knopf war eine kleine Tafel angebracht auf der ein Verzeichnis der Stöcke war. Im fünften Stock war die Chefetage und ich beschloss dort nach Jim zu suchen.
Als ich in dem verspiegelten Aufzug stand kam ich mir ziemlich blöd vor. Was wollte ich überhaupt hier? Ich hätte gleich ins Museum oder sonst wo hin sollen.
Der Aufzug hielt zu meiner Überraschung im zweiten Stock und ein blonder Mann stieg ein. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, doch ich konnte ihn nicht zu ordnen, bis er mich verwirrt ansah und sagte: „Hallo Mara, wie geht’s?“
„Hey Maelle.“ Ich lächelte ihn an. „Ich wollte Jim besuchen, aber ich hab keine Ahnung wo sein Büro ist.“
„Im fünften Stock einfach dem Flur rechts um die Ecke folgen. Da ist so eine Glastür auf der Mr J. Wolve steht.“
„Danke!“, sagte ich ehrlich erleichtert. „Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest.“
„Ich stecke voller Überraschungen“, meinte er zwinkernd, dann musste ich aussteigen.
Die Milchglastür hinter der sich Jims Büro befand machte einen abschreckenden Eindruck auf mich, trotzdem trat ich nach kurzem Zögern ein.
Ich gelangte in ein helles, kleines Vorzimmer, in dem ein Schreibtisch stand.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte die junge Sekretärin in einem Tonfall, als würde sie mich am liebsten rauswerfen.
Hm, Jim hatte doch gesagt seine Sekretärin wäre 50. Und die hier war auch noch auf eine billige Art hübsch. Wenn man auf so was stand.
Ich schätze sie auf Mitte zwanzig und ihre Bluse stand so weit offen, dass ich Angst hatte ihre, für ihre dürre Statur viel zu großen Brüste könnten heraus fallen.
„Ich möchte zu Jim. Mr Wolve.“
„Haben Sie einen Termin?“, schnarrte sie.
„Nein, aber…“
„Mr Wolve ist momentan unabkömmlich, aber Sie können einen Termin vereinbaren.“
„Ich brauche keinen Termin, Miss“, schnaubte ich. „Ist er da?“
„Nein!“
Ich verdrehte die Augen, dann ging ich auf die Tür zu, die in Jims richtiges Büro führen musste. Die Barbie hatte die Dreistigkeit auf zu springen und mir hinter her zu trippeln, aber da sie in ihren glitzernden High Heels nicht gerade schnell war, betrat ich unbehindert Jims Büro.
„Es tut mir leid, Mr Wolve, ich konnte sie nicht aufhalten“, fiepte es hinter mir und Jim, der am Schreibtisch saß, hob den Kopf.
„Schon okay, April. Das ist meine Frau“, erklärte er lächelnd.
„Oh, ich… Verzeihung, Mr Wolve. Mrs Wolve.“ Sie zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich.
„Du nennst sie beim Vornamen?“, sagte ich.
Jim lachte.
„Bist du eifersüchtig?“
„Und außerdem hast du gesagt, deine Sekretärin wäre 50 und keine Nutte.“
„April ist nur eine Aushilfe, bis Miss Fletcher wieder gesund ist.“
„Aha! Mit der bist du dann nicht per Du!“
„Weil sie älter ist als ich. Außerdem hat April einen Freund und ist viel zu beschäftigt ihn mit Jungs aus der Buchhaltung zu betrügen, als dass sie Zeit für mich hätte.“
„Du machst es nicht besser, Schatz“, knurrte ich und kam um den Schreibtisch herum um mich auf seinen Schoß zu setzen. Wirklich sauer war ich nämlich nicht, denn ich maß mir genug Selbstwertgefühl an, um nicht auf sowas eifersüchtig zu sein.
„Hab ich dir schon mal gesagt, dass du im Anzug total scharf aussiehst?“
Jim sah mich perplex an, dann grinste er.
„Du bist jetzt aber nicht her gekommen, um mit mir Büro Fantasien auszuleben, oder?“
„Du Arsch“, grinste ich und lehnte mich an ihn. „Nein, ich wollte einfach nur vorbeikommen. Ich sitze nicht gern untätig herum.“
„Wenn du ein bisschen früher gekommen wärst, hätten wir zusammen essen können.“
Ich hielt es für keine gute Idee ihm von… Mark zu erzählen, deshalb zuckte ich nur mit den Schultern.
„Du darfst mich zum Abendessen einladen. Aber nichts, wo man schick aussehen muss.“
„Du siehst immer schick aus.“
„Rutsch nicht auf der Schleimspur aus.“
„Und lieblich und nett bist du auch noch.“
Ich lachte und mir kam der Gedanke, dass ich Jim wirklich mochte.
„Ich kann aber erst in ein paar Stunden hier weg“, seufzte er und legte die Arme um meine Mitte.
„Passt schon, ich geh solang ins Museum. Ich bin schon ganz gespannt auf Im- und Expressionismus.“
Die Tür ging auf und der Mann, der eintrat ließ all die positiven Gefühle, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatten, verpuffen.
Er hatte meine Familie bedroht, er hatte mich bedroht. Er war von Grund auf unsympathisch und er hatte weder vor mir noch in Berichten von Jim in meinen Augen eine gute Seite von sich gezeigt. Für mich war er ein Schwein und ein Krimineller.
„Hallo Mara, wie schön, dich zu sehen“, sagte er aalglatt.
Ich drehte den Kopf weg und starrte die leere Wand zornig an. Ich atmete tief durch und dachte nicht daran, ihm auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
„Vater“, seufzte Jim. „Was gibt es?“
„Ich wollte mit dir nur die ... Präsentation durchgehen. Wie ich sehe, bist du beschäftigt. Nur nicht mit der Arbeit.“
Mr Wolve Senior lachte leise und es klang so gemein, dass ich ihm am liebsten eine rein gehauen hätte. Stattdessen sprang ich auf und sagte ausschließlich zu Jim: „Ich wollte sowieso gerade gehen. Bis heute Abend.“
Und dann flüchtete ich aus dem Zimmer, wobei ich einen großen Bogen um Jims Vater machte. Denn abgesehen davon, dass ich wütend wurde, sobald ich an ihn dachte, hatte ich auch eine scheiß Angst vor ihm. Im Ernst, das war doch ein Krimineller!
Jim vertraute ich irgendwie und ich wusste mittlerweile, dass er mir nichts tun würde. Aber dieser Mann! Mit dem war irgendwas nicht ganz in Ordnung.
Mein Handy klingelte als ich gerade das Kunstmuseum betreten wollte. Verwirrt, wer es sein könnte, trat ich ein paar Schritte zurück und ging rann.
„Hallo?“
„Hey Schatz.“ Es war Jim und er hörte sich irgendwie… schuldbewusst an. „Also… Wegen heute Abend… Ich glaube, ich muss dich an unserem ersten Date versetzen.“
„Ist das dein Ernst? Gerade, wo ich mir vorgenommen habe, eine Weile nicht mehr auf die sauer zu sein?“
„Naja, das Schlimmste ist, dass ich dich nicht wirklich versetze… Es wird nur kein Date. Weil nämlich noch ein paar Geschäftspartner kommen.“
„Aha.“
„Und mein Vater auch.“
Ich legte auf und schaltete mein Handy aus. Ich konnte es nicht fassen! Da würde ich nie im Leben hingehen, und auf das Museum hatte ich jetzt eindeutig auch keine Lust mehr.
Ich fuhr also nachhause, wo Cesar mich freudig empfing. Da er heute nur mit Mike und mir kurz draußen gewesen war, zog ich mir ein paar Sportklamotten an und ging mit ihm Gassi.
Normalerweise hasste ich jegliche Art von Bewegung, aber ich war trotzdem bevor das alles geschehen war regelmäßig joggen gegangen und das war ganz gut so, sonst hätte ich bei dem Tempo, das ich anschlug, einen Kreislaufkollaps gekriegt.
Als ich schließlich völlig fertig und etwas weniger wütend mit dem ausgepowerten Hund wieder drinnen war, zitterte ich am ganzen Körper. Durch den Schweiß und den Wind draußen fühlte ich mich ganz klamm, deshalb stellte ich mich schnell unter die heiße Dusche.
Danach fühlte ich mich richtig befreit. Ich wickelte mich in einen flauschigen Bademantel und setzte mich aufs Sofa, wo ich las. Cesar legte sich kurz darauf neben mich und betete den Kopf auf meinem nackten Knie, was mich nicht weiter störte.
Draußen begann es zu dämmern und gerade in dem Moment, in dem ich beschloss, mir einen wundervollen Abend mit ungesundem Essen zu machen, ging die Wohnungstür auf und Jim und Maelle traten ein.
„Da bist du!“, seufzte Jim erleichtert.
„Wo sonst“, knurrte ich und zog den Bademantel um mich zusammen.
„Ich hab hundert Mal auf deinem Handy und hier angerufen.“
„Davon abgesehen, dass ich nicht mit dir reden wollte: Wir haben ein Festnetztelefon?“
Maelle lachte unterdrückt und wegen dem Blick, den er mir zu warf, zupfte ich nochmal meinen Bademantel zurecht.
„Hör auf meine Frau anzugaffen oder du darfst im Auto warten“, grollte Jim und Maelle zog den Kopf ein.
„Was wollt ihr überhaupt hier? Musst du nicht zu deinem tollen Geschäftsessen?“
Jim kam auf mich zu und sagte vorsichtig: „Du musst mitkommen.“
„Nein?“
„Bitte, es ist wirklich wichtig. Wir müssen mit diesen Leuten ein wichtiges Geschäft abschließen und die Typen sind total auf Familienunternehmen fixiert und haben altmodische Grundsätze. Deshalb will mein Vater uns als Happy Family präsentieren.“
„Hm. Und natürlich machst du was er sagt und deshalb muss ich das auch.“
„So ist das nicht!“ Er legte die Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. „Bitte, Mara. Du musst nicht mit ihm reden und nicht neben ihm sitzen. Bitte, tu das für mich“, hauchte er.
Ich kam mir vor wie ein Hase, der Auge in Auge mit einem Wolf steht. Nur, dass ich keine Angst hatte, sondern einfach nur total versunken war. Verdammt, ich war zu leicht zu manipulieren.
„Na gut“, seufzte ich widerwillig.
Jim grinste und umarmte mich entschuldigend.
Murrend ging ich ins Schlafzimmer, wo ich absolut ratlos vor dem Kleiderschrank stand. Schließlich entschied ich mich für ein grünes Kleid, das nicht zu schick aber auch nicht leger war.
Während ich mich in die High Heels quälte verfluchte ich Jim tausend Mal. Wie hatte er mich nur dazu überredet? Was sollte das überhaupt.
Im Bad fuhr ich mir kurz durch die hoffnungslos wilde Mähne, beschloss, dass sie passabel war und schminkte mich dezent.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, saßen Maelle und Jim auf dem Sofa. Bei meinem Anblick erhoben sie sich und Jim öffnete den Mund um mir ein Kompliment zu machen, doch ich schenkte ihm nur einen vernichtenden Blick und stolzierte zur Tür.
Es war schlimm. Nein, es war nicht schlimm, es war auch nicht schrecklich, es war abartig. Grausam. Absolut beschissen.
Das Restaurant war eins von diesen total schicken, sterilen Dingern. Unangemessen überteuert und nur für Leute geschaffen, die so viel verdienten, dass sie ihr Geld nicht mal so loswurden. Kurz gesagt, es war nicht meine Welt.
Ich saß neben Jim an dem großen Tisch zusammen mit zehn anderen Leuten, deren Namen ich mir nicht gemerkt hatte. Jims Vater saß mir gegenüber und es verlangte mir alles ab ihn nicht wutentbrannt mit Blicken zu erdolchen. Jessica saß neben mir und ich hatte mich ihrem Champuswahn angeschlossen, in der Hoffnung der Alkohol würde mir durch den Abend helfen.
Ich zerfledderte gerade geistesabwesend eine der sündhaft teuren Stoffblumen, die in dem Dekogesteck vor mir lag und versuchte mich auf das Spiel der zugegebenermaßen guten Streicher, die auf einem kleinen Podest spielt, zu konzentrieren, als mich plötzlich der Mann ansprach, der neben Jims Vater, also mir schräg gegenüber saß.
„Sie sind Künstlerin, nicht wahr, Mrs Wolve?“
Er hatte eine dunkle, weiche Stimme, die perfekt zu seinem düsteren, aber auch freundlichen Aussehen passte. Das seltsame Glimmen in seinen Augen irritierte mich zwar, aber ich hielt es für eine Spiegelung der vielen Kerzen, die auf dem Tisch zwischen den Gläsern und Tellern standen.
„Naja, ich male und zeichne gern, aber woher wissen Sie das? Ich habe ja nie etwas veröffentlicht.“
„Ihr Mann hat es einmal erwähnt“, sagte der dunkelhäutige Mann geheimnisvoll und ich lächelte um meine Verwirrung zu überschatten.
Arbeitete er etwa auch in Jims Firma? Sein Akzent hatte mich vermuten lassen, er lebe im Ausland und wäre nur der Geschäfte wegen in London. Oder sie hatten einfach oft miteinander zu tun. Was mir auch nicht so einleuchtete, weil er mir nicht so aussah, als würde er auch in der Sportbranche arbeiten. Niemand von diesen Geschäftspartnern sah so aus. Sie kamen mir eher wie eiskalte Geschäftsmänner vor, die mit viel Geld zu tun hatten.
„Sie interessieren sich bestimmt für die Ausstellung in der Tate. Oder waren Sie schon dort?“
„Ich wollte heute Nachmittag hin, aber dann ist mir etwas dazwischen gekommen.“
„Etwa allein?“
„Oh ja. Jim interessiert sich glaube ich nicht so sehr für Kunst“, sagte ich und mein Nebensitzer drehte sich um.
„Hab ich da meinen Namen gehört?“, hakte er nach und sah von meinem Gesprächspartner zu mir.
„Tja, Jim, wie es aussieht braucht Ihre reizende Frau noch eine Begleitung für einen Besuch in der Tate“, sagte der Mann, dessen Namen in immer noch nicht wusste, und obwohl seine Gesichtszüge ganz ruhig waren, funkelten seine Augen fast schon provozierend.
Jim hob leicht die Augenbrauen und legte fast beiläufig einen Arm um meine Schultern.
„Ach tatsächlich?“
„Ich hab nur gesagt, dass ich nicht glaube, dass du dich für sowas interessierst“, erklärte ich.
„Das heißt nicht, dass ich nicht mit dir hin gehen würde, Schatz“, sagte er so deutlich nur zu mir, dass der andere komplett aus der Unterhaltung ausgeschlossen wurde.
Das fand ich überhaupt nicht nett und immerhin war das hier doch ein ach so wichtiges Geschäftsessen, oder? Aber ich wollte hier keinen Aufstand machen, deshalb lächelte ich Jim nur an und nahm einen Schluck aus meinem Champagnerglas.
Die peinliche Situation löste sich, da Jessica mich jetzt auf ihren neuen Lieblingsfriseur ansprach und mich unbedingt davon überzeugen wollte, mir einen neuen Haarschnitt zuzulegen.
„Ach bitte, Mara! Komm doch morgen Nachmittag mit und wenn es nur zum Stylen ist“, bettelte sie.
„Tut mir leid, aber ich treffe mich morgen schon mit einer anderen Freundin“, seufzte ich, ein bisschen froh über die Ausrede.
„Dann bring sie doch mit! Wir machen einen Mädelsnachmittag und ich zeig euch die besten Boutiquen hier!“
Sie tat mir ja schon ein bisschen leid. Zum einen weil sie es ja nur gut meinte und zum anderen, weil sie anscheinend dachte, wir wären gute Freundinnen.
„Na gut“, gab ich leise nach. „Ich frag Miru morgen. Gib mir deine Nummer, dann ruf ich dich an.“
„Yay! Das wird total super!“
Alles in allem endete der Abend dann doch ganz nett, was ich Jim natürlich nicht zeigte, denn ich hatte den Sinn dieses Geschäftsessen wirklich nicht durchschaut und weder Jessica, noch George, noch Jim hatten sich eindeutig geäußert.
Während der Autofahrt nachhause schwieg ich eisern, auch wenn ich mich heute Abend nicht mehr mit Jim streiten wollte. Was ja nicht bedeutete, dass ich nett sein musste.
Allerdings redete Jim auch nicht und im Aufzug holte er dann auch noch sein Handy aus der Anzugtasche.
Wütend verschränkte ich die Arme und stolzierte an ihm vorbei in die Wohnung.
„Mara, warte mal“, sagte er leicht abwesend und ich fuhr herum.
Mein werter Ehemann tippte auf seinem Mobiltelefon herum und hatte die freie Hand erhoben.
Ich wartete genau zwei Sekunden, bevor ich ins Bad verschwand und mich genervt bettfertig machte. Was sollte das denn jetzt? Vorhin hatte er einen Eifersuchtsanfall gekriegt und mich gar nicht mehr losgelassen und jetzt war ihm sein Handy wichtiger? Und wieso wollte ich überhaupt so unbedingt seine Aufmerksamkeit?
Als ich ins Schlafzimmer ging, konnte ich Jim im Wohnzimmer telefonieren hören. Leicht frustriert schaltete ich das Licht aus und legte mich hin.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür und ein Streifen Licht fiel ins Zimmer. Ich rührte mich nicht, während Jim nach drinnen schlich und sich auszog. Leise hörte ich seine Kleidung rascheln und schließlich senkte sich die Matratze hinter mir. Vorsichtig rückte Jim an mich heran und schlang einen Arm von hinten um meine Taille.
„Lass das“, fauchte ich und er zuckte leicht zusammen, verstärkte seinen Griff aber nur noch.
„Tut mir leid, hat ein bisschen länger gedauert“, wisperte er mir ins Ohr und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Konntest du etwa nicht ohne mich einschlafen?“, fügte er sichtlich gut gelaunt hinzu.
„Jim, du nervst. Ich hab mich auch erst grad hingelegt.“
„Sei nicht sauer“, hauchte er mir ins Ohr und ich konnte nicht verhindern, eine Gänsehaut zu bekommen. „Das eben war geschäftlich.“
„Genau wie das unnötige Essen, zu dem du mich unnötigerweise geschleppt hast und wo ich mich nur unnötig gelangweilt hab.“
„Sei nicht sauer“, wiederholte er und küsste meinen Hals.
„Ja“, grummelte ich und lehnte mich ergeben an ihn. „Ich will ja gar nie auf dich sauer sein“, gab ich leise zu. „Aber du machst mich einfach rasend und es gibt Dinge, die ich nicht verstehe. Dinge, von denen ich glaube, dass du sie mir verheimlichst.“
„Es tut mir leid“, wisperte er und ich spürte wie er sich halb aufsetzte, um sich über mich beugen zu können und mich zu küssen.
„Ich glaube, ich liebe dich“, flüsterte ich, als seine Lippen von meinen abließen.
Erschrocken über das, was ich gesagt hatte, zuckte ich zusammen. Mit aufgerissenen Augen starrte ich Jim an und dieser erwiderte meinen Blick, ebenso überrascht. Dann umspielte der Anflug eines Lächelns seine Lippen.
„Ich liebe dich auch, Mara.“
Sanfte Sonnenstrahlen, die durch die halbzugezogenen Vorhänge schienen, kitzelten mich wach. Das Lächeln lag bereits auf meinen Lippen und ich fühlte mich zufrieden und irgendwie… glücklich.
Das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen und ich grub meine Zähne in meine Unterlippe. Mein Herz schlug kräftig und nicht zu schnell in meiner Brust und ein Lachen kroch meine Kehle hinauf.
Jim liebte mich. Und ich liebte ihn. Die Welt war perfekt.
Ich räkelte mich ausgiebig und drehte mich auf die andere Seite. Jim lag noch schlafend da und ich überlegte, ob er heute frei hatte.
Leise setzte ich mich auf. Das schwache Licht von draußen fiel auf seinen muskulösen Rücken und sein zerwühltes, schwarzes Haar schien leicht darin zu schimmern. Sein Gesicht war leicht verkrampfte, als würde er träumen und er war verschwitzt.
Vorsichtig hob ich die Hand und strich durch sein Haar. Meine Hand wanderte über die festen Muskelstränge seinen Rücken nach unten, bis zu seiner Hüfte, wo die Decke begann. Mein ganzer Körper kribbelte und ich beugte mich leicht über ihn. Ich küsste seine Schulter, dann seine Hand, die vor seinem Gesicht auf dem Kopfkissen lag und schließlich seine Lippen. Dabei wachte er langsam auf und gab ein leises Stöhnen von sich.
„Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab, aber ich konnte einfach nicht widerstehen“, sagte ich grinsend.
Jim öffnete die Augen und kniff sie leicht zusammen. Ich hob die Augenbrauen, als er eine Hand auf die Stirn presste.
„Ist alles okay?“
„Kopfweh“, ächzte er und zog mich an sich. „Willst du meine sexy Krankenschwester sein?“
„Wenn du noch Witze machen kannst, bist du nicht wirklich krank“, meinte ich und drückte mein Gesicht an seine Brust, damit er nicht sah wie rot ich bei dem Gedanken wurde.
Dann piepste der Wecker los und Jim stöhnte erneut auf, diesmal aber vor Schmerzen, und schlug nach dem Ding, um es abzustellen.
Ich drückte mich wieder von ihm weg und hob eine Hand und legte sie an seine Stirn. Sie war glühend heiß.
„Ach du Schande“, murmelte ich. „Mein armer Schatz ist wirklich erkältet.“
„Mh“, machte er nur und zog sich das Kissen über den Kopf, doch ich hörte ihn trotzdem deutlich husten und fühlte mich ausreichend schlecht, als ich sein Sixpack bewunderte, dass sich dabei anspannte.
„Vielleicht solltest du heute nicht zur Arbeit gehen“, sagte ich.
Hoffentlich hatte er sich nichts Schlimmes eingefangen…
„Nach meinen Erfahrungen wird das erst abends schlimm, ich mach einfach früher Schluss“, krächzte er und versuchte sich aufzusetzen, wobei er so blass wurde, dass ich ihn erschrocken wieder in die Kissen drückte.
„Vergiss es. Ich ruf da an und sag, dass du krank bist. Und ich mach dir einen Tee. Bleib schön liegen“, befahl ich und ging in die Küche, ohne ein Widerwort abzuwarten.
Ich war überrascht, wie selbstverständlich die Sekretärin reagiert hatte, fast als hätte sie es schon geahnt. Während ich Tee kochte, überlegte ich, ob er wohl öfter krank war. Jim wirkte so unverwüstlich auf mich.
Aber das tat er nicht mehr, als ich ins Schlafzimmer zurückkehrte, wo er schwach und bleich da lag und es irgendwie schaffte immer noch unwahrscheinlich attraktiv zu sein.
Ich stellte die dampfende Tasse auf das Nachttischchen und zog den Vorhang ganz zu, nachdem ich noch das Fenster geöffnet hatte, um frische Luft herein zu lassen.
Dann setzte ich mich unentschlossen, was ich tun sollte, wieder ins Bett.
„Mara?“, murmelte Jim nach einer Weile ernst.
„Ja?“
„Ich hab gehört, dass Sex gegen Kopfschmerzen helfen soll. Würdest du…?“
Ich hob die Augenbrauen und wollte gerade zu einer empörten Rede ansetzen, was er sich eigentlich einbildete, da sah ich sein schiefes Grinsen und die Belustigung in seinen halb geschlossenen Augen.
„Du bist blöd“, sagte ich und kuschelte mich unter der Decke an ihn.
„Du würdest es doch gar nicht anders wollen“, schnurrte er und schlang zufrieden die Arme um mich.
„Anscheinend bist du doch nicht so krank.“
„Solang ich mich nicht bewege und du mich ablenkst… Nicht schlagen, ich meine durch Reden!“
„Sicher“, knurrte ich.
„Und außerdem wird es wie gesagt erst abends richtig schlimm.“
„Hast du das denn oft?“
„Manchmal… Es ist nur Migräne.“
Es hörte sich an, als wollte er noch mehr sagen, doch es kam nichts mehr.
Wir lagen schweigend da bis ich schließlich die Stille durchbrach.
„Jim, wegen gestern Abend, als wir uns… das gesagt haben…“
„Ja?“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir hatten uns gestern nur geküsst und gekuschelt, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis noch darüber zu reden. Was sich geändert hatte. Wie es weiter gehen sollte.
„Ich weiß nicht. Was ist das denn jetzt mit uns?“
Er schwieg und schlagartig trat mich ein Gedanke. Was, wenn er es gar nicht so gemeint hatte?
„Was soll denn sein?“, fragte er schließlich.
„Ich…“, setzte ich erneut an, aber ich brachte nichts heraus.
Jim legte eine Hand unter mein Kinn, sodass ich den Blick heben musste und küsste mich, erst ganz sanft, dann etwas mehr, dann drehte er sich auf den Rücken und zog mich mit sich, sodass ich auf ihm landete.
„Ich liebe dich heute immer noch, es hat sich nichts geändert. Oder hast du dich um entschieden?“
„Nein, natürlich nicht“, stammelte ich und mein Herz schien zu explodieren.
„Dann ist doch alles gut, oder?“, fragte er lächelnd und zog mich wieder zu sich herab, um mich weiter zu küssen.
Am späten Vormittag wurde Jim immer fiebriger, schlief aber ein und ich ging in die Küche, um Mittagessen zu machen. Während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte, rief ich Miru an.
„Falls du vor’ast mir abzusagen, dann kannst du das gleisch vergessen“, begrüßte sie mich.
„Nein, ach was“, lachte ich. „Es ist nur… Also die Freundin vom Bruder von Jim hat gefragt ob wir nicht alle was zusammen machen können. Und gut, sie ist ein bisschen anstrengend, aber im Grunde total nett und ich glaube sie ist ein bisschen einsam. Würde es dich stören, wenn sie heute dabei ist?“
„Natürlisch nischt, chérie! Deine Freunde sind auch meine Freunde“, sagte Miru gutgelaunt.
„Okay klasse, dann bis nachher!“
„À plus!“
Nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich noch Jessica an und sagte ihr wann und wo wir uns treffen würden. Sie kam mir besonders begeistert vor und verabschiedete sich noch aufgeregter als sonst. Sobald man es überwunden hatte, ihre Art nervig zu finden, war sie wirklich sympathisch.
Grinsend bereitete ich eine Nudelsuppe zu und brachte sie dann auf einem Tablett ins Schlafzimmer.
Jim befand sich in einem dösigen Halbschlafzustand, aber es schien ihm ganz gut zu gehen.
„Ich geh nachher weg, aber abends bin ich wieder da, okay?“, sagte ich, nachdem ich mich im Schneidersitz Suppe schlürfend neben ihn gesetzt hatte.
„Mhmm. Wohin gehst du denn?“
„Ich treffe mich nur mit Miru und Jessica. Soziale Bindungen aufbauen und so. Übrigens weiß ich immer noch nicht so wirklich, was ich mit meiner Zeit anfangen soll.“
„Du kannst doch malen“, sagte Jim schulterzuckend und ich hob die Augenbrauen. „Naja, du musst ja kein Geld verdienen und das macht dir doch Spaß, oder?“
„Ähm“, machte ich etwas perplex. „Du glaubst ich würde hier den ganzen Tag rumsitzen, eine Leinwand beschmieren und warten, bis der Brötchenverdiener nachhause kommt? Hört sich nicht gerade erfüllend an. Und ich mag den Tonfall nicht, mit dem du das gesagt hast.“
Jim seufzte und schloss leicht die Augen.
„Schatz, können wir vielleicht morgen darüber reden? Ich hab wirklich Kopfweh.“
„Immer sagst du morgen, morgen, morgen! Anscheinend willst du nicht mal drüber nachdenken. Davon abgesehen ist es ja nicht so, als würde ich deine Erlaubnis brauchen, also werde ich mich jetzt einfach nach etwas umsehen und das dann machen. Mir egal was du davon hältst“, schnaubte ich verärgert und rauschte aus dem Zimmer.
Wie konnte er nur so herablassend reden? Und so desinteressiert sein! Immerhin hatte ich auch ein Recht auf ein Leben und war nicht nur dazu da, ihm seinen Feierabend zu versüßen und zu kochen.
Ich machte mich fertig, schnappte mir eine Handtasche und meine Jacke und verließ die Wohnung.
Meine Wut war größtenteils verraucht und hatte sich in Niedergeschlagenheit umgewandelt als ich das hübsche Café am Southwalk betrat, wo Miru bereits auf mich wartete.
Sie sprang auf, als sie mich sah und wir begrüßten uns mit einer Umarmung.
„Chérie, du siehst gar nischt gut aus… Was ist passiert?“, fragte sie sofort, nachdem wir uns gesetzt hatten.
„Ach, es ist nur… Ich hab mich schon wieder irgendwie mit Jim gestritten.“ Ich zerfetzte gedankenverloren eine der hauchdünnen Servierten, die auf dem Tisch lagen. „Er sagt er liebt mich und er ist ständig so süß und alles, aber dann ist er wieder so desinteressiert und verschlossen…“
„Isch weiß, du willst das jetzt nischt ‘ören, aber ihr ‘abt so früh ge’eiratet. Kennst du ihn denn über’aupt so gut?“
Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich konnte nicht mal den Blick heben, so befangen war ich von der Qual, ihr nicht die Umstände unserer Heirat erklären zu können. Himmel, was würde sie denken…
„Ich liebe ihn und mit ihm fühlt sich alles einfach richtig an“, wisperte ich wahrheitsgemäß. „Ich weiß nur nicht, wie ernst er es meint.“
„Oh Chérie“, seufzte Miru und bestellte uns zwei große Erdbeerbecher mit extra Sahne.
Meine Tränen waren schnell wieder versiegt, sobald ich mich auf die Berge von Zucker gestürzt hatte und dann betrat auch schon Jessica das Café. Energiesprühend, etwas zerzaust und hübsch wie sie war, zog sie die Aufmerksamkeit aller an, was ihr jedoch egal zu sein schien.
„Hi Mädels!“, flötete sie. „Du musst Miru sein, es freut mich ja so dich kennenzulernen, ich liebe la France!“
„Und du bist bestimmt Jessica, salut“, sagte Miru und gab Jessica ganz nach ihrer offenen Art französische Küsschen auf die Wangen.
„Wie geht’s Jim, Mara-Schatz?“, fragte Jessica sich setzend und schon halb in die Eiskarte vertieft.
„Ähm, er ist krank“, sagte ich mit dem seltsamen Verdacht, dass sie das schon gewusst hatte.
„Jaja, die Wolves haben alle so ein schwaches Immunsystem, obwohl man ihnen das ja gar nicht zutraut, nichts wahr? Sie sind ja alle so starke Jungs. Kommst du eigentlich auch zum Familienessen? Ach natürlich tust du das, du gehörst ja jetzt auch dazu. Meine Güte, sind die Sachen hier zuckerhaltig, ich denke ich nehme einen Espresso, he, garçon!“
Miru grinste mich an und verdrehte leicht die Augen.
Wir unterhielten uns alle ein bisschen über die Läden hier in London, wobei Jessica das Wort führte und uns anbettelte nach Covent Garden zu fahren, weil dort ja die besten Geschäfte wären, aber ich wusste, dass dort auch die teuersten waren und ich wollte weder Jims Geld aus dem Fenster werfen, noch Miru in Verlegenheit bringen. Immerhin hatte sie keinen Freund mit Geld wie Heu.
Schließlich lud Jessica und zu einem Styling bei ihrem Lieblingskosmetiker hier in der Innenstadt ein und wir machten uns auf den Weg.
Es tat gut mal wieder unter Mädels zu sein und ich fühlte mich unendlich frei, weil die letzten Tage meines Lebens komplett aus Jim bestanden hatten. Jetzt strich ihn einfach komplett aus meinem Kopf und versuchte lachend den Kosmetiker davon zu überzeugen, dass meine Haare weder blondiert noch geschnitten werden wollten. Schließlich überzeugten alle Anwesenden mich zu einem Stufenschnitt, bei dem die unterste Stufe nur wenig kürzer als meine jetzige Frisur war. Immerhin war mein „Stylist Geoffrey, aber nennt mich Steve“ auch davon überzeugt, dass ein dezentes Makeup bei mir eher passte, aber meine Nägel wurden trotzdem blutrot lackiert.
„Du siehst so ‘eiß aus, wenn Jim nach‘er nischt vor dir auf die Knie fällt, um sisch zu entschuldigen, dann verste’e isch den Mann nischt“, raunte Miru mir beim Rausgehen zu und ich musste lachen.
„Hey Jessica, was meintest du eigentlich mit diesem Familienessen?“, frage ich nach, als wir über die Millenniumbridge schlenderten.
„Na übermorgen“, sagte Jessi schulterzuckend und fügte mit einem Blick auf mein ratloses Gesicht hinzu: „Die Wolves treffen sich alle vier Wochen samstags zum Abendessen, wusstest du das nicht?“
„Ach so, doch klar“, murmelte ich und wurde unter Mirus wachsamen Augen rot.
„Wisst ihr was, es wird schon spät und trotz unserem Streit sollte ich wohl nach Jim sehen“, meinte ich und strich mir meine braunen, vom Friseur gewellten Haare aus dem Gesicht.
„Ich sollte wohl auch zu George zurück“, meinte Jessica und ich hob die Augenbrauen.
„Ist er denn auch krank?“
„Was? Nein, nein, ich muss nur los. Soll ich euch mitnehmen?“, lenkte sie schnell ab und winkte nach einem Taxi.
Miru stieg nach einer kurzen Verabschiedung bei ihr ein, weil sie in eine ähnliche Richtung musste und ich begab mich etwas zerstreut zur Tube.
Was hatte denn das zu bedeuten? Brach denn das Immunsystem der ganzen Familie immer gleichzeitig zusammen?
Als ich endlich zuhause aus der Underground stieg, war es ziemlich kühl und dämmrig. Es war dieser Moment, in dem der Mond aufgeht und die Sonne noch nicht ganz weg ist und ich schlenderte entspannt in Richtung Jim, mit einem guten Gefühl, unseren Streit beiseite lassen zu können. Unten in der Station hatten Anzeigen gehangen und obwohl mich keine davon direkt angesprochen hatte, beschloss ich, morgen noch mal durch die Stadt zu pendeln und mich selbstständig nach einem Job umzusehen. Dafür brauchte ich Jim wirklich nicht. Außerdem hatte ich ein Plakat gesehen und der Hintergrund darauf hatte mich für ein neues Bild inspiriert.
In der Wohnung war es still und dunkel. Leise ging ich ins Schlafzimmer um nach Jim zu sehen. Da auch hier kein Licht brannte, nahm ich an, dass er schlief, doch er bewegte sich, als ich die Tür öffnete.
„Hey“, flüsterte ich und setzte mich vorsichtig zu ihm.
Er glühte immer noch und war schweißnass. Sein Haar klebte an seiner Stirn und seine Augen waren halb geschlossen.
„Du hast die Haare anders“, murmelte er.
„Das siehst du? Im Dunkeln mit Kopfweh?“, fragte ich irritiert. So anders waren sie ja gar nicht.
„Sieht heiß aus“, sagte er und sein Mundwinkel zuckte, als ob er grinsen wollte.
Ich schüttelte leicht fassungslos den Kopf und hauchte einen Kuss auf seine Lippen.
„Ich hoffe der neue Lippenstift ist kussecht“, wisperte er und ich legte die Stirn in Falten.
„Wie siehst du das bei der Dunkelheit?!“
„So dunkel ist es nicht“, brummte er und legte seine Hand in meinen Nacken, um sich zu sich herunter zu ziehen.
Da er ziemlich geschwächt war, hätte ich mich wehren können, doch ich hatte kaum Lust darauf, also ließ ich mich ins Bett ziehen und genoss es, den besten Küsser dieser Welt zum Mann zu haben.
Ich lag halb auf ihm und er hatte seine Hände in meinen Haaren vergraben, doch jetzt drehte er sich und begrub mich unter seinem Körper. Augenblicklich wurde mir fast unangenehm warm.
„Jim…“, murmelte ich gegen seine Lippen. „Du bist total heiß.“
„Du auch“, schnurrte er und küsste meinen Hals.
„Nein, im Ernst, du musst mindestens 40 Grad Fieber haben! Geht es dir gut?“
Ich versuchte freizukommen, denn Jim war offensichtlich nicht gesund, doch er ließ es nicht zu.
„Es geht mir klasse, seitdem du da bist“, hauchte er mir ins Ohr und ich biss mir fest auf die Lippe, als seine Hände langsam tiefer wanderten.
Er öffnete meinen Gürtel, ohne aufzuhören mich zu küssen, und zog mir die Hose aus. Kurze Zeit später folgte mein Oberteil und ich fühlte mich wie Wachs in seinen Händen. Schmelzendes Wachs, weil er so verdammt heiß war. Und hart.
„Was wird das?“, keuchte ich, unfähig meine Hände von seinem perfekten Rücken zu nehmen.
„Ich will dich, Mara. Ich will dich wirklich, es geht mir nicht um den Sex, sondern um Sex mit dir“, raunte er mit heiserer Stimme und mir klappte der Mund auf.
„Ich…“, stammelte ich vollkommen überrascht über diese Aussage. „Ich will auch, ich… Ich weiß nur nicht, ob es das richtige ist, ich meine…“
„Hör auf nachzudenken, Süße, es ist alles gut und ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst.“
Er küsste mich ganz sanft auf den Mund.
„Hast du ein Kondom?“, fragte ich schüchtern und lief knallrot an.
Es war nicht so, wie es in den Liebesromanen, die ich verschlungen hatte, beschrieben wurde. Magisch… Wunderschön… fließend und perfekt, voller Rosenblätter und rosa Zuckerwatte. Kein Kerzenschein. Sondern glühendes Feuer.
Es war so heiß, dass mir vermutlich die Hirnsynapsen wegschmolzen und es machte so süchtig, dass wir unter der kalten Dusche danach nochmal fast das Wasser verdampften.
Völlig erschöpft und glücklicher, als ich es für möglich gehalten hatte, schlief ich in Jims Armen ein und während ich ins Land der Träume glitt, wusste ich nur einen Grund, warum ich wieder aufwachen sollte: er.
Ich erwachte und ich fühlte mich fabelhaft noch bevor ich die Augen öffnete. Ich fühlte mich immer noch fabelhaft, als ich sie öffnete und Jim sah, der neben mir lag und mich angrinste.
„Sex hilft wirklich gegen Kopfschmerzen.“
Und ich musste lachen, weil es mir einfach so fabelhaft ging.
„Wie geht es dir?“, fragte Jim lächelnd.
„Fabelhaft“, sprach ich meine Gedanken aus und kuschelte mich an ihn.
„Sharpay.“
„Wie bitte?“
„Die sagt das doch auch immer. Du weißt schon, die aus High School Musical.“
Mit großen Augen und zusammen gekniffenen Lippen lehnte ich mich etwas von ihm weg.
„Schatz. Wie alt warst du, als das raus kam? 19?“
Jim lachte und verdrehte die Augen.
„Ich hab’s doch nicht angeschaut! Ich war immer mehr der American Pie Fan.“
„Oh Gott!“, stöhnte ich. „Seither kann ich Apfelkuchen nicht mal mehr ansehen.“
„Ist mein Lieblingskuchen“, grinste er und ich schmiegte mich schnaubend wieder an ihn.
Irgendwann riss Cesar uns aus unserer Zweisamkeit, indem er vor der Tür bellte, um darauf aufmerksam zu machen, dass er Gassi gehen wollte.
Draußen regnete es, doch das hielt uns nicht ab. Wir schlüpften schnell in unsere Klamotten und dann ging es los.
Noch nie hatte ich einen schöneren Spaziergang gemacht. Wir liefen schnell, waren aber sehr lang draußen und Cesar tobte von Pfütze zu Baum zu Bordsteinrinne. Es war witzig, obwohl wir kaum redeten und ich konnte nicht aufhören zu grinsen. Jim ging es genauso und auf dem Rückweg gingen wir beim Bäcker vorbei, um Frühstück zu holen und die Verkäuferin hielt uns sicher für genau das, was wir waren: ein frisch verheiratetes Paar.
Mir war eiskalt als wir aus dem Fahrstuhl traten. Unsere Kleidung war mit Regenwasser durchtränkt und auch Cesar, der sich vor der Wohnung schüttelte, dass es nur so spritzte, sah aus, als hätte er gebadet.
„Kalt, kalt, kalt“, ächzte ich, als wir drinnen waren und lies die Brötchentüte aus meinen klammen Fingern auf die Arbeitsplatte fallen.
Meine Haare tropften und mein Rest auch. Jim sah nicht viel besser aus, als er auf mich zukam, nur dass er eher einem Model als einem Straßenköter glich.
„Du solltest das ganz schnell ausziehen, wenn du nicht krank werden willst“, sagte er grinsend und öffnete meine Jacke.
„Du auch“, erwiderte ich mit rasendem Herzen schälte ihn aus der Lederjacke, die an ihm zu kleben schien.
Seine Finger wanderten zu meinem Jeansknopf.
„Am besten solltest du alles ausziehen“, schnurrte er.
„Aus rein gesundheitlichen Gründen versteht sich“, keuchte ich und klammerte mich an der Arbeitsfläche hinter mir fest, um nicht in die Knie zu gehen, als Jims Küsse über meinen Hals und tiefer wanderten und dann war er es, der auf die Knie ging.
Ich schnappte nach Luft, als er zu mir hochgrinste und meine Hose öffnete. Mein Atem raste und ich konnte es nicht glauben, was er vorzuhaben schien, als es plötzlich klingelte.
Ich zuckte zusammen und wollte ihn erschrocken wegschieben.
„Lass es einfach klingeln, wir erwarten niemanden“, sagte Jim, doch da klingelte es erneut und ein Klopfen folgte.
„Ich mach schon“, keuchte ich, weil ich eine schlimme Vorahnung hatte, wer das sein könnte.
Ich stolperte zu Tür und versuchte dabei, meine Hose zu schließen und meine Atmung unter Kontrolle zu kriegen, wobei mir letzteres so gar nicht gelang, dann öffnete ich die Tür einen Spalt breit und spähte hinaus.
„Mike!“
„Mark“, verbesserte er mich lächelnd, doch dann nahm er mich näher in Augenschein du fragte erschrocken: „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles bestens“, presse ich hervor und wollte die Tür schon schließen.
„Warte, Mara! Ich äh, … ich gebe morgen Abend eine kleine Party und ähm, ja, keine große Sache, aber komm doch vorbei.“ Er sah mich an, wie ein Reh in die Scheinwerfer eines heranrollenden Autos blickt.
„Ich… schau mal, okay?“
„Cool, klasse!“ Er strahlte mich an, machte aber keine Anstalten zu gehen, also nickte ich ihm einfach zu und schloss die Tür.
„Wer war das denn?“, fragte Jim, der an der Anrichte lehnte und die Arme verschränkt hatte, mit schiefgelegtem Kopf.
„Ach nur so ein Nachbar, den ich im Aufzug kennengelernt hab“, winkte ich ab und alle Hoffnung darauf, das fortzusetzen, was wir eben begonnen hatten, verschwand.
„Und wieso klingelt „nur so ein Nachbar“ bei dir?“
Weil er denk, dass hier tatsächlich nur ich wohne?
„Ach wegen so einer Party, ist ja auch egal“, sagte ich schnell und ging zu ihm.
Ich wollte gerade meinen flehenden Vergiss-es-und-lass-uns-bitte-weitermachen-Blick aufsetzen, als er mein Vorhaben schon erriet und grinsend den Kopf schüttelte.
„Geh duschen, dann können wir frühstücken.“
„Kommst du mit?“, fragte ich mit meinem unschuldigsten Augenaufschlag, konnte aber nicht verhindern rot zu werden.
„Geh duschen“, wiederholte er nur langsam, aber amüsiert.
Nachdem ich mich unter der Dusche aufgewärmt, etwas Trockenes angezogen und mir oft genug gesagt hatte, dass Jim nicht sauer war, ging ich wieder ins Wohnzimmer, wo Jim auf der Couch saß, ein Tablett mit unserem Frühstück und Kaffee vor sich. Außerdem trug er eine graue Jogginghose. Ich hatte ihn noch nie in einer Jogginghose gesehen. Und ich blieb stehen, um den Anblick zu würdigen.
„Was ist?“, fragte er leicht verwirrt und sein Blick wanderte vom Fernseher zu mir.
„Ach, gar nichts“, meinte ich schnell, stellte den Sabberfluss ein und setzte mich grinsend zu ihm.
Bevor wir auf den Besuch von vorhin zurückkommen konnten, schnappte ich mir ein Croissant und sagte verheißungsvoll: „Jessica hat mir da was erzählt.“
„Oh je… Also was immer du jetzt von mir denkst, es war mein 21. Geburtstag und ich…“
„Was?“, lachte ich erschrocken und starrte ihn an. „Wovon redest du, ich meine das Familienessen morgen!“
„Oh. Oh mein Gott“, lachte er erleichtert und ließ den Kopf zurücksinken.
„Ich hätte dich nicht unterbrechen sollen“, grinste ich kopfschüttelnd, aber momentan wollte ich nicht wirklich wissen, was mir Jessica so schreckliches hätte erzählen können. Obwohl… Vielleicht konnte ich sie ja mal danach fragen.
„Doch, doch… Doch. Ja äh, was?“ Jim sammelte sich und sah mich wieder an und ich verdrehte die Augen. „Das Familienessen. Ja, was ist damit?“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Hätte ich das denn tun sollen? Ich dachte es reicht, wenn ich es dir morgen sage.“
„Und was, wenn ich dann schon etwas vorhätte?“
„Was denn?“ Jim hob verwirrt die Augenbrauen.
Männer waren ja so unfähig.
„Es hätte ja sein können! Jedenfalls wäre ab jetzt gerne immer im Voraus informiert“, stellte ich klar und Jim nickte.
„Okay. Gut. Das führt uns dann zum nächsten Thema: gemeinsame Entscheidungen treffen.“
Jim schien offensichtlich keine Ahnung zu haben, was mit mir los war, schon vor elf Uhr fachmännisch Eheregeln sachlich zu erläutern.
„Also, du willst zu diesem Essen gehen…“
„Falsch. Wir gehen zu diesem Essen, Ende.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte ich, als würde ich es einem Kleinkind erklären. „Wir entscheiden das gemeinsam. Und ich will nicht nochmal mit deinem Vater an einem Tisch sitzen.“
Jim seufzte.
„Ich verstehe, dass du ihn nicht leiden kannst…“
„Er hat meine Familie bedroht!“
„… aber dieses monatliche Familienessen ist Tradition, schon seitdem ich und George nicht mehr zuhause wohnen. Außerdem haben deine Eltern dich praktisch verkauft“, fügte er vorsichtig hinzu.
„Und deine haben mich gekauft. Das heißt nur, dass meine Eltern beschissene Eltern sind, deine sind schlechte Menschen.“
„Die Logik hinkt ein bisschen, Süße“, sagte Jim, der zwischen belustigt, sauer und Vorsicht, mich nicht zum Ausrasten zu bringen, schwanken zu schien.
„Ich habe dir den ganzen Mist vergeben, weil ich dich liebe“, sagte ich eindringlich. „Aber er ist ganz anders als du und ich bitte dich inständig, mich nicht dazu zu zwingen, ihn nochmal sehen zu müssen.“
Jim seufzte und zog mich an sich.
„Kleine… Ich werde dich nicht zwingen. Und ich weiß, für was du ihn halten musst, aber wenn du ihn erst näher kennen würdest, dann würdest du erkennen, dass wir uns gar nicht so unähnlich sind.“
Ich konnte ihn das nicht wirklich glauben und ich wollte es auch nicht.
„Musst du eigentlich nicht arbeiten?“
„Doch… Und ich sollte auch langsam los.“
Er schien nicht gehen zu wollen und ich wollte natürlich auch nicht, dass er ging, aber schließlich scheuchte ich ihn doch aus der Wohnung, einer musste hier ja Geld verdienen.
Ich wollte heute versuchen, die Idee umzusetzen, die ich gestern gehabt hatte. Allerdings fehlten mir dazu einige Malutensilien, die ich aber wohl kaum im Supermarkt finden würde. Trotzdem beschloss ich einfach mal die Läden hier abzuklappern, in der Hoffnung eine große Leinwand und die Farbe, die ich brauchte, zu finden.
Cesar, der schon wieder top fit war, nahm ich mit und dieses Mal zog ich mir auch eine anständige Regenjacke an, obwohl es schon aufklarte.
Die kleinen Kramläden durch die ich mit de Hund schlenderte hatten alles möglich, nur nicht das, was ich suchte. Ich wollte eben aufgeben und umkehren, als mir ein kleiner, sympathischer Laden auffiel, in dessen Schaufenster eine Staffelei stand. Voller Hoffnung überquerte ich die Straße und trat ein.
Die Luft war angenehm warm und trocken und allein schon das Glöckchen über der Tür, das bei meinem Eintreten bimmelte, machte mich in den Laden verliebt. Er war klein und mit allerlei Dingen vollgestopft. In den Regalen türmten sich Farbeimer, Pinsel, Schwämmchen und Kreiden und hinter dem Tresen waren große Rollen Papier und Leinwand. Hier gab es wirklich alles, von Acryl- bis Fingerfarben.
„Hallo?“, rief ich schüchtern und ein alter Mann trat zwischen den Regalen hervor, der ich und Cesar gut gelaunt musterte.
„Oh, guten Tag, Miss. Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er freundlich.
Ich nannte ihm meine Bestellung und er eilte sofort zu den Regalen, um die Farben heraus zu holen.
„Malen Sie professionell?“, fragte er dabei.
„Naja. Ich wäre gern Künstlerin, aber bisher bleiben meine Arbeiten in meiner Wohnung“, lachte ich.
„Sind Sie denn gut?“
„Ich…“ Ich war überrumpelt, doch dann straffte ich die Schultern. „Ich finde schon. Es gibt besseres, aber auch viel Schlechteres.“
„Die Einstellung gefällt mir. Und was machen Sie dann zum Geldverdienen?“
Reich heiraten. Ich lief rot an.
„Ich habe eben erst die Schule beendet und suche einen Job.“
„Na, wenn Sie etwas von Farben verstehen, könnten Sie doch hier arbeiten! Selbstverständlich kann ich nicht viel zahlen, aber Sie sind mir sympathisch.“
„Wirklich? Meine Güte, das wäre… Das wäre wunderbar!“
Völlig überrascht und glücklich strahlte ich den Mann an, der sich mir als Mr. Pepple vorstellte. Er bot mir an, gleich am Montagvormittag auf Probe anzufangen und ich stimmte begeistert zu.
Schließlich bezahlte ich die kleinen Farbeimer, die Abdeckfolie und das große, Leinwand und ging mit einem guten Gefühl nachhause.
Cesar bellte vergnügt, als würde er meine gute Laune spüren und tollte vor mir auf dem Weg herum.
Oben in der Wohnung nahm der Hund gespannt auf dem Sofa Platz und beobachtete mich, wie ich den CD Player aus meinem Atelier holte und anmachte. Mit der Folie deckte ich den Boden zwischen Küche und Esstisch ab, dann breitete ich die große Leinwand darauf aus. Dann tauschte ich meine Kleidung gegen alte Shorts und einen zu großen weißen Kittel.
„Also gut, Cesar“, sagte ich mit einem Blick auf den Berner-Sennen, als ich ins Wohnzimmer zurückkam. „Du wirst jetzt Zeuge der Entstehung meines ersten… Wie nenn ich das denn? Farbmatsch?“
Cesar bellte bestätigend und ich öffnete den Eimer mit der sonnengelben Farbe. Ich rührte das dickflüssige Zeug mit dem Holzende eines großen Pinsels um und musterte die noch weiße Leinwand.
„Das wird ein Spaß“, murmelte ich.
Dann kippte ich den Eimer um.
Ich vergaß völlig die Zeit, die verstrich, während ich meine Farbenschlacht veranstaltete. Am Ende sah es aus wie ein Meer von rot-gelben Tulpen die in weichem Feuer brannten. Ich musste immer wieder warten, dass die einzelnen Farben trockneten, weil ich sie nicht vermischen wollte. Mein Kittel und meine nackten Arme und Beine waren total verschmiert und in meinen Haarspitzen klebten auch ein paar Farbreste. Ich fühlte mich rundum wohl.
Es war bereits dunkel als ich vorübergebeugt vor dem Bild kniete und vorsichtig hier und da etwas ausbesserte. Ich hörte nur mit halbem Ohr, wie die Tür hinter mir aufging, und drehte mich nicht um.
„Netter Hintern“, sagte jemand, den ich für Maelle hielt.
„Halt den Rand, du Penner. Das ist meine Frau“, knurrte Jim und ich drehte den Kopf.
„Hi“, machte ich und stand vorsichtig auf, um nichts zu verwischen.
„Was hast du mit unserem Wohnzimmer gemacht?“, fragte Jim vorsichtig und ich sah mich unschuldig um.
Hier und da war ein Farbspritzer über die Folie hinausgegangen, aber ich fand das nicht schlimm.
„Wenn ich berühmt bin, kann man das Parkett als Kunstwerk verkaufen“, meinte ich schulterzuckend. „Kunst braucht eben Platz und den hab ich im Zimmer hinten nicht. Ich glaube ich werde wie Monet.“
Maelle schüttelte grinsend den Kopf und holte sich aus der Küche ein Bier, während Jim näher trat.
„Und was ist das?“, fragte er und musterte die wilden Farben.
„Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten. Das ist ein Zitat von Picasso. Und das da ist noch nicht fertig. Sobald es ganz trocken ist, kommt eine ganz feine Zeichnung drauf“, erklärte ich.
„Ist das Kunst oder kann das weg?“, rief Maelle und hob eine verschmierte Palette hoch, die ich auf einem Stuhl abgelegt hatte.
„Warum ist er noch mal hier?“, knurrte ich und schnappte Goldlöckchen die Palette weg.
Es stellte sich heraus, dass Maelle und Jim traditionell gemeinsam Sport schauen wollten und dabei Pizza essen. Gegen die Pizza hatte ich nichts einzuwenden, aber für Sport interessierte ich mich kein bisschen, weshalb ich beschloss in meinem Atelier zu malen. Das große Bild ließ ich einfach im Wohnzimmer zum Trocken und schärfte den Jungs ein, dass sie es ja nicht ausversehen berührten.
Ich hatte es mir gerade auf meiner kleinen Couch mit Block und Bleistift gemütlich gemacht, als mein Handy klingelte. Es war Miru.
„Hey du“, meldete ich mich.
„Hi Mara! Wie geht es dir?“
„Ganz gut, ich habe ein neues Bildprojekt gestartet und einen Job.“
„Das ‘ört sisch fantastisch an! Aber isch wollte eigentlisch nur mal fragen, ob sisch mit Jim alles wieder geklärt ‘at.“
„Oh ja, es hat sich geklärt“, meinte ich grinsend, schlug mir aber im selben Moment auf den Mund. Fast hätte ich ihr von meinem ersten und den Malen danach erzählt, doch mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass sie ja nichts von der Verkorkstheit meiner Beziehung wusste.
„Das freut misch zu ‘ören. Naja, isch muss dann auch schon los. À bientôt!“
„Mach’s gut“, verabschiedete ich mich lächelnd und legte auf.
Ich pustete mir eine braune Locke aus den Augen und musterte das weiße Papier vor mir. Eigentlich hatte ich gar keine richtige Vision und ich beschloss einen Körper zeichnen zu üben. Meine richtigen Bilder malte ich immer mit Wasserfarben oder Acryl. Zeichnen tat ich nicht sehr oft und wenn, dann nur aus Langeweile oder eben zum Üben. Es war also kein Wunder, dass die Striche vor mir eher einander im Weg waren, anstatt sich zu ergänzen und als ich die Klingel hörte, die unsere Pizza ankündigte, legte ich ohne großes Bedauern meinen Block weg.
Da ich mich allerdings noch weniger für Football oder Rugby oder was auch immer das war begeistern konnte, verzog ich mich bald wieder.
Genervt und gelangweilt tigerte ich in meinem Zimmer hin und her und griff schließlich wieder nach dem Block. Ich schlug die bekritzelten Blätter um und schloss die Augen. Dann setzte ich den Stift irgendwo auf dem Papier an und ließ meine Hand die Führung übernehmen.
„Sie ist wahnsinnig gut. Auch jetzt schon.“
Die geraunten Worte drangen wie durch Watte zu mir durch.
„Ich weiß. Sie hätte eine der ganz großen werden können.“
„Eine Schande, dass niemand ihre Gemälde sehen wird.“
Ich spürte das Sofa unter mir und den Stift in meiner Hand, doch mein Bewusstsein schien sich nicht aus dem Schlaf zu lösen. Ich schaffte es meine bleiernen Lider leicht anzuheben. Das Zimmer war dunkel und die beiden Gestalten wurden nur von der Stehlampe in schwaches Licht getaucht.
Meine Augen fielen wieder zu und ich fühlte, wie ich erneut ins Land der Träume gezogen wurde.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich im Schlafzimmer im Bett und wusste nicht, wie ich da hin gekommen war.
„Jim?“, murmelte ich und legte mir über die trockenen Lippen.
Ich spürte, wie er sich hinter mir bewegte und hörte das Bettzeug rascheln.
„Hey du“, schnurrte er und zog mich an sich.
Ich lächelte und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Blinzelnd rekonstruierte ich den gestrigen Abend.
„Wann ist Maelle gegangen?“, fragte ich und drehte mich zu Jim um, der mich verschlafen musterte.
„Gegen Mitternacht.“
„Und wie bin ich ins Bett gekommen?“
Jim lächelte und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Du bist beim Zeichnen eingeschlafen und ich hab dich hier rüber getragen.“
„Hm“, murmelte ich und setzte mich auf.
„Was… Was hast du damit gemeint, dass nie jemand meine Bilder sehen wird?“, fragte ich und sah ihn an.
Jim runzelte die Stirn.
„Wann soll ich das denn gesagt haben?“
„Na gestern Nacht!“, sagte ich und es klang zögerlicher als beabsichtigt. Die Erinnerung an die Szene schien undeutlich, dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass sie real gewesen war.
Jim setzte sich nachdenklich auf, dann lachte er und zuckte mit den Schultern.
„Das muss ein Traum gewesen sein. Übrigens, ich hab auch von dir geträumt.“ Er grinste mich an und ich wurde rot.
„Aha? Und was hab ich so gemacht?“
„Hm. Ich kann’s dir zeigen.“
„Ja? Na dann los“, murmelte ich grinsend und ließ mich von ihm wieder in die Kissen ziehen.
Nachdem wir ausführlich Jims Traum reflektiert hatten, gingen wir in die Küche um zu frühstücken.
„Ach herrje“, murmelte ich und blickte auf das Farbenspektakel auf der Leinwand auf dem Boden herab. „Darum sollte ich mich wohl demnächst noch kümmern. Ich weiß gar nicht, wo ich damit hin soll, wenn es fertig ist.“
„Wir können es an die Wand hängen“, schlug Jim vor.
Ich sah die weißen kahlen Wände an und nickte begeistert. Mir war gar nicht aufgefallen, wie sehr unsere Wohnung nach Dekoration und Farbe schrie.
„Und was machen wir heute?“, fragte ich gutgelaunt und setzte mich an den Küchentisch.
„Naja“, machte Jim und warf mir einen abschätzenden Blick zu, während er den Toaster anschaltete. „Ich hatte gehofft, wir gehen zu dem Familienessen.“
Ich stöhnte auf und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte fallen.
„Mara…“
Jim kam zu mir herüber und ging vor mir auf die Knie.
„Wenn du wirklich nicht willst, dann kannst du auch hier bleiben, aber ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkommst.“
Ich hob den Kopf und blinzelte ihn durch den braunen Haarvorhang an.
„Bitte, Süße. Für mich?“, fragte er mit einem so erstklassigen Hundeblick, dass es mir das Herz zusammen zog.
„Dafür bist du mir aber was schuldig“, stieß ich zögerlich hervor und auf Jims Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
„Danke. Alles, was du willst!“
Ich verbrachte den gesamten, restlichen Tag damit, über meinem Gemälde zu knien und mit Tusche eine feine Zeichnung darauf zu übertragen. Es war ein nackter Körper, der einer schwarzen Lilie entstieg und meiner Meinung nach sah es absolut bombastisch aus. Bescheidenheit war hier unpassend denn das war garantiert mein bestes Werk bisher.
Mein Rücken tat mir entsetzlich weh, aber das drang kaum zu mir durch, so versunken war ich.
„Ist das ein Mann oder eine Frau?“
Ich zuckte zusammen und stieß einen kurzen Schrei aus. Panisch tupfte ich die verwackelte Linie weg und drehte mich wütend zu Jim um.
„Es gibt eine Sache, die du eindeutig noch lernen musst: Stör mich nie beim Arbeiten!“
Jim hob grinsend die Hände und machte einen Schritt zurück.
„Und mach dich bloß nicht über mich lustig“, fauchte ich, doch meine Mundwinkel zuckten.
„Also was ist das?“
Ich warf einen Blick auf mein Bild.
„Keins von beidem“, meinte ich zögerlich.
„Und was stellt es dann dar?“
„Die Wiedergeburt. Das Leben… Ich weiß es gar nicht. Ich habe es einfach gemalt.“
Jim sah mich nachdenklich an und es lag ein Ausdruck in seinen Augen, den ich noch nie in ihnen gesehen hatte. Ich konnte ihn absolut nicht deuten. Wahrscheinlich hielt er mich einfach nur für verrückt, aber ich hatte dieses Bild eben so im Kopf gehabt und es einfach malen müssen! Es war wie eine Art Vision… Und das sollte ich ihm vielleicht nicht sagen, sonst ließ er mich noch einweisen.
Ich stand mit geröteten Wangen auf und trat vor Jim. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kurzen Kuss.
„Wann müssen wir denn los?“, fragte ich.
„In einer Stunde“, murmelte Jim.
„Ist alles okay?“, wollte ich vorsichtig wissen, denn der Ausdruck lag immer noch in seinem Blick und das gefiel mir gar nicht.
„Ja. Ja, klar“, seufzte er und zog mich an sich. „Du musst nicht mit, wenn du nicht willst, Süße. Es tut mir leid, dass ich dich so gedrängt habe…“
„Hey, nein, schon gut!“, sagte ich leicht verwirrt.
Woher kam der plötzliche Sinneswandel nur? Die ganze Zeit war es ihm so wichtig gewesen und jetzt auf einmal nicht mehr?
„Nein. Du willst nicht hin, also musst du auch nicht.“
„Jim“, murmelte ich und sah ihm in die Augen. „Ich liebe dich. Und ich vertraue dir. Deine Familie ist ein Teil von dir, also sind sie jetzt auch ein Teil von mir und ich werde versuchen sie kennenzulernen.“
Auch wenn sie mich gekauft, betäubt, entführt und bedroht hatten.
Ein fast schon schmerzlicher Zug trat in sein Gesicht und er strich mir übers Haar.
„Du bist so gut… Du hast etwas viel besseres Leben verdient, als dieses“, murmelte er und mir traten vor Überraschung und Schock die Tränen in die Augen, als ich mir vorstellte, ohne ihn zu sein.
„Es ist noch zu früh, um sentimental zu werden, Mr. Wolve“, meinte ich mit einem aufgesetzten Lächeln und gebrochener Stimme und blinzelte die Tränen weg. „Ich geh mich mal fertig machen.“
Ich ließ ihn im Wohnzimmer stehen und ging ins Bad wo ich mich gegen das Waschbecken lehnte und die Augen schloss. Ein komisches Gefühl beschlich mich. Und es war definitiv kein gutes.
Nervös zupfte ich an meiner dunkelgrünen Bluse aus Nassseide und fuhr mir durch meine braunen Locken, die ich offen gelassen hatte.
„Jim, was ist eigentlich mit deiner Mutter?“, fragte ich verwirrt und stellte im selben Moment fest, dass es eine ziemlich unsensible Art war, nach der Frau, von der ich noch kein Wort gehört hatte, zu fragen.
Doch die Worte hatten bereits meinen Mund verlassen und Jim lenkte das Auto ganz ruhig auf die Mittelspur an der Kreuzung, also war er nicht verärgert.
„Sie ist abgehauen, als ich ein Baby war und ich habe nie mehr etwas von ihr gehört. Aber mein Vater hat vor fünf Jahren eine alte Freundin der Familie geheiratet und die ist ganz nett.“
Erstaunt hob ich die Augenbrauen, denn er sprach, als ginge es nur ums Wetter. Außerdem wunderte es mich, dass er so großartig geworden war, obwohl er nur von seinem geringfügig psychopathischen Vater erzogen worden war.
„Hattest du ein Kindermädchen?“, fragte ich und er lachte.
„Ja. Und du?“
„Nein! Natürlich nicht, meine Familie ist auch nicht so reich, dass uns das Geld zu den Ohren raus kommt.“
Etwas in mir verkrampfte sich schmerzhaft in meiner Brust, als ich meine Familie erwähnte, doch ich erlaubte mir nicht, an sie zu denken. Meine Eltern hatten keinen Herzschlag von meiner Zeit mehr verdient, dafür, dass sie mich verkauft hatten. Und der Gedanke an meinen Bruder, erfüllte mich mit so viel Verwirrung und Schmerz, dass ich auch ihn nicht in meinem Kopf haben wollte, obwohl es mir fast das Herz brach.
Jim schien zu spüren, wie meine Stimmung gefallen war, denn er sagte nichts mehr und drehte das Autoradio beiläufig lauter, als wäre es nur, weil ihm das Lied so gut gefiel. Es war irgendeiner von diesen modernen Computerpopsongs, aber es fesselte meine Aufmerksamkeit genug, um andere Dinge zu vertreiben.
Zehn Minuten später bog Jim auf einen Privatweg ab und kurz darauf hielten wir vor einem schmiedeeisernen Tor. Es öffnete sich wie von Zauberhand, doch Jim stieg aus.
„Komm mit, ich will dir den Garten zeigen.“
Ich folgte ihm zögernd und zuckte zusammen, als er den Autoschlüssel scheinbar wegwarf, doch dann sah ich den diskreten Mann, der ihn auffing und ins Auto stieg.
„Angeber“, zischte ich Jim zu, doch er nahm nur grinsend meine Hand.
Wir verließen die Kiesauffahrt und betraten einen kleinen Weg, der von hohen Rosenbüschen und anderen Pflanzen gesäumt war.
„Jetzt im Herbst ist es langweilig, aber im Sommer wird man fast von Blüten erschlagen“, erklärte er mir und zog mich weiter.
Langweilig war genauso unpassend wie das Wort Garten. Denn das hier war ein Park und er war wundervoll.
Wir kamen an einem Teich vorbei und an Lavendel und Rosmarin, der hier in Hülle und Fülle wuchs.
Während wir über eine Wiese auf das große, helle Herrenhaus zu schlenderten, vergaß ich fast, was für Leute sich darin befanden, und genoss den sanften Wind, der Wolken vor sich hertrieb. Die Linde, deren Blätter sich bereits gelb verfärbt hatten, unterstrich die romantische Atmosphäre noch mehr und ich fühlte mich wie in ein anderes Jahrhundert versetzt. Ich konnte mir die Abendgesellschaften, die hier im Sommer vermutlich stattfanden, und die elegant gekleideten Leute sehr gut vorstellen und ich stellte mir einen etwas jüngeren, etwas zu selbstbewussten Jim vor, der hier sein Unwesen trieb.
„Was war das mit deinem 21. Geburtstag?“, fragte ich und Jim räusperte sich.
„Ähm“, machte Jim. „Das ist eine echt… lustige Geschichte und du… wirst sie lieben, ach, hey George!“
Er beschleunigte seine Schritte und zog mich mit sich auf die Terrasse, wo sein Bruder stand und rauchte.
Ich hatte George bisher nur zweimal gesehen, einmal auf der Hochzeit – er war auch derjenige gewesen, der mich betäubt hatte – und als er Cesar vorbeigebracht hatte. Und ich fand ihn irgendwie ziemlich tiefenlos, allerdings kannte ich ihn ja auch nicht. Außerdem hatte er mich entführt.
Ich ergriff höflich die ausgestreckte Hand von Jims Bruder, aber mein Lächeln war nur automatisch und nicht herzlich. Ich fühlte mich verunsichert, hilflos und in einer falschen Umgebung.
Jim schien das zu bemerken, denn er nahm meine Hand und führte mich nach drinnen in eine Art Wohnzimmer.
Nichts an diesem Raum war persönlich, so gar die Familienfotos, die ich auf dem Sims eines breiten, offenen Kamins entdeckte, waren zu perfekt. Alle Möbel waren auf einander abgestimmt und ich fühlte mich, als befände ich mich in einem Katalog. Oder einer Ikea Filiale.
Ich musste grinsen.
In dem Moment betrat eine Frau in einem eleganten, legeren Hosenanzug den Raum. Ihr blondes Haar war geglättet und sah viel zu gesund für einen normalen Menschen aus. Sofort fühlte ich mich wie eine graue Maus, als ich ihren schlichten Schmuck und ihr perfektes Make Up bewunderte. Diese Frau war wunderschön.
„Jim! Wie schön dich zu sehen“, sagte sie und kam strahlend auf uns zu.
Ich zog leicht die Nase kraus, als sie ihn in ihre Arme schloss, denn sie konnte nicht viel älter als er sein und verwandt waren sie sicher auch nicht.
„Und du bist also Mara. Willkommen in der Familie!“
Sie schloss auch mich in eine parfümierte Umarmung und ich war viel zu perplex, um diese zu erwidern.
„Ähm, hi“, machte ich etwas überfahren.
„Mara, darf ich vorstellen: das ist Cecilia. Meine Stiefmutter.“
Seine Mundwinkel zuckten belustigt, als er das Wort aussprach, doch sein Blick war warm.
Mir fiel die Kinnlade herunter. Alte Freundin der Familie? Ja, sicher. Sehr alt.
Cecilia verdrehte lächelnd die Augen und legte mir einen Arm um die Schultern.
„Komm, lass uns nach dem Essen sehen und die Jungs allein lassen.“
Panisch warf ich Jim einen Blick zu, doch der zwinkerte nur und ich ließ mich von seiner „Mum“ mitziehen.
Die Küche war nur ein paar Zimmer weiter auf der anderen Seite des Flurs und sehr hell und offen eingerichtet.
„Oh, du kochst selbst?“, stellte ich überrascht fest, als sie sich eine weiße Schürze locker um den Hals hängte und dann den Backofeninhalt und ein paar Töpfe überprüfte.
„Ja, ich liebe es einfach!“, sagte sie ruhig und warf mir ein Lächeln zu.
„Ich habe gehört, du bist Künstlerin?“
„Naja, so würde ich es nicht gerade nennen“, lachte ich und lehnte mich an die Kücheninsel.
„Hey. Verspotte nie deine eigene Arbeit. Ich bin sicher, du bist sehr gut.“
„Malst du auch?“
„Oh nein, aber ich schreibe. Poesie inspiriert durch Bilder hauptsächlich.“
„Wow, hört sich cool an“, meinte ich und Cecilia wurde mir noch sympathischer.
Diese Frau schien nicht nur ein perfektes Äußeres zu haben, sondern auch intelligent und liebenswert zu sein. Nur wollte mir nicht in den Kopf, wie eine Frau wie sie, einen konservativen Pseudo-Kriminellen wie Jims Vater hatte heiraten können. Welcher vermutlich auch noch doppelt so alt war wie sie.
„Woher kommst du?“, fragte ich, um die Unterhaltung nicht ausklingen zu lassen.
„Ich bin aus London. Niemand hätte mich je aus dieser Stadt weggekriegt“, sagte Cecilia lachend. „Deshalb ist Alistair mit seinen zwei Jungs nach unserer Hochzeit hier her gezogen. Sogar seine Firma hat er aus Schottland mitgebracht.“
„Jim ist Schotte?“, entkam es mir perplex und Cecilia nickte.
„Nie im Leben wäre ein Stadtmädchen wie ich in den Highlands glücklich geworden. Und ich glaube, dir gefällt London auch besser.“
„Ja“, murmelte ich und mir wurde klar, dass damals meine Hochzeit schon arrangiert gewesen sein musste.
„Und was machst du beruflich so?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Ich bin Innenausstatterin. Wie man sehen kann.“
Wieder lachte sie und dieses Mal stimmte ich mit ein. Ich dachte an meinen neuen Job in dem kleinen Laden, den ich entdeckt hatte. Als ich Jim vorhin davon erzählt hatte, war er nicht wirklich begeistert gewesen, fast schon besorgt. Aber dennoch hatte er zumindest so getan, als würde er sich freuen…
Ich half Cecilia das Essen ins Esszimmer zu tragen, das genauso so elegant und perfekt eingerichtet war, wie jeder andere Raum, den ich bis jetzt gesehen hatte.
Cecilia zündete die weisen Kerzen, die in silbernen Haltern standen, an und betrachtete dann zufrieden den Tisch.
„Wundervoll. Ich liebe es Dinge zu gestalten.“
Ich nickte, denn dieses Gefühl konnte ich gut nachempfinden.
In diesem Moment betraten Jim, George und Jessica, die mir natürlich sofort zur Begrüßung um den Hals fiel, das Zimmer und Cecilia wies uns an Platz zu nehmen.
Während George und seine Freundin auf der einen Seite des Tisches platznahmen, setzten Jim und ich uns auf die andere Seite und Cecilia ließ sich am Kopfende nieder.
Es kehrte eine Stille ein und ich nahm schon bestürzt an, die Familie würde gleich ein Tischgebet beginnen, als mir das sechste Gedeck gegenüber von Cecilia auffiel. Dass Jims Vater noch fehlte, war mir gar nicht aufgefallen.
Dann hörte ich die Schritte im Gang und kurz darauf betrat Alistair Wolve den Raum. Seine Präsenz kam mir ganz anders als bei dem Geschäftsessen vor ein paar Tagen vor. Irgendwie… schüchterte er mich ein, so wie an dem Tag, an dem ich Jim geheiratet hatte. Mir fielen die Dinge wieder ein, die der Mann gesagt hatte und ich fühlte mich komplett fehl am Platz. Ich sollte hier nicht sein, ich hätte mich nie in Jim verlieben sollen. Welcher rational denkende Mensch tat so etwas? Wenn man mal davon absah, dass Jim perfekt war.
Aber diese Leute… sie hatten mich gekauft. Und dennoch waren sie alles, was mir an Familie geblieben war, da meine eigene mich einfach weggegeben hatte.
Ich biss mir auf die Zunge und verschränkte die Hände im Schoß.
Jims Vater kam auf uns zu und setzte sich und meine Nackenhaare stellten sich auf, als er mich musterte. Auf einmal hatte ich den Drang mit Jim den Platz zu tauschen. Ich wollte fliehen, wie ein Reh, dass gejagt wird.
„Willkommen, Mara. Es freut mich, dich in unserer Runde begrüßen zu können.“
Er schenkte mir ein Lächeln – grade zu wölfisch.
Ich nickte leicht und wagte kaum, mich zu regen.
Cecilia sprang auf und begann allen Essen aufzutun. Als sie fertig war setzte sie sich wieder und ich wollte gerade meine Gabel nehmen, als mir klar wurde, dass sich sonst keiner regte. Beteten die vor dem Essen etwa?
Ich wollte gerade meine Hände falten, doch dann begann Alistair zu essen und nickte gönnerhaft seiner Frau zu.
„Sehr gut, Cecilia. Wie immer.“
Sie erwiderte sein Lächeln und dann begannen die anderen auch zu essen. Alles kam mir vor wie ein seltsames Ritual.
Die Spannung löste sich während dem Essen ein bisschen, doch ich beteiligte mich kaum an den Gesprächen, da Jims Vater neben mir mich so nervös machte. Er strahlte etwas aus, das eine solche Autorität hatte, dass ich mich irgendwie nicht traute ohne seine Erlaubnis zu sprechen. Wie lächerlich…
Als alle fertig waren, begaben wir uns in ein Wohnzimmer, wo Cecilia uns Kuchen brachte. Fassungslos starrte ich den Kuchen an, dann Jim. Ihm musste genau der gleiche Gedanke gekommen sein, denn wir brachen in Gelächter aus.
„Cecilia, ich glaube ich bin schon satt“, murmelte ich und schob den Apfelkuchen von mir weg.
„Wie schade. Ihr Apfelkuchen ist eine Spezialität“, meinte Jim grinsend und schob sich ein Stück in den Mund.
„Oh Gott“, lachte ich und legte mir die Hand auf den Mund.
Die anderen sahen uns etwas verwirrt an, aber das störte mich nicht sehr.
„Jim, George, kommt mit, wir müssen noch etwas besprechen.“
Ohne zu zögern standen die Brüder auf und folgten ihrem Vater.
Ich hob verwirrt die Augenbrauen und überlegte, was das Ganze zu bedeuten hatte.
Jessica und Cecilia schwatzten munter über die Farbe der Vorhänge und ich kam mir irgendwie ausgeschlossen vor. Ich passte nicht in diese Familie. Wahrscheinlich passte ich nicht mal wirklich zu Jim.
Eine Weile saß ich gelangweilt auf dem Sofa, dann erkundigte ich mich bei Cecilia, wo die Toilette war.
„Den Gang runter links“, erklärte sie lächelnd und ich erhob mich.
Das Haus hatte wirklich etwas von einem Museum oder einer Filmkulisse. Die einzige Tür, die ich auf der linken Seite fand führte in einen Wintergarten, also wandte ich mich nach rechts um die Ecke.
Links befand sich hier eine Treppe und ich beschloss dort mein Glück zu versuchen. Als ich die ersten Stufen erklommen hatte, hörte ich leise die Stimmen der Wolve-Männer.
Ich wäre nicht stehen geblieben, wenn ich nicht meinen Namen gehört hätte, aber er fiel genau in der Sekunde, in der ich an der Tür, die neben dem Treppenansatz abging, vorbei kam.
Verwirrt hielt ich auf den Stufen inne und lauschte.
„… sollten sie womöglich hier behalten.“
„Dauert ja nicht mehr lang bis zu ihrem Geburtstag.“
„Ich glaube, das wäre nicht so gut. Immerhin vertraut sie mir endlich“, hörte ich Jim sagen und runzelte die Stirn.
„Aber wird das auch so bleiben?“, fragte sein Vater.
„Ja.“
Ich fühlte, dass das nicht für meine Ohren bestimmt war, aber ich verstand es auch nicht. Was hatte das zu bedeuten?
„Hast du schon irgendwas bemerkt? Irgendwelche Veränderungen?“
„Naja, eigentlich nicht sehr. Aber ich habe sie ja vorher auch nie malen sehen.“
„Jim. Konzentrier dich. Ihre Kunst wird die Welt bedeuten!“
Was? Also so gut war ich auch wieder nicht.
„Sie ist noch nicht 18. Es kann noch gar nicht so weit sein.“
Jims Vater murmelte irgendetwas, dann hörte ich Stühle rücken.
Ertappt machte ich hektisch einen Schritt zurück und vergaß, dass ich auf einer Treppe stand.
„Ah!“, schrie ich erschrocken, als ich nach hinten fiel und ein flammender Schmerz durch meine linke Hand.
„Mara?“
Jim stürmte durch die Tür und ging neben mir auf die Knie.
„Mara, alles in Ordnung?!“
„Meine Hand…“, ächzte ich und schrie erneut auf, als ich sie hob und sah, in was für einem seltsamen Winkel sie abstand.
„Verdammt, die ist gebrochen. Du musst sofort ins Krankenhaus.“
Jim hob mich hoch und ich sah wie sein Vater uns zunickte.
„Soll ich euch fahren?“
„Nein, ich mach das schon“, murmelte Jim und verabschiedete sich hastig, während ich wie ein Häufchen Elend in seinen Armen lag und meine schmerzende Hand anstarrte.
„Keine Sorge, Süße, das kommt ganz schnell wieder in Ordnung“, raunte Jim mir voll, während er mich anschnallte.
Von der Fahrt bekam ich nichts mit, weil meine zertrümmerte Hand alle Aufmerksamkeit forderte. Der Schmerz machte mich ganz atemlos.
Meine Lider waren bleischwer. Die Narkose hatte mein Hirn offensichtlich zu Brei verarbeitet, aber immerhin erinnerte ich mich noch daran, was passiert war. Doofe Treppe…
Ich schaffte es, meine Augen zu öffnen und saß Jim zusammen gesunken auf einem Stuhl neben dem Bett sitzen.
„Hey“, krächzte ich und er wachte augenblicklich auf.
„Hey“, meinte er lächelnd und beugte sich vor. „Die OP ist gut verlaufen. Es war zum Glück ein glatter Bruch, das kommt schnell wieder in Ordnung.“
„‘kay.“
„Wie fühlst du dich?“, fragte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Müde“, seufzte ich. „Können wir heim? Ich hasse Krankenhäuser…“
„Ich rede mit dem Arzt.“
Jim drückte mir sanft einen Kuss auf die Lippen und verließ das Zimmer. Sofort döste ich wieder ein.
Der Arzt ließ mich nach einer kurzen Nachuntersuchung nachhause, obwohl das wohl nicht üblich war. Ich brauchte nicht mal einen Gibbs, nur eine Schiene.
Ich fühlte mich wie eine Prinzessin, als Jim mich in die Wohnung trug, was möglicherweise an den Schmerzmitteln lag.
„Schlaf ein bisschen, ich mach uns was zu essen“, hauchte Jim, doch ich ließ ihn nicht so schnell gehen und zog ihn mit meiner rechten Hand zu mir aufs Sofa.
„Was immer die mir gegeben haben, es hat eine aphrodisierende Wirkung“, schnurrte ich und Jim gab ein gequältes Lachen von sich.
„Süße, du bist verletzt und nur halb bei Bewusstsein. Ich kann doch jetzt nicht mit dir schlafen.“
„Ach nein?“
Es stellte sich heraus, dass er doch konnte und zwar sehr gut.
Etwas später lagen wir aneinander gekuschelt auf dem Sofa und Jim fütterte mich mit Suppe, während ich mich über die schlechten Schauspieler im Fernsehen aufregte.
Ich fühlte mich rundum so wohl, dass ich mir wünschte, dass Leben könnte immer so sein.
Doch dann klingelte es plötzlich und ich wurde aus meiner rosa Seifenblase gerissen.
„Wer ist das denn jetzt?“, brummte Jim, als es auch noch an der Tür klopfte.
„Ich geh schon“, sagte ich hastig, da ich eine dunkle Vermutung hatte.
„Ist das etwa schon wieder „nur so ein Nachbar“?“, rief er mir nach, doch ich antwortete nicht.
„Hi Mike“, sagte ich und lief rot an. „Ich meine Mark. Sorry.“
Er runzelte die Stirn.
„Ich wollte eigentlich nur sehen, ob alles in Ordnung ist. Du bist gestern nicht aufgetaucht und ich dachte, vielleicht ist was passiert.“
„Oh verdammt“, stöhnte ich und ließ den Kopf gegen den Türrahmen sinken.
„Aber wie es aussieht, hast du es nur vergessen.“
Das schon, aber immerhin hatte ich auch nicht konkret zugesagt, soweit ich mich erinnerte.
„Ich hatte gestern einen kleinen Unfall“, sagte ich und hob meine Hand.
„Oh!“, meinte er erschrocken und der Ärger verflog aus seinem Gesicht. „Tut mir leid, ist alles okay?“
„Ja ja, schon gut. Tut mir leid wegen der Party.“
„Macht ja nichts. Hast du… wir könnten doch vielleicht heute Abend essen gehen, wenn du Lust hast?“
Bat er mich gerade etwa um ein Date? Völlig perplex starrte ich ihn an, als jemand hinter mir die Tür etwas weiter öffnete und Mark erschrocken zusammen zuckte, was ihm auch nicht zu verdenken war, da derjenige nur eine Jogginghose trug und seinen beeindruckenden Körper präsentierte.
„Wer ist denn das?“, entkam es Mark überrumpelt.
„Maras Mann“, knurrte Jim.
„Du.. du bist verheiratet?!“
„Ähm, ja“, stammelte ich und zog den Verband an meiner Hand etwas runter, damit er den Ring sehen konnte.
„Das… Sorry, Mann, ich wusste nicht… Also ich… bin dann mal weg“, stammelte Mark und machte sich davon.
Jim warf die Tür ins Schloss und baute sich vor mir auf.
„Was war das denn bitte?“, fragte er wütend und ich zog den Kopf ein.
„Keine Ahnung“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Wieso weiß „nur so ein Nachbar“ nicht, dass du vergeben bist? Und wieso zur Hölle, hast du eben gezögert, als er dich gefragt hat, ob du mit ihm ausgehst?“
„Ich weiß nicht, ich war einfach nur überrascht!“, sagte ich genervt von seiner unnötigen Eifersucht.
„Was hast du bitte mit dem Typ zu schaffen, erklär mir das mal!“
Jims laute Stimme ließ mich zusammenfahren und ich hob wütend die Hände.
„Entschuldigt bitte, Euer Hochwohlgeboren, dass ich tatsächlich versucht habe, Freunde zu finden!“
„Was…?“ Jim schien zwischen Zorn und Verständnislosigkeit hin und her gerissen. „Mara, was soll das? Ich dachte, wir wären richtig zusammen.“
„Sind wir doch auch! Was ist eigentlich dein Problem?“
„Mein Problem?! Mein Problem ist, dass du dich hinter meinem Rücken mit fremden Männern triffst!“
„WAS?“, schrie ich. „Das denkst du doch nicht wirklich.“
„Was soll ich denn sonst denken, wenn du deinen tollen Bekanntschaften nicht mal sagst, dass du verheiratet bist?!“
Ich spürte, wie uns beiden die Kontrolle entglitt. Dabei wollte ich jetzt wirklich nicht streiten, und schon gar nicht wegen so einem Unsinn.
„Ich hatte nur noch nicht die Gelegenheit“, fauchte ich.
„Aber eben hattest du sie! Was hättest du bitte gemacht, wenn ich nicht dazu gekommen wäre?“
Fassungslos raufte ich mir die Haare.
„Ich hätte NATÜRLICH nein gesagt! Ich war nur einfach überrascht, verdammt noch mal! Mich hat noch nie jemand gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will.“
Das nahm Jim die ganze Luft aus den Segeln.
„Echt jetzt?“
„Ja“, machte ich schmollend. „Wieso denkst du, ich könnte was von ihm wollen, wenn ich doch schon dich hab?“, meinte ich beleidigt und Jim lachte erleichtert auf.
„Keine Ahnung. Tut mir leid, Süße“, sagte er versöhnlich und zog mich an sich.
„Hm“, brummte ich.
„Mara?“
„Was?“
„Würdest du mir die Ehre erweisen und mit mir ausgehen?“
Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht.
„Nur wenn du mir sterbendes Grünzeug besorgst.“
„Was?“
„Blumen.“
„Ach so. Na klar.“
Am Nachmittag machte Jim sich daran mein Bild an die Wand zu hängen, während ich noch etwas zerschlagen von der Narkose auf dem Sofa lag und ihn koordinierte.
„Noch ein Stück hoch. Mehr rechts… Das andere Rechts, Schatz… Genau, so ist es perfekt“, grinste ich.
„Ich hoffe es doch“, murmelte er und pinnte es mit einem Dutzend Reisnägeln fest.
„Bist du sicher, dass wir es nicht Rahmen sollen?“, ächzte er.
„Meine Kunst braucht keinen Rahmen“, sagte ich gewichtig. „Der engt alles nur ein, außerdem müsstest du es dann wieder abnehmen.“
„Stimmt auch wieder“, sagte Jim und trat einen Schritt zurück. „Das hängt schief.“
„Gar nicht.“
„Doch, ist es. Hast du mir etwa nur die ganze Zeit auf den Arsch gestarrt, anstatt das Bild zu überwachen?“, fragte er gespielt schockiert.
„Was? Nein, natürlich nicht!“, rief ich und wurde rot, während er auf mich zu schlenderte.
„Hab ich echt nicht“, kicherte ich, als er sich auf mich fallen ließ und mich stürmisch küsste.
„Warum? Ist meine Rückseite etwa nicht sehenswert?“
„Doch“, lachte ich und wand mich kichernd unter ihm, als er begann mich durch zu kitzeln.
„Aufhören“, keuchte ich. „Halt, Jim, stopp, ich fall noch runter…!“
„Das würde ich niemals zulassen“, hauchte er und küsste mich erneut.
Irgendwie schafften wir es, uns auf der schmalen Couch umzudrehen, sodass ich oben lag.
Ich stützte mich vorsichtig auf den Ellenbogen neben Jims Kopf ab, um meine Hand nicht zu belasten.
„Die Schiene ist echt unpraktisch“, murmelte ich.
„Wie ist das eigentlich passiert?“
„Was?“
„Dass du dir die Hand gebrochen hast.“
„Äh ich wollte aufs Klo und bin die Treppe runter gefallen. Stell dir mal vor, ich hätte mir das Genick gebrochen. Tod durch Klogang wär doch mal was Neues“, plapperte ich und versucht nicht nervös zu werden.
Was auch immer ich da mitangehört hatte, war nicht für meine Ohren bestimmt gewesen und da ich bisher noch keine Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, wollte ich Jim nicht darauf ansprechen.
„Nein, das stell ich mir sicher nicht vor“, sagte Jim und runzelte die Stirn.
„War doch nur ein Witz“, sagte ich besänftigend und küsste ihn flüchtig. „Aber was anderes: ich hätte doch morgen in dem Laden anfangen sollen und jetzt hab ich mir die Hand gebrochen.“
„Dann ruf an und sag Bescheid. So einfach wie du den Job gekriegt hast, wirst du ihn bestimmt nicht wieder los. Der Verkäufer war doch ganz nett oder nicht?“
„Ich hab aber keine Nummer.“
„Dann fahr ich morgen früh vor der Arbeit kurz vorbei“, schlug er vor, doch ich runzelte die Stirn.
„Ich glaub, so früh ist da nicht offen.“
„Es ist ja auch nur ein kleiner Job“, meinte Jim und strich mir eine Strähne hinters Ohr.
„Für dich vielleicht, Mister Multimilliardär“, schnaubte ich.
„Hm“, machte er. „Weil ich darauf hoffe, gleich Sex zu haben, starte ich keine Diskussion darüber, dass du eigentlich nicht arbeiten gehen musst.“
„Schon wieder?“, grinste ich und er nickte ernst.
„Ich weiß nicht warum, aber der Verband sieht einfach total sexy an dir aus. Außerdem habe ich doch noch das Familienessen wieder gut zu machen.“
Ich lachte.
„Du kannst froh sein, dass ich auch schon vor dem ersten Date Sex habe.“
„Du ahnst nicht, wie froh.“
Am nächsten Morgen war Jim schon weg, als ich aufstand. Ich beschloss wie vereinbart um acht Uhr bei Mr. Pepple aufzutauchen und ihm dann von meinem Unfall zu erzählen. Cesar würde ich gleich mitnehmen und danach eine große Runde mit ihm drehen.
Ich zog mich, was sich als ziemlich schwierig herausstellte, da ich meine linke Hand nicht benutzen konnte. Mir war noch nie aufgefallen, wie sehr man beide Hände für die alltäglichsten Dinge brauchte und so kämpfte ich minutenlang mit BH-Verschluss und Jeansknopf. Schließlich sah ich allerdings relativ vorzeigefähig aus und konnte mich auf den Weg machen.
Ich dankte Gott dafür, dass ich im Treppenhaus nicht Mark über den Weg lief und schlug draußen auf der windigen Straße ein flottes Tempo an. Der Berner-Sennen lief brav neben mir her und bellte nicht einmal den frechen Chihuahua einer Dame in einem extravaganten Pelzmantel an.
Ich erreichte den Laden pünktlich und trat schüchtern ein. Das Glockenspiel über der Tür bimmelte leise und Mr Pepple kam aus dem Hinterzimmer gewuselt.
„Ach, guten Morgen, Mara, schön, dass Sie da sind“, begrüßte er mich und ich nickte ihm höflich zu.
„Mr. Pepple, ich muss gestehen, ich hatte am Wochenende einen kleinen Unfall und ich weiß nicht, ob ich Ihnen so eine große Hilfe bin“, sagte ich zerknirscht und hob meine Hand. „Ich hätte angerufen, aber ich habe keine Nummer.“
„Aber meine Liebe, das ist doch kein Problem“, sagte der alte Mann sofort. „Sie machen einfach alles was geh, bis Sie wieder gesund sind.“
„Wirklich? Ich kann trotzdem hier arbeiten?“, fragte ich erleichtert, denn ich hatte nicht wirklich Lust wieder alleine in der Wohnung zu sitzen.
„Aber natürlich. Kommen Sie, als erstes zeige ich Ihnen mal alles.“
Kurz darauf stand ich hinter der Kasse und ordnete Farbmuster, während Mr. Pepple hinten im Lager aufräumte. Cesar lag neben mir faul auf dem Boden und hatte den Kopf auf meine Füße gestützt.
Der Vormittag verging rasch und da wir kaum Kunden hatten, begann ich auf die Rückseite von alten Zetteln Skizzen von allem möglichen zu malen. Währenddessen kam ich endlich dazu nachzudenken. Ich ging das Gespräch, das ich belauscht hatte, noch mal in Gedanken durch. Sicher war, dass sie von mir gesprochen hatten und von meinem Geburtstag und meiner Kunst. Mir kam der Traum in den Sinn, in dem Jim und Maelle meinten, meine Kunst würde einmal die Welt bedeuten und ich überlegte, ob es vielleicht doch kein Traum gewesen war.
Aber nein. Ich schüttelte den Kopf. Das war alles so sinnlos, was wollten die alle von meinen Bildern? Hielten sie mich für den neuen Van Gogh und wollten mit meinen Gemälden ein Vermögen verdienen? Allerdings hatten sie ja auch schon eins. War das ein Grund, warum ich Jim hatte heiraten müssen?
Ich zermarterte mir das Hirn, aber einfach nichts ergab einen Sinn. Ob ich Jim fragen sollte? Ob ich es überhaupt wissen wollte?
Die Glocke über der Ladentür riss mich aus meinen Grübeleien und ich sah auf. Eine Frau in einem gelben Regenmantel und blau geringelten Strumpfhosen trat ein und strahlte mich an.
„Guten Tag“, begrüßte ich sie lächelnd und sie trat zu mir.
„Hallo, ich suche diese dünnen Wachsplatten, um Kerzen selbst zu verzieren“, eröffnete sie mir und ich nickte.
„Ja, da haben wir ein paar Sachen“, bestätigte ich und kam um die Theke herum, um sie zu einem Regal zu führen. „Hier hätten wir zum Beispiel ganz einfache, da gibt es auch schon fertige Motive. Ist es für eine Taufkerze?“
„Oh, nein, nein, nur für einen Kindergeburtstag.“
„Ach so“, lachte ich. „Also dann empfehle ich Ihnen dieses Zehn-Farben-Päckchen oder vielleicht das hier mit den gestreiften Platten.“
Die Frau musterte die beiden Päckchen kurz dann sagte sie: „Ich nehme einfach beide und dann noch dieses hier mit den blauen. Mein Sohn liebt blau, müssen Sie wissen.“
„Okay.“
Ich ging zur Kasse und scannte die Produkte ab.
„Das sind aber schöne Zeichnungen! Sind die etwa von Ihnen?“, fragte die Frau überrascht und hob eine meiner Schmierereien hoch.
„Ja, danke. Aber so gut sind die nicht, ich male eigentlich eher“, meinte ich, was die Frau zum Lachen brachte.
„Also bitte, meine Liebe. Mein Mann ist Kurator in einer Galerie, müssen Sie wissen, ich verstehe also ein bisschen was davon und ich sage Ihnen, Sie sind gut.“
„Dankeschön.“
„Dürfte ich vielleicht Ihren Namen erfahren? Falls Sie mal groß raus kommen, kann ich dann sagen, ich hab Sie schon vorher gekannt!“
„Ähm, Mara Wolve“, sagte ich und packte ihre Wachsplatten in eine kleine Plastiktüte.
„Wolve? Etwa so wie die große Firma in der City?“
„Ich bin nur eingeheiratet“, sagte ich zwinkernd und gab ihr das Wechselgeld.
„Wissen Sie was, Sie sollten sich mal mit meinem Mann unterhalten, wenn Ihre Bilder noch besser sind, als Ihre Zeichnungen, dann kann er vielleicht eins in seiner nächsten Ausstellung unterbringen!“
„Meinen Sie?“, fragte ich nachdenklich.
„Ja, sicher. So, jetzt muss ich aber los. Auf Wiedersehen, Mrs. Wolve.“
„Wiedersehen.“
Ich wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, dann sah ich zu Cesar hinab und sagte grinsend: „Die ist so aufgedreht, die würde sich wunderbar mit Jessica verstehen.“
Ich saß auf der Sofakante und zupfte nervös am Saum meines grünen Kleides herum. Wegen der Kälte draußen hatte ich noch eine durchsichtige Strumpfhose und einen schwarzen Bolero angezogen und trotz meines aufwendigen Schminkens war ich zu früh fertig. Jim hatte versprochen, pünktlich aus dem Büro zu kommen und mich dann um sieben Uhr abzuholen. Für unser erstes Date.
Mein Herz raste und meine Hände zitterten, was total sinnlos war, weil ich schließlich mit meinem Mann ausging und nicht mit irgendeinem Schwarm, aber trotzdem war ich aufgeregt. Ich wusste nicht genau was wir vorhatten, nur dass es ein Abendessen beinhalten würde.
In dem Moment klopfte es an der Tür und ich erhob mich verwirrt um zu öffnen. Jim hatte schließlich einen Schlüssel.
Als ich die Tür aufmachte, stand er da, in seinem schwarzem Anzug und einem Strauß Tulpen in der Hand.
„Woher hast du denn um diese Jahreszeit Tulpen?“, war das einzige was mir dazu einfiel.
Er grinste nur und überreichte mir die roten, gelben und orangen Blumen.
„Ich dachte, sie passen gut zu deinem Bild.“
„Ja, tatsächlich“, sagte ich überrascht und ging hastig in die Küche, um eine Vase zu holen.
„Können wir los?“, fragte Jim, als ich die Tulpen auf dem Esstisch abgestellt hatte und ich nickte.
„Wo gehen wir denn hin?“
„Das bleibt eine Überraschung“, meinte er lächelnd und zog die Tür hinter uns zu.
Zu meiner Überraschung stiegen wir nicht ins Auto ein und Jim erklärte, dass wir uns zu den Stoßzeiten damit einen Gefallen taten. Stattdessen fuhren wir mit der überfüllten Tube und ich musste mich an Jim festhalten, weil kein Griff mehr frei war.
„Wohin fahren wir?“, fragte ich verwirrt und lehnte mich gegen ihn.
„Siehst du gleich.“
Bei der nächsten Station stiegen wir aus und als wir auf der Straße standen, stieß ich ein überraschtes Quietschen aus.
„Nein!“, rief ich ungläubig fröhlich und Jim grinste.
„Doch.“
Wir standen vor der Tate Modern, dem Kunstmuseum, dass ich unbedingt hatte besuchen wollen.
„Aber du magst doch solche Kunst nicht.“
„Für dich tue ich aber gerne mal so.“
„Wie süß“, meinte ich lächelnd und zog ihn an der Hand ins Gebäude.
Die Kunst war kurz gesagt beeindruckend. Am längsten blieb ich bei den expressionistischen Werken hängen und folterte Jim mit Freuden damit, ihm irgendwelche Deutungen der Bilder aus der Nase zu ziehen.
Es ging auf zehn Uhr zu, als wir in die kalte Nacht traten und über die Millennium Bridge spazieren. Die Mondsichel spiegelte sich in der Themse und nur noch wenige Fußgänger waren unterwegs.
„Als ich bei Miru in Frankreich war, sind wir im Louvre gewesen“, erzählte ich. „Und die Kunst da… Das hat mich einfach inspiriert. Ich meine, moderne Kunst ist klasse anzusehen, aber ich male echte Szenen. Mit erkennbaren Formen, die etwas zeigen. Eine Geschichte erzählen.“
Jim warf mir einen Blick zu und blieb mitten auf der Brücke stehen.
„Was ist denn?“, fragte ich verwirrt, als er mich an sich zog.
„Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich“, wisperte er und küsste mich sanft auf den Mund.
„Ich dich auch“, murmelte ich überrascht und erwiderte den Kuss.
Wir aßen in einer kleinen Trattoria, die völlig überfüllt aber sehr gemütlich war. Die seltsame Stimmung von der Brücke war verflogen und Jim brachte mich die ganze Zeit zum Lachen, sodass ich kaum zum Essen kam.
Als wir zuhause ankamen war ich ziemlich müde und schlurfte auf direktem Weg ins Schlafzimmer.
„Gott, wie bin ich hier nur einhändig reingekommen“, murmelte ich und hantierte an meinem Kleid herum.
„Kann es sein, dass du Hilfe brauchst?“, fragte Jim hinter mir und ich drehte mich um.
„Ja. Könntest du mich bitte ausziehen?“, fragte ich und versuchte dabei ernst zu bleiben.
Jims Lippen zuckten.
„Nach dem ersten Date? Also ich weiß ja nicht…“
„Komm schon, ich bin hilfsbedürftig.“
„Dann bin ich natürlich gern dein Retter in der Not“, meinte Jim belustigt und griff um mich herum, um den Reisverschluss meines Kleides zu öffnen.
Ich bekam eine Gänsehaut, als seine Finger meine Haut streiften und dann lag das Kleid auch schon auf dem Boden.
„Ist dir aufgefallen, dass wir uns gar nicht mehr wirklich streiten, seit wir Sex haben?“, fragte Jim grinsend und hakte seine Finger in den Bund meiner Strumpfhose ein.
„Dann machen wir wohl irgendwas richtig“, sagte ich mit rauer Stimme und erschauerte, als er mir die Strumpfhose von den Beinen streifte.
Jetzt stand ich nur noch in Unterwäsche vor ihm, während er noch seinen kompletten Anzug trug. Grinsend zog ich ihn an seiner Krawatte zu mir herab und küsste ihn, bis mein Gehirn sich verabschiedete.
Die Tage vergingen und ich war so glücklich, dass ich das Nachdenken fast vergaß. Zwischen Jim und mir lief es super und er verhielt sich total süß, führte mich so oft aus, wie die Arbeit es zu ließ und kaufte mir Blumen, die ich abmalte, wenn ich nachmittags aus dem Laden nachhause kam und nichts zu tun hatte. Die Arbeit dort machte mir sehr Spaß und da meine Hand gut verheilte, konnte ich schon bald richtig mit anfassen. Da Jim oft lang arbeiten musste, traf ich mich abends oft mir Miru und Jessica, die beide fleißig meinen 18. Geburtstag planten, der immer näher rückte. An einem Samstag kam uns Cecilia besuchen, die darauf bestand, dass wir in ihrem Haus feiern sollten, da dort schließlich genug Platz war. Jessica war von der Idee begeistert und Miru auch, sobald wir ihr von dem Anwesen der Wolves erzählt hatten.
In dieser Zeit verstand ich mich nur mit wenigen Leuten nicht und die musste ich zum Glück nicht so oft sehen. Zum einen war das Mike, der mich im Treppenhaus nicht einmal mehr grüßte und zum anderen waren es Jims Freunde, vor allem Maelle, den ich überhaupt nicht ausstehen konnte. Wenn er da war, nahm ich reiß aus und ging zu Miru oder bummelte mit Cesar durch unser Viertel. Für Jim war das in Ordnung, er verstand sehr gut, dass ich Maelle nicht mochte und es war ihm glaube ich auch ganz lieb, dass ich vor den anzüglichen Bemerkungen seines Freundes davonlief anstatt auf sie anzugehen.
Außerdem malte ich sehr viel. Manchmal packte es mich mitten in der Nacht und ich musste aufstehen, um die Bilder, die mir im Kopf herum spukten, aufs Papier zu bringen. Das war zum Teil verstörend, aber andererseits waren das die besten Bilder, die ich machte, und der einzige, der sich darüber beschwerte, war Jim, wenn er in einem leeren Bett erwachte.
An einem Nachmittag, als ich im Laden stand und die Regale auffüllte, trat ein junger Mann ein, der offensichtlich nicht zu unserer normalen Kundschaft gehörte. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug und sein schwarzes Haar war zurückgekämmt.
„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte ich ihn freundlich und sein Blick glitt über mich.
„Die Frage ist eher, wie ich Ihnen helfen kann. Sie sind Mara Wolve?“
„Ähm, ja“, bestätigte ich verwirrt.
„Mein Name ist Robert Clancy, möglicherweise erinnern Sie sich an meine Frau? Sie war neulich hier.“
„Sind… Sind Sie etwa dieser Kurator?“, fragte ich überrascht und ergriff seine ausgestreckte Hand.
„Ja, genau. Ich habe in einem Monat eine Ausstellung mit Werken von unbekannten, jungen Künstlern und mir fehlen noch ein paar gute Bilder. Meine Frau hat gar nicht mehr aufgehört von Ihnen zu reden, deshalb dachte ich, ich sehe mal vorbei.“
„Ach, tatsächlich“, lachte ich etwas überfordert.
Konnte das sein? Ein Kurator, der einfach so hereinspazierte und sich meine Bilder ansehen wollte… Es war zu gut, um wahr zu sein, doch die Überraschung und die Freude ließen mich alle Zweifel vergessen.
„Wo haben Sie Ihre Bilder?“
„Oh, äh, nicht hier“, stammelte ich. „Sie sind alle in meiner Wohnung die Straße runter.“
„Wann haben Sie hier aus?“, fragte er mit einem Blick auf die Uhr.
„In einer halben Stunde.“
„Dann fragen Sie Ihren Chef, ob Sie früher gehen dürfen, weil ein bekannter Kurator Ihnen ein unglaubliches Angebot machen will“, meinte er und zwinkerte mir zu.
„Ich… Ja, natürlich, danke, Mr. Pepple?“
Der alte Mann trat in diesem Moment aus dem Lager und begrüßte den Besucher mit einem Nicken, als würden sie sich bereits kennen.
„Ich habe alles gehört, meine Liebe. Gehen Sie nur“, lachte er. „Wenn man so jung ist, muss man jede Chance nutzen.“
„Oh, danke, vielen Dank“, sagte ich und packte meine Jacke.
Mr. Clancy öffnete die Tür und trat beiseite.
„Nach Ihnen, Mrs. Wolve.“
Wie versteinert saß ich auf dem Wohnzimmersofa und starrte das feurige Gemälde an der Wand an. Ich fühlte mich wie in einem Traum, fast so surreal wie das Motiv vor mir.
Absolut genial… Viel Potential… Mehr davon…
Noch nie, wirklich noch nie hatte ich so viel Anerkennung für meine Bilder bekommen. Und dann auch noch von jemandem, der etwas davon verstand. Das war so… Ich fand kein Wort, um zu beschreiben, wie ich mich fühlte. Es war fast schon so toll, dass es nicht echt sein konnte.
Mein Handy klingelte und als ich die Nummer von Jims Büro erkannte, sagte ich nach dem Abheben sofort: „Hast du einen Kurator bestochen, damit er meine Bilder ausstellt?“
Am anderen Ende der Leitung war es kurz still und ich konnte die Verwirrung förmlich riechen.
„Hätte ich das denn tun sollen?“, fragte er.
„Nein, absolut nicht!“, sagte ich und konnte trotzdem nicht glauben, dass dieses Märchen wahr sein sollte. „Warum rufst du an?“
„Ich wollte nur kurz Bescheid sagen, dass es heute im Büro wohl länger dauern wird“, sagte Jim langsam. „Was ist das mit dem Kurator?“
„Er macht Ausstellungen mit jungen Malern und er will mich vielleicht dabei haben“, erzählte ich begeistert. „Was dauert denn länger?“
„Ein paar Idioten haben Mist gebaut und darum muss sich jetzt eben einer kümmern.“
„Bei den Ausstellungen oder bei dir?“, fragte ich, da ich bei unserer zweigeteilten Unterhaltung nicht mehr ganz mitkam.
„Bei mir“, lachte Jim. „Das mit dem Kurator musst du mir später noch genauer erzählen.“
„Vor oder nach dem Sex?“, fragte ich grinsend.
Jim schwieg kurz, dann sagte er todernst: „Du bist einfach die perfekte Frau für mich. Ich beeil mich.“
„Okay“, lachte ich und legte auf.
Kopfschüttelnd ließ ich das Handy sinken und beobachtete Cesar dabei, wie er an einem Spielzeugknochen nagte.
„Ich bin in letzter Zeit so glücklich, demnächst muss wohl was schreckliches passieren“, murmelte ich und ging in mein Atelier, um an einem Bild weiterzumachen, das ich gestern angefangen hatte.
Es zeigte einen Adler der vom Himmel herabstieß und mit seinem Körper die Sonne verdeckte, sodass er von einem goldenen Schein umhüllt wurde. Seine riesigen Schwingen brannten und gingen in das Rot des Sonnenuntergangs über. Zumindest sah es in meinem Kopf so aus und während ich in die Arbeit versank, nahm das Ganze mehr und mehr Gestalt an.
„Kann es sein, dass du eine kleine Feuer-Obsession hast, Schatz?“
Ich ließ den Pinsel sinken und drehte mich zu Jim um, der am Türrahmen lehnte.
„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht mehr so an mich ran schleichen?“
Er zuckte grinsend mit den Schultern.
„Was machst du überhaupt schon hier? Ich dachte, du müsstest länger arbeiten.“
„Ähm. Seit meinem Anruf sind sechs Stunden vergangen, Mara. Es ist bereits elf Uhr. Hast du etwa die ganze Zeit gearbeitet, seit wir telefoniert haben?“
„Elf Uhr?“, fragte ich verwirrt und sah mich blinzelnd nach einer Uhr um.
Wie hatten nur sechs Stunden einfach so an mir vorbeiziehen können? Ich wusste, dass ich meine Außenwelt vergaß, wenn ich malte, aber sechs Stunden?
„Ich hab wohl die Zeit vergessen“, lachte ich, doch es klang nervöser als gewollt. „Sechs Stunden lang… Das ist mir noch nie passiert.“
„Wahrscheinlich nur, weil ich dich immer schon früher finde und aus der Trance reiße“, sagte Jim und kam zu mir. „Also, was bedeutet das Bild?“
„Ich… weiß es nicht genau. Weißt du, die meisten Leute werden von etwas inspiriert und drücken dann etwas aus, aber mir kommt es vor, als wären meine Bilder die Inspiration. Das hört sich ziemlich schräg an, aber so fühlt es sich an.“
Als ich Jim in die Augen sah, erkannte ich den seltsamen Ausdruck darin, den ich schon einige Male gesehen hatte und nie deuten konnte. Doch er zuckte nur mit den Schultern.
„Ich glaube, du brauchst jetzt erst mal was zu essen. Na los.“
Er nahm mir den Pinsel aus der Hand, zog mir den Malkittel aus und führte mich in die Küche, wo er Nudeln zu bereitete.
Wir redeten über seine Arbeit und ich bekam einen Lachanfall, als er das banale Ereignis schilderte, das ihn heute aufgehalten hatte. Jim schob ihn auf meinen Schlafentzug, doch eigentlich fühlte ich mich immer so euphorisch, wenn ich gemalt hatte.
Die Nudeln waren gut und sobald wir fertig waren, bemerkte ich doch, wie müde ich war. Jim nahm es mir nicht übel, dass ich mich nach einem Gute-Nacht-Kuss ins Bett verzog und versprach gleich nachzukommen. Ich hörte ihn im Wohnzimmer noch telefonieren, doch ich schlief schon, als er das Schlafzimmer betrat.
Bevor ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zur Arbeit machte, schickte ich Cecilia per SMS ein Foto von meinem Adler, der schon fast fertig war. Mir war eingefallen, dass sie Gedichte über Bilder schrieb und ich wollte wissen, wie sie dieses interpretieren würde. Und tatsächlich entdeckte ich ihre Antwort bereits in einer kurzen Pause am späten Vormittag.
Sie hatte geschrieben: „Etwas bricht über das „lyrische“ Ich herein (Adler). Verheerend und zerstörerisch, wie das Feuer. Und es beendet etwas (Sonnenuntergang). Klasse Bild! LG Cecilia.“
Ich bedankte mich bei ihr und legte nachdenklich den Kopf schief. Jetzt wo sie es sagte, erschien es mir eindeutig. Genau das hatte ich ausdrücken wollen! Aber wie konnte ich das, ohne es zu wissen?
Mein Handy klingelte und das Display zeigte die Nummer des Kurators an. Mein Herz hüpfte begeistert bei dem Gedanken, dass er sich bereits jetzt schon meldete.
„Mara Wolve, hallo?“
„Hallo, hier ist Robert Clancy. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, gut“, sagte ich und versuchte meine Aufregung herunter zu spielen.
„Ich habe noch mal alles überprüft und ich hätte tatsächlich noch Platz für drei Ihrer Bilder. Auf jeden Fall dieses große, was Sie mir gezeigt haben und dann vielleicht noch zwei Ihrer Zeichnungen. Ich finde, das würde einen guten Kontrast geben.“
„Ich… Danke, das freut mich sehr.“
„Allerdings sollten wir den Vertrag noch diese Woche unter Dach und Fach bringen, da die Ausstellung ja schon in einem knappen Monat stattfindet. Da muss versicherungstechnisch einiges geregelt werden, Sie verstehen… Wenn sie Zeit für ein Treffen hätten, wäre das perfekt.“
„Ja, ja, natürlich, aber…“
Ich konnte heute nicht schon wieder früher von der Arbeit weg, da ich das ja gestern schon gemacht hatte und mir außerdem für morgen freigenommen hatte, da ich bei den Vorbereitungen für meine abendliche Geburtstagsparty helfen wollte. Zwar war mein Geburtstag erst am Samstag, aber Miru war überzeugt davon, dass man in einen 18. reinfeiern musste.
„Ich könnte frühestens am Sonntag, tut mir leid“, sagte ich nervös.
„Das ist überhaupt kein Problem. Passt Ihnen vormittags oder nachmittags besser?“
„Oh gut, das ist egal“, sagte ich erfreut.
Wir einigten uns auf vormittags und da Mr. Clancys Büro sonntags geschlossen war, vereinbarten wir, uns in einem Café in der Innenstadt zu treffen.
Sobald er aufgelegt hatte, ging ich nach hinten in den Laden.
„Mr. Pepple, erinnern Sie sich an den Mann, der gestern hier war?“
„Clancy, der Kurator, sicher, warum denn?“
„Können Sie mir irgendetwas über ihn erzählen oder über seine Ausstellungen?“
„Nun ja, er hat diese Galerie in Covent Garden. Seine meisten Ausstellungen sind mit jungen Künstlern, die viel versprechend sind. Deshalb sind die Preise natürlich auch nicht so hoch wie bei den angesagten Malern. Viele Kunstsammler kaufen bei ihm, um sich ein Bild zu sichern, bevor der Künstler bekannt wird und seine Preise steigen.“
„Also ist es jedenfalls eine gute Möglichkeit um ins Gespräch zu kommen.“
„Wenn man gut ist. Und ich zweifle nicht daran, dass Sie es sind, meine Liebe. Mit ihm haben Sie wirklich Chancen, er hat schon einige Maler weit gebracht.“
In einer glücklichen Gedankenblase schwebte ich zurück nach vorn an die Arbeit und konnte an nichts anderes denken, als meine möglicherweise rosige Zukunft.
„Und nicht vergessen, um sieben Uhr geht’s los!“, ermahnte ich Jim.
„Ich werde da sein.“
Ich saß noch im Bett, während Jim bereits halb zur Tür raus und auf dem Weg zur Arbeit war. Ich konnte einfach nicht mehr schlafen, ich freute mich viel zu sehr auf die Party.
„Das hoffe ich. Lass dich bloß nicht von der Arbeit aufhalten, sonst such ich mir dort einen neuen Mann.“
Jim legte sich gespielt getroffen eine Hand auf die Brust und rückte seine Krawatte zurecht.
„Ich muss jetzt los. Miru hat die Adresse?“
„Wir werden es schon finden. Mach’s gut“, sagte ich lächelnd und Jim beugte sich herab um mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu hauchen.
„Ich liebe dich“, raunte er, dann war er weg.
Ich ließ mich seufzend zurück in die Kissen sinken und starrte die Decke an.
Achtzehn. Endlich war es soweit. Ich lebte zwar schon seit einem Monat wie eine Erwachsene, aber morgen war ich offiziell unabhängig. Naja gut, ich war auch noch verheiratet, was eine gewisse Abhängigkeit schuf, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, durch meine Mündigkeit die letzte, schmerzende Verbindung zu meinen Eltern zu kappen. Ich würde sie nie wieder sehen müssen und ich würde mich nie mehr an sie erinnern müssen. Doch durch die Verheißung auf diese Freiheit fühlte ich mich auch ein bisschen einsam. Was nicht nötig war, denn immerhin hatte ich Jim, Miru, Jessica und Cecilia und vielleicht würde ich mich auch irgendwann mit George und Alastair verstehen. Und ganz vielleicht würde ich irgendwann einmal selbst eine Familie gründen…
Ich strich mir nachdenklich über den Bauch und stand auf. Wie jeden Morgen zog es mich zuerst ins Atelier.
Ich hatte gestern Abend noch das Bild mit dem Adler fertig gemalt und es war viel düsterer geworden als ich gedacht hatte. Es hatte etwas Bedrohliches an sich und ich musste an die Interpretation meiner Schwiegermutter denken.
Plötzlich wurde mir speiübel und ich stürmte ins Bad. Keine Sekunde zu spät, denn dann hing ich auch schon über dem Klo und kotzte mir die Seele aus dem Leib.
„Oh Gott“, ächzte ich und drückte die Spülung.
War ich etwa krank? Ausgerechnet jetzt?
Ich hob mir prüfend die Hand an die Stirn, doch sie war kühl. Wahrscheinlich kam die plötzliche Übelkeit von der Aufregung.
Ich erhob mich und machte mich fertig. Ich musste mich zwar nicht noch mal übergeben, aber ich das nervöse Gefühle in der Magengegend verschwand nicht, bis Miru vor der Tür stand, um mich abzuholen.
„Salut, chérie!“, begrüßte sie mich. „‘ast du alles?“
Ich hob die Tasche hoch, in der ich mein Partykleid hatte und wir machten uns auf den Weg nach unten zu ihrem Auto.
„Freust du disch schon?“
„Ja, total. Aber ich frage mich immer noch, wen ihr alles eingeladen habt, ich kenne doch niemanden in der Stadt!“
„Aber Jessi schon“, lachte Miru und ich musste auch lachen, da sie es „Schessi“ aussprach.
Wir verfuhren uns auf dem Weg zu dem Anwesen der Wolves nur zwei Mal und trafen mit geringer Verspätung ein. Miru kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und sie fragte sofort, ob Jim noch einen anderen Bruder hatte, den sie sich schnappen konnte.
Jessica und Cecilia erwarteten uns bereits.
„Hallo, ihr Lieben“, schallte es uns bereits entgegen, als wir aus dem Auto stiegen. „Es gibt schrecklich viel zu tun!“
Und das war nicht übertrieben. Trotz Party-Service hatten wir alle Hände voll mit Dekorieren und Anordnen zu tun und die Diskussion um die Auswahl der Musik dauerte so lang, dass ich mich irgendwann ausklinkte und ich in der Küche versteckte.
Ich setzte mich auf die Arbeitsfläche und schnappte mir einen Apfel aus der Obstschale.
„Na.“
Ich drehte den Kopf und sah den Miru in der Tür stehen.
„Wie geht es dir?“, fragte sie und ich lächelte.
„Gut, warum?“
„Isch ‘abe Cecilia gefragt warum deine Eltern nischts von sisch ’ören lassen.“
„Oh.“
Ich ließ den Apfel sinken und sah sie überrascht an.
„Warum ‘ast du mir denn nischt gesagt was los ist?“, fragte sie mitfühlend und mir rutschte das Herz in die Hose.
Wusste sie es etwa? Dass meine Eltern mich verkauft hatten und meine Ehe arrangiert worden war, als ich noch ein Kind gewesen war?
„Naja, es ist eben nicht leicht… darüber zu sprechen“, sagte ich wage.
„Isch kann es gar nischt glauben, dass deine Eltern den Kontakt zu dir abgebrochen ‘aben, nur weil du Jim ge’eiratet ‘ast! Ihr ‘attet nie ein gutes Ver’ältnis, aber das ‘ätte isch ihnen niemals zugetraut. Das muss unglaublisch schwer für disch sein!“
„Ach so.“ Ich sah nervös zu Boden und zuckte mit den Schultern. „Wie du gesagt hast. Wir hatten eben nie ein gutes Verhältnis.“
Es klang viel bitterer und bedeutungsvoller als gedacht.
„Chérie, du brauchst gar nischt zu versuchen, das runter zu spielen! Und was ist mit deinem Bruder?“
„Ich… Ich weiß nicht, Miru. Ich versuche einfach nicht mehr an sie zu denken“, sagte ich und stieß mich von der Arbeitsplatte ab. „Ich geh mich fertig machen, kommst du mit?“
Miru seufzte und kurz dachte ich, sie würde mich nicht so davonkommen lassen, doch dann gab sie plötzlich nach und folgte mir nach oben in eines der Gästezimmer, wo wir uns umzogen.
Ich hatte ein blaues Cocktailkleid eingepackt, das vom Schnitt her eher schlicht war, allerdings mit schwarzen und silbernen Pailletten bestickt war. Miru nötigte mir dazu dramatische blau-schwarze Smokey-Eyes und die höchsten Pumps, die ich je gesehen hatte, auf.
„Du ‘ast schließlich einen großen Mann, da kannst du dir das schon leisten“, sagte sie grinsend, während ich mich am Geländer nach unten hangelte.
Wir hatten zwei volle Stunden gebraucht, um uns fertig zu machen und als wir nach unten kamen war schon alles voll. Mir völlig fremde Menschen bewegten sich gut gelaunt zu lauter Musik oder bedienten sich am Büffet – kurz gesagt, es war eine Bombenstimmung.
„Wer sind all die Leute?“, rief ich Miru über den dröhnenden Bass hinweg zu.
„Isch weißt nischt“, antwortete sie grinsend und zog mich auf die Tanzfläche.
Schon bald stieß Jessica zu uns und wir amüsierten uns gut, doch irgendwann verabschiedete ich mich ans Büffet.
„Hallo.“
Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich die Hände an meiner Taille spürte, doch als ich Jims Stimme erkannte, entspannte ich mich.
„Hi“, sagte ich lächelnd und lehnte mich gegen ihn.
„Wie es aussieht, hast du mich nicht vermisst.“
Mein Blick streifte die große Wanduhr auf der anderen Seite des Zimmers.
„Ehrlich gesagt hab ich nicht mal bemerkt, dass es schon halb neun ist. Wo warst du denn so lange?“
„Also erstens bin ich schon seit einer halben Stunde da und zweitens stand ich im Stau.“
„Faule Ausreden“, sagte ich grinsend und drehte mich um, um ihn zu küssen.
„Du bist irgendwie größer als sonst“, stellte er fest.
„Liegt an den Schuhen.“
„Wie praktisch.“
Ich lachte und löste mich von ihm.
Da ich Jim nicht zum Tanzen überreden konnte, befand ich mich schon bald wieder allein in der Meute, aber das war nicht schlimm. Ich hatte auch so meinen Spaß und die Vorstellung eines tanzenden Jims fand ich sowieso seltsam.
Es ging auf Mitternacht zu und plötzlich hatten alle Sektgläser mit sprudelndem Champagner in der Hand. Als die Wanduhr zur vollen Stunde schlug und damit den neuen Tag einläutete, dröhnte ein lautes „Happy Birthday“ durch den Raum.
Lachend stieß ich mit den Fremden um mich herum an und dann fielen mir auch schon Jessi und Miru um den Hals und gratulierten mir überschwänglich.
„Alles Gute, ma petite!“, schnurrte Miru und Jessica zog mich zu einem Tisch auf dem kunstvoll verschnürte Pakete aufgetürmt waren.
„Na los, du musst deine Geschenke auspacken!“, rief sie und ich hob verwirrt die Augenbrauen.
„Sind die von den ganzen Leuten?“
„Natürlich. Immerhin ist es deine Feier auf der sie sind.“
„Aber die kennen mich doch gar nicht.“
„Na und?“, grinste sie und in diesem Moment tauchte Jim neben uns auf.
„Dürfte ich mir meine Frau vielleicht ein paar Minuten ausleihen?“, fragte er und bot mir galant den Arm an.
Lachend verdrehte ich die Augen und folgte ihm auf den Flur, wo es etwas ruhiger war.
„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte Jim lächelnd und drückte mir ein kleines Schächtelchen in die Hand.
„Danke“, murmelte ich errötend und öffnete es.
Darin befand sich eine silberne, feine Kette mit einem kleinen, schlichtverzierten Amulett daran.
„Das ist wirklich schön“, sagte ich.
„Mach es auf“, wies er mich an und ich drückte es vorsichtig auf.
Darin befand sich ein Miniaturbild von Jim und mir, das wir vor ein paar Tagen gemacht hatten und auf der anderen Seite waren unsere Namen und das Datum unserer Hochzeit in winziger Schrift eingraviert.
Mir stiegen Tränen der Rührung in die Augen als ich unsere glücklichen Gesichter betrachtete und legte mir die Kette um.
„Hey, Mara. Weinst du etwa?“, fragte Jim sanft und ich schüttelte den Kopf.
„Ich…“, presste ich hervor, doch die Tränen stürzten bereits über meine Wangen. „Das ist wirklich… ein schönes Geschenk.“
„Oh Süße“, lachte er leise und nahm mein Gesicht vorsichtig zwischen seine Hände, als wäre ich aus Glas.
Er küsste mich sanft, doch bevor ich den Kuss erwidern konnte, stieg eine plötzliche Welle der Übelkeit in mir auf und ich stieß ihn gerade rechtzeitig noch weg, um mich vor ihm zu übergeben.
„Oh Gott“, ächzte ich und richtete mich erschrocken auf.
Jim sah nicht weniger überrascht aus, als ich.
„Es… es tut mir, das war nicht deine Schuld, ich… Oh Gott, das tut mir ja so leid!“, stammelte ich aufgeregt.
„Schon gut, ist alles in Ordnung mit dir? Hast du vielleicht ein bisschen zu viel getrunken?“
„Was?!“, schnaubte ich. „Nein! Wirke ich etwa betrunken auf dich! Nein, ich weiß gar nicht… Ich fühle mich gut, es ist nur…“
Plötzlich kam mir ein Gedanke, der alles um mich herum verschwinden ließ und Adrenalin durch meinen Körper schießen ließ.
„Oh Gott, Jim, ich hab mich heute Morgen schon übergeben müssen! Denkst du… Könnte es etwa sein das ich schwanger bin?“, keuchte ich und Jims Mund klappte auf.
Noch nie hatte ich ihn so durcheinander erlebt, er holte ein paar Mal Luft, als wolle er etwas sagen, doch es schien ihm nichts einzufallen. Ratlos und panisch – zumindest was mich anging – standen wir uns gegenüber, dann ging ein Ruck durch Jim.
„Also, du legst dich jetzt erstmal oben hin, okay? Und ich, ich such nach jemanden der das hier weg macht und ich hol dir ein Wasser, aber leg dich zu allererst hin und… und dann sehen wir weiter.“
„Okay“, sagte ich und ging mit aufgerissenen Augen an ihm vorbei auf die Treppe zu.
„Und Mara?“
Ich drehte mich um.
„Das… Also falls, ich meine… Das wird schon.“
„Okay“, widerholte ich gepresst und ging dann nach oben ins Gästezimmer.
Mein Herz raste, doch ich war viel zu ruhelos, um mich jetzt hinlegen zu können. Schwanger! Ich! Das konnte doch nicht sein… Ich wollte keine Kinder, besser gesagt, ich wollte jetzt keine Kinder! Sogar Jim war noch zu jung zum Kinderkriegen und außerdem war er durcheinander. Er war nie durcheinander.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, wisperte ich und raufte mir die Haare.
Mein Blick glitt hinab auf meinen Bauch. Er sah ganz normal aus unter dem Kleid, ganz flach. Und natürlich war er flach, schließlich war ich ja nicht schwanger.
Ich wusste nicht, wie viele Minuten ich schon hier oben war, doch ich hielt es hier einfach nicht aus, deshalb hastete ich wieder nach unten.
Auf halbem Weg stieß ich auf jenes Zimmer, indem Jim, sein Vater und Goerge sich damals unterhalten hatten. Ich hatte schon lang nicht mehr daran gedacht, doch jetzt erinnerte ich mich wieder genau.
Die Tür war offen und der Flur unten war leer. Ich biss mir nervös auf die Unterlippe, dann machte ich einen Schritt auf die Tür zu und spähte ins Zimmer. Auf einem großen Eichenholzschreibtisch lag eine Mappe und ich stutzte, als ich sah was darauf geschrieben stand.
Tamara Brook.
Was hatte das zu bedeuten?
Ich warf nochmal einen Blick auf den leeren Flur dann huschte ich in den Raum und ging direkt auf den Schreibtisch zu. Als ich die Mappe aufschlug, fielen mir als erstes die beiden Bilder auf, die an die Rückseite des Deckels geheftet waren. Das eine zeigte mich als Baby im Krankenhaus – ich erkannte mich nur, da mein Name an dem Kinderbettchen stand – und das andere war ein etwa zwei Jahre alter Schnappschuss von mir auf dem Schulhof. Ich erinnerte mich nicht an die Aufnahme des Bildes und überlegte, wer es gemacht haben konnte.
Das erste Blatt in der Mappe war ein Steckbrief. Ich fand meinen Namen, meine alte Adresse und mein Geburtsdatum darauf. Darunter war handschriftlich etwas notiert und das was ich entziffern konnte verstand ich nicht, aber es ging um irgendein Sternbild.
Verwirrt blätterte ich weiter und fand Fotografien von Bildern, die ich im Kunstunterricht gezeichnet hatte. Sie waren hektisch aufgenommen und manchmal etwas verwackelt. Quer über die Bilder hatte jemand Fragen notiert.
Nach den Bildern kam ein weiteres Dokument und ich brauchte einige Sekunden, um es als einen äußerst detaillierten Lebenslauf von mir zu identifizieren. Mein erstes Wort, mein erstes Schritt, meine Freundschaften, alles war darin vermerkt und während ich verständnislos durch die vergangenen achtzehn Jahre meines blätterte, wurde mir bewusst, dass die Wolves den Deal mit meinen Eltern nicht zufällig geschlossen hatte. Sie recherchierten, nein, stalkten mich schon mein Leben lang und ich verstand nicht warum zur Hölle jemand so etwas tun sollte.
„Was tust du hier?“
Ich hob langsam den Kopf und sah Alastair Wolve in der Tür stehen. Jim trat neben ihn und sein Blick viel auf die geöffnete Mappe vor mir.
Immer noch damit beschäftigt irgendeinen Sinn darin zu finden, war mein Hirn offenbar nicht fähig ganze Sätze zu bilden und es dauerte einige Sekunden bis ich antwortete.
„Was ist das?“
Jim und sein Vater tauschten einen Blick, dann traten sie in den Raum und der Senior schloss die Tür.
„Was glaubst du denn, was es ist?“, fragte er gefährlich ruhig und ich spürte meine Halsschlagader pulsieren.
„Es… ist eine Mappe über mich. Und über meine Bilder.“
„Dann ist es auch nichts weiter“, sagte Alastair und fixierte mich mit seinen toten Augen.
„Nein! Ich hab euch doch reden hören!“ Meine Verwirrung schlug in Wut über seine Ruhe um. „Ich höre ständig Leute über mich und meine Bilder sprechen, aber wenn ich danach frage, krieg ich keine Antworten. Und jetzt das! Also was ist hier los?“
Beide schwiegen und ich wandte mich fassungslos an Jim.
„Was soll das?“, wiederholte ich und Jim fuhr sich durch sein kurzes Haar.
„Wir müssen es ihr sagen. Ich will sie nicht länger anlügen“, sagte Jim leise an seinen Vater gewandt, doch der schwieg noch immer.
„Anlügen? Worüber hast du gelogen, Jim?“
„Das ist alles viel größer, als du denkst“, begann er, schien jedoch noch auf das Okay seines Vaters zu warten.
„Was denn?! Sprich mit mir!“
„Man könnte damit anfangen, zu sagen, dass du in genau der Sekunde zur Welt kamst, als eine Sternenkonstellation zusammentraf, die es nur alle 1000 Jahre zu sehen gibt. Sie zeigt jagende Wölfen“, eröffnete Jims Vater, doch ich verstand nur Bahnhof.
Er ging auf einen hohen Sessel zu, der in einer Ecke des Zimmers stand und ließ sich dort mit verschränkten Beinen nieder.
„Von so einer Konstellation habe ich noch nie gehört“, sagte ich skeptisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Natürlich nicht“, schnaubte Alastair und fuhr fort. „Du bist eine gute Malerin. Du bist nicht so gut wie Van Gogh, Monet oder gar Michel Angelo, aber du wirst einst in gleichen Atemzug mit ihnen genannt werden. Denn du hast eine Gabe. Hast du in den letzten Tagen vielleicht urplötzlich den Drang verspürt, zum Pinsel zu greifen? Hast du Dinge gemalt, ohne sie dir vorher auszudenken? Hast du die Welt um dich herum völlig vergessen, während du gemalt hast?“
Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Woher wusste er das alles? Und worauf wollte er hinaus?
„Das bist nicht du, Mara, das ist deine Gabe, deine Bestimmung. Denn ab heute, deinem 18. Geburtstag, werden deine Bilder exakte Visionen von der Zukunft sein. Und da wir die einzige Person, die sie deuten kann in unseren Reihen haben, werden sie uns helfen, die anderen Clans zu unterwerfen und als mächtigster übrig zu bleiben!“
Ich blinzelte.
„Jim, wovon redet er da?“, fragte ich und sah ihn dann, doch seine Ernsthaftigkeit schüchterte mich ein.
„Was mein Vater meint, ist, dass wir Werwölfe sind und du eine Prophetin.“
Alastair lächelte kühl.
„Willkommen im Haus der Wölfe.“
Verwirrt blinzelte ich und starrte Jim an. In meinem Kopf war absolut Leere und ich strich mir fassungslos durchs Haar.
„Das… Das kann nicht sein. Es gibt keine Werwölfe“, krächzte ich.
„Du hast deine Augen von Anfang an vor jedem Zeichen verschlossen. Aber jetzt weißt du das es stimmt“, stellte Alastair fest und ich schüttelte heftig den Kopf und sprang auf.
„Was für Zeichen?! Ich verstehe nicht, wovon ihr sprecht!“
„Wir sind keine normalen Männer. Sicher hast du alles auf die Perfektion deines Mannes hier geschoben, aber wer kann alleine drei Einbrecher zur Strecke bringen?“, sagte Jims Vater mit einem wölfischem Grinsen. „Der plötzliche Migräneanfall von Jim und George – das war bei Vollmond. Junge Wölfe reagieren sensibel darauf. Und was glaubst du, wie ich deinen Bruder davor bewahrt habe, als Totgeburt zu enden?“
Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich sank kraftlos auf den Stuhl zurück.
„Als du mit Maelle über meine Bilder geredet hast, war das kein Traum oder?“, fragte ich und sah Jim an.
Er schüttelte ernst den Kopf, doch er sagte nichts.
„Ist er etwa auch ein Werwolf?“, wollte ich erschüttert wissen, doch es war mir jetzt schon klar. „Und das Familientreffen, war das auch nur Tarnung, damit ihr hier schön geheim über mich reden könnt?“
Alastair zuckte mit den Schultern.
„Du solltest auch Cecilia kennen lernen und sie dich – immerhin wird sie deine Bilder deuten.“
Mein Mund stand fassungslos offen. Alles Lügen, wo man hinsah nur Lügen!
„Und heiraten musste ich dich nur, damit ich dir schön vertraue und mich nicht wehre oder was?!“, rief ich.
„Mara, hör zu… Vater, könntest du uns vielleicht alleine lassen?“
Jim sah verzweifelt aus, doch das nahm ich nur am Rande wahr.
„Mein altes Leben war eine Lüge, meine eigenen Eltern haben mich verkauft und DU! Du hast dich in mein Vertrauen gestohlen und von Anfang an nur gelogen und gelogen!“
„Mara, bitte“, sagte Jim und kam zu mir, doch ich stieß ihn weg.
„Unsere Schein-Ehe war eine Lüge und unsere Liebe ist es auch“, krächzte ich und die Tränen in meinen Augen liefen über und rannen über meine Wangen.
Mein Herz pochte schmerzhaft und ich fühlte mich als müsste ich sterben, als ich in die Augen des Mannes sah, der mich gekauft und missbraucht hatte.
„Das stimmt nicht! Also anfangs schon, aber ich habe mich wirklich in dich verliebt!“
Auch in Jims Augen sammelten sich die Tränen, doch wahrscheinlich schauspielerte er nur, so wie im vergangenen Monat.
„Wie soll ich dir nur jemals wieder glauben?“, sagte ich kalt und stand auf.
„Mara, bitte hör mich an und lass mich alles erklären! Es wird dir gutgehen, ich schwöre es. Ich lasse nicht zu, dass dir irgendjemand etwas antut. Du wirst ganz normal leben können und du wirst malen, so wie du es immer gewollt hast.“
„Ich schätze, ihr lasst mich nicht gehen. Und ein Leben in Gefangenschaft ist kein Leben, aber wenn ich es führen muss, dann ohne dich. Ich will dich nie wieder sehen.“
Mein Schluchzen blieb mir im Hals stecken und die Tränen flossen wortlos weiter. Wie hatte ich nur so dumm sein können Verbrechern zu vertrauen…
Jim packte mich an den Oberarmen.
„Ich schwöre, ich liebe dich!“
„Ich spucke auf deine Liebe“, krächzte ich und im nächsten Moment drehte mein Magen sich um und ich übergab mich zum zweiten Mal an diesem Tag vor Jims Füße.
Als würde mich mit meinem Mageninhalt meine ganze Kraft verlassen, sank ich in mich zusammen und fing mich gerade rechtzeitig noch auf. Ich konnte mich nicht rühren, als würde die kalte Leere in meinem Inneren meinen Körper erstarren lassen und so war ich wehrlos, als er mich nach oben in ein Zimmer trug und mich dort in ein Bett legte.
„Das ist die Gabe. Sie macht sich in dir bemerkbar. Aber morgen früh müsste es dir wieder besser gehen“, sagte Jim und setzte sich auf die Bettkante.
Ich drehte den Kopf weg und starrte aus dem Fenster in die dunkle Nacht.
„Du wirst sicher eine Erklärung wollen“, mutmaßte Jim, den Ton der Verzweiflung immer noch in seiner Stimme.
Ich musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, wie bleich er war und wie er sich ratlos durch sein schwarzes Haar strich. Schweigend wartete ich auf die neuen Lügen, die gleich seinen Mund verlassen würden.
„Und du willst bestimmt wissen, was Werwölfe sind.“ Er sprach leise und bedrückt. „Nun, zumindest sind wir nicht wie die Werwölfe in den Geschichten. Wir verwandeln uns auch nicht in Tiere, nur weil der Mond etwas voller ist, als im restlichen Monat. Aber das hast du ja schon gesehen. Allerdings können wir mit Wölfen und Hunden kommunizieren. Wir sind stärker als andere Menschen. Wir werden niemals krank. Und meistens führen wir ein langes Leben.“
Ich konnte vom Zimmer aus den Himmel sehen und da hier kein Licht war, sah ich die Sterne funkeln.
„Es gibt viele Werwolfclans auf der Welt. Es gibt fast kein Landstück mehr, das nicht zum Reich eines Clans gehört und um die besetzten Gebiete gibt es oft Streit und Kriege. Ohne, dass die Menschen es mitbekommen, selbstverständlich. Oh Mara, ich schwöre, ich wollte das nicht für dich. Du hast viel mehr verdient, du solltest glücklich sein. Aber dir wird nichts geschehen. Du wirst alles bekommen was du willst. Mein Vater und Cecilia werde sich um deine Bilder kümmern und du musst mit nichts davon zu tun haben.“
Sicher. Alles außer Freiheit, Glück und Selbstbestimmung.
Jim seufzte und stützte seinen Kopf auf seinen Händen ab.
„Mara, ich liebe dich wirklich und ich habe es gehasst dich anzulügen. Und ich werde dir das von heute an jeden Tag sagen, bis du mir glaubst. Ich bin immer noch der gleiche Mann, den du kennengelernt hast. Ich habe mich nie verstellt, nur in dieser einen Sache habe ich gelogen.“
Ja, nur diese eine Sache: alles.
„Mein Vater ist der Clanführer, ich musste ihm gehorchen. Ich konnte es dir nicht früher sagen.“
Er schwieg kurz, dann erhob er sich.
„Am besten du erholst du ein bisschen. Wenn du irgendetwas brauchst…“
Er ließ den Satz unbeendet und verließ den Raum. Kaum, dass er weg war, verkrampfte mein Körper sich und ich begann haltlos zu schluchzten. Ich verstand das alles nicht… Werwölfe, die die Weltherrschaft an sich reißen wollten? Und ich war der Schlüssel dazu?
Und Jim. Er hatte mich betrogen. Schon die ganze Zeit. Nicht ein ehrliches Wort war aus seinem Mund gekommen. Alle, die ich je geliebt hatte, hatten mich betrogen! Meine Eltern, er… Und Jessica steckte vermutlich auch in der ganzen Sache.
Ich musste hier weg! Ich konnte nicht länger an einem solchen Ort bleiben… Ich holte tief Luft und setzte mich auf. Ich strich mir die Tränen und die verschmierte Wimperntusche von den Wangen und lauschte. Es war still geworden im Haus. Sie mussten die Gäste weggeschickt haben, die vermutlich genauso falsch wie ihre Gastgeber waren, und von Familie Wolve war auch nichts mehr zu hören. Dennoch wagte ich es nicht, die Tür zu öffnen. Wenn ich fliehen wollte, dann richtig, denn wenn sie mich einmal erwischt hatten, würden sie viel vorsichtiger werden.
Ich öffnete das Fenster und warf einen Blick nach draußen. Es war finsterste Nacht, trotzdem erkannte ich das Blumenbeet unter mir. Aus dem ersten Stock sah das nicht wirklich weich aus…
Neben meinem Fenster verlief eine Regenrinne nach unten und ich ergriff die Chance. Ich kletterte aufs Sims und hangelte mich an der Stange so leise wie möglich nach unten, wobei ich mir meine nackten Arme und Beine zerkratzte, doch davon ließ ich mich nicht aufhalten. Es war ein Wunder, dass mein Kleid heil blieb und sobald ich am Boden angekommen war, schlüpfte ich aus meinen Pumps, nahm sie in die Hand und rannte quer über die Wiese vom Haus weg ohne zurückzublicken.
Ich fand mich im Dunkeln nicht gut zu Recht, aber schon bald entdeckte ich die Auffahrt und kam am Tor an. Natürlich war es verschlossen, doch ich kletterte einfach über das schmiedeeiserne Gitter und rannte die dunkle Straße entlang, bis ich stolperte und hinfiel.
Ich blieb einfach liegen. Mein Herz raste und mir war schwindelig vom Rennen. Mir war eiskalt und ich zitterte am ganzen Körper. Keuchend und hilflos lag ich allein auf der Straße und konnte mich vor Erschöpfung nicht rühren.
Ich sah nach oben in die Sterne. Ich erkannte in ihnen keine Bilder und ich fragte mich unwillkürlich wie die Sternenkonstellation der jagenden Wölfe aussah.
Was für ein Schwachsinn. Unwillkürlich fing ich atemlos an zu lachen und das Geräusch erfüllte die Nacht. Meine eisigen Finger klammerten sich an meine Pumps und mein Atem stieg in kleinen Wölkchen aus meinem Mund während ich lachte und lachte und lachte.
Irgendwann blendete mich ein Licht und ich erkannte sofort, dass es Scheinwerfer waren. Ich sprang sofort auf und blieb hin und her gerissen am Fahrbahnrand stehen.
Das Auto hielt und das Fenster an der Beifahrerseite wurde herunter gelassen.
„Alles in Ordnung mit Ihnen? Kann ich Sie mitnehmen?“
Erschrocken verschränkte ich die Arme und starrte ins Innere des Wagens, wo ich eine Frau mittleren Alters entdeckte. Was tat sie hier um diese Zeit? Gehörte sie etwa zu Jim?
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Frau weiter.
Sie sah ehrlich besorgt aus und ich trat zögerlich einen Schritt näher.
„Wohin fahren Sie denn?“
„In die City zurück. Ich habe meine Schwester besucht“, sagte sie freundlich.
Im Radio lief amerikanische Country Musik und vom Rückspiegel baumelte ein kleines Stofftier.
„Ich… Danke“, sagte ich schließlich und stieg ein.
Im Auto war es herrlich warm und ich lehnte mich erschöpft zurück.
„Darf ich fragen, was Sie hier draußen gemacht haben?“, fragte die Frau munter, als wir fuhren.
Ich sah, dass ihre Finger ringlos waren. Ihr Parfüm roch etwas zu stark und etwas zu selbstbewusst.
„Ich… Ich habe erfahren, dass mein Mann mich betrogen hat. Ich wollte nur noch weg.“
„Ach, Sie armes Ding! Männer sind ja solche treulosen Idioten.“
Und sofort begann sie von ihrer gescheiterten Ehe zu erzählen.
Ich schloss die Augen halb und konzentrierte mich auf ihre Worte, um die verdrängen zu können, die durch meine Gedanken geisterten.
Als es um uns herum etwas heller wurden, da wir Londons innere Stadtteile erreicht hatten, fragte die Frau: „Und, wo wollen Sie denn jetzt hin?“
Ich öffnete den Mund, doch mir fiel nichts ein.
Zu wem konnte ich? Ich kannte niemanden in London außer Miru und dort würden sie mich zuerst suchen… Außerdem wusste ich nicht, ob diese Wölfe gewalttätig waren und ich wollte meine einzige Freundin nicht in dieses Drama verwickeln. Morgen konnte ich mir vielleicht etwas überlegen, aber ich hatte kein Geld. Ich hatte ja noch nicht mal einen Ausweis!
„Lassen Sie mich einfach an der U-Bahn Station da vorne raus“, sagte ich etwas ratlos.
„In Ordnung. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Miss... Wie war doch gleich ihr Name haben Sie gesagt?“
„Brook“, antwortete ich leise. „Tammy Brook.“
„Na dann, Miss Brook. Alles Gute!“
„Danke. Und vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben.“
Ich stieg aus dem Wagen und ging die Stufen zur Station runter. Es war eine kleine Station, ohne richtige Schalter und ich kletterte einfach über das Drehkreuz. Als ich unten am Gleis ankam, fuhr gerade eine Bahn ein. Zu meinem Glück war es die Circle Line und jetzt wusste ich, wo ich die Nacht verbringen würde.
Ich setzte mich auf einen Platz in der Ecke des leeren Wagons und schloss die Augen. Eine U-Bahn, die die ganze Zeit im Kreis fuhr. War das jetzt etwa mein Zuhause? Wo sollte ich nur hin?
Nachhause, schoss es mir durch den Kopf, aber dort würden sie mich auch finden. Denn sie würden mich suchen, auf jeden Fall würden sie das, immerhin war ich ja ach so wichtig für sie.
Aber dann konnte ich auch nicht in London bleiben.
Mir stiegen schon wieder die Tränen in die Augen und ich wollte nur noch zu meiner Mama, doch dann fiel mir ein, dass diese mich schon einmal verkauft hatte und es vielleicht auch wieder tun würde.
Was, wenn ich mich an die Polizei wendete? Ich musste ihnen ja nicht die Wahrheit sagen, ich könnte behaupten Jim hätte mich geschlagen, dann mussten sie mich beschützen! Allerdings hatte ich keine Beweise und Jims Familie war reich und nicht nur in ihrer abgedrehten Werwolf-Welt einflussreich. Sie konnten sich sicher einen spitzen Anwalt leisten und behaupten, ich wäre wahnsinnig und unmündig. Und da ich schon achtzehn war, hätten dann nicht meine Eltern sondern mein Ehemann die Verantwortung für mich und der könnte mich dann in ein Irrenhaus stecken und mich perfekt kontrollieren.
Ich presste meine Augenlider zusammen und rollte mich auf dem Sitz zusammen. Ich wollte nicht an Jim denken und ich wollte schon gar nicht SO von Jim denken. Ich konnte einfach nicht fassen, dass er sich die ganze Zeit nur verstellt hatte und dass der Mann, den ich liebte, gar nicht existierte.
Es tat so weh, dass ich glaubte, ich würde sterben. Trotz allem hätte ich am liebsten einfach nur die Zeit zurück gedreht, zurück zur Party, sodass ich nie die Akte über mich gefunden hätte und die Wahrheit nichts ans Licht gekommen wäre.
Ich riss die Augen auf und verpasste mir eine heftige Ohrfeige. Wie konnte ich diesen Verräter nur immer noch so sehr lieben, dass ich lieber ein falsches Leben leben würde als Bescheid zu wissen?
Der Morgen kam schneller als gedacht und während immer mehr Menschen ein und ausstiegen blieb ich in meiner Ecke sitzen. Mittlerweile mussten die Wolves mein Fehlen bemerkt haben, doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte einfach nur in meiner Ecke sitzen, von der Bahn durchgerüttelt werden und die immer gleichen Stationen passieren. Viele Leute starrten mich an und musterten neugierig meinen Aufzug, der der Jahreszeit so gar nicht angemessen war, doch es war mir egal. Ich saß einfach nur da und döste vor mich hin, während der Tag vorbei ging. Kurz gesagt, es war der schlimmste Geburtstag meines Lebens und am Abend war ich so hungrig, dass man es mir offensichtlich ansah, denn eine alte Frau reichte mir vor dem Aussteigen mitleidig ihre Bäckertüte, in der sich ein Zimtkringel befand.
Ich schlief bald wieder ein und als ich am Sonntag aufwachte, fühlte ich mich beschissen. Mir tat alles weh, ich hatte einen schalen Geschmack im Mund und meine Haare hatten den U-Bahn-Geruch angenommen. Immer noch hatte ich keine Ahnung wo ich hin sollte oder was ich tun konnte, aber eins war mir jetzt klar: Ich würde nicht länger hier herumsitzen und mich selbst bemitleiden. Mir war im letzten Monat so viel passiert, wenn das nicht eine starke Frau aus mir gemacht hatte, dann wusste ich auch nicht weiter.
An der nächsten Haltestelle stieg ich ohne groß darüber nachzudenken aus und stakste auf meinen Pumps die Treppen hoch zur Straße. Ich befand mich in der Innenstadt. Als ich den Blick hob, konnte ich das Zifferblatt des Big Bens sehen und mir fiel ein, was heute war.
Ich befand mich nur eine Ecke von dem Café entfernt, in dem ich mich mit dem Kurator treffen wollte. Da mir absolut nichts Besseres einfiel, was ich jetzt machen könnte, machte ich mich auf den Weg dorthin.
Das Café war ziemlich voll, doch ich erkannte Mr. Clancy sofort, der an einem der hinteren Tische saß und einen Stapel Papiere ordnete.
„Mr. Clancy“, rief ich ihm entgegen und setzte ein Lächeln auf.
Er erhob sich, als er mich sah und reichte mir die Hand.
„Mrs. Wolve, wie schön Sie zu sehen.“
Bei dem Namen stieß es mir sauer auf und ich kniff die Lippen zusammen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und musterte mich irritiert.
Ich fuhr mir durch meine wirren Haare und setzte mich.
„Ich… muss Ihnen gestehen, ich bin jetzt gar nicht vorbereitet, ich habe gar nichts dabei und ich kann auch… Meine Güte, ich komme jetzt auch gar nicht an meine Bilder ran“, stammelte ich aufgeregt, doch Mr. Clancy goss mir ruhig eine Tasse Tee ein und legte mir eine Hand auf den Arm.
„Jetzt beruhigen Sie sich erst mal und dann erzählen Sie mir was passiert ist.“
Bei seinem warmen Lächeln konnte ich mich tatsächlich etwas entspannen. Dieser Mann hatte kleine Kinder und eine äußerst liebenswürdige Frau. Außerdem war er nett und zuvorkommend, vielleicht konnte er mir ja helfen! Aber was konnte ich ihm sagen?
„Ich bin gestern achtzehn geworden und ich habe meinen Mann verlassen“, begann ich und spürte schon wieder die Tränen in den Augen. „Er hat mich über etwas sehr wichtiges belogen und da bin ich einfach weggerannt und wenn ich jetzt zurückgehe… dann…“
„… lässt er sie nicht mehr gehen“, beendete Mr. Clancy meinen Satz ernst und meine Augen wurden groß.
„Woher…?“
„Ich weiß, wer Ihr Mann ist und ich weiß auch wer Sie sind. Um ehrlich zu sein, weiß ich es erst seit gestern, da ist es mir klar geworden. Und da Sie jetzt im Nachteil sind, werde ich mich noch mal vorstellen, ich bin Robert Clancy und nicht nur ein erfolgreicher Kurator sondern auch der Kopf eines Werwolfclans. Bitte erschrecken Sie nicht, ich will Ihnen wirklich helfen!“
Das konnte doch nicht wahr sein! Lauerten diese Typen denn etwa an jeder Ecke?
Ich wollte aufspringen, doch Mr. Clancy hielt mich fest.
„Bitte, wenn Sie jetzt gehen, haben die Wolves Sie in einer Stunde gefunden. Ich kann Sie beschützen, aber nur wenn Sie es wollen. Sie müssen nicht mit mir mitkommen, aber ich will Sie wenigstens informieren. Was immer die Wolves Ihnen erzählt haben, es wird nicht alles sein.“
„Was wollen Sie von mir?“, hauchte ich panisch und Mr. Clancy hob beschwichtigend die Hände.
„Ganz ruhig, meine Liebe. Sie müssen wirklich keine Angst vor mir haben, ich bin nicht wie die Wolves. Ich bin kein Lügner und ich will Sie auch nicht ausnutzen.“ Er hatte die Stimme gesenkt und sah mich eindringlich durch seine braunen Augen an. „Ich werde Ihnen alles erklären und ich schwöre Ihnen, ich werde Ihnen nichts tun.“
Ich nickte langsam und verschränkte die Arme.
„Dann fangen Sie mal an.“
„Gut“, sagte Mr. Clancy und räusperte sich. „Nun, die Wolves werden Sie ja in der Zeit, in der Sie bei Ihnen waren, über Ihre Gabe informiert haben…“
„Vorgestern.“
„Wie bitte?“
„Das haben sie. Vorgestern.“
Mr. Clancy starrte mich an.
„Sie wissen… Sie wissen das alles wirklich erst seit vorgestern? Nun also das… Das hätte ich nicht einmal Alastair zugetraut. Einen ganzen Monat haben sie Sie über alles belogen?“
„Ja“, sagte ich und biss mir auf die Zunge.
„Nun, dann… sollten Sie erst einmal wissen, dass nicht alle Clans so sind wie sie. Die Wolves sind gefährlich und machthungrig und schon seit Jahrzehnten versuchen wir anderen alles, um sie in Schach zu halten.“
„Aber Jim meinte, sie wären schon mächtig“, sagte ich irritiert.
„Nicht so mächtig, wie sie es gern hätten. Sie haben Macht und sie sind gefährlich, aber das, wovon sie träumen, ist eine von Werwölfen dominierte Welt, in der die Menschen unsere Untertanen sind. Und um dieses Ziel zu erreichen, brauchten sie dich.“
Ich schluckte schwer. Alastair und George traute ich das alles durchaus zu. Aber Cecilia? Und Jessica? Und Jim… Aber ich hatte auch gedacht, Jim würde mich lieben und kein Lügner sein.
„Wenn sie jeden unserer Schritte vorhersehen könnten, wozu sie durch deine Gabe in der Lage wären, dann würden sie uns andere innerhalb weniger Monate unterwerfen können und das hätte fatale Folgen.“
„Und Sie wollen das verhindern, indem Sie mich als Waffe übernehmen“, stellte ich fest, doch Mr. Clancy schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, natürlich nicht. Im Gegensatz zu Wolves sind wir keine manipulativen Mörder und wir wollen dich nur beschützen und nicht gefangen halten. Und ich habe deine Bilder gesehen, sie sind wirklich großartig! Ich will dir eine Chance verschaffen und deine Kunstwerke nicht im Keller vermodern lassen, wo keiner sie sehen kann.“
„Aber selbst wenn Sie mich schützen und die Wolves von mir fernhalten, wenn Sie meine… Visionen veröffentlichen, sehen sie sie doch auch“, sagte ich verwirrt.
„Ja, aber das wird ihnen dann nichts mehr nützen. Denn ich weiß, wie wir aus dir wieder eine Künstlerin machen, anstatt einer Prophetin und wie du ein ganz normales Leben führen können wirst. Es gibt nur eine Person, die deine Werke deuten kann und die gehört zu den Wolves.“
„Cecilia“, wurde es mir schlagartig bewusst. „Aber was wollen Sie denn machen? Sie töten? Ich kann wirklich nicht glauben, dass sie das alles freiwillig macht, ihre Ehe mit Alastair war auch arrangiert und sie ist wirklich nett…“
„Mara“, sagte Mr. Clancy ernst. „Nach allem was Ihnen passiert ist, können Sie da annehmen, dass irgendeiner von denen Ihnen nichts vor gemacht hat?“
Mir wurde schlecht und ich starrte in meine Teetasse.
„Ich kann das alles einfach nicht glauben“, wisperte ich. „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“
„Wenn Sie mein Angebot annehmen, was wohl das Beste wäre, da mein Clan Sie wirklich schützen kann, dann kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie an einen sicheren Ort, bis alles vorbei ist und dann können Sie machen was immer sie wollen… Wir könnten Ihre Karriere angehen oder Sie nehmen sich im Ausland eine Auszeit… Was immer Sie wollen. Mein Clan wird Sie unterstützen.“
Ich blinzelte ihn durch meine verklebten Wimpern an.
„Und Sie wissen wirklich erst seit gestern wer ich bin?“
„Wir kannten die Prophezeiung, aber nicht die Prophetin. Und das tut mir ehrlich leid, wäre es anders gewesen, hätten wir Ihnen so einigen Schmerz ersparen können.“
„Ich… Ich weiß nicht. Ich kenne Sie doch gar nicht und ich bin gerade nicht sehr vertrauensselig gestimmt“, sagte ich so freundlich, wie möglich.
Mr. Clancy nickte und atmete tief durch.
„Das verstehe ich. Haben Sie denn jemanden, zu dem Sie können? Irgendjemanden?“
Ich hatte das Gefühl, er kannte meine Antwort schon.
„Nein.“
„Dann ist es also abgemacht?“, sagte er etwas unruhiger und sah aus, als wäre er im Begriff aufzustehen.
Ich stand auf, bevor er es tun konnte und wich zurück. Trotz seiner Freundlichkeit, schrie etwas in mir, ich solle weglaufen. Ich wusste nichts über Werwölfe und ich wollte ihnen nicht trauen. Ich wollte nur noch weg.
„Ich weiß das wirklich zu schätzen, aber ich denke… Ich denke eher nicht.“
Und damit drehte ich mich um und rannte aus dem Café. Ich bog scharf um die Ecke und prallte mit jemandem zusammen.
„Mike?“, sagte ich überrascht, als ich meinen Gegenüber erkannte.
„Ich heiße Mark, du arrogante Schlampe“, knurrte er und packte mich an den Oberarmen.
„Wie bitte? Was soll das?“
„Du hast doch nicht allen Ernstes geglaubt, wir lassen dich gehen“, sagte jemand hinter mir. „Nun ja, im Café habe ich es auf die nette Tour versucht. Deine Schuld, dass es jetzt auf die Harte sein muss.“
Ein Auto mit getönte Scheiben hielt neben uns, die Tür ging auf und Mark warf mich auf den Rücksitz noch bevor ich schreien konnte.
Mein Schädel dröhnte. Noch bevor ich die Augen öffnete, bahnte sich ein das unerwünschte Gefühl eines Déjà-vus an.
Man hatte mich betäubt. Nein, Moment, eine Betäubung war es letztes Mal gewesen, dieses Mal hatte ich mir den Kopf an der Autotür angeschlagen. Mein Hinterkopf prickelte und ich wollte mit meiner rechten Hand nach der verletzten Stelle tasten, doch ich konnte sie nicht rühren. Etwas Hartes war um mein Handgelenk geschlungen und irgendwo festgemacht… eine Handschelle. Noch ein Déjà-vu.
Ich schlug die Augen auf.
Ich lag in einem fensterlosen Kellerraum. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne, die gelbliches Licht verbreitete. Die Wände waren frisch verputzt und der Boden mit weißen Fliesen gekachelt. Das Bett, in dem ich lag, war aus weißen Metallstäben zusammengeschraubt und die Matratze fühlte sich an, als wäre kein Lattenrost darunter.
Ein trockenes Husten schüttelte mich und ich drehte mich zur Seite, wobei ich bemerkte, dass nur eine meiner Hände gefesselt war. Ich setzte mich auf und alles begann sich zu drehen. Ich dachte kurz, ich müsste mich übergeben, aber es war nur der Hunger, der ein Loch in meinen Bauch gefressen hatte.
Auf der anderen Seite des Raumes stand eine Staffelei, Leinwand, Pinsel und Farbtuben.
„Das ist doch wohl ein Witz“, sagte ich ungläubig.
Als ich von den Wolves zu den Clancys geraten war, war ich vom Regen in die Traufe gekommen, denn jetzt war ich mir todsicher, dass jedes einzelne Wort, dass aus Roberts Clancys Mund gekommen war, eine Lüge gewesen war. Falls er überhaupt Robert Clancy hieß. Wahrscheinlich hieß Mark auch gar nicht Mark und ich hatte mir seinen Namen jetzt ganz um sonst endlich eingeprägt.
Ein verzweifeltes Lachen drang aus meinem Mund, als ich merkte, dass ich aufs Klo musste. Ich saß eingesperrt in einem Keller und alles woran ich denken konnte, war der Druck auf meiner Blase!
„Okay, nicht durchdrehen“, wisperte ich und entdeckte dann die Kamera, die in der Ecke über der Tür angebracht war.
„Wollt ihr mich verarschen? Wollt ihr mich verdammt noch mal verarschen?!“, brüllte ich den kleinen schwarzen Kasten an.
Er gab keine Antwort.
Meine Güte, was hatte ich nur getan! Wie war ich nur in dieses Schlamassel geraten? Wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, bei Jim zu bleiben? Er hatte mir versprochen mich gut zu behandeln und wir hatten aus einer arrangierten Ehe eine leidenschaftliche Beziehung gemacht, mit der Zeit hätten wir vielleicht auch das überstanden…
Aber nein. Jim liebte mich gar nicht. Er war ein Lügner, der mich gekauft hatte, für einen idiotischen Machtkampf unter beschissenen Werwölfen und jetzt saß ich im Keller eines anderen Clans und niemand wusste wo ich war. Niemand würde mich holen kommen. Ich war allein.
Ich sank auf die Matratze zurück und drehte mich zur Wand, mit dem Rücken zur Kamera.
Mein Zeitgefühl hatte ich längst verloren, als die Tür aufging. Es mochten Stunden vergangen sein oder auch nur Minuten. Aber das war ja auch egal. Ich saß hier fest, Zeit brauchte mich nicht zu interessieren.
„Mara, meine Liebe“, sagte Robert Clancy hinter mir.
Er gab sich nicht mal Mühe die Einfühlsamkeit in seiner Stimme echt wirken zu lassen.
„Ich weiß, dass muss jetzt alles sehr verstörend für dich sein. Aber du hast uns keine andere Wahl gelassen.“
Er schimpfte sanft mit mir, wie mit einem Kind. Mein Puls raste vor Wut, doch ich rührte mich nicht.
„Es ist deine Schuld. Alles was dir geschehen ist, war leider deine Schuld. Aber das ist schon in Ordnung. In ein paar Wochen darfst du nach oben, wenn du brav bist. Hast du verstanden, meine Liebe?“
Ich biss mir auf die Lippen. Ich dachte gar nicht daran diesem Schwein zu antworten.
Nach ein paar Sekunden ging er wieder und die Tür fiel hinter ihm zu.
Ich musste eingedöst sein, denn später, oder auch am nächsten Tag, kam wieder jemand herein. Es war Mark, er trug ein Tablett mit Suppe bei sich.
„Essen“, informierte er mich.
Ich regte mich nicht.
„Meine Fresse“, knurrte er genervt und ich hörte, wie er das Tablett auf dem Boden abstellte. „Du brauchst dich nicht wie eine Zimtzicke aufführen, nur weil du eine Gabe hast. Ansonsten bist du nämlich höchstens Durchschnitt.“
Er knallte die Tür hinter sich zu und ich presste die Augenlider zusammen. Seine Schüchternheit war also offensichtlich auch nur vorgespielt gewesen.
Es musste gelogen gewesen sein, dass sie nicht gewusst hatten, wer ich war, sonst hätte Mark wohl kaum neben an gewohnt. Oder vielleicht waren sie sich auch unsicher gewesen, war ja alles egal. Es waren Schweine und ich würde ihr dreckiges Essen nicht anrühren.
Mein Magen knurrte laut. Immerhin konnten sie mich nicht mehr benutzen, wenn ich verhungerte. Wäre das nicht eine Genugtuung, wenn ich jetzt einfach so sterben würde? Dann würden wohl alle ganz schön blöd aus der Wäsche schauen…
Ich klammerte mich an meinen Trotz, drängte die Tränen zurück und zog die Knie an, wie ein Igel. Stacheln ausfahren um nicht verletzt zu werden. Obwohl ich nicht sicher war, ob bei mir nicht schon alles verletzt war, was verletzt werden konnte.
Ich musste aufs Klo. Und zwar dringend. Den Hunger und sogar den Durst konnte ich ignorieren aber der Druck meiner Blase war unerträglich. Verkrampft lag ich auf dem Bett und überlegte, wie lange der Drang Wasserzulassen noch kleiner als mein Stolz war. Ich wollte nicht rufen. Allerdings wollte ich auch nicht ins Bett machen. Beides wäre demütigend und beides fühlte sich an wie aufgeben und verlieren.
In der Schule hatten wir einmal einen Text gelesen, indem es um Kinder ging, die sich ständig in die Hose machten, da sie dachten, dass Pinkeln das einzig Kontrollierbare in ihrem Leben wäre. Ich erinnerte mich, dass wir das Thema bei dem Lehrer behandelt hatten, den ich einmal mit Jim verglichen hatte…
Ich schob den Gedanken bei Seite und drehte mich auf die andere Seite. Mein Blick fiel auf die Staffelei. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass was immer ich von jetzt an malte, die Zukunft voraussagen würde. Niemand sollte die Zukunft kennen. Dieses Wissen verlieh zu viel Macht und außerdem war ich der Meinung, dass die Zukunft in der Gegenwart nichts verloren hatte, wo wir doch mit der Vergangenheit schon so beschäftigt waren. Wie sollte ich nur jemals wieder malen können, wenn ich doch nicht wusste, was das entstehende Bild anrichten würde?
Irgendwann ging die Tür auf und ein großer Mann trat ein, den ich nicht kannte. Er schloss meine Handschellen auf, zog mich vom Bett hoch und zerrte mich durch einen dunklen Kellerflur. Ich wehrte mich nicht und sagte kein Wort, trotzdem war er unnötig grob. Vor einer Tür hielt er an und öffnete sie umständlich mit links, während er meinen Oberarm fest umklammerte.
„Du hast zehn Minuten“, knurrte er mit einem schottischen Akzent und stieß mich in den Raum.
Ich fiel auf kalte Fließen und hörte, wie der Mann hinter mir abschloss. Als ich mich umsah, erkannte ich, dass ich mich in einem Badezimmer befand. Zitternd kam ich auf die Füße und stolperte zum Klo.
Außer der Toilette gab es nur ein kleines Waschbecken. Die Wände waren vier Mal so hoch wie breit, was eine beklemmende Atmosphäre schuf, die mir die Luft abschnürte.
Während ich mir die Hände unter dem eiskalten Wasserstrahl wusch, musterte ich mich in einem kleinen ovalen Spiegel, der über dem Becken hing. Das Make Up von meiner Geburtstagsparty war hoffnungslos verschmiert und ich versuchte es mit dem Wasser abzurubbeln, was mir nur teilweise gelang.
Meine braunen Locken hingen mir verfilzt ins Gesicht und ziepten schrecklich, als ich die zwei Haarnadeln herauszog, mit denen ich einige Strähnen zurück gehalten hatte. Nach kurzem Nachdenken steckte ich sie wieder so fest, dass man sie nicht sah. Ich zupfte mein zerknittertes Kleid soweit zurecht, wie es ging, straffte die Schultern und drehte mich zur Tür.
Der Mann brachte mich zurück in meine Zelle und ich zuckte überrascht zurück, als ich sah, wer auf dem Bett saß.
„Ist denn irgendwer, dem ich in letzter Zeit begegnet bin, nicht in diese Sache verwickelt?“, fauchte ich wütend um meine Verzweiflung zu verbergen.
„Ganz ruhig, meine Liebe“, sagte Mr. Pepple und hob beschwichtigend die Hände. „Lassen Sie uns allein.“
Er wedelte mit der Hand und die Tür fiel hinter mir ins Schloss.
„Sind Sie etwa auch ein Werwolf?“, fragte ich und verschränkte die Arme.
„Du benutzt das Wort, als wüsstest du gar nicht, was es bedeutet“, stellte Mr. Pepple höflich fest.
„Woher sollte ich auch?! Ich höre nur Lügen! Seit einem Monat habe ich nichts als Lügen gehört!“
Ich fuhr mir durch meine verknoteten Locken und kehrte ihm den Rücken zu.
„Meine liebe Mara, ich verstehe, dass Sie verwirrt sind und auch verängstigt. Doch ich bin nicht hier, um Sie anzulügen“, sagte er sanft.
Ich drehte mich nicht um, denn mir schossen Tränen in die Augen. Stattdessen schnaubte ich nur, auch wenn es sich nicht besonders eindrucksvoll anhörte.
„Ich bin hier, um mit Ihnen zu reden. Sie brauchen sicherlich jemanden zum Reden, nicht wahr? Sie brauchen ein paar Antworten.“
Auf meiner Zungen lagen tatsächlich einige Fragen, doch woher wusste ich, dass er mich wirklich nicht anlog?
„Was wissen Sie denn schon unsere Art?“, fragte Mr. Pepple als befänden wir uns beim Kaffeekränzchen und nicht in einem Gefängnis.
Ich holte zitternd Luft und gab nach.
„Sie sind keine echten… Wölfe. Sie sind nur stärker als Menschen und können… mit Hunden und Wölfen reden. Sie… führen Clankriege um die Vorherrschaft.“
„Nun, das ist doch immerhin schon ein Anfang.“
„Warum nennt Ihr euch Werwölfe, wenn Ihr keine seid?“, fragte ich und drehte mich um.
„Nun, unsere Art hat sich nicht vor tausenden von Jahren aus dem Homo Sapiens entwickelt. Wir stammen vom Canis Lupus ab. Dem Wolf.“
„Wie ist das möglich?“, wisperte ich.
Mr. Pepple lächelte und zuckte mit den Schultern.
„Evolution.“
Ich schlang die Arme um meinen Körper. Plötzlich war furchtbar kalt.
„Ach, meine Liebe, wie rücksichtslos, ich werde veranlassen, dass man Ihnen etwas Ordentliches anzuziehen bringt.“
„Hm. Wie lange muss ich denn hier unten bleiben?“, fragt ich vorsichtig.
Robert Clancy hatte von einigen Wochen gesprochen, doch das würde ich sicher nicht aushalten.
„Nicht mehr lange, ich rede jeden Tag auf Robert ein, der wird schon noch weich.“
Er zwinkerte mir zu und ich rang mir ein dünnes Lächeln ab.
„Und“, hob Mr. Pepple betont beiläufig an. „Wie steht es um die Malerei?“
„Ich male nicht“, sagte ich kalt.
„Aber Sie müssen malen, meine Liebe. Sie sind so herausragend! Und ich weiß, dass Sie es lieben.“
Und er wusste, dass meine Bilder ihm die Zukunft zeigen würden. Ich würde nicht noch einmal auf irgendjemanden hereinfallen. Aber vielleicht konnte ich das ja nutzen, dass sie so versessen auf meine Bilder waren.
„Das Licht hier unten ist schlecht. Und der Raum sperrt meine Inspiration ein.“
„Sie brauchen keine Inspiration, Sie haben deine Gabe!“, lachte Mr. Pepple begeistert. „Spüren Sie nicht den inneren Drang zum Pinsel zu greifen?“
„Hier unten spüre ich gar nichts“, log ich und verschränkte die Arme fest vor der Brust. „Und ich werde diese Pinsel da ganz sicher nicht anrühren, solange ich hier unten bin.“
Und wenn ich oben war auch nicht. Aber das sollte ich wohl besser nicht sagen.
Gespannt beobachtete ich Mr. Pepple Gesicht, der hinter seiner sanften Fassade zu kämpfen schien.
„Ich rede mit Robert“, sagte er schließlich und stand auf.
„Danke.“
Ich lächelte kühl und blieb wartend stehen, bis Mr. Pepple die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann ließ ich meine Arme sinken und setzte mich aufs Bett. Meine Mimik behielt ich allerdings unter Kontrolle, da die Kamera mich durch ihr schwarzes Auge stets beobachtete.
Nach dieser Unterhaltung war ich immer noch nicht schlauer als vorher. Obwohl… Dass sie Mr. Pepple mit seinem guten Zureden geschickt hatten, zeigte doch wie sehr sie wollten, dass ich endlich anfing zu malen. Und wenn ich stark blieb und sie dazu brachte mir genug Freiheiten für meine „Inspiration“ zu verleihen, dann würde ich es vielleicht schaffen zu fliehen.
Nur wohin? Wenn tatsächlich fast alles Land zu irgendeinem Werwolfclan gehörte und sie mich alle zu ihrem Vorteil besitzen wollten, dann war ich nirgends sicher. Es sei denn ich könnte meine Gabe irgendwie wieder loswerden. Außerdem waren meine Bilder ohne Cecilia wertlos. Wenn sie also… Sterben?
Nein. Dieser ganze Mist flüsterte mir dunkle Gedanken in den Kopf, Gedanken, die dort nie hätten sein sollen. Ich war doch gut! Ich war eine von den Guten, auch wenn ich nicht wusste, wer die anderen Guten waren.
Ich sank seufzend auf die Matratze und schloss die Augen.
Nach vier Tagen hatte ich sie weich gekocht. Mr. Pepple und meine Kloaufsicht kamen nach unten um mich zu holen.
Ich stand auf als sie eintraten und rückte die viel zu große Jogginghose und den Kapuzenpullover zurecht, den sie mir gebracht hatten.
„Mara“, begrüßte Mr. Pepple mich mit einem strahlenden Lächeln. „Stellen Sie sich nur vor, Sie bekommen Ihr ganz eigenes Zimmer, oben im Haus!“
„Wundervoll“, sagte ich und lächelte humorlos.
Sie führten mich durch den Kellergang und durch eine dicke Feuerschutztür hinter der eine steile Treppe lag. Mr. Pepple ging voller Tatendrang voran, doch der Mann mit dem schottischen Akzent ließ mich keine Sekunde lang aus den Augen.
Ich merkte der Höhe und der Größe der Räume, dass es ein großes Haus sein musste. Nicht so ein prunkvolles Anwesen wie die Wolves hatten, mehr ein gemütliches Herrenhaus. Der Boden war mit dunklen Dielen ausgelegt und die Decke mit schlichten Holzpaneelen verkleidet. Die Möbel hatten etwas Rustikales, Einfaches und es gab keinerlei Teppiche, Vorhänge oder sonstige Dekoration. Mehr Eindrücke erhaschte ich bei den kurzen Blicken die ich riskieren konnte, als sie mich den Flur entlang führten. Ich hörte leise Stimmen aus einem der Zimmer am oberen Ende des Ganges, wo auch die Haustür war, doch soweit gingen wir nicht. Wir bogen auf eine geschwungene Treppe ab, die ins Obergeschoss führte und von dort noch einige Stufen um die Ecke, bis wir vor einer dunklen Holztür standen.
Mr. Pepple warf mir ein verheißungsvolles Lächeln zu, dann drehte er den Schlüssel um und öffnete die Tür.
Das Zimmer war rund und nicht so groß, als dass man es als geräumig hätte bezeichnen können, aber auch nicht klein genug, um bedrängend zu wirken. Es gab zwei kleine Fenster, etwa auf Hüfthöhe, und ein breites auf Kniehöhe mit einer breiten Fensterbank. An diesem Fenster war die Wand gerade und dort stand auch ein schmales Bett. Nicht aus Metall, wie das im Keller, sondern aus schönem Holz mit warmem Bettzeug. Das Parket unter meinen Füßen war heller als das im restlichen Haus und ließ den Raum heller wirken. An der Decke waren auch keine Paneele sondern weiße Tapete die mit zarten, verschnörkelten Blumenmustern bemalt war. Außerdem gab es noch eine blau gebeizte Kommode, die an die runde Wand angepasst war und eine Staffelei mit Pinseln, Farben, Leinwänden und einem Skizzenblock.
„Danke, Mr. Pepple“, sagte ich und drehte mich zu ihm um.
„Oh danken Sie nicht mir, das ist alles das Werk unseres lieben Roberts“, lachte er und ich hätte am liebsten meinen Kopf gegen die Wand geschlagen.
„Wenn es Ihnen an irgendetwas fehlt, dann klopfen Sie einfach, der liebe Franc ist immer in der Nähe.“
Der Schotte sah so begeistert aus wie ich mich fühlte.
„Ach, Mr. Pepple? Wo… Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte ich zögerlich mit einem Blick aus dem Fenster auf die Heiden und Wälder.
„Na, in Schottland natürlich. Die Heimat aller Werwölfe!“
Als der Schlüssel sich erneut im Schloss gedreht hatte und ich allein war, ging ich an eines der Fenster und öffnete es. Eisiger Wind fegte herein und ich schlang die Hände um die weißen Gusseisengitter, die kunstvoll verschleierten, dass ich auch hier immer noch eingesperrt war.
Ich sah hinunter auf die zinnoberroten Dachschindeln und stellte fest, dass ich mich in einem kleinen Turm befand. Ich sah eine schmale Straße vom Haus in die Highlands hinausführen, ansonsten konnte ich keine Hinweise auf Zivilisation ausmachen.
Ich blies meinen Atem in kleinen Wolken hinaus in die kalte Herbstluft bis ich durch gefroren war und der graue Himmel immer dunkler wurde.
Ich schloss das Fenster und setzte mich auf die breite Fensterbank des großen Fensters, die mit dicken Sitzkissen ausgelegt war. Ich wusste das Jims Familie ursprünglich aus Schottland kam und ich hatte angenommen, dass sie wegen Cecilia und auch wegen mir nach London gezogen waren, da wir schließlich aus England stammten. Vielleicht hatten sie ihre Heimat aber auch aus anderen Gründen verlassen, Gründen wie dem Clankrieg gegen Clancys Clan.
Wolve. Allein der Name war in Anbetracht der Umstände lächerlich. Ich schluckte, als ich mich erinnerte, dass es laut Gesetz auch mein Name war. Doch meinen Geburtsnamen wollte ich genauso wenig, denn die Brooks hatten mich verkauft wie ein Tier. Und das obwohl Brook als Verb doch dulden hieß.
Ich selbst wollte aber auch nichts und niemanden mehr dulden und ich wollte auch kein dämlicher Wolf sein. Vielleicht sollte ich mich einfach Mara Stray nennen und diesen Namen unter meine Bilder setzen.
Ich hauchte auf das Fensterglas, das sofort beschlug und schrieb mit der Fingerspitze den Namen auf. Nur einige Sekunden war er zu sehen, dann war das Glas wieder klar.
„Du! Aufwachen!“
Ich schrak auf und hob erschrocken den Kopf. Ein wutschäumender Robert Clancy stand mitten in meinem Turmzimmer und fixierte mich.
„Was ist…“, setzte ich mit noch belegter Stimme an, doch er unterbrach mich.
„Seit zwei Wochen zickst du hier rum und wir haben dir jeden deiner sinnlosen Wünsche erfüllt. Trotzdem hast du noch keinen Pinselstrich getan! Weißt du was ich denke, was du da tust?“ Er trat nahe an mein Bett und beugte sich zu mir herab. „Hältst du mich wirklich für so blöd?“
Seine Hand schnellte hervor und klatschte auf meine Wange. Ich schrie erschrocken auf und versuchte zurückzuweichen, was im Bett schier unmöglich war.
„Du spielst Spielchen und schindest Zeit. Du glaubst, dein Liebster rettet dich, aber das wird er nicht tun! Selbst wenn er eine Ahnung hätte wo du bist, selbst wenn er an unseren Sicherheitsvorkehrungen vorbei käme. Selbst wenn er dich befreien könnte, dir ist doch klar, dass es dir bei den Wolves genauso gehen wird, wenn nicht sogar noch schlechter! Sie wollen nicht dich, sondern nur deine Gabe! Also greif verdammt noch mal zum Pinsel und gib uns, was wir wollen. Bis jetzt war ich noch nett, aber glaub bloß nicht, dass ich nicht auch anders kann!“
Er schlug mir noch mal ins Gesicht, dann verließ er türschlagend den Raum.
Keuchend setzte ich mich auf und fuhr mir über die brennende Wange. Meine Hände zitterten und mein Herz raste. Er hatte recht, ich hatte auf Zeit gespielt. Und ich hatte erwartet, dass mir solang nichts passieren würde. So naiv konnte auch nur ich sein.
Dennoch, weil Clancy plötzlich so einen Druck machte, musste sich etwas geändert haben. Gestern war irgendetwas im Haus vor sich gegangen. Eine Feier oder so etwas, ich hatte Musik durch den Boden gehört, und eine Geburtstagsparty war das sicher nicht gewesen. Der einzige Grund, aus dem dieser Clan feiern und mir dann Druck machen sollte, war, dass es ihnen gelungen war, an Cecilia heran zu kommen.
Ich wusste nicht, wie freiwillig Cecilia bei Alastair gewesen war und obwohl auch sie mich belogen hatte, machte ich mir Sorgen um sie. Allerdings wusste ich auch nicht, ob sie wirklich hier war. Und ich wusste auch nicht, ob Clancy es bei ein paar Ohrfeigen belassen würde.
Während ich nachgedacht hatte, hatte ich mich etwas beruhigen können. Ich stand aus und trat ans Fenster. Die Highlands waren von einem dicken Nebel verhüllt, wie schon seit Tagen. Nervös fingerte ich an dem langen, altmodischen Nachthemd herum, das ich trug. Von allen Kleidungsstücken, die ich erhalten hatte, passte dieses zumindest ein bisschen. Ich fühlte mich darin wie ein Geist, die verlorene Seele der Mara Stray, die in einem Turm spukte.
Ich fuhr mir durch meine wirren braunen Locken und ging zur Staffelei. Wenn ich nur etwas abmalen würde, wenn ich absolut keinen Einfluss auf das Bild nehmen würde, wäre es dann keine Prophezeiung?
Aber konnte ich mir sicher sein, dass ich es schaffte, meine Gabe zurückzuhalten? Seit meinem Geburtstag juckte es mich in den Fingern und ich verspürte einen mittlerweile schier unwiderstehlichen Drang zu malen. Und wenn es doch eine Prophezeiung würde, sie Clancy aber nicht gefiel? Wenn ich ihm doch die Zukunft zeigte, sie aber nicht so war, wie er es erwartete? Ich hatte keinen Einfluss darauf, das wusste ich, aber der Mann war ein machthungriger Wahnsinniger, der keine Scheu hatte, seine Wut an anderen auszulassen.
Ich runzelte die Stirn, als ich merkte, wie ich trotz meiner Verzweiflung, alles kühl abwog. Oder zumindest mehr oder weniger kühl.
Ich hatte einfach keine Ahnung was ich tun sollte. Möglichkeiten gab es genug, ich könnte versuchen etwas ohne meine Gabe zu malen, ich könnte gar nicht malen oder ich könnte auch aufgeben und alles machen, was Clancy wollte, und hoffen, dass er mich gut behandelte. Noch war mein Stolz aber nicht gebrochen, aber meine Angst stand mir im Weg. Nicht nur die Angst vor ihm. Auch die Angst vor mir und vor dem was vielleicht aus mir werden würde, wenn ich in Kontakt mit der Zukunft trat. Und diese Angst lähmte mich und ließ mich einfach da im Zimmer vor der Staffelei stehen, unfähig mich zu bewegen oder zu sprechen.
Am Mittag kam der Mann mit dem schottischen Akzent herein und brachte mir wie immer ein Tablett mit Essen. Als er sah, dass ich immer noch nicht angefangen hatte zu malen, holte er aus und verpasste mir eine so harte Ohrfeige, dass ich zu Boden fiel.
„Ein Gruß von Mr. Clancy“, knurrte er und verließ das Zimmer wieder.
Zitternd stand ich auf und griff nach einem Pinsel. Ich öffnete die schwarze Farbe und malte eine Linie quer über die schwarze Leinwand. Sie verwackelte und war alles andere als gerade. Doch ich setzte wenige Zentimeter neben ihr neu an und malte noch eine. So fuhr ich fort bis die Leinwand wie ein riesiger Barcode aussah. Dann nahm ich einen größeren Pinsel, tauchte ihn in das Schwarz bis er triefte und schmetterte die Farbe auf die Leinwand.
Als ich mich endlich aus meiner Trance reisen konnte, war die Farbe überall an der Wand und auf mir verteilt. Das Nachthemd war ruiniert und meine Tränen zogen helle Spuren durch die Flecke auf meinen Wangen. Ich beobachtete mein Spiegelbild im Fenster. Jetzt sah ich nicht mehr nur aus wie ein Geist, sondern wie ein Poltergeist.
Zum dritten Mal an diesem Tag ging die Tür auf und ein überaus gut gelaunter Robert Clancy trat ein.
Ich drehte mich um und er breitete erfreut die Arme aus, als er mein Bild sah.
„Siehst du? War doch halb so wild.“
„Es ist noch feucht“, murmelte ich, als er es von der Staffelei hob um es besser betrachten zu können.
„Was für eine düstere Kunst… Weißt du wer sich noch darüber freuen wird?“
Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und ging.
Ein Schluchzen drang aus meinem Mund und ich brach auf dem Boden zusammen. Was war das nur für eine Welt? Und was hatte ich getan um in ihr leben zu müssen?
Am nächsten Morgen brachten sie Cecilia in mein Zimmer. Sie sah nicht viel besser aus als ich, doch sie schien es zu schaffen, die Fassung zu wahren.
„Nachdem ihr beide mit eurer sinnlosen Rebellion aufgehört habt, arbeitet ihr am besten zusammen und verschafft uns ein paar genauere Prognosen“, hatte Clancy gesagt und nun saßen wir uns schweigend gegenüber.
„Ich wusste es auch nicht, Mara“, wisperte sie und brach damit die Stille.
„Aber du warst doch schon viel länger bei ihnen“, meinte ich.
Ich wollte ihr glauben, doch ich konnte es nicht.
„Ich habe wohl geahnt, dass etwas nicht stimmt. Und ich habe mich auch nie so sehr auf Alastair eingelassen, wie…“ Sie unterbrach sich und setzte neu an. „Sie haben es mir noch in der gleichen Nacht wie dir erzählt. Aber nachdem du abgehauen warst, haben sich alle darauf konzentriert dich zu finden und sie haben mich nicht mehr so gut bewacht. Vorgestern gelang es dem anderen Clan mich zu entführen.“
„Und jetzt bist du hier.“
„Jetzt bin ich hier. Aber jetzt wissen sie welcher Clan uns hat.“ Sie senkte die Stimme. „Sie finden uns, Mara. Bald sind wir hier raus.“
Ich schnaubte verächtlich.
„Und wenn schon! Dann werden wir eben von einem anderen Werwolfhaufen gefangen gehalten. Es macht keinen Unterschied. Sie sind alle Lügner. Und keiner von ihnen wird uns jemals freilassen.“
Die blonde Frau holte Luft, ließ sie aber wieder ausweichen. Tränen trat in ihre grünen Augen und sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
„Du hast… Recht. Natürlich, es ist nur… Ich war fünf Jahre bei ihnen. Und auch wenn Alastair einen sehr grusligen Eindruck macht, so war er immer gut zu mir. Ich habe ihm wirklich vertraut.“
„Und ich habe Jim vertraut“, sagte ich tonlos.
Cecilia sah mich mitleidig an.
„Ich glaube, er liebt dich wirklich. Er hat sich in den letzten Wochen so sehr verändert und als du abgehauen bist, war er wahnsinnig vor Sorge.“
„Ja, weil er mich benutzen wollte, so wie alle anderen!“, rief ich wütend und Cecilia zuckte zusammen. Ich fuhr etwas sanfter fort. „Du hast es selbst gesagt. Du warst fünf Jahre bei ihnen, du willst ihnen vertrauen. Aber du kannst es nicht. Sie wollen nur unsere Gaben und nicht uns.“
Sie schwieg lange.
„Und was machen wir jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“
Wir saßen den ganzen Tag nur noch schweigend da, im stillen Einverständnis darüber, dass wir ihnen nicht geben sollten, was sie haben wollten. Wir beide verstanden unsere Gaben kaum, aber ich glaubte, dass auch Cecilia das Gefühl hatte, dass es falsch war, die Zukunft vorauszusagen.
Aber natürlich sahen die Werwölfe das anders. Und natürlich war Robert Clancys Geduldsfaden längst gerissen. Wir hätten wissen müssen, dass unser Protest nicht ungestraft bleiben würde.
Am Morgen polterte er wieder ins Zimmer, zusammen mit zwei schrankgroßen Schotten.
„Was glaubt ihr eigentlich, was ihr hier tut?“, fragte er und sah auf uns herab.
„Nichts“, sagte ich ruhig.
Einer der Schränke riss mich hoch und verpasste mir eine Ohrfeige.
„Ihr seid aber nicht hier, um nichts zu tun“, zischte Clancy. „Morgen Abend ist ein Fest. All unsere Anhänger werden hier sein und ihr werdet ihnen life demonstrieren, was ihr könnt, verstanden?“
„Warum sollten wir das tun?“, fragte Cecilia mit erhobenen Haupt, doch ihre Stimme zitterte.
„Matt“, knurrte Clancy und der andere Schotte packte Cecilia am Arm und zerrte sie aus dem Raum.
„Nicht ins Gesicht! Sie soll doch schön aussehen“, rief Clancy ihm mit einem wölfischen Grinsen nach.
„Nein! Lasst sie in Ruhe!“, schrie ich und wollte ihr hinterher stürzten, doch der Mann, der mich eben geschlagen hatte, hielt mich fest.
Von unten ertönten Cecilias Schreie.
„Nein!“, heulte ich wütend. „Hört sofort auf! Ich mache alles was ihr wollt, aber hört sofort damit auf!“
„Die Einstellung gefällt mir schon viel besser“, sagte Clancy lächelnd. „Zeig mir, dass du es ernst meinst.“
Ich starrte ihn verständnislos an und er beugte sich zu mir vor, sodass sein Gesicht vor meinem schwebte.
„Mal mir ein Bild, Mara.“
„Ja“, keuchte ich. „Ja, aber lasst Cecilia in Ruhe.“
„Hm“, machte Clancy und ging zur Tür. „Wenn sie doch auch nur so einsichtig wäre wie du.“
„Nein!“, schrie ich, doch der Schotte stieß mich zu Boden und folgte Clancy aus dem Raum.
Ich sprang auf und schlug verzweifelt auf die verschlossene Tür ein, während Cecilias verzweifelte Schmerzensschreie durchs Haus hallten. Ich schrie meine Wut so laut ich konnte aus mir heraus, bis meine Stimme brach. Dann packte ich eine leere Leinwand und warf sie mit aller Kraft gegen das Fenster. Das Glas sprang, brach aber nicht.
Schwer atmend stand ich da, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, so voller Hass war ich. Was waren das nur für grausame Menschen? Dabei waren sie ja nicht einmal Menschen. Sie waren Monster.
Ich trat vor die Staffelei und begann in blinder Verzweiflung Farbe auf den rauen Stoff zu schmieren.
Ich war wie im Rausch. Ich fühlte nichts und ich hörte auch nichts außer dem Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Ich sah auch nicht, wie sich langsam aus dem Geschmiere einzelne Motive herauskristallisierten. Ich bemerkte nicht, wie die Sonne draußen über den Himmel wanderte und schließlich wieder unterging. Erst als die Sterne am Himmel leuchteten und ich kaum noch die Farben erkannte, die ich benutzte, ließ ich den Pinsel sinken und starrte das Bild an, dass ich gemalt hatte.
Es war ein gigantischer dunkler Wirbelsturm, der alles ausfüllte. Es war als würde er sich tatsächlich bewegen und wenn man aus unterschiedlichen Richtungen darauf sah, konnte man einzelne Hände, Füße oder auch Köpfe in seinen Klauen ausmachen. Im Auge des Sturms war die Silhouette eines Mannes. Oder vielleicht war es auch eine Frau, ich konnte es nicht genau erkennen.
Ich zögerte eine Sekunde, dann nahm ich einen dünnen Pinsel, tauchte ihn in hellrote Farbe und schrieb an den unteren Rand des Bildes: Mara Stray.
Als ich fertig war trat ich ans Fenster und ließ meinen Kopf gegen das kühle Glas sinken. Ich hob die Hand und fuhr die Risse im Glas nach. Im Haus war es völlig still. Ich hatte keine Ahnung wo Cecilia war und ob es ihr gut ging. Ob es ihr je wieder gut gehen würde. Oder mir.
Ich sank in meiner farbverdreckten Kleidung aufs Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Ich wollte einfach, dass das alles vorbei.
Wir tanzen in der Mitte eines Saals. Die verspiegelten Wände sind mit dünnem blauem Stoff verhängt. In den Kronleuchtern brennen dutzende winzige Kerzen.
Die süßen Klänge einer Geige umhüllen uns. Wir sind ganz allein, nur wir beide. Er ist größer als ich und ich kann sein Gesicht nicht sehen, weil wir so eng tanzen. Ich weiß nicht, wer er ist, doch ich weiß, dass mir nichts geschehen kann, solange er bei mir ist und mich in seinen Armen hält. Ich spüre sein Herz an meinem schlagen. Noch nie habe ich mich so geborgen gefühlt. Es ist, als würde flüssiges Glück statt Blut durch meine Adern fließen. Die Liebe, die uns umgibt, ist wie ein Mantel. Ein Schild, das uns von der Welt trennt. Ich könnte auf der Stelle sterben und würde nichts bereuen, denn ich habe wahre Seligkeit erfahren.
Oder bin ich bereits tot und dies ist das Paradies? Und doch fühle ich mich so lebendig, viel lebendiger als je zuvor …
Ich hebe den Kopf und will sehen wer der Engel ist, der mein Leben zum Himmel auf Erden macht, doch ich kann sein Gesicht nicht erkennen, so sehr ich mich auch anstrenge. Wer ist er bloß? Ich muss ihn kennen, denn sein Körper fühlt sich so vertraut an, als wäre er das perfekte Gegenstück zu meinem …
„Mara. Ich liebe dich.“
Ich kenne diese Stimme! Meine Seele erkennt sie, doch ich weiß es nicht … Es ist, als könnte ich es vor mir sehen, nur nicht danach greifen …
„Mara? Liebst du mich denn nicht?“
„Doch natürlich! Ich liebe dich!“, sage ich, doch er hört es nicht.
Die Geigenmusik wird schneller, viel zu schnell, um dazu zu tanzen.
„Kennst du mich denn nicht, Mara?!“
Da ist Angst in seiner Stimme. Leid. Ich will nicht, dass mein Engel leiden muss!
„Doch, ich kenne dich“, rufe ich, doch die Worte werden mir aus dem Mund gerissen, bevor sie ihn erreichen.
„Warum, Mara?!“, sagt er traurig.
Ein heftiger Wind kommt auf und reißt an mir, reißt mich fort von ihm, von meinem Liebsten.
„Hast du mich denn schon vergessen?“
„Nein!“, schreie ich aus Leibeskräften.
Der Saal stürzt ein, die Spiegel bersten in tausend Splitter und fliegen in Zeitlupe auf ihn zu, doch er steht nur da, als würde er es nicht bemerken, als sähe er nur mich …
Der Boden stürzt ein, bricht einfach weg, gleich wird er ihn mit in die Tiefe reißen. Er wird sterben, der Tod ist ihm so nah! Er wird verschwinden, er wird von mir gehen …
„Nein!“, schreie ich, doch er steht einfach nur da. „Nein! Jim! JIM!“
„Jim!“
Ich erwachte schweißgebadet und atemlos. Die Decke hatte sich wie eine Fessel um mich gewickelt und ich brauchte einige Sekunden, um mich von ihr zu befreien.
Mein Gesicht war tränennass und ich machte mir erst gar nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Immer neue Tränen kullerten mir über die Wangen und ich schlang schluchzend die Arme um die Knie.
Der Mond schien durch das gesprungene Fenster ins Zimmer und warf Schatten auf den Boden. Sie sahen aus wie zerbrochenes Licht.
„Jim“, wisperte ich verzweifelt. „Hol mich hier raus. Bitte hol mich hier raus.“
Das Morgengrauen kroch sehr langsam über die entfernten Hügel, doch letztendlich vertrieb es die Dunkelheit. Die Verzweiflung der Nacht blieb aber.
Ich wusste immer noch nicht, ob es Cecilia gut ging und das Bild, das ich gemalt hatte, war weg. Der Gedanke, dass jemand im Zimmer gewesen war, ohne dass ich es bemerkt hatte, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Ich öffnete eines der Fenster, das noch ganz war, um frische Luft hereinzulassen. Es musste inzwischen Anfang November sein.
Ich hatte diesen Monat früher immer den toten Monat genannt, weil die bunten Blätter der Bäume bereits braun geworden waren, oder schon ganz verschwunden. Der Nebel hing statt ihrer in den Baumwipfeln und nichts blühte mehr. Alles war tot, aber noch war kein Schnee da, um die Welt einzuhüllen.
Was, wenn das hier das Ende war? Wenn das hier mein Tod war? Diese Monster würden mich nie wieder freilassen. Zwar war ich noch am Leben, doch gehörte mein Leben nicht mehr mir, und so war ich doch technisch gesehen tot.
Was waren das nur für düstere Gedanken? Ich klang wie ein Selbstmörder vor dem Sprung. Ich fuhr über die Gitter vor dem Fenster. Springen konnte ich nicht, aber war es nicht dasselbe, wenn ich jegliche Hoffnung aufgab? Eben hatte ich es selbst gedacht, wenn mein Leben nicht mir gehörte, hatte es keinen Wert mehr.
Plötzlich wurde hinter mir die Tür aufgerissen und Cecilia wurde zu mir ins Zimmer gestoßen.
„Cecilia!“, rief ich erschrocken und kniete neben ihr auf den Boden. „Geht es dir gut?“
Ihre Augen waren rot und verquollen und hoben sich grotesk von ihrer kalkweißen Haut ab. Ihre Unterlippe war geplatzt und an ihrem Kinn hing noch getrocknetes Blut.
„Oh Gott, sag doch was!“, hauchte ich ängstlich und hob ihren Kopf in meinen Schoß.
„Mara …“, krächzte sie.
Ich suchte ihre Arme und Beine nach Verletzungen ab, doch ich konnte nichts sehen. Sie hatte ihre Arme über dem Bauch verschränkt und krümmte sich unter Schmerzen.
„Cecilia, kann ich irgendetwas tun …?“
„Nein, du kannst nichts tun“, flüsterte sie.
„Was haben sie dir nur angetan?“
Sie hob den Kopf und sah mich durch ihre rotumrandeten Augen an. In ihrem Blick lag etwas, was mich völlig überwältigte und mir den Atem verschlug. Es war ein Ausdruck tiefster Qualen, es war die pure Verzweiflung. In ihren Augen war kein bisschen mehr von der jungen Frau, die ich kennengelernt hatte. Als hätten sie sie einfach aus ihrem Körper genommen und die Hülle zurückgelassen.
„Alles, was man einer Frau innerhalb einer Nacht antun kann.“
Die Wut des letzten Abends kehrte zurück, nur um ein hundertfaches verstärkt. Wie der Wirbelsturm auf dem Bild, fegte sie durch mich hindurch. Ich ekelte mich vor mir selbst. Wie ich eben in Selbstmitleid verflossen war, wie ich all die Tage hier nichts unternommen hatte …
Ich zog Cecilia enger an und schlang die Arme um sie.
„Ich bring uns hier raus, Cecilia. Ich bring uns noch heute hier raus, ich verspreche es.“
„Was hat das jetzt noch für einen Sinn?“
Den ganzen Tag über waren unten im Haus laute Geräusche zu hören. Laute Stimmen und Poltern drangen zu uns herauf und ich nahm an, dass sie von den Vorbereitungen auf das Fest heute Abend herrührten. Irgendwann wurden wir von zwei Frauen abgeholt, die uns getrennt in Bäder führten. Erst wehrte ich mich und wollte bei Cecilia bleiben, doch ihre absolute Gleichgültigkeit und die Hörte der Frauen ließ mich schließlich kapitulieren.
Ich musste mich duschen und mir die Haare waschen, dann wurde mir ein weißes Kleid gereicht. Es hatte etwas von einem Malkittel, war aber um die Taille enger geschnitten, endete knapp oberhalb des Knies und war ärmellos. Nachdem ich es angezogen hatte, begann die Frau sich um meine Haare zu kümmern. Während sie sie kämmte und trocknete, sprach sie kein Wort.
Während ich mein Gesicht im Spiegel anstarrte, hatte ich ein Déjà-vu. Nach meiner letzten Entführung hatte ich ebenfalls in einem weißen Kleid gesteckt, während eine Fremde mir die Haare machte. Meine letzte Entführung. Wie sich das schon anhörte.
Ich schüttelte den Kopf und die Frau gab ein genervtes Zischen von sich. Ich hielt still bis sie fertig war. Eigentlich machte sie nicht viel, sie steckte lediglich das Haar an Seiten etwas zurück, sodass es mir nicht ins Gesicht fiel.
Als sie fertig war, brachte sie mich zurück in das Turmzimmer. Cecilia war noch nicht wieder da und nachdem die Frau mir mein Mittagessen gebracht und gegangen war, hatte ich das Gefühl, dass Cecilia nicht mehr wiederkommen würde. Wahrscheinlich sollten wir uns vor der Veranstaltung nicht noch einmal sehen, damit wir keine Fluchtpläne schmieden konnten. Nun, mich sollte es nicht aufhalten.
Mit einem flauen Gefühl im Magen, weil ich mir doch Sorgen um Cecilia machte, setzte ich mich aufs Bett und dachte nach.
Ich hatte eigentlich keine brauchbaren Informationen über das Haus oder die Feier. Aber ich nahm an, dass viele Gäste da sein würden, da Clancy ja gesagt hatte, dass all die Anhänger seines Clans kommen würden. Da es kalt war und bei dem Lärm, den die Vorbereitungen machten, würde die Sache sicher im Haus stattfinden. Ich überlegte angestrengt, was ich über das Haus wusste. Es war nicht viel. Von meinem Turmzimmer aus kam man ins Obergeschoss. Dort gab es zwei Bäder und die Türen auf dem Flur deuteten auf mehrere kleine Räume hin, vermutlich Schlafzimmer für die Bewohner und bedienstete. Die Fenster im Bad waren vergittert, wie die in meinem Zimmer, aber von den anderen wusste ich nichts. Aber selbst wenn sie sich öffnen ließen, lag auch der erste Stock noch zu hoch, um zu springen. Im Erdgeschoss war ich, seitdem ich m Turm wohnte, nicht mehr gewesen, aber ich wusste noch, dass es unten an der Treppe rechts zur Haustür ging und links hinunter in das Kellerverließ. Die Decken unten wären höher gewesen als hier oben und obwohl ich nichts dergleichen gesehen hatte, vermutete ich, dass es auch größere Räume gab. Dennoch würden sich die Leute wahrscheinlich im ganzen Erdgeschoss verteilen, während Cecilia und ich wohl in einem Raum zum Malen bleiben mussten. Zumindest hoffte ich, dass Cecilia bei mir sein würde, denn wenn sich eine Möglichkeit zur Flucht bot, dann war das ein Vorteil.
Wenn so viele Leute da sein würden, könnte es vielleicht unübersichtlich werden. Möglicherweise gelang es uns einen Tumult auszulösen und dann im Durcheinander zu fliehen. Wenn viele Leute kamen, musste es auch viele Autos geben und vielleicht gelang es uns, eines zu starten und damit zu fliehen.
Aber wie sollten wir irgendetwas davon schaffen?
Ich seufzte und fuhr mir durchs Haar, wobei ich beinahe die Frisur zerstörte. Es war zwecklos über all das nachzudenken, wenn ich doch keine Ahnung hatte, wie die Feier ablaufen würde. Ich war gezwungen abzuwarten und sobald ich unten war, musste mir ein Plan einfallen. Und zwar schnell.
Als die Dämmerung einsetzte, kamen sie, um mich zu holen. Zwei schrankgroße Typen eskortierten mich nach unten und mein Fluchtplan erschien mir plötzlich schrecklich naiv. Wie sollte ich an solchen Männern vorbeikommen? Aber ich musste es versuchen. Für Cecilia, und auch für mich. Ich durfte uns nicht wieder aufgeben.
Die Räume unten waren wie ich es vermutet hatte groß und außerdem durch teilweise offene Wände mit einander verbunden. Die Wände waren mit Holz vertäfelt und die Möbel waren im typischen klassischen Herrenhausstil.
Die Schrankmänner führten mich in den größten der Räume, aus dem die meisten Möbel entfernt waren. Nur in zwei Ecken des Raums waren standen seltsame, hohe Käfige. Sie wirkten ziemlich stabil. Ich hatte keine Ahnung wozu sie gut sein sollten, doch ihre Anwesenheit machte mich nervös. Wer sollte dort eingesperrt werden?
An einer der Außenwände war ein niedriges Podest aufgebaut auf dem weiße Leintücher ausgelegt waren. Eine Staffelei, auf der eine Leinwand stand, war in der Mitte des Podests platziert. Ich würde beim Malen mit dem Rücken zum Raum stehen müssen, und das gefiel mir überhaupt nicht. Neben der Staffelei lagen Pinsel und Farben bereit.
Meine Wachen postierten sich an der Wand seitlich des Podests und starrten mit steinernem Blick vor sich hin.
„Und, was sagst du?“
Ich fuhr herum. Robert Clancy stand im Türrahmen und grinste mich begeistert an.
„Ist alles zu deinem Wohlbefinden?“
„Wo ist Cecilia?“, fragte ich wie aus der Pistole geschossen, doch Clancy schien es vorzuziehen, nicht zu antworten.
„Wirst du hier gut malen können?“
„Nein. Die beiden Gorillas stören die Atmosphäre.“
Clancy schnipste mit den Fingern und die zwei Männer machten ein paar Schritte zur Seite.
„Besser?“
Ich sah mich um und musterte die hohen Fenster hinter dem Podest.
„Wenn hier nachher viele Leute sind, wird die Luft stickig. Könnten Sie ein Fenster öffnen?“ Ich war überrascht wie fest meine Stimme klang.
Clancys Grinsen wurde breiter.
„Du magst mich für böse halten, aber dumm?“
„Kommen Sie schon, wohin sollte ich gehen? Sie sind in der Überzahl und viel stärker und schneller als ich.“
Clancy verschränkte die Arme und musterte mich abschätzend.
„Nein“, sagte er schließlich. „Ich werde heute Abend nichts riskieren.“
„Aber …“
„Na los, bringt sie in die Küche. Sie soll später bei Kräften sein.“
Die Küche lag neben der Kellertreppe. Sie war groß, fast so groß wie in einem Restaurant. Mehrere Köche waren damit beschäftigt Buffet-Platten anzurichten. Alles war hektisch, und die vom Herd aufgeheizte Luft roch nach den köstlichsten Gerichten. Dennoch nahm ich kaum wahr, was ich aß. Stattdessen sah ich mich um und entdeckte tatsächlich etwas. Eine Hintertür. Sie lag auf der anderen Seite der Küche neben dem Herd und war mit einem Riegel versperrt, doch um sie zu öffnen, schien man keinen Schlüssel zu benötigen.
Mein Herz schlug augenblicklich schneller, und ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Allerdings beachteten die Gorillas mich nicht wirklich und schienen mehr an dem Essen als an mir interessiert zu sein. Wegen dem Scheppern der Töpfe hörte ich erst nicht, dass die Tür zum Flur aufging.
Cecilia wurde hereingeführt und setzte sich neben mich, um ebenfalls zu essen.
Sie hatten auch sie herausgeputzt, obwohl ihr Kleid um einiges länger war als meines und Ärmel hatte. Vermutlich um ihre Blutergüsse zu verdecken.
„Hey“, wisperte ich.
Zwar war ich mir sicher, dass man uns durch die Geräuschkulisse nicht hören konnte, doch ich wollte sichergehen.
Cecilia hob den Kopf. In ihren Augen flackerte Angst.
„Ich bringe uns hier raus“, flüsterte ich eindringlich. „Du musst jederzeit bereit sein, verstehst du?“
Sie nickte leicht.
„Da gibt es eine Hintertür.“ Ich machte eine leichte Kopfbewegung in die Richtung. „Wenn du die Möglichkeit hast, dann flieh.“
Sie musterte mich und fuhr sich durch das dünne Haar. Ich wusste nicht, was sie dachte. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht mal, ob sie mir zuhörte.
„Versprich es mir! Solange sie nur einen von uns haben, können sie uns nicht benutzen“, zischte ich, und Cecilia nickte schließlich.
„Gut. Es wird alles gut“, sagte ich und lächelte zaghaft.
Ich wollte gerade nach ihrer Hand greifen, als einer der Gorillas sich zu uns umdrehte.
„He, nicht flüstern!“, donnerte er und Cecilia zuckte zusammen.
Sie senkte ihren Blick wieder auf ihr Essen, doch ich bekam keinen Bissen mehr herunter. Mein Magen krampfte sich zusammen, während ich die verängstigte junge Frau neben mir beobachtete. Ich musste sie hier rausholen.
Die Zeit verging, doch wir wurden nicht in die großen Räume zurück gebracht. Stattdessen sah ich zu, wie die Köche das Buffet nach draußen trugen und jedes Mal, wenn die Küchentür sich öffnete, erhaschte ich einen Blick auf die Menschen, die sich bereits im Haus versammelten.
Hauptsächlich waren es Männer in Anzügen. Erleichtert stellte ich fest, dass kaum einer von ihnen wie die Schränke hier gebaut war und anscheinend nicht jeder Werwolf wie eine Kampfmaschine aussah. Eigentlich wirkten sie eher wie Büromenschen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als wir schließlich nach draußen geführt wurden.
„Und hier sind sie“, sagte Robert Clancy gerade mit seinem typischen kalten Grinsen im Gesicht. „Unser Orakel von Delphi. Heute Abend werden sie ihr Können demonstrieren, und Sie, meine Freunde, werden es life miterleben.“
Ich fühlte duzende Augenpaare auf mir, als ich durch das Zimmer auf das Podest zuging. Niemand sprach. Meine Nackenhaare stellten sich auf, doch ich hielt den Kopf hoch erhoben. Ich fühlte mich unwohl, aber ich nahm all meine Kraft zusammen, um ihnen nicht die Genugtuung zu geben, mich verängstigt zu haben.
Als ich auf das Podest stieg, traf mich Clancys Blick für eine Sekunde und mir wurde eiskalt. Plötzlich fühlte ich mich doch ganz klein und meine Idee zu fliehen, kam mir lächerlich und naiv vor.
Dann drehte ich mich um und griff nach einem Pinsel.
Im Nebenzimmer begann ein kleines Ensemble zu spielen und die Gespräche setzten wieder ein. Offensichtlich hatte niemand Interesse daran, uns anzusprechen. Ich warf Cecilia einen Blick zu, doch ihre Augen waren starr auf etwas auf der anderen Seite des Raums gerichtet. Verwirrt drehte ich mich um und schnappte nach Luft als ich sah, wofür die Käfige in den Ecken gedacht waren.
„Sind das Wölfe?!“, wisperte ich erschrocken und beobachtete die beiden Tiere, die in den Zwingern standen.
Einer von ihnen hatte schneeweißes Fell und seine dunklen Augen schienen jeder meiner Bewegungen zu folgen. Ich drehte mich wieder um und starrte fassungslos die Leinwand an.
„Fang an, Mara“, hauchte Cecilia, die dicht neben mir stand. „Sie beobachten uns.“
„Gut“, sagte ich erstickt und nahm eine Palette.
Schon nach dem ersten Pinselstrich hatte ich die Männer um uns herum vergessen. Dennoch schaffte ich es nicht völlig im Malen zu versinken. Ich spürte den Blick des weißen Wolfs auf mir und vor meinem inneren Auge konnte ich ihn sehen. Es ging sogar soweit, dass ich das Bild vor mir nicht einmal mehr sah, nur noch den Wolf.
Irgendwann machte ich eine Pause. Es war anstrengend im Stehen zu malen und außerdem hatte ich wahnsinnige Kopfschmerzen.
Ich spürte Cecilias Blick auf mir, als ich mir übers Gesicht fuhr und heftig blinzelte.
„Alles okay“, murmelte ich und starrte blind in Richtung des Fensters, in der Hoffnung, dass meine Sicht sich klärte.
„He, was soll das?“, zischte es plötzlich neben uns und ich erkannte Robert Clancy. „Mal weiter! Und du gib mir ja eine gute Deutung“, knurrte er leise und Cecilia murmelte leise etwas vor sich hin.
Ich hob wieder den Pinsel, obwohl ich immer noch nicht klar sehen konnte und malte weiter. Meine Gabe leitete meine Finger und ich musste nicht viel tun außer meinen Arm zu heben.
Der dumpfe Schmerz in meinem Kopf wollte einfach nicht nachlassen und die Umrisse des weißen Wolfs legten sich über meine Augen wie ein Schleier. Ich hörte das Blut in meinen Ohren Rauschen wie ein ganzer Ozean und ich spürte mein Herz in meiner Brust heftig schlagen. Was war nur los mit mir? War ich krank? Warum war mir plötzlich so heiß?
Ich spürte, dass mein Bild fast fertig war und meine Gedanken begannen fieberhaft zu kreisen. Würde Clancy uns sofort nach oben bringen, wenn wir fertig waren? Wie um alles in der Welt sollte ich uns hier raus schaffen? Ich wusste, dass wir in einem Durcheinander die größten Chancen hatten, aber wie sollte ich Chaos verursachen?
Schließlich war ich fertig. Ich trat zur Seite, um Cecilia Zugang zu dem Bild zu gewähren, und stellte überrascht fest, dass die Musik verstummt war. Das leise Klirren eines Glases verlangte nach Aufmerksamkeit und die Gespräche um uns herum verstummten. Robert Clancy trat auf das Podest. Er kehrte uns den Rücken zu und breitete die Arme aus.
„Meine Freunde! Es ist so weit. Ihr konntet beobachten wie eine Prophezeiung entstanden ist und nun werdet ihr sie hören! Unser Clan war nicht immer einer der stärksten und einflussreichsten, doch wir haben hart gearbeitet. Wir haben gekämpft, meine Freunde, und nun steht unser Sieg unmittelbar bevor. Denn wir besitzen es, das wahre Instrument der Macht!“ Beifall flutete den Raum und die Wölfe begannen zu Jaulen. Clancy erhob die Stimme. „Wir haben die Propheten, die Zukunft ist unser! Vom heutigen Tag an werden wir unseren Feinden immer einen Schritt voraus sein. Wir werden sie zerschmettern! Wir werden die einzig wahren Wölfe sein!“
Das Johlen der Menge dröhnte in meinem Kopf und ich presste die Hände auf meine Ohren. Aus dem Augenwinkel nahm ich verschwommene Lichter wahr. Ich wandte den Kopf zum Fenster und die dunkle Scheibe an, doch meine Sicht war immer noch nicht scharf. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte die kleinen Lichtpunkte draußen in der Nacht zu fixieren.
„Und nun sollt ihr die Prophezeiung hören“, rief Clancy gerade neben mir und ich nahm war, wie Cecilia vor das Bild trat.
Für einen Augenblick war es totenstill. Dann ertönte ein glockenhelles Lachen. Erst zaghaft, dann immer lauter, fast hysterisch. Cecilia krümmte sich vor Lachen, und ich riss erschrocken die Augen auf. Was war los mit ihr? War etwa alles zu spät und sie war wahnsinnig geworden?
„Mädchen, was soll das?“, knurrte Clancy und packte sie am Oberarm, doch Cecilia lachte einfach weiter.
Ich hörte seine Hand auf ihre Wange klatschen und sie verstummte.
„Verkünde die Zukunft!“, stieß Clancy zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor.
Die Leute wurden mittlerweile unruhig. Ein Raunen ging durch die Menge, während mein Blick wieder zum Fenster zu den Lichtpunkten wanderte, die immer näher kamen.
„Ich sehe keine Zukunft“, sagte Cecilia.
Ihre Stimme war kalt wie Eis und mir gefror das Blut in den Adern.
„Was soll das heißen?!“, knurrte Clancy und schüttelte sie.
„Ich sehe keine Zukunft“, wiederholte sie mit lauter Stimme. „Ich sehe nur den Tod.“
In dieser Sekunde explodierten die Fenster. Die Staffelei fiel mit einem lauten Poltern um und auch ich ging zu Boden. Glassplitter schnitten in meine Knie und Handflächen. Die wenigen Frauen in der Menge stießen schrille Schreie aus, hastige Schritte polterten über den Boden und die Wölfe tobten wie Teufel in ihren Käfigen. Mein Blick war wieder klar, doch in dem Durcheinander von Rauch, Glas und rennenden Menschen konnte ich nichts erkennen.
„Cecilia!“, schrie ich, denn ich konnte sie nicht sehen.
Ich wusste nicht was los war, doch ich wusste, dass unsere Chance jetzt gekommen war. Ich kämpfte mich auf die Beine und versuchte meine Freundin in dem Gedränge ausfindig zu machen. Die Leute rannten aus dem Haus und draußen war das Quietschen von Reifen zu hören. Ein lautes Scheppern ertönte und die Alarmanlage eines Autos ging los. Dann Schreie.
„Bringt die Mädchen weg!“, brüllte Clancy über den Lärm. „Das sind Wolves!“
Einer der Gorillas riss an meinem Arm und ich fiel gegen ihn. Er wollte mich über die Schulter werfen und aus dem Raum stürmen, doch etwas sprang ihn mit einem dunklen Knurren an und riss ihn zu Boden.
Ich strauchelte, konnte mich aber auf den Beinen halten. Der Mann lag zuckend am Boden, sein Oberkörper war voller Blut. Ein großer schwarzer Wolf hatte sich in seinem Hals verbissen und riss ihm die Kehle heraus. Ich unterdrückte ein Würgen und wich zurück. Doch mein Bewacher war nicht der einzige, der angegriffen worden war. Durch die zertrümmerten Fenster waren mindestens ein halbes Dutzend Wölfe eingedrungen und hatten Mitglieder aus Clancys Clan angefallen. Die Wölfe aus den Käfigen waren währenddessen irgendwie freigekommen und stellten sich den anderen Wölfen in den Weg. Schrankbreite Männer stürmten versuchten zu uns vorzudringen, was gar nicht so einfach war, da immer noch Leute, die keine Kämpfer waren, panisch versuchten, nach draußen zu gelangen.
„Cecilia!“, schrie ich über den Lärm hinweg, als ich sie endlich entdeckte.
Sie war im Nebenzimmer hinter dem verlassenen Klavier eines Musikers in Deckung gegangen. Ich wollte zu ihr rennen, doch ich stolperte über die Staffelei und fiel erneut in Glasscherben. Nur am Rande nahm ich das Bild war, das ich gemalt hatte. Die Leinwand war zerrissen, doch ich konnte das Motiv trotzdem noch erkennen. Es brannte sich in meinen Kopf, doch jetzt war nicht die Zeit darüber nachzudenken.
Ich sprang auf und rannte durch das Kampfgetümmel zu Cecilia ohne auf das Blut zu achten, das den Boden rutschig machte.
„Komm schon, wir müssen hier verschwinden!“, rief ich und packte ihre Hand.
Ihre Augen fanden meine und sie nickte heftig.
Ich drehte mich zum Fenster und sah den von Autoscheinwerfen erleuchteten Parkplatz. Drei Männer rannten auf das Haus zu und ich erkannte einen von ihnen. George! Wenn Jims Bruder hier, dann war er vielleicht …
Nein! Wir würden nicht von der einen Gefangenschaft in die andere geraten. Ich zog Cecilia.
„Zur Küche, na los!“
Wir schafften es über den Flur und in die Küche. Sie war leer, die Köche waren wohl bereits geflohen. Ich rannte auf die Hintertür zu und packte den schweren Metallriegel. Er rückte einen Zentimeter zur Seite, dann bewegte er sich nicht mehr.
„Komm schon!“, rief ich frustriert und rüttelte an dem Riegel, doch er klemmte.
„Wo sind sie hin?“, donnerte es draußen auf dem Flur und Cecilia zuckte zusammen.
„Oh Gott, jetzt mach schon!“, stöhnte ich und stemmte mich mit aller Kraft gegen den Riegel, doch er rührte sich nicht.
„Was jetzt?“, keuchte Cecilia, den Blick auf die Tür gewandt und ich sah mich Hilfe suchend um.
Draußen fiel etwas mit einem lauten Rumpeln zu Boden.
„Da rein!“
Der Speiseaufzug kam mir vor wie ein Himmelsgeschenk. Wir passten gerade so beide hinein und ich lehnte mich mit rasendem Herzen vor, um den Knopf zu betätigen. Die Seile ächzten, doch wir bewegten uns nach oben. Wir verschwanden im Schacht und es wurde dunkel. Ich hörte jemanden unsere Namen rufen, doch dann wurde es bereits wieder hell.
Wir kletterten aus dem Aufzug. Im Obergeschoss schien noch niemand zu sein. Die Kampfgeräusche drangen von unten herauf und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sich der Kampf nach her oben ausbreiten würde.
Wir befanden uns in einem kleinen Dienstbotenraum. Er war fensterlos und hatte nur eine Tür. Ich öffnete sie einen Spalt breit, um auf den Flur zu spähen. Als ich sicher war, dass wir allein waren, öffnete ich sie ganz und wir traten auf den Flur.
„Unten kommen wir nicht raus. Kontrollier die Fenster, irgendwo muss es gehen!“, wies ich Cecilia an und sie nickte.
Wir stießen die wenigen Türen auf, die es gab, doch überall war es das gleiche. Vergitterte Fenster und keine Chance auf Freiheit.
Wir waren am Ende des Flurs angekommen und vor uns wand sich die Treppe nach unten. Ich lehnte mich gerade übers Geländer, als eine Stimme zu uns nach oben drang.
„Sie müssen oben sein! Na los, geh sie holen!“
Ich zuckte zurück und sah mich verzweifelt auf dem Flur um.
„Zurück zum Aufzug“, entschloss ich und schob Cecilia über den Flur.
„Stehen bleiben!“
Wir rannten los, doch es war zu spät. Jemand packte mich am Arm und ich wurde gegen die Wand geschleudert.
Der Mann – es war einer von Clancys Männern – riss mich hoch und packte auch Cecilias Arm.
„Euer Fluchtversuch ist hiermit beendet“, knurrte er und zerrte uns zur Treppe zurück.
Doch da kam noch jemand die Treppe hoch.
„Jim!“, keuchte ich.
Sein Oberteil war zerrissen und voller Blut, doch seinen Bewegungen nach zu urteilen, war er unverletzt. Seine grauen Augen streiften mich und waren für eine Sekunde voller Sorge. Mein Herz setzte für einen Schlag aus und ich vergaß alles um uns herum. Ich sah nur ihn. Dann wurde sein Blick hart und er fixierte den Mann, der uns festhielt.
Jim sprach kein Wort, er holte nur aus und verpasste dem Mann einen Faustschlag auf die Nase, dass das Blut nur so spritzte. Der Mann schrie auf und stieß uns von sich, wobei ich mit der Schulter gegen das Treppengeländer fiel. Ein stechender Schmerz schoss durch meinen Arm, doch ich nahm ihn nur am Rande war.
Cecilia lag neben mir auf dem Boden. Sie hatte eine Platzwunde an der Stirn und Blut lief über ihr ganzes Gesicht, doch sie war bei Bewusstsein.
Ein Krachen ertönte und ich riss den Kopf herum, um zu sehen, wie der Mann aus Clancys Clan in einer zertrümmerten Kommode in sich zusammen sank. Jim drehte sich zu uns um.
„Mara, geht es dir gut?!“, fragte er und ging neben mir in die Knie.
„J-ja …“, stammelte ich.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Da stand so fiel zwischen uns, so viel war geschehen, doch in diesem Moment wollte ich einfach nur in seine Arme sinken.
„Ich bringe euch in Sicherheit“, sagte Jim und er nahm mein Gesicht in seine Hände als wolle er mich küssen. „Vertrau mir.“
„Nein“, keuchte ich und schlug seine Hände weg.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, dabei hatte ich doch keine Wahl. Ich wusste nicht weiter, ich konnte nichts mehr tun …
„Mara, vertrau mir! Ich bringe euch hier weg, bitte!“
Der Mann in der Kommode regte sich und ich schluckte.
„Gut.“
Wir mussten Cecilia stützen. Jim ging vor uns die Treppe hinunter. Unten erwartete uns ein Mann, von dem ich glaubte, dass er zu den Wolves gehörte, doch Jim stieß ihn einfach weg.
Wir rannten zur Haustür hinaus über die Auffahrt auf ein schwarzes Auto zu, doch bevor wir es erreichen konnten, tauchte Clancy vor uns auf. Seine Kleidung war zerrissen und sein Haar völlig durcheinander.
„Oh nein, Wolves“, knurrte er. „Du nimmst sie mir nicht weg.“
„Geh beiseite“, sagte Jim eisig. „Du hast sie schon verloren.“
„Das habe ich nicht.“
Clancy streckte den Arm aus und ich schnappte erschrocken nach Luft, als ich die Pistole in seiner Hand sah. Jim hob langsam die Hände.
„Es ist zwecklos. Deine Männer sind fast alle tot. Deine Verbündeten sind weg. Hör auf, Robert.“
„NEIN!“, brüllte der Clanführer und fuchtelte mit der Waffe herum.
Jims Schlag traf ihn unerwartet. Er taumelte zurück und Jim warf sich auf ihn. Sie gingen zu Boden und ich sah mich hilflos nach irgendetwas um, womit ich Jim helfen konnte. Er hatte die Arme von Clancy gepackt, doch dieser schien stärker zu sein und in Zeitlupe bewegte sich der Lauf der Waffe auf Jims Kopf zu.
Auf dem Boden lagen Steine. Ohne nachzudenken bückte ich mich und hob einen faustgroßen Kiesel auf.
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein Schuss löste sich wie ein Peitschenschlag aus der Waffe. Ich warf den Stein und er traf Clancy am Hinterkopf. Aus dem Augenwinkel nahm ich etwas Weißes wahr, das auf mich zuschoss, und Cecilia schrie meinen Namen.
Ich drehte mich um und sah den weißen Wolf mit aufgerissenem Maul auf mich zu springen. Seine Zähne blitzten im Mondlicht und ich stand da wie gelähmt. Reflexartig schloss ich die Augen, wissend, dass diese Zähne sich gleich in meinen Hals bohren würden.
Ein Aufprall ertönte, ein schmatzendes Reißen, ein Schrei.
Ich riss die Augen wieder auf und sah Cecilia direkt vor mir auf dem Boden liegen, der Wolf über ihr.
„Nein!“
Ich fiel auf die Knie und versuchte den Wolf wegzustoßen, doch das führte nur dazu, dass er nach meiner Hand schnappte. Seine Zähne rissen die Haut an meiner Hand auf, und ich fuhr zurück. Der Wolf fletschte die Zähne. Seine Schnauze war getränkt von Cecilias Blut. Er sah aus wie ein Dämon aus der Hölle, gekommen um uns zu holen. Ich wich auf allen Vieren zurück. Der Wolf knurrte bedrohlich und legte die Ohren an.
Ein Schuss ertönte und der Wolf sackte fiepend in sich zusammen. Ich stieß seine Leiche von Cecilias Körper herunter.
„Cecilia! Oh Gott …“
Verzweifelt drückte ich meine Hände auf die klaffende Wunde an ihrem Hals, doch das Blut lief einfach zwischen meinen Fingern hindurch.
„Es kommt alles wieder in Ordnung.“ Tränen rannen über mein Gesicht. „Du musst nur stark sein, dann wird alles wieder gut!“
„Ich wusste es doch, Mara“, ächzte sie und Blut lief aus ihren Mundwinkeln. „Es ist … gut so.“ Dann erschlafften ihre Züge und ihre Augen wurden starr.
„Nein“, hauchte ich fassungslos. „Nein! Komm zurück!“
„Mara. Mara, du kannst nichts mehr tun. Wir müssen jetzt gehen!“
„Nein!“, schluchzte ich.
Jim zog mich hoch und verfrachtete mich auf den Beifahrersitz des Wagens. Dann stieg er selbst ein und fuhr mit quietschenden Reifen los.
Die Nacht flog an den Fenstern des Autos vorbei, als wir über die Landstraße rasten.
„Bist du verletzt?“
„Nein“, murmelte ich.
Ich dachte an mein Bild. Das Bild, das in seiner Schlichtheit doch so grausam gewesen war. Ein schneeweißer Wolfskopf mit schwarzen kalten Augen. Der Wolf, der mich beim Malen die ganze Zeit in meinen Gedanken verfolgt hatte. Der Wolf, der Cecilia getötet hatte.
„Sie hat ihren eigenen Tod gesehen.“ Meine Stimme klang leer. So leer wie ich mich fühlte.
„Was?“
„Mein Bild, ich … Ich habe diesen Wolf gemalt. Und sie sagte, sie sieht den Tod.“
Kurz war nichts zu hören, bis auf das Summen des Motors.
„Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist. Mara?“
Ich atmete tief ein und aus. Mir war schwindlig und schlecht. Meine Beine zitterten. Ich starrte meine Hände an. Sie waren rot von Cecilias Blut. Mein Herz raste.
„Halt an“, hauchte ich.
„Ich kann jetzt nicht anhalten, wir sind mitten im Nirgendwo …“
„Jim, halt an!“
Kaum dass das Auto stehen geblieben war, riss ich die Tür auf und beugte mich vor. Keine Sekunde zu spät.
Erbrochenes fiel ins Gras und ich hing würgend und hustend im Gurt.
„Hey, ganz ruhig.“
Ich spürte Jims warme Hand auf meinem Rücken. Ich wischte mir über den Mund und zog die Tür wieder zu.
„Hast du was zu trinken?“
Er lehnte sich vor um das Handschuhfach zu öffnen und eine Wasserflasche herauszunehmen. Kurz war er mir ganz nah, dann gab er mir die Flasche und lehnte sich wieder zurück.
Ich trank die ganze Flasche auf einmal aus, dann schloss ich die Augen und versuchte mich zu beruhigen.
„Mara, wir müssen weiterfahren“, sagte Jim leise. „Sie folgen uns bestimmt schon.“
Ich nickte langsam und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
„Wo bringst du mich hin?“
„Zum Flughafen.“
„Und dann? Zu eurem Anwesen zurück?“
Er schwieg und zwang mich dadurch wieder die Augen zu öffnen. Ich drehte den Kopf und sah ihn an. Ich konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht richtig erkennen, doch es wirkte viel vertrauter als alles, was ich in den letzten Tagen gesehen hatte.
„Nein, nicht zurück zum Anwesen.“
Ich runzelte die Stirn.
„Wohin dann?“
Ohne die Augen von der Straße zu nehmen beugte Jim sich vor, um erneut etwas aus dem Handschuhfach zu nehmen. Er ließ es in meinen Schoß fallen.
Es handelte sich dabei um einen Reisepass. Als ich ihn aufschlug, entdeckte ich mein Bild darin, doch der Name und die Daten waren falsch.
„Ist der gefälscht?“
„Ja. Ich habe nicht vor, dich irgendeinem der Clans zu überlassen. Du wirst frei sein.“
Fassungslos starrte ich den Pass in meinen Händen an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich verstanden hatte, was er mir eben gesagt hatte.
Mittlerweile waren wir nicht mehr auf der großen Landstraße, sondern schlängelten uns über eine kleinere. Jim bog immer wieder ab und ich hatte das Gefühl, er hatte sich verfahren. Dennoch drosselte er nicht das Tempo.
„Sind wir wirklich auf dem Weg zum Flughafen?“, hakte ich nochmal nach, und glaubte ein leichtes Grinsen auf Jims Gesicht zu erkennen.
„Ich muss sicher gehen, dass sie uns nicht finden.“
„Wer genau sind ‚sie‘?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Das, was von den Clancys noch übrig ist. Meine Familie.“
„Und … was macht deine Familie, wenn sie uns findet?“
„Sie wird uns nicht finden.“
Meine Fragen verstummten. Hatte Jim seine Familie, seinen Clan, etwa verlassen? Für mich? Oder war das alles nur ein Trick, um wieder mein Vertrauen zu gewinnen?
Wir kamen zurück auf eine große Straße und schließlich streiften die Autoscheinwerfer das Hinweisschild eines Motels.
„Wir werden dort eine Pause einlegen“, sagte Jim. „Wir müssen das Blut loswerden, sonst wird das nichts mit dem Flughafen.“
Ich spürte, dass er mich zum Lachen bringen wollte, doch es funktionierte nicht.
Schließlich erreichten wir das Motel und Jim holte zwei Jacken vom Rücksitz. Die eine zog er selbst an, die andere reichte er mir. Sie war viel zu groß, doch ich konnte meine roten Hände in den Ärmeln verstecken. Außerdem roch sie nach Jim …
Das Motel hatte viele freie Zimmer und Jim buchte eines unter falschem Namen ohne mit der Wimper zu zucken.
Das Zimmer war schäbig und kaum möbliert. Es gab eine kleine Kommode und ein Doppelbett, dessen Decke wohl schon bessere Tage gesehen hatte.
Ich ging sofort ins Bad, um mir die Hände zu waschen. Das Wasser färbte sich unter ihnen rot und ich schloss die Augen, um es nicht sehen zu müssen.
Jim, der im Motel Shop noch nach neuer Kleidung hatte schauen wollen, kam kurz nach mir ins Zimmer. Ich saß auf dem Bett und wartete bereits auf ihm. Er reichte mir eine graue Jogginghose und einen zu großen Pulli auf dem I love Scottland stand.
Dann ging er ins Bad. Er schloss die Tür hinter sich und nachdem ich einige Sekunden abgewartet hatte, ob er noch mal zurückkommen würde, zog ich mich um. Das weiße Kleid, das ich getragen hatte, warf ich ohne zu zögern in die Ecke.
Als ich fertig war setzte ich mich wieder aufs Bett und wartete darauf, dass Jim aus dem Bad raus kam. Doch er kam nicht. Nach einer Weile, die mir endlos vorkam, stand ich auf und trat vor die Tür.
„Jim?“, fragte ich leise und öffnete die Tür.
Er lehnte am Waschbecken. Sein vollgeblutetes Oberteil lag auf dem Boden und über seinen Rücken rannen feine Wassertropfen, die vom Saum seiner Jogginghose aufgefangen wurden. Er schien geduscht zu haben und erst war mir nicht klar, warum er da vor dem Spiegel stand, bis das Handtuch verrutschte, das er sich gegen den Oberarm drückte.
Ich schnappte erschrocken nach Luft und Jim drehte sich um.
„Ich dachte du hättest dich mittlerweile an meinen Anblick gewöhnt“, sagte er mit einem schiefen Grinsen, doch ich hörte nicht hin.
„Du wurdest angeschossen!“
„Nur ein Streifschuss, nicht weiter schlimm“, versuchte er mich zu beruhigen.
„Du … musst zu einem Arzt“, stammelte ich und trat näher, um mir seine Verletzung genauer anzusehen.
„Nein, das ist wirklich halb so wild.“
Ich biss mir auf die Zunge und starrte seinen Arm an.
„Ich frag an der Rezeption nach einem Erste Hilfe Set.“
„Mara …“
„Keine Widerrede!“, schnappte ich und stürmte los.
Ich war schnell zurück. Der Mann an der Rezeption hatte keine Fragen gestellt und mir gelangweilt den Verbandskasten gereicht, nur um so schnell wie möglich in seinem Buch weiter zu lesen.
Jim stand immer noch im Bad, hielt das Handtuch allerdings nicht mehr auf die Wunde gepresst. Der Riss in seinem Arm hatte aufgehört zu bluten und sah jetzt tatsächlich nicht mehr ganz so schlimm aus, dennoch war ich mir sicher, dass ein Arzt das sofort genäht hätte.
Jim wehrte sich nicht, als ich Desinfektionsspray auf die Wunde gab und schließlich Mullbinden darum wickelte.
„Du solltest dir was anziehen“, sagte ich, als ich fertig war, doch ich brachte es nicht fertig zurückzutreten.
Ich stand so dicht vor ihm und ich wollte mich einfach nur in seine Arme werfen.
„Mara …“
Jims Stimme klang so dunkle und rau …
Ich hob den Blick und sah in seine grauen Augen.
Für den Augenblick verschwand die ganze Welt und alle Gedanken aus meinem Kopf und da war nur noch Jim.
Er hob den gesunden Arm und legte eine Hand an meine Hüfte.
„Jim“, setzte ich an, doch er beugte sich zu mir herab und küsste mich.
Ich vergaß augenblicklich was ich hatte sagen wollen.
Jim drängte mich gegen das Waschbecken. Ich schlang die Arme um seinen Nacken und ließ zu, dass unser Kuss immer wilder wurde. Mein Körper brannte förmlich und ich spürte ein so großes Verlangen nach Jim, dass es mir beinahe Angst machte.
Jims Lippen lösten sich für einen Moment von meinen. Er war genauso atemlos wie ich.
„Ich hatte solche Angst“, hauchte er und lehnte seine Stirn an meine. „Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.“
Er ließ mir nicht die Zeit zu antworten und setzte unseren Kuss fort. Dann hob er mich hoch und ich schlang meine Beine um seine Hüften, während er mich ins Schlafzimmer trug.
Irgendwie landeten wir im Bett, das nicht sonderlich bequem war, doch das war mir egal. Ich nahm nichts wahr, außer Jims Berührungen und Küsse. Er zog mir den Pullover aus und meine Hose folgte schnell.
„Ich liebe dich“, flüsterte Jim. „Ich liebe dich so sehr.“
Später lagen wir eng aneinander gekuschelt unter der Decke. Mondlicht drang durch ein kleines Fenster und tauchte den Raum in schummriges Licht. Mit jeder Minute die verging, wurden meine Gedanken klarer. Ich war hellwach und auch Jim war noch nicht eingeschlafen.
Ich sah ihn nicht an. Ich konnte es nicht. Die Stille erlaubte mir zu rekapitulieren, was in den letzten Stunden geschehen war. Doch es war, als könnte mein Gehirn es nicht verarbeiten. Es war so viel, und es war alles so unbegreiflich …
„Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist“, sagte ich schließlich und durchbrach damit das Schweigen.
„Ja“, sagte Jim leise. „Heute Nacht sind viele gestorben.“
Ich hob den Kopf und sah ihn erschrocken an.
„Es … tut mir leid, ich habe gar nicht daran gedacht, dass … Deine Familie …“, stammelte ich und kam mir plötzlich schrecklich dumm vor.
Er starrte aus dem Fenster.
„Ich habe gesehen, dass George verletzt war. Aber ich werde wohl nie erfahren, wer alles lebend aus diesem Haus gekommen ist.“
„Warum nicht?“
„Jetzt, wo ich dir zur Flucht verholfen habe, kann auch ich nicht mehr zurück. Ich bin ein Verräter meiner eigenen Art“, murmelte er. „Aber was ist das schon für eine Art. Ich will nicht mehr zu ihnen gehören.“
„Aber kannst du das denn? Einfach deinen Clan verlassen?“
„Sie werden natürlich nach mir suchen. Und auch nach dir. Aber jetzt wo Cecilia tot ist, bist du frei. Deine Prophezeiungen sind nutzlos für die Werwölfe, solange sie niemand deuten kann.“
Ich sank zurück in die Kissen. So hatte ich noch gar nicht darüber nachgedacht, aber er hatte recht. Cecilias grausamer Tod hatte mir Freiheit verschafft. Dennoch konnte ich mich jetzt nicht darüber freuen.
„Mara? Bist du in Ordnung?“
Ich drehte mich um und schloss die Augen.
„Vielleicht hätten wir nicht miteinander schlafen sollen. Vielleicht war es ein Fehler.“
Jim weckte mich früh. Wir waren nicht mehr sehr weit vom Flughafen entfernt und frühstückten dort, sobald wir ihn erreicht hatten. Bei der Passkontrolle gab es keine Probleme, obwohl mir meine Nervosität ins Gesicht geschrieben stand.
Unser Flug würde erst in einer Stunde aufgerufen werden, wir mussten noch warten.
Die meisten anderen Leute lasen Zeitung. Ich konnte auf einem der Titelblätter eine Schlagzeile ausmachen: Wolfsangriff auf abgelegenem Anwesen.
Ich sah weg.
Der Minutenzeiger raste über das Zifferblatt der großen Uhr, die an der Wand hing. Als unser Flug schließlich aufgerufen wurde, erhob ich mich nur widerwillig. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, doch ich wusste nicht, wie ich sie zur Sprache bringen sollte.
„Wie habt ihr uns eigentlich gefunden?“, fragte ich Jim, als wir uns in die Schlange vor dem Gateway einreihten.
„Das ist so eine Werwolfsache. Wir können Menschen aufspüren, auch wenn es sehr schwierig und kräftezehrend ist. Vielleicht hast du es auch gespürt.“
„Die Kopfschmerzen“, murmelte ich und nickte. „Und der hier?“
Ich hob den gefälschten Pass hoch.
Jims Mundwinkel hoben sich zu einem wehmütigen Lächeln.
„In der Nacht, in der du alles erfahren hast, habe ich ihn besorgt. Du warst so unglücklich und ich war es auch. Mir ist klargeworden, wie falsch das alles ist. Du solltest nicht so ein Leben führen müssen. Aber als ich zurückkam, warst du weg.“
Ich biss mir auf die Zunge. Gleich waren wir an der Reihe ins Flugzeug zu steigen.
„Mara, du musst es mir sagen“, sagte Jim plötzlich, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Kannst du mir vergeben, dass ich dich belogen habe?“
„Belogen“, wiederholte ich dumpf. „Du hast viel mehr getan, als mich zu belügen. Du hast mich gekauft, mich benutzt, mich um mein Leben betrogen.“
„Und ich habe dich befreit und meine Familie für dich aufgegeben.“
„Und darum weiß ich auch, dass du ein guter Mensch bist und dass meine Liebe nicht verschwendet ist.“ Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen, doch ich zwang mich ihn anzusehen. „Ich habe das Gefühl, ich wurde mein Leben lang benutzt und belogen. Ich liebe dich wirklich, ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt.“ Meine Stimme brach und ich räusperte mich. Jim beobachtete mich bestürzt. „Obwohl ich dich auch hasse, für das, was du mir angetan hast. Du hast mein Vertrauen zu dir missbraucht und ich weiß nicht, ob ich dir überhaupt noch vertrauen ober glauben kann. Gleichzeitig bin ich dir auch dankbar, weil du so viel getan hast, um mir endlich ein neues Leben in Freiheit zu ermöglichen. Aber ich habe das Gefühl, dass wenn ich jetzt mit dir gehe … Wenn wir jetzt zusammen weglaufen, dann wird das für immer zwischen uns stehen und vielleicht wird meine Liebe daran kaputt gehen. Und weil diese Liebe alles ist, was mir in dieser Welt noch bleibt, will ich das nicht.“
„Und was heißt das?“, fragte Jim mit rauer Stimme.
Die Tränen rannen mir inzwischen in Strömen übers Gesicht und die Flugbegleiterin beobachtete uns abwartend.
„Ich will dich nicht verlassen, aber wenn unsere Liebe eine Chance haben soll, dann musst du mich jetzt allein in dieses Flugzeug steigen lassen.“
„Aber … Wie sollen wir zusammen sein, wenn ich nicht einmal weiß, wo du bist?“
„Du hast gesagt, du kannst mich finden. Also gib mir die Zeit, die ich brauche, um zu heilen. Gib mir Zeit, damit ich selbst leben kann und herausfinden kann, was das alles aus mir gemacht hat und wer ich jetzt bin. Und dann finde mich und ich bin sicher unsere Liebe wird die größte sein, die die Welt je gesehen hat.“
Ich konnte das Schluchzen nicht länger zurückhalten und auch über Jims Wangen liefen Tränen. Obwohl es mir das Herz brach, wusste ich, dass ich das Richtige tat.
„Ich will nicht ohne dich sein, Mara“, wisperte er. „Ich kann nicht.“
„Wenn du mich wirklich so sehr liebst, dann musst du“, hauchte ich.
Jim schluckte.
Ich machte einen Schritt zurück und er ließ meine Hand los. Dann drehte ich mich um und folgte der Stewardess den Gateway entlang.
Sechzig Jahre später, irgendwo in Australien, aus dem Tagebuch von Mara Stray
Wie lange dauert es, zu vergeben? Wie lange dauert es, zu vergessen? Wann ist ein Herz soweit geheilt, dass es wieder schneller schlagen kann? Blut ist nicht dicker als Wasser, wenn es böses Blut ist, und Verrat begehen kann jeder. Aber was ist schon eine Lüge? Was bedeutet schon Verrat, wenn man liebt? Vor der wahrhaftigen Liebe kann man nicht weglaufen, denn sie ist bedingungslos. Sie ist die Luft, die wir atmen, sie umgibt uns und durchdringt uns. Sie ist es, die unsere Herzen schneller schlagen lässt.
Wie lange ich gebraucht habe, um das zu verstehen…
Und wie lange du, mein Liebster, gebraucht hast, um mich zu finden. Doch was ist schon Zeit? Sie ist machtlos gegenüber der Liebe, denn die Liebe lässt den Augenblick zur Ewigkeit werden und man vergibt und vergisst und man heilt.
Denn die Liebe ist stärker als alles auf der Welt, das weiß ich heute.
Das hast du mich gelehrt, mein Liebster. Das haben mich unsere Kinder gelehrt und unsere Enkelkinder.
Was für ein Leben wir gehabt haben. Voller Verrat und Lügen. Voller Verlust und Intrigen, voller Weglaufen und Gefunden werden. Voll von Liebe und voll von Glück.
Die Erinnerung ist das, was von einem Menschen bleibt, wenn er geht. Und auch wenn du bereits gegangen bist, bin ich in meinen letzten Stunden nicht allein. Denn ich erinnere mich deiner und ich werde dir folgen auf diese letzte Reise, jetzt wo der Abend meines Lebens sich dem Ende neigt. Der Abend eines Lebens, das sich zu leben gelohnt hat.
Noch gestern saß ich auf der Veranda, Mia, unsere jüngste Enkeltochter, die du nicht mehr kennenlernen durftest, auf dem Schoß und blickte auf die Farm, die wir zusammen aufgebaut haben. Ich konnte das Klopfen des Hammers wieder hören, der die Nägel ins Holz getrieben hat und ich habe den Schweiß wieder gerochen, der in der Hitze strömte. Ich habe deine Hand in meiner gespürt. Jetzt sind meine Hände voller Schwielen, nach einem langen Leben auf unserer Farm.
Ich habe Mia malen sehen. Sie ist kaum ein Jahr alt und hat jetzt schon ein Gefühl für Farben. Ich habe keinen Pinselstrich mehr getan, seitdem du tot bist, doch jetzt juckt es mich in den Fingern. Doch meine faltigen Hände zittern, wenn ich sie hebe und ich weiß, dass die Kraft aus mir weicht.
Wird es Farben geben, da wo ich jetzt hingehe? Wirst du dort sein?
Wenn ja, werde ich dich finden, so wie du mich vor vielen Jahren gefunden hast. Mein Herz wird mich führen, wie das deine dich führte. Und ich werde wieder dort sein, wo mein Platz ist.
An deiner Seite.
Ich möchte allen danken, die mich in den eineinhalb Jahren begleitet und mitgefiebert haben! Und natürlich auch bei allen späteren Lesern! Maras und Jims Geschichte ist so viel größer geworden, als ich es je vermutet habe.
Sagt mir bitte in gaaanz vielen Kommis, wie ihrs findet!!! Und das Cover ist übrigens von Laila.
Für News zu meinen Büchern, kommt in meine Gruppe "Bücher von Clara S."
Texte: Clara Schilling
Bildmaterialien: Laila
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Laila, Cara und die kleine Pia, die das als erste gelesen, mich ermutigt und mir geholfen haben.