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Nanayda Griffin

 

Missmutig linste ich aus dem Fenster der schwarzen Limousine, konnte aber wegen des strömenden Regens nichts erkennen. Langsam schlichen sich Zweifel ein, ob das alles hier eine gute Idee gewesen war. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte energisch den Kopf. Ich würde es durch ziehen, ich würde alles beweisen, dass ich es schaffen konnte. Was konnte ich auch dafür, dass ich die erste weibliche Erstgeborene in meiner Familie war.

Schon seit vielen Generationen gingen die Erstgeborenen meiner Familie, väterlicher Seitz, auf das Harrison-Springer Internat. Und dieses war zwar laut Hausordnung keine reine Jungenschule, doch gab es keine einzige Frau dort. Außer mir ab jetzt. Die ganzen Sommerferien über hatte ich gebüffelt und mich laut mit meinem Vater gestritten, dass es sexistisch war, zu denken, ich würde am Harrison-Springer untergehen. Weil Frauen den Anforderungen dort nicht gewachsen wären. Das ich nicht lache.

Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen in meinem Sitz zurück und dachte grinsend an das Gesicht meines Vaters, als er meine Aufnahmeprüfung gesehen hatte. Ich hatte mit einem Schnitt von 1,2 mehr als genug gezeigt, dass ich keine Probleme mit dem Stoff haben würde. Die Gesellschaft machte mir da mehr Sorgen, doch ich war mir sicher, dass die Jungs dort total langweilige, reiche Spießer waren und mir nichts tun würden. Bei diesem Gedanken kicherte ich leise und öffnete die Augen.

Nicht mehr lange, dann würde die Limo vor dem Schloss, indem das Internat untergebracht war halten. Da die Schule dreißig Minuten Fahrt mit dem Auto von der nächsten Stadt entfernt war, würde ich nur am Wochenende mit den Schulbussen von dort wegkommen, aber das war nicht schlimm.

Da ich zwei Wochen nach Schuljahresbeginn eintraf, würde ich wohl noch mehr auf dem Präsentierteller stehen als sowieso schon, aber ich hatte nicht früher kommen können, da es gewissen Komplikationen gegeben hatte. Ich wollte gar nicht daran denken und verdrehte nur die Augen.

Das Auto hielt und ich hörte wie Mr. Parkin ausstieg. Er war schon seit 30 Jahren der Chauffeur meiner Familie und ich mochte ihn sehr. Er öffnete mit aufgespanntem Regenschirm die Autotür und ich stieg aus.

„Danke“, sagte ich und schenkte dem alten Mann ein breites Lächeln. Dann wandte ich meinen Blick zu dem Schloss, indem ich bis zu den nächsten Ferien leben würde. Es war einfach total riesig und obwohl zwanzig Meter Hof zwischen dem Auto und dem Gebäude lagen, musste ich den Kopf in den Nacken legen um das Dach sehen zu können.

Ich folgte HerrParkin zum Kofferraum, wo er meinen Koffer und meine Reisetasche hervor holte.

„Ich trage Ihnen die Taschen bis zum Eingang, Miss.“

„Oh, nein, danke. Das ist nicht nötig.“

„Sind Sie sicher? Es regnet stark und…“

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen um mich, Mr. Parkin. Ich schaff das schon.“ Ich lächelte ihn dankbar an und er nickte schließlich.

„Dann viel Glück, Miss.“

„Danke sehr. Sagen Sie meinen Eltern Grüße.“

„Natürlich.“ Er neigte den Kopf leicht, dann legte er den Regenschirm in den Kofferraum, stieg ein und fuhr davon. Ich straffte die Schultern und fuhr mir durch meine langen rotgefärbten Haare. Eigentlich waren sie hellblond, aber ich hatte sie granatrot gefärbt. Zum einen, da ich nicht wirklich dem Klischee eines dummen Blondchens entsprach und zum anderen, weil es meine Eltern provozierte.

Ich grinste leicht, nahm meine Tasche und den Koffer und marschierte auf das Schloss zu.

Vom Regen völlig durchnässt und triefend betrat ich die warme Eingangshalle. Sie war sehr groß und an den Wänden hingen Portraits von Schülern, Lehrern und Schulleitern. Ich tapste etwas unsicher durch die Halle. Rechts sah ich eine große Tür, über der ein Schild mit der Aufschrift „Speisesaal“ prangte, und gerade aus ging eine breite Treppe nach oben und eine andere nach unten. Links sah ich das, wonach ich suchte. Eine Tür mit der Aufschrift „Sekretariat, Rektorat“. Mutig schritt ich darauf zu und öffnete die Türe.

Ich stand in einem kleinen Raum, der in der Mitte durch einen Tresen geteilt wurde und rechts von mir ging eine weitere Türe ab. Hinter dem Tresen saßen zwei rundliche Frauen – wenn ich ehrlich war, war ich positiv überrascht, als erstes auf Frauen zu treffen – und unterhielten sich laut.

„Entschuldigung“, piepste ich nervös. Okay, das üben wir denn noch mal. Ich räusperte mich und sagte etwas lauter: „Verzeihung.“

Die Frauen erstarrten und sahen mich verblüfft an.

„Ähm, guten Tag. Ich bin neu an der Schule und ich soll mich…“

„Ja, natürlich, gehen Sie gleich durch zum Direktor“, sagte die eine Frau, etwas weniger verwirrt.

„Danke.“ Ich ließ meine Sachen einfach stehen und betrat ohne anzuklopfen das Büro.

Der Direktor war genauso wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Etwas mollig, Halbglatze, grauer Kinnbart und eine Brille auf der Nase, durch welche er mich jetzt verwundert anblinzelte.

„Setzten“, nuschelte er und ich ließ mich auf dem unbequemen Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder. Herr Fisten – so hieß er – senkte den Blick wieder auf die Akte die er vor sich liegen hatte und schwieg. Nervös begann ich an meinen nassen Haaren herum zu nesteln.

Nach einer halben Ewigkeit begann er dann näselnd zu sprechen: „Nanayda Griffin, 16 Jahre, 10. Klasse, nicht wahr?“

„Ja, Herr Fisten“, bestätigte ich brav. Ich hasste meinen richtigen Namen und ließ mich lieber Nay nennen. Ich meine, Nanayda, was hatte meine Mutter sich dabei nur gedacht?

„Schön, schön.“ Er hob den Blick. „Willkommen auf dem Harrison-Springer Internat. Sie werden hier wie alle anderen Schüler behandelt, es wird keine Extraregelungen für Sie geben.“

„Natürlich nicht, Sir.“

„Ich bitte Sie sich die Hausordnung, die am schwarzen Brett hängt, sehr genau durchzulesen, die wichtigsten Aspekte teile ich Ihnen allerdings mündlich mit. Wir dulden hier kein unangemessenes Verhalten, Respekt ist das oberste Gebot dieser Schule. Nach zehn Uhr müssen Sie in ihrem Zimmer sein, ab sieben Uhr gibt es Frühstück und der Unterricht beginnt um acht Uhr dreißig. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an Mitschüler oder Lehrer. Sie werden die Klasse 10a besuchen, Ihren Stundenplan und Ihre Bücher finden Sie in Ihrem Zimmer, welches die Nummer 263 hat, das ist im zweiten Stock. Im ersten Stock sind alle Klassenräume, im Untergeschoss die Sporthalle. Abendessen gab es vor einer Stunde, also um 19 Uhr. Ich nehme an, Sie haben bereits etwas gegessen?“

„Ja.“ Eigentlich starb ich gerade vor Hunger. Was soll’s.

„Gut, dann auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen, Sir.“ Ich stand auf und verließ das Büro schleunigst. Gut, den Direktor mochte ich schon mal nicht. Er hatte mich die ganze Zeit so geringschätzig gemustert, als glaubte er, ich würde schon nach einer Stunde hier das Handtuch werfen.

Ich nahm meine Tasche und meinen Koffer und verließ das Sekretariat ohne einen weiteren Blick auf die schwatzenden Frauen zu werfen.

Das Gebäude schien wie ausgestorben und ich begegnete auf meinem Weg nach oben niemand. Was auch gut so war, ich sah vermutlich ziemlich lächerlich aus, so schwer bepackt.

Dann war ich endlich oben und orientierte mich kurz und machte mich auf den Weg in mein Zimmer.

Auch auf dem Flur begegnete ich niemandem, aber aus den Zimmern hörte ich Stimmen. Als ich endlich bei meinem angekommen war, stieß ich die Tür ohne weiteres auf.

Das Zimmer war nicht wirklich groß, rechts war eine Tür, vermutlich zum Bad, daneben stand direkt ein Wandschrank, dahinter das Bett und gegenüber von dem Eingang ein Schreibtisch unter dem Fenster. Ich ließ meine Sachen auf den Boden plumpsen und schälte mich aus meiner nassen Jacke. Meine Jeans war inzwischen wieder halbwegs trocken, aber meine Haare hingen mir in hoffnungslos nassen und blutroten Strähnen in die Augen. Seufzend ließ ich mich auf das Bett fallen und erstarrte. Auf einem Bett, das ich noch nicht gesehen hatte und meinem gegenüberstand, lag ein Junge. Er lag auf der Seite, hatte ein Bein angewinkelt und vor sich ein Mathebuch liegen, doch seine Augen waren nicht auf das Buch sondern direkt auf mich gerichtet und Belustigung glitzerte in ihnen.

Seine dunkelbraunen Haare hingen ihm in die grünen Augen und seine hohen Wangenknochen und der kantige Unterkiefer ließen sein Gesicht sehr markant wirken. Er hatte den Körper eines Schwimmers; breite Schultern, Muskeln und lange Beine.

„Äh, hallo“, sagte ich schließlich.

„Hi“, erwiderte der Typ und rang mit seinen Gesichtszügen um nicht breit zu grinsen. Ich hob eine Augenbraue und er lachte auf.

„Ich bin Nick Shettler, dein Mitbewohner“, stellte er sich vor und während die Worte langsam in mein Gehirn sickerten begriff ich was hier los war. Ich hatte nicht etwa ein eigenes Zimmer, ich musste es mir mit einem Jungen teilen!

„Nay“, brachte ich endlich heraus.

„Was?“

„Ich heiße Nay.“ Meine Stimme klang schon etwas fester. Und wenn schon? Dann teilte ich mir mein Zimmer eben mit einem absolut nicht spießigen und total heißen Typen. Das störte mich doch nicht. Das war überhaupt kein Problem.

Oh, verdammt, ich würde untergehen.

„Ach so, klar.“ Er grinste immer noch dumm und ich war mir nicht sicher, ob das beleidigend war.

„Ist was?“, fragte ich.

„Nö.“

„Okay.“ Ich stand auf und stellte meine Reisetasche auf mein Bett. Dann ging ich zu meinem Koffer und öffnete ihn. In ihm waren nur Klamotten und ein Paar Sportschuhe. Ich zögerte kurz, dann öffnete ich auch den Schrank. Nur der rechte Teil war gefüllt, deshalb räumte ich meine Sachen einfach nach links und beachtete Nick nicht weiter.

Warum hatte mir niemand gesagt, dass ich kein eigenes Zimmer hatte? Abgesehen davon, dass ich mir noch nie in meinem Leben mit irgendwem ein Zimmer geteilt hatte, war das doch etwas viel verlangt. Ich meine… Okay, Nay, du reißt dich jetzt zusammen! Du ziehst das hier durch, und fertig. Du wirst es ihnen allen zeigen. Ich nickte leicht, zur Bestätigung meiner Gedanken und schob den Stapel mit Unterwäsche ganz weit nach hinten in ein Fach, damit Nick ihn nicht sah. Okay, der sah wahrscheinlich nicht mal hin.

Nachdem alles verstaut war schob ich den Koffer unter mein Bett und widmete mich meiner Reistasche. Darin befand sich mein Schulzeug, mein Laptop, einige persönliche Sachen, wie zum Beispiel mein Lieblingsbuch, und mein Waschbeutel. Diesen stellte ich kurzerhand ins Bad, welches erschreckend klein war und nur aus Dusche, Klo und Waschbecken bestand.

Als ich meine restlichen Sachen im Nachtischchen und auf dem Schreibtisch, auf welchem auch meine neuen Bücher lagen, verstaut hatte ließ ich mich zusammen mit meinem neuen Stundenplan aufs Bett sinken.

Morgen, zum guten Start in die Woche war erst mal eine Doppelstunde Physik, dann Chemie und Sport geplant. Sehr schön. Das war ja schon mal okay. Ich überflog die restlichen Tage, dann ließ ich mich zurück sinken und schloss die Augen. Ich war völlig am Ende und mein Kopf pochte wie verrückt.

Ich streifte meine Schuhe von den Füßen und hob meine Beine auch noch aufs Bett, welches ziemlich gemütlich war.

„Müde?“, fragte eine Stimme plötzlich, was mich darin erinnerte, dass ich nicht allein war.

„Nein, ich strotze vor Energie. Sieht man das nicht?“, fragte ich sarkastisch und öffnete die Augen.

Nick betrachtete mich schmunzelnd.

„In welcher Klasse bist du eigentlich?“, fragte ich um ein Gespräch in Gang zu bekommen.

„10a.“

„Oh, ich auch.“ Ich wusste zwar nicht, ob ich mich darüber freuen sollte, aber immerhin kannte ich dann schon jemand.

Nick wollte etwas sagen, da öffnete sich die Tür und zwei Jungen stürmten rein, sie setzten sich, ohne mich zu bemerken, auf meine Bettkannte und begannen Nick irgendetwas haarsträubendes zu erzählen – irgendwas von einem explodierten Chemikalienzeug – bis dieser sie grinsend unterbrach.

„Leute, darf ich euch Nay vorstellen. Meine neue Mitbewohnerin.“

Die Jungs drehten sich verwirrt um und einer sprang sogar erschrocken auf.

„Hi“, kicherte ich einfach überfordert.

„Nay, das sind Ben“, er deutete auf den, der aufgesprungen war. „und mein Bruder Jason.“

Ben war eher schmal gebaut und hatte orangerote Haare und verwirrend leuchtend blaue Augen. Jason sah Nick verdammt ähnlich, nur dass er blonde Haare hatte.

Jetzt schien den beiden ein Licht aufzugehen und sie lachten verlegen.

„Wie konnten wir nur vergessen, dass sie kommt“, grinste Jason.

Ich setzte mich auf und lehnte mich an die kühle Wand. Mein Schädel brummte immer noch und meine Augenlider wollten nicht offen bleiben.

„Jungs, ich glaub die Kleine ist müde“, meinte Nick schließlich und die drei musterten mich als wäre ich ein Versuchsprojekt.

„Scharfsinnig wie immer, Bruderherz. Es ist sowieso schon fast zehn und ich will nicht schon wieder Nachsitzen. Gehen wir, Ben. Bis morgen.“ Und schon waren die zwei wieder weg.

Ich erhob mich auch und wankte ins Bad, zusammen mit einem Pyjama. Vorsichtshalber schloss ich ab, ich wollte ja nicht, dass Nick hier reinplatzte, während ich unter der Dusche stand.

Ich steckte meine Haare hoch und sprang für fünf Minuten unters heiße Wasser um die Spuren der sechsstündigen Autofahrt abzuwaschen. Dann putze ich Zähne und schlüpfte in meinen Pyjama, welcher aus einer langen, roten Schlabberhose und einem schwarzen Top bestand. Ich fuhr mir nochmal durch die Haare, dann verließ ich das Bad und ließ mich wieder aufs Bett fallen.

Ich kroch unter die Decke und schloss die Augen. Dass das Licht noch brannte störte mich nicht im Geringsten, während ich in einen flauschig angenehmen  Dämmerzustand glitt.

„Kann ich dich was fragen?“ Nicks Stimme riss mich nicht wirklich zurück in die Wirklichkeit.

„Mhm“, machte ich mit geschlossenen Augen.

„Warum zur Hölle bist du auf dieser Schule?“ Ich hörte aufrichtige Neugier in seiner Stimme und lächelte schlapp.

„Sag ich dir wann anders.“ Und damit schlief ich ein.

 

Ein nerviges hohes Piepsen weckte mich am nächsten Morgen und als ich mich umdrehte viel ich fast aus dem Bett, das sehr viel schmaler war, als meines zuhause.

Verwirrt blinzelte ich und brauchte bei dem dämmrigen Licht hier im Zimmer eine Weile bis ich wusste wo ich war.

„Nick, mach das Piepsen aus“, nuschelte ich und hörte das Bettzeug mir gegenüber rascheln und schließlich ein Scheppern, da Nick ziemlich fest auf den Wecker gehauen hatte um ihn zum Schweigen zu bringen.

Müde räkelte ich mich und rieb mir die Augen um wach zu werden.

„Wie spät ist es?“

„Halb sieben“, brummte Nick und ich schwang die Beine aus dem Bett. Nick sah aus, wie ich mich fühlte: seine Haare waren total verstrubbelt, seine Augen halb geschlossen, und seine Züge waren so entspannt, als würde er noch schlafen.

Ich trottete müde ins Bad und betrachtete mein Spiegelbild. Meine roten, langen Haare waren total zerzaust, ich hatte Augenringe und meine helle Haut schien noch blasser als sonst.

Nachdem ich mir kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und Haare gekämmt hatte, sah ich nicht mehr allzu schlimm aus, sodass ich mich wieder aus dem Bad traute. Kaum das ich heraus kam, schob Nick sich an mir vorbei hinein und sein Körper streifte mich. Ich zuckte zusammen, doch da war er schon im Bad und ich hörte die Dusche rauschen. Da hatte es einer ja eilig. Kopfschüttelnd ging ich zum Schrank. Erst jetzt viel mir der Wäschekorb auf, der neben ihm stand und ich warf meine Sachen von gestern hinein, außer der Jeans, die würde ich nochmal anziehen.

Ich vergewisserte mich, das die Dusche im Bad noch lief und schlüpfte in die Hose und in Socken und Schuhe. Danach zog ich mir das Schlaftop über den Kopf und zog in Rekordgeschwindigkeit meinen BH an. Dann stand ich unschlüssig vor dem Schrank und überlegte was für ein Oberteil angebracht war. Ich entschied mich für ein grünes T-Shirt und eine hellgraue Sweat-Jacke.

Da Nick noch immer im Bad war, packte ich schon mal meine Schultasche. Meine Sportsachen stopfte ich nach ganz unten.

Ich wollte auf Nick warten, da ich mir sicher war, dass ich den Weg allein nicht finden würde, deshalb setzte ich mich auf das Bett und wartete. Als Nick endlich aus dem Bad kam, waren seine Haare noch nass und er war nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet. Ich lief feuerrot an und senkte den Blick.

Nick lachte auf und meinte gelassen: „Du kannst mich schon anschauen. Ich hab damit überhaupt kein Problem.“

„Das hab ich mir jetzt irgendwie gedacht“, murmelte ich, wandte den Blick aber nicht vom Boden ab. Plötzlich hörte ich das Handtuch zu Boden fallen  und riss erschrocken die Augen auf. Der stand doch jetzt nicht tatsächlich völlig nackt keine zwei Meter neben mir? Ich schluckte und wagte nicht mich zu bewegen, bis ich seine Gürtelschnalle klappern hörte, und wusste, dass er etwas anhatte.

Ich hob den Blick und vergaß aber sofort was ich sagen wollte, da Nick oben noch ohne war und mir einen perfekte Aussicht auf seinen trainierten Körper gab.

„Äh“, machte ich und versuchte den Blick abzuwenden, schaffte es aber irgendwie nicht.

„Hat das kleine Mädchen etwa noch nie einen halbnackten Mann gesehen?“, witzelte Nick und zog sich ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Metallica“ über.

„Äh“, machte ich wieder sehr geistreich.

„Ich weiß ja nicht, wie du Sport nachher überleben willst“, meinte Nick und schüttelte belustigt den Kopf. Ich verstand nicht was er damit meinte und hatte auch keine Zeit weiter darüber nachzudenken, da Nick seine Tasche nahm und mir gentlemanlike die Tür aufhielt.

Wir liefen wortlos nach unten und ich versuchte mir den Weg einzuprägen, kam mir aber ziemlich dumm vor, da ich von allen Seiten angeglotzt wurde.

Im Speisesaal stellten wir uns in bei der Essensausgabe an und Nick wurde von allen Seiten begrüßt, während mir nur komische Sprüche zugerufen wurden. Ich fuhr mir durch die Haare und ignorierte das.

„Nick, kannst du mir nachher sagen wo wir Unterricht haben?“, fragte ich.

„Ja klar. Du musst mir einfach nur hinterher laufen“, meinte er grinsend.

„Das gefällt dir, gib es zu“, stichelte ich, doch er zuckte nur mit den Schultern. Nachdem wir uns mit Musli und Orangensaft ausgerüstet zu Nicks Freunden an einen Tisch gesetzt hatten.

Jason und Ben waren unter ihnen und sie begrüßten mich etwas weniger herablassen als der Rest. Ich aß still vor mich hin und achtete nicht viel auf die anderen, bis ich etwas hörte, dass mir gar nicht gefiel.

„Nick, du hast verdammt Glück mit dem Mädel“, sagte einer der Jungs. „Ich mein, du musst es dir jetzt nicht mehr selber machen, mit der da ein Bett weiter.“

Nick lachte laut und stimmte dem Typen zu. Ich hob den Kopf und sah Nick so vernichtend an, dass das Grinsen in seinem Gesicht erfror. Dann stand ich auf, räumte mein Essenstablett weg und verließ hoch erhobenen Hauptes den Speisesaal. Solche verdammten Idioten! Hatte ich denen Grund zur Annahme gegeben, ich wäre eine Schlampe? Nein! Wütend schnaubte ich. Eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass Nick so ein Arsch war, aber das war wohl nur eine naive Hoffnung gewesen. Der konnte doch nicht… Ich meine, das war doch… Argh!

Ich wollte gerade die Treppe hoch gehen, als ich schnelle Schritte hinter mir hörte.

„Nay, warte doch!“ Jason hielt mich am Handgelenk zurück und ich drehte mich verärgert um.

„Was?“, fauchte ich, schon gefasst auf einen dummen Macho-Spruch, doch dieser kam nicht.

„Ich muss mich für die da drinnen entschuldigen. Die meinen das nicht so, schon gar nicht Nick. Der ist eigentlich nicht so, nur vor seinen Freunden zieht er eben eine Show ab.“

Ich hob eine Augenbraue. Was wollte Jason damit bezwecken? Ich meinte, ich fand das wahnsinnig süß von ihm, aber warum tat er das?

„Ja, das hab ich gemerkt.“

„Du musst das verstehen, wir sind hier nicht so an Mädchen gewöhnt.“ Jason grinste etwas verlegen. „Die werden wohl eine Weile Sprüche reisen, aber dann hat sich das.“

„Ich hoffe es“, seufzte ich. „Aber das ist sowieso egal. Damit muss man eben rechnen, wenn man das einzige Mädchen an der Schule ist.“

„Warum bist du eigentlich an der Schule hier?“

„Ist eine lange Geschichte. Kannst du mir vielleicht den Physikraum zeigen?“, versuchte ich vom Thema abzulenken.

„Ja klar.“ Wir liefen die Treppe hoch und irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, Jason erzählen zu wollen, warum ich hier war. Er war so unglaublich nett und ich mochte ihn jetzt schon. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm trauen konnte, aber was, wenn ich mich in ihm genauso täuschte wie in Nick? Immerhin waren die beiden Brüder.

„Hier ist es schon“, sagte Jason. „Danach hast du Chemie, stimmt‘s? Da musst du einfach nur den Gang da runter und dann rechts.“

„Super, danke!“ Ich schenkte Jason das breiteste Lächeln, das ich bei meiner schlechten Laune zustande brachte und er lächelte zurück.

 „Bis dann“, meinte er und ging hastig in die entgegengesetzte Richtung, da er schon spät dran war.

Ich betrat zögernd den Raum. Ein paar Jungs waren schon da, auch der Lehrer, der hinter seinem Pult stand und in seinen Unterlagen blätterte. Unsicher ging ich zu ihm und stellte mich vor.

„Guten Tag, Sir. Ich bin neu hier und ich wollte…“

Er sah auf und lächelte freundlich.

„Ah, natürlich. Ich bin Herr Fluid, bist du auf dem neusten Stand des Stoffs?“

„Nun ja…“

„Na, ich denke du wirst sich die vorangegangenen Aufschriebe von deinen Mitschülern besorgen können.“

„Ja“, sagte ich einfach. Herr Fluid ließ seinen Blick durch die Klasse schweifen, dann nickte er.

„Wie ich sehe, sind die anderen schon alle da.“ Etwas lauter fuhr er fort: „Wenn du dich vielleicht kurz der Klasse vorstellen willst, dann können wir beginnen.“

Ich drehte mich langsam um. Wenn ich eins hasste, dann war das vor Leuten zu reden, die mich anstarrten, als wäre ich ein Alien. Ich räusperte mich.

„Ich heiße Nay Griffin und ich gehe ab heute hier auf die Schule.“ Ich sah mich um, konnte aber nirgends außer in der ersten Reihe einen freien Platz entdecken. Hastig setzte ich mich dort hin, holte mein Schreibzeug und meinen Block aus meiner Tasche und hielt den Blick auf das Papier gesengt.

„Nun, dann lasst uns doch mal wiederholen, was wir letzte Stunde…“, begann der Lehrer, doch ich hörte nicht mehr was er sagte, als eine Stimme dicht an meinem Ohr belustigt flüsterte: „Sorry wegen vorhin.“

Verwundert blickte ich auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mich neben Nick gesetzt hatte. Sein Gesicht schwebte dicht vor meinem und aus irgendeinem Grund begann mein Herz schneller zu schlagen.

„So sauer kannst du ja auch nicht mehr sein, wenn du sogar neben mich setzt.“ Er grinste breit und seine grünen Augen funkelten.

„Das war der einzige freie Platz“, flüsterte ich zurück. Erst jetzt fiel mir wieder ein, was beim Frühstück passiert war.

„Nein, dahinten ist noch einer.“ Er machte mit dem Kopf eine wage Bewegung nach hinten und ich spürte, wie ich rot wurde.

„Hab ich nicht…“

„Würdet ihr euch bitte in der Pause unterhalten und nicht während meines Unterrichts?“, fuhr Herr Fluid uns an.

„Natürlich, Sir“, meinte Nick selbstbewusst und ich starrte wieder meinen Block an.

Irgendwie bekam ich mit, dass es in dieser Stunde um Magnetismus ging. Als ich den Tafelaufschrieb ab pinselte, war ich total unkonzentriert und bekam kaum mit, was ich tat.

Leise seufzend überflog ich nochmal mein Schaubild und zuckte zusammen. Ich hatte „Unterschiedliche Pole ziehen sich an und gleiche Pole ziehen sich aus“ geschrieben. Das Kichern, das ich rechts neben mir vernahm, sagte mir, dass ich nicht die einzige war, die das bemerkt hatte. Mit zittrigen Fingern strich ich den Satz durch und verbesserte ihn hastig.

„Wir sind wohl nicht so ganz bei der Sache, was?“, fragte Nick leise, doch ich antwortete nicht. Meine Güte, der Tag konnte echt nicht schlimmer werden.

 

Chemie war ziemlich lustig. Ich war mit einem recht netten und schüchternen Jungen in einer Projektgruppe und wir verstanden uns gut.

In der Pause vor Sport setzte ich mich auf die große Treppe die zur Eingangshalle führte und zur Pausenhalle diente.

Ich beobachtete die Jungs, die mit einander redeten, lachten oder mich angafften. Ich seufzte schwer. So schlimm war es hier eigentlich gar nicht. Klar, ich kam mir vor wie eine Außerirdische, aber das würde bestimmt irgendwann vergehen. Nick war ein Idiot, aber darüber würde ich schon hinwegkommen. Immerhin musste ich ja nicht die ganze Zeit mit ihm rumhängen. Als der Pausengong ertönte erhob ich mich und stieg zusammen mit einigen anderen Jungs, deren Namen ich immer noch nicht kannte, die Treppe runter zur Sporthalle. Ich sah, dass es nur eine Umkleide gab und erstarrte. Eine Umkleide? Eine?

Nick lief an mir vorbei und drehte sich halb im Laufen um.

„Komm schon, Nay. Wir beißen nicht.“ Die, die ihn gehört hatten lachten und ein paar zwinkerten mir sogar zu. Ich schluckte. Jetzt wusste ich, was Nick heute Morgen gemeint hatte.

„Hast du etwa Angst?“, rief der Kumpel von Nick, mit dem ich heute Morgen schon Bekanntschaft geschlossen hatte. Wütend kniff ich die Augen zusammen und betrat hocherhobenen Hauptes die Umkleide.

Ich vermied es irgendjemand anzusehen, stellte meine Tasche auf die Bank und überlegte. Sie würden mich in Unterwäsche sehen, aber das war ja auch nicht viel anders, als würden sie mir im Freibad begegnen, oder? Dann fiel mir etwas ein. Ich musste meinen Sport-BH anziehen. Mist. Ich traute mich nicht aufzublicken, wer weiß wie viel die alle gerade anhatten, drehte mich zur Wand und schlüpfte aus meiner Jacke. Dann schob ich entschlossen hinten die Hand unter mein T-Shirt und zog meinen BH etwas umständlich durch die Ärmel hindurch aus. Ich stopfte ihn schnell in meine Tasche und holte den Sport.BH heraus, den ich auf dieselbe Weise anzog, wie ich den anderen ausgezogen hatte. Nur mit dem Zumachen war es ein Problem. Normalerweise drehte ich den BH so, dass ich ihn von vorne zu machen konnte, anders konnte ich es nicht wirklich. Schließlich war es geschafft und ich schlüpfte erleichtert aus meinem T-Shirt. Hinter mir ertönte ein anerkannter Pfiff, doch ich beachtete ihn nicht.

Als ich jedoch Hände an meinem Rücken spürte schrie ich erschrocken auf und wollte mich umdrehen, doch der Typ hinter mir hielt mich fest.

„Der ist nicht richtig zu“, hörte ich Nick hinter mir sagen und lief vor Scham und Wut feuerrot an. Als seine Hände wieder weg waren, drehte ich mich wütend um und fauchte: „Tu. Das. Nie. Wieder. Kapiert?“

„Okay. Nächstes Mal mach ich ihn auf und nicht zu“, meinte er schulterzuckend und ich erbleichte. Schnell zog ich mein Sport-Shirt an, schlüpfte in meine Dreiviertel-Jogginghose und Sportschuhe und Band meine langen Haare zu einem Zopf. Die meisten Jungs waren schon  in der Halle und ich folgte ihnen ohne mich noch einmal um zu drehen.

Coach Klein war ein strenger aber fairer Sportlehrer. Das Thema, das wir gerade hatten, brachte mich zum Schmunzeln. Als wir uns nämlich nach dem Aufwärmen Basketbälle holen sollten, wusste ich, dass ich die meisten Jungs, die hier große Töne spuckten locker in die Tasche stecken würde. Mein Onkel war professioneller Basketballer und er hatte mir schon Tricks gezeigt, als ich noch ganz klein war.

Ich prellte erst mal ganz normal mit der rechten Hand und wartete bis der Coach uns Anweisungen gab.

„Okay, übt einfach ein paar von den Tricks, die ich euch letzte Woche gezeigt habe. Einer von euch geht bitte mit Nay zusammen und zeigt sie ihr.“

Ich war angenehm überrascht, dass der Lehrer so locker mit uns redete. Was ich nicht so toll fand, war, dass er Nick zu mir schickte, um mir die Tricks zu zeigen. Ich war vermutlich eh besser. In meinem Kopf reifte ein fieser Plan, wie ich ihn und die anderen reinlegen konnte. Ich grinste böse und sah dem genervten Nick dabei zu, wie er mir Sachen erklärte, die ich längst schon wusste. Bei den Wurf- und Abwehrtechniken stellte ich mich besonders dumm und ließ den Ball mehrmals fallen.

Dann bestimmte Coach Nick und seinen Kumpel, der Mike hieß, als Teamkapitäne, da sie „nicht in der gleichen Mannschaften spielen sollten“ da sie anscheinend die besten Spieler waren. Sie wählten abwechselnd ihre Mitspieler und wie erwartet war ich am Ende übrig und musste sehr zum Unwillen von Mike in sein Team. Na der würde sich wundern. Und Nick erst. Dieser kam auf mich zu und sagte herablassend: „Sorry Kleine, aber ich konnte dich leider nicht in mein Team aufnehmen. Deine sportlichen Fähigkeiten sind nicht auf unserem Niveau.“

„Tatsächlich? Dann pass mal auf.“ Ich ließ ihn stehen und stellte mich auf meine Seite des Spielfeldes.

Dann ging alles ganz schnell. Schon nach wenigen Sekunden hatte Nick den Ball, doch als er an mir vorbei kam, nahm ich ihm ihn so schnell ab, dass er  stehen blieb und mich verdattert anstarrte. Ich preschte vor und gab  an einen Jungen ab, der ebenfalls in meinem Team spielt und dieser Versenkte ihn im Korb.

Meine Mannschaft brüllte begeistert und Nick meinte: „Anfängerglück, Griffin.“ Wow, jetzt waren wir schon beim Nachnamen.

„Wir werden sehen, Shettler“, knurrte ich, doch da ging es schon weiter. Immer wieder nahm ich den Gegnern den Ball ab und wir machten noch einen Punkt bevor die anderen einen Korb erzielten. So ging das hin und her. Wir befanden uns in den letzten verschwitzten Spielminuten und hatten einen Punkt Rückstand. Bis jetzt hatte mir noch keiner aus meiner Mannschaft dann abgegeben wenn ich einen Korb hätte werfen können. Sie vertrauten mir immer noch nicht so ganz. Doch jetzt stand ich in einer perfekten Position. Ich winkte Mike und dieser warf mir einen abschätzenden Blick zu. Dann gab er ab, ich fing und dribbelte los. Ich wich Nick aus, warf und… traf. Wir hatten gewonnen.

Innerhalb von Sekunden war ich von Jungs umringt, die mir auf die Schulter klopften, mich umarmten und wie die Verrückten brüllten.

Nick und sein Team stand noch verblüfft da. Sie konnten einfach nicht fassen was geschehen war.

Ich kämpfte mich frei und ging zu Nick.

„Du hast Recht, Schatz. Ich bin nicht auf deinem Niveau, ich bin drüber.“

Nick zog wütend die Augenbrauen zusammen und ging wortlos auf die Umkleide zu. Mike kam zu mir und strahlte mich fröhlich an.

„Du warst klasse! Ich könnte dich abknutschen.“

„Lass es mal lieber“, meinte ich lachend. Der Coach trat zu uns und meinte: „Nay, kann ich dich kurz sprechen?“

„Klar.“ Ich zuckte mit den Schultern und Mike ging zu dem Rest der Klasse in die Umkleide.

„Du hast ziemlich gut gespielt. Warst du mal in einer richtigen Mannschaft?“

„Ich hab früher mit meinen Cousins und meinem Onkel gespielt. Aber nicht so oft.“ Da meine Mutter der Meinung war, Basketball zu spielen gehöre sich nicht für ein Mädchen.

„Hm. Hättest du vielleicht Lust in der Schulmannschaft zu spielen? Wir trainieren Mittwoch- und Freitagabend um sieben, hier in der Halle. Wenn du Lust hast, komm mal vorbei.“

„Ähm, okay.“ Ich lächelte schüchtern und ging in die Umkleide. Die Luft war seltsam feucht und es waren nur erschreckend wenige Jungs da. Und die, die da waren hatten nasse Haare und waren mit einem Handtuch oder Boxershorts bekleidet. Ich wandte den Blick nach rechts, wo ich eine Milchglastür erblickte.

„Etwa wasserscheu?“, rief irgendjemand, doch ich hob nur eine Augenbraue. Das war nicht ihr ernst. Ich würde ganz bestimmt nicht mit denen in einer Gemeinschaftsdusche… Ich meine, die hatte da drin ja gar nichts an. Und ich hatte keinen Bikini und… Ich beschloss auf meinem Zimmer zu duschen, packte meine Sachen und verließ in Sportklamotten und mit meiner Tasche über der Schulter die Umkleide. Und rannte in Coach Klein hinein.

„Du musst noch duschen“, sagte er prompt, doch bevor er von einer Hausordnung anfangen konnte, sagte ich schnell: „Ich dusche auf meinem Zimmer. Ich hab keinen Bikini dabei und die da drin haben wohl auch nichts. Es ist nicht so schlimm, wenn ich mich bei denen umziehen muss, aber duschen tu ich da ganz bestimmt nicht nackt.“

Der Coach schmunzelte leicht, dann sagte er: „Dann ist es okay. Aber in der Schulordnung steht deutlich, dass die Schüler nach dem Sport hier duschen müssen. Ich rede kurz mit denen da drin und nächstes Mal nimmst du dir eben was mit, wir können hier keine Extraregeln machen.“

„Ja klar“, murmelte ich und stieg die Treppen hoch. Ich duschte oben hastig, zog mich an und ging mit noch nassen, blutroten Haaren in den Speisesaal. Ich achtete nicht auf die anderen und stolzierte zur Essensausgabe. Dann steuerte ich mit meinem Tablett zu einem freien Tisch und begann dort zu essen. Ich hatte ziemlichen Hunger. Während ich das gelbe Zeug – was immer es darstellen sollte, es schmeckte gut – in mich rein schaufelte, blendete ich alles um mich herum aus und überlegte, was ich heut noch machen musste. Ich würde die Physik- und Chemiehausaufgaben am besten noch heute machen, oder zumindest anfangen. In Physik mussten wir einen dummen Text über Magnetismus schreiben und in Chemie ein Protokoll über den heutigen Versuch zu Halogeniden. Außerdem wollte ich Nick bitten mir seine Aufschriebe von diesem Jahr zu geben. Das konnte nicht viel sein, das Schuljahr hatte ja eben erst angefangen, und ich wollte so schnell wie möglich auf dem neusten Stand sein. Außerdem würde ich zuhause anrufen. Ich hatte das Gefühl mich melden zu müssen, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es meinen Eltern egal war, wie es mir hier erging.

Jemand setzte sich neben mich und riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Ich hob den Kopf und erblickte Jason und Ben.

„Du hast meinen Bruder also beim Basketball abgezockt?“

„Das wird mächtig an seinem Ego gekratzt haben“, fügte Ben hinzu.

„Woher wisst ihr das?“, fragte ich.

„Das weiß mittlerweile jeder. Sehr zum Unwillen von Nick“, meinte Jason grinsend.

„Darüber freut ihr euch aber?“

„Tja, Schadenfreude ist die schönste Freude.“

„Na dann.“ Ich grinste schief.

„Hast du heute schon was vor?“, fragte Jason.

„Warum denn?“

„Unsere Band probt heute im Musiksaal. Wenn du Lust hättest…“

„Ihr habt eine Band?“ Ich lehnte mich zurück und hörte Jason interessiert zu. Wie konnte so ein netter Kerl mit Nick verwandt sein? Und außerdem war er nur ein Jahr jünger als ich, und trotzdem einen ganzen Kopf größer.

„Ja. Ben hier ist Schlagzeuger, ich Gitarrist und dann haben wir noch Charles unseren Bassisten.“

„Und wer singt?“, fragte ich grinsend, obwohl ich es mir schon denken konnte.

„Jason“, meinte Ben.

„Cool. Wie heißt eure Band denn?“

„Naja, wir spielen zwar schon seit einem halben Jahr, aber einen Namen haben wir trotzdem nicht.“ Jason zuckte mit den Schultern. „Also, kommst du?“

Ich wollte gerade zusagen, als mir mein vollgepackter Tag wieder einfiel.

„Liebend gern, aber ich kann nicht. Ich muss mich noch auf den neusten Stand bringen, weil ich ja die ersten zwei Wochen verpasst hab.“

„Schade“, meinte Ben. „Warum bist du eigentlich erst jetzt gekommen?“

„Ach, es gab… Komplikationen. Meine Eltern haben sich quer durch unsere Villa hindurch angeschrien, unser Chauffeur war krank und nichts ist so gelaufen wie es sollte.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wie sonst auch. Naja, ich geh dann mal, die Hausaufgaben warten. Bis bald, Jungs!“ Und damit stand ich auf und ging in mein Zimmer.

Nick war nicht da und ich machte erst mal Hausaufgaben. Ich war schon nach einer halben Stunde fertig, schneller als gedacht. Nick war immer noch nicht da, aber ich entdeckte seine Schultasche am Fußende seines Bettes. Ich zögerte. Sollte ich mir einfach seine Sachen rausholen? Nein. Ich wühlte nicht in anderer Leute Sachen. Zuhause wollte ich aber auch nicht anrufen. Das würde ich mir bis heute Abend aufheben. Ich ging ein bisschen im Zimmer hin und her, aber Nick kam nicht. Mein Blick wanderte zu seiner Tasche. Mein Gott, der würde dort schon keine Leichen drin haben. Entschlossen hob ich die Tasche auf und öffnete sie.

„Was tust du da?“

Ich fuhr erschrocken herum und sah Nick in der Türe stehen. Und da haben wir den Schlamassel.

„Ich wollte nur… Ich habe… wegen…“ Warum genau brachte ich keine anständigen Sätze raus?

„Was wolltest du mit meiner Tasche?“, fragte Nick ärgerlich, kam auf mich zu und nahm sie mir aus der Hand.

„Ich… Ich hab auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen und ich brauch ja noch die Aufschriebe von den letzten zwei Wochen und weil du eben nicht da warst, dacht ich, ich schau mal in deiner Tasche und… ja.“ Ich sah ihn etwas verängstigt an, obwohl er mich ja wohl kaum schlagen würde oder was auch immer. Jetzt glätteten sich seine Gesichtszüge endlich wieder.

„Sag mal, hast du etwa Angst vor mir?“ Ich hörte leichte Belustigung in seiner Stimme, als er noch einen Schritt auf mich zu machte.

„Nein.“ Ich musste den Kopf in den Nacken legen um ihn ansehen zu können, so dicht wie er vor mir stand. Ich wollte zurück weichen, stieß gegen die Bettkante und setzte mich prompt auf sein Bett. Nick kicherte leise, nahm einen Leitzordner aus seiner Tasche und warf ihn mir in den Schoß.

„Bitte schön.“

„Ähm, danke.“ Ich rappelte mich auf und verzog mich wieder an den Schreibtisch um seine Aufschriebe zu übertragen und meinen peinlichen Auftritt von eben zu vergessen.

 

Nach dem Abendessen, bei dem ich positiv überrascht von Jason und Ben an ihren Tisch gewinkt wurde und sie mir unter anderem ihren Bassisten Charles, sehr sympathisch, wenn auch ziemlich schräg drauf, vorstellten, war ich bald wieder auf meinem Zimmer. Nick saß auf seinem Bett und las in irgendeinem Schulbuch um sich auf den Unterricht am nächsten Tag vorzubereiten. Der Junge war fleißig, das musste man ihm lassen. Da ich es wohl nicht länger aufschieben konnte, ließ ich mich auf mein Bett sinken und holte mein Handy hervor. Ich wählte die Nummer von zuhause und wartete.

„Miranda Griffin, guten Abend?“, meldete sich eine steife Stimme.

„Hi Mum.“

„Oh, Nanayda! Wie geht es dir?“, fragte sie überrascht mit geheucheltem Interesse.

„Gut. Wir machen in Sport gerade Basketball.“ Warum erzählte ich ihr das?

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass dies kein Sport für Mädchen ist?“, meinte meine Mutter nach einer kurzen Pause.

„So um die tausend Mal. Aber dir ist klar, dass ich hier nicht auf einem Mädcheninternat bin, oder?“ Ich sah wie Nicks Mundwinkel zuckten, doch er sah immer noch konzentriert in sein Buch.

„Sehr zu meinem Missfallen, Nanayda, und das weißt du.“

„Kannst du mich nicht einfach Nay nennen, so wie jeder andere auch?“

„Kind, seit du es dir in den Kopf gesetzt hast auf das Harrison-Springer zu gehen, bist du noch respektloser als früher.“

Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Und lass dir eins gesagt sein, sobald ich irgendeinen Grund sehe, dich von dieser Schule zu holen, steck ich dich in das katholische Mädcheninternat, in dem ich war. Das ist viel geeigneter für dich!“

„Das stimmt doch gar nicht!“, rief ich genervt und sprang auf.

„Nicht in diesem Ton, junges Fräulein.“

Ich atmete tief durch und schloss die Augen. „Ist John noch wach?“

„Ja.“

„Kann ich ihn bitte sprechen?“

„Aber nicht zu lange.“ Ich hörte es rascheln und nach wenigen Sekunden ein freudiges: „Nay!“

„Hey mein Schatz“, sagte ich lächelnd und setzte mich wieder.

„Ich vermiss dich ganz arg. Ohne dich ist es voll langweilig hier“, quengelte mein kleiner Bruder.

„Ich vermiss dich auch, Kleiner.“

„Ich bin überhaupt nicht klein! Und ich bin jetzt schon in der zweiten Klasse.“

„Ja ich weiß. Du bist ein ganz großer Junge“, lachte ich. Ich liebte meinen kleinen Bruder über alles und er war das einzige, dass ich von zuhause vermisste.

„Ich hab heute in der Schule ein Bild von dir gemalt!“

„Wirklich? Das ist ja toll.“

„Ja. Und meine Lehrerin hat gemeint, dass es richtig schön geworden ist. Willst du‘s sehen?“

„Klar“, meinte ich traurig.

„Okay, warte ich hol es.“ Nach einer Minute war mein Bruder wieder am Hörer und ich konnte mir richtig vorstellen, wie er das Bild in die Höhe hob. Als könnte ich es so sehen.

„Also, da bist du und da bin ich. Und da hinten ist unsere Hollywoodschaukel, da sitzen Mama und Papa drin.“ Wie lange war es her, dass meine Eltern zusammen da drin gesessen hatten? Überlegte ich bitter. „Und da ist der Apfelbaum, ich hab sogar das Baumhaus reingemalt.“

„Das ist klasse.“

„Ja, und da… Nein, Mama! Ich will noch weiter mit Nay reden!“

„Nein, du musst jetzt ins Bett, es ist schon spät“, hörte ich meine Mutter sagen.

„Komm John, geh ins Bett. Es ist wirklich schon spät“, meinte ich.

„Na gut. Singst du mir ein Schlaflied?“, fragte John und mein Blick zuckte zu Nick, der mich inzwischen interessiert musterte.

„Ein anderes Mal, okay?“

„Okay. Gute Nacht!“

„Gute Nacht, John.“ Ich legte auf und starrte mein Handy an. Ich vermisste den Kleinen wirklich. Und ich freute mich schon auf die Ferien, wenn ich ihn endlich wiedersehen würde.

„War das gerade dein Bruder, mit dem du gesprochen hast?“, fragte Nick. Ich sah auf und war überrascht, dass er mal nicht belustigt oder herablassend klang.

„Ja.“

„Wie alt ist er?“

„Erst sechs.“

Nick setzte sich auf und musterte mich.

„Du vermisst ihn.“

„Ja sehr.“

„Beantwortest du mir jetzt meine Frage von gestern?“

Ich wusste sofort was er meinte. Warum ich auf diesem Internat war. Ich seufzte und sah aus dem Fenster. Draußen begann es bereits dunkel zu werden, obwohl es erst neun Uhr war. Der Herbst hatte begonnen.

„Ich bin hier, weil… Weißt du, das ist ziemlich kompliziert. Ich weiß nicht wie ich dir das erklären soll.“

„Versuchs einfach.“

„Ach… Mein Leben lang hab ich zu spüren bekommen, wie enttäuscht mein Vater war, dass er eine Tochter als Erstgeborenen hat und nicht einen Sohn. Den Anforderungen meiner Mutter hab ich sowieso nie genügt weil ich nicht brav rumsitzen und einen auf wohlerzogene Tochter machen wollte. Dann, als ich zehn war, wurde John geboren und meine Eltern haben mich kaum noch beachtet, höchstens mal um mich anzumotzen oder um mich zu ermahnen dies oder jenes zu tun. Ich hab einfach versucht, ihnen so zu genügen, wie ich bin, aber… Naja. In meiner Familie ist es schon seit Generationen so, dass die Erstgeborenen auf diese Schule gehen. Und es gab auch seit Generationen kein Mädchen als Erstgeborene und weil mein Vater ebenso enttäuscht war… Da hab ich mir in den Kopf gesetzt auf diese Schule zu gehen und ihm zu zeigen, dass ich genauso gut sein kann.“ Ich hatte Nick längst ausgeblendet und redete nur zu mir selbst. „Ich wollte einfach, dass er stolz auf mich ist. Erst hat er mich ausgelacht und gemeint, dass ich nie hier aufgenommen werden würde. Aber nachdem ich bei der Aufnahmeprüfung ziemlich gut war, hat er mir erlaubt herzukommen. Meine Mum war total dagegen, aber die streiten sich sowieso die ganze Zeit, deshalb war es mir egal.“ Ich zuckte mit den Schultern und sah Nick wieder an. Eine Weile blickten wir uns einfach nur in die Augen und ich wünschte mir in einer wahnsinnigen Sekunde, dass zu mir kommen und mich in den Arm nehmen würde.

Doch dann sah Nick weg und meinte: „Es ist noch nicht mal halb zehn, soll ich dir vielleicht den Aufenthaltsraum und so zeigen?“

„Ja klar.“ Eigentlich hatte ich keine Lust aufzustehen, aber früher oder später sollte ich mich allein im Internat zu Recht finden können und ich hatte bis eben noch gar nichts von einem Aufenthaltsraum gewusst.

Wir verließen unser Zimmer und Nick begann unbeschwert zu reden: „Unten neben dem Speisesaal gibt’s übrigens eine Bibliothek. Aber da drin darfst du keinen Mucks von dir geben sonst rastet die Bibliothekarin aus. Und mit der ist nicht zu spaßen.“ Nick lachte. „Nein, im Ernst. Unten bei der Sporthalle ist übrigens auch eine Schwimmhalle, aber die ist nur am Wochenende für Schüler offen, es sei denn man ist im Schwimmteam.“

„Was gibt’s hier eigentlich sonst noch, außer Basketball und Schwimmen?“

„Naja, also es gibt einen Musiksaal, da wo Jason mit seiner Band übt. Von der hat er dir doch erzählt, oder? Der Kleine gibt ständig damit an.“ Nick schüttelte grinsend den Kopf. „Aber sie sind schon ganz gut. Jedenfalls, in dem Musiksaal kann man spielen, sofern man ein Instrument hat. Ein Klavier steht auch drin. Tja dann gibt es noch den Schachclub, frag mich aber nicht wann und wo der ist, da hab ich keine Ahnung.“

„Ach wirklich? Wahrscheinlich bist du ihr Clubanführer“, sagte ich feixend und Nick verdrehte die Augen.

„Ich bin Kapitän im Basketballteam und kein Schachclub…Dings.“

„Schon gut, Angeber.“

„Da sind wir schon.“ Nick öffnete eine Tür die sich von den anderen durch das Milchglasfenster oben unterschied und wir betraten den Aufenthaltsraum.

Hier gab es einen Tischkicker, eine Sofaecke und ein paar Tische mit Stühlen. Es war ziemlich warm hier drin und bis auf drei Jungs leer. Ich mochte den Raum sofort. Ich warf einen Blick auf die Uhr, die an der Wand hing. Es war jetzt halb zehn.

 

Am nächsten Morgen wachte ich noch vor dem Wecker auf. Da die Vorhänge nicht geschlossen waren, konnte man nach draußen sehen. Es war noch dunkel, doch das satte Blau des Himmels kündigte die baldige Dämmerung an. Ich seufzte zufrieden und kuschelte mich tiefer in meine Decke.

Gestern Abend hatte Nick mich beim Tischkicker so abgezockt, dass es fast schon peinlich war, aber es hatte unheimlich Spaß gemacht. Anschließend hatten wir uns übertrieben vorsichtig zurück ins Zimmer geschlichen, da es schon nach zehn gewesen war und Nick erzählt hatte, dass der Hausmeister die Gänge kontrollierte um armen Schülern, die noch nicht auf ihren Zimmern waren, Strafen aufzubrummen.

Ich gähnte und drehte mich auf die Seite. Nick lag friedlich mit geschlossenen Augen da. Ich grinste schief und beobachtete ihn beim Schlafen. So sah er eigentlich total harmlos und lieb aus. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln und ich runzelte die Stirn. Nein, nein. Nick war ein Arschloch. Ich sah auf meine Armbanduhr die auf meinem Nachttisch lag. Sechs Uhr. Ich fühlte mich hell wach und wollte nicht still rumliegen. Ich holte meinen Laptop vom Schreibtisch und setzte mich mit ihm aufs Bett. Ich checkte meine Mails. Auf den ersten Blick war nichts Interessantes dabei. Drei Spammails, Werbung von Amazon und meinem E-Mail-Service. Nachdem ich den ganzen Müll gelöscht hatte blieb nur noch eine mit unbekanntem Absender übrig. Ich öffnete sie zögernd und begann zu lesen.

 

 

Sehr geehrte Nanayda Griffin,

 

wir freuen uns, Sie hier an dem Harrison-Springer Internat willkommen zu heißen.

Wir bitten Sie ausdrücklich sich an die Schulordnung zu halten und sich vorbildlich zu verhalten.

Auch wollen wir Sie auf unsere außerschulischen Angebote hinweisen. Wir haben eine ein Basketball- und ein Schwimmteam sowie einen Schachclub und ein Musikzimmer in dem selbstständig musiziert werden darf.

Außerdem bitten wir Sie zu beachten, dass das Verlassen des Internatsgeländes nur an jedem zweiten Wochenende und in den Ferien mit einem Schulbus gestattet ist, es sei denn, es gibt private Gründe und eine Erlaubnis der Erziehungsberechtigten.

 

Herzlichst,

die Schulleitung.

 

 

Ich hob eine Augenbraue. Das sah mir ziemlich nach einem Formbrief aus. Ich löschte die Mail und schaltete meinen Laptop wieder aus. Es war fast halb sieben also würde gleich der Wecker klingeln. Ich tapste im Dunkeln ins Bad und stieß mir den Fuß an Nicks Bettkante. Dieser schlief selig weiter. Kopfschüttelnd steckte ich mir im Bad die Haare hoch und stieg kurz unter die Dusche. Das eisige Wasser weckte mich vollständig auf. Ich wickelte mich in ein Handtuch und warf einen Blick in den Spiegel. Ich sah viel besser aus als gestern Morgen und fühlte mich auch viel besser. Ich schenkte meinem Spiegelbild ein Lächeln und ging zurück ins Zimmer um mir Kleidung zu holen. Es brannte schon Licht und Nick grinste mich Bett aus breit an.

„Was gibt es schöneres als den Anblick einer halbnackten Frau in den frühen Morgenstunden?“, fragte er und ich verdrehte die Augen.

„Hör auf so geschwollen zu reden, Schatz, oder ich hacke dir die Zunge ab auf dass du für immer schweigest und Buße tust für deine sündige Wortwahl.“

Nick lachte und ich verschwand mit meinen Klamotten stumm grinsend wieder im Bad.

Als Nick fertig war liefen wir runter zum Frühstück. Wenn ich ehrlich war hatte ich etwas Bammel, dass wieder dumme Kommentare kommen würde, aber damit musste man eben rechnen.

Wir hatten heute in der zweiten Stunde Geschichte und ich freute mich schon ziemlich darauf. Geschichte war eines meiner besten Fächer, ich konnte mir Jahreszahlen einfach super merken. Davor hatten wir zwar noch Französisch, was ich total hasste, aber trotzdem.

Als wir den Speisesaal betraten schwappte eine Welle Lärm über uns. Die Schüler hatten sich in der Mitte des Saals versammelt, dort war es am Lautesten.

„Was ist da los?“, fragte ich Nick.

Dieser runzelte die Stirn und seufzte. Dann sagte er, ohne mich anzusehen: „Ich glaube nicht, dass du das wissen willst.“

Verwirrt sah ich von Nick zu der Menschenansammlung und wieder zurück. Dann beschleunigte ich meine Schritte um selbst nachzusehen, da man aus Nick ja nicht schlau wurde.

Ich drängelte mich ganz nach vorne und was ich sah, ließ mich erstarren. Zwei Jungs prügelten sich und zwar aufs Übelste. Sie bluteten beide im Gesicht, aber keiner ließ vom anderen ab.

„Hört doch auf!“, rief ich durch das Stimmengewirr um mich herum. „Warum schlagen sie sich? Warum beendet das denn niemand?“, fragte ich den Typ neben mir. Ich kannte ihn nicht, aber ich glaubte, dass er in meiner Stufe war. Er sah mich überrascht an, dann sagte er herablassend: „Ist doch egal warum. Und wenn sich da einer einmischt, kriegt er nur selbst was ab.“

Plötzlich stand Nick neben mir.

„Komm mit, dahinten kommt ein Lehrer, wenn er uns gleich in der ersten Reihe sieht, bekommen wir auch Ärger.“

Er packte mich von hinten an den Oberarmen und zog mich weg. Tatsächlich kam da ein Lehrer fuchsteufelswild an und trennte die Streithähne.

„Try und Jason! Schon wieder? Ab zum Direktor, aber sofort!“, rief er und schleifte die beiden nach draußen.

„Moment mal, der eine war doch Jason. Dein Bruder!“

„Ja“, sagte Nick.

„Warum hast du ihm nicht geholfen?“, fragte ich entgeistert.

„War sein Streit, nicht meiner. Außerdem macht er das ständig. Am Anfang hab ich ihn immer rausgehauen, aber ich glaub der muss es selber lernen.“

„Jason prügelt sich oft? Aber warum denn?“

„Keine Ahnung.“

Plötzlich fiel mir auf, dass Nick mich immer noch festhielt und ich mich an ihn lehnte. Ich wusste nicht, ob ihm das schon aufgefallen war, und irgendwas in mir wollte nicht, dass ich ihn von mir wegschob. Mein Herz raste. Teils vor Aufregung und Angst um Jason und teils wegen Nick, dessen Körperwärme durch mein Oberteil drang und mich ganz kribblig machte. Ich schluckte und wollte etwas sagen, doch Nick kam mir zuvor.

„Wir sind spät dran, wir sollten zum Unterricht.“ Er ließ mich aber nicht los und machte auch keine Anstalten zu gehen.

Die Halle hatte sich schnell geleert. Mein Magen knurrte laut und Nick lachte leise.

„Wir müssen wohl hungrig zum Unterricht.“

„Mhm“, machte ich, da ich meiner Stimme gerade nicht traute.

Nick nahm meine Hand und zog mich aus dem Speisesaal, die Treppen hoch und durch die Flure des ersten Stocks. Erst als ich unsere Klasse sah und die ersten in unsere Richtung zeigten und lachten, erwachte ich aus meiner Starre und riss meine Hand los.

„Hast aber lang gebraucht“, meinte Nick grinsend und ging zu seinem Kumpel Mike. Ich verdrehte die Augen und lehnte mich an die kühle Wand um mich mental auf Französisch vorzubereiten. Es war mein absolutes Hassfach.

Meine Mutter hatte mich ja bis jetzt hauptsächlich zuhause unterrichten lassen und so hatte ich auch Privatunterricht für die wichtigsten Tugenden eines Mädchens erhalten, wie sie es nannte. Ich nannte es dummes Zeug beigebracht kriegen, dass mich nicht interessiert. Gut, den Klavierunterricht hatte ich geliebt, bis sie meinen coolen Lehrer durch einen alten Freak ausgetauscht hatte, aber Tanzen, Singen, Französisch und Handarbeit hasste ich auf den Tod. Ich meine, wir leben im 21. Jahrhundert, hallo?

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, da ein untersetzter Mann, der vermutlich unser Lehrer war, die Klassenzimmertür aufschloss und die anderen hinein stürmten. Gemächlich folgte ich ihnen, da ich sowieso erst sitzen konnte, wenn ich sah, wo frei war.

„Ah, du bist bestimmt unsere neue Mitschülerin“, flötete der Lehrer mir mit so starkem Akzent entgegen, dass ich ihn fünf Sekunden verständnislos anstarrte, bis ich verstand, lächelte und nickte.

„Ja, mein Name ist Nay Griffin.“

„Ah, wie schön! Willkommen in unserer Schule.“ Hinter mir grölte die Klasse ein Willkommen und ich lief vor Scham rot an. „Du darfst keine Angst vor den Jungens haben. Sie sind wie Hunde, die bellen aber niemals beißen.“

„Ähä“, machte ich wenig überzeugt.

„Mein Name ist übrigens Monsieur Louren. Setz dich doch. Wo ist denn noch Platz?“ Fragend ließ er seinen Blick durch die Klasse schweifen. „Ah, dort bei Felix.“

Erleichtert setzte ich mich zu dem unscheinbaren Jungen und erkannte ihn sofort als meinen Chemiepartner wieder.

„Hi“, meinte er und ich schenkte ihm ein Lächeln.

Monsieur Louren begann mit dem Unterricht und redete natürlich die ganze Zeit Französisch. Ich verstand zwar fast alles, trotzdem sank meine Laune immer weiter, je länger ich ihm zuhören musste.

„Nun denn, lesen wir Lektion 3 A. Nick, wenn ich bitten darf.“

Ich hielt meinen Blick starr auf den Text in meinem Buch gerichtet, doch als Nick zu lesen, besser gesagt vorzutragen begann, konnte ich nicht anders, als ihn anzusehen. Er saß zwei Reihen schräg vor mir, sodass ich sein Profil sehen konnte.

 

„Il pleure dans mon cœur

Il pleure dans mon cœur

Comme il pleut sur la ville;

Quelle est cette langueur

Qui pénètre mon cœur?

 

Ô bruit doux de la pluie

Par terre et sur les toits!

Pour un cœur qui s'ennuie,

Ô le chant de la pluie!

Il pleure sans raison

Dans ce cœur qui s'écœure.

Quoi! Nulle trahison?...

Ce deuil est sans raison.

 

C'est bien la pire peine

De ne savoir pourquoi

Sans amour et sans haine

Mon cœur a tant de peine!“

 

Nicks Stimme hatte beim Lesen rau und leise geklungen. Mein ganzer Körper kribbelte wie verrückt und ich schien Französisch aus seinem Mund zu lieben anstatt zu hassen. Seine Aussprache war perfekt und als er jetzt auf Monsieur Lourens Frage, worum es in dem Gedicht ging, beantwortete, sprach er, als wäre es seine Muttersprache.

„Woher kann er das so gut?“, fragte ich Felix flüsternd.

„Seine Mutter ist Französin“, erklärte er mir ebenso leise. „Seine Familie hat eine Villa in Frankreich, da gehen sie jeden Sommer hin.“

„Oh, wow.“

„Nay, wenn du dich mit Felix schon über das Gedicht unterhältst, kannst du für die Klasse noch mal den Inhalt wiederholen?“, fragte der kleine Lehrer und ich brauchte kurz um auf die andere Sprache umzustellen.

„Also, das ähm, lyrische Ich ist ähm, sehr traurig und sein Herz…schmerzt ohne Grund“, stotterte ich.

„D’accord“, stimmte er mir zu und fuhr mit dem Unterricht fort. Meine Stotterei hatte für einige Lacher gesorgt und ich ließ mein Gesicht deprimiert auf meine Arme auf dem Tisch sinken. Das war ja mal eine Vollblamage gewesen.

 

Also ich eine gute Stunde später im Geschichtsunterricht saß hatte das Wetter umgeschlagen und dicke Regentropfen prasselten gegen die Fenster des Internats. Ich starrte auf den Bildschirm des alten Fernsehers und versuchte mich auf den Lehrfilm zu konzentrieren. Im Zimmer war kein Licht eingeschalten und von draußen drang nur schummriges Licht nach drinnen. Die meisten Jungs lagen halb auf ihren Tischen und dösten vor mich hin. Nick, der neben mir saß, sah aufmerksam den Film, während ich meinen Blick zwischen dem Fenster, dem Bildschirm und ihm hin und her wandern ließ. Irgendwann blieb ich wohl bei seinem Gesicht hängen und sah nicht rechtzeitig weg, als er plötzlich den Kopf drehte und sich zu mir beugte.

„Ich hab ja eigentlich kein Problem damit, wenn du mich anstarrst, aber du solltest nicht vergessen zu atmen, Süße“, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich wollte ihn schon empört anfauchen, musste aber tatsächlich erst nach Luft schnappen. Während ich noch nach einer schlagfertigen Antwort suchte, drehte er sich schon wieder weg und verfolgte den Film weiter.

Die restliche Stunde lang sah ich wütend auf Nick, aber vor allem auf mich selbst aus dem Fenster.

In Mathe war ich geistig voll anwesend und rechnet die Übungsaufgaben schnell und richtig durch. Ich war zwar etwas enttäuscht vom Geschichtsunterricht, da wir nur den Film gesehen hatte und als Hausaufgabe eine Zusammenfassung über ihn schreiben mussten, doch der Matheunterricht war richtig toll. Der Lehrer war jung und noch voller Elan. Er freute sich, dass ein Mädchen am Harrison Springer angenommen worden war, da er meinte, Jungs könnten von Mädchen viel lernen. Daraufhin hatten alle gelacht, sogar ich, und er hatte sich mit den Worten „DAS hatte ich jetzt nicht gemeint“ rausgeredet.

Die Stunde war schnell herum und als es klingelte lief ich gut gelaunt in den Speisesaal. Als ich mir ein Tablett mit Essen geholt hatte hielt ich Ausschau nach Jason. Schnell hatte ich ihn allein an einem Tisch gefunden.

„Hi“, sagte ich vorsichtig und setzte mich neben ihn.

Er räusperte sich und drehte den Kopf weg.

„Hi, wie geht’s so?“

„Vermutlicher besser als dir“, meinte ich, legte eine Hand an sein Kinn und drehte sein Gesicht vorsichtig zu mir. Erschrocken riss ich die Augen auf, als ich das blaue Auge und die geschwollene Lippe sah.

„Das ist jetzt nicht so schlimm wie’s aussieht“, meinte Jason und lächelte mich schief an. Schief deshalb, da er seine eine Lippe anscheinend nicht richtig bewegen konnte.

„Oh verdammt. Ich hoffe der andere sieht wenigstens genauso schlimm aus wie du“, meinte ich und unterdrückte die Tränen.

Jason sah mich verblüfft an.

„Keine Moralpredigt? Und der andere sieht schlimmer aus als ich.“

„Die Moralpredigt kommt noch, ich bin grade zu geschockt.“

„Hey, mir geht’s echt super“, versuchte er mich zu beruhigen.

„Sicher. Worum ging’s denn?“, seufzte ich frustriert und begann zu essen.

„Nicht so wichtig.“

„Ich bitte dich! Dein Gesicht sieht aus als wär eine Planierraupe drüber gefahren!“

„So schlimm?“, fragte er unsicher.

„Ja!“

Plötzlich schlich sich wieder so ein schiefes Grinsen in sein Gesicht.

„Du machst dir Sorgen um mich“, stellte er fest. „Wie süß.“

„Klar mach ich mir um dich Sorgen! Aber daran ist nichts süß. Weil, wenn du mich nochmal dazu bringst mir Sorgen zu machen, bring ich dich um, ich schwör es dir!“ Böse funkelte ich ihn an doch er lachte nur und verwuschelte mir die Haare.

„Du bist echt niedlich.“

„Nein“, sagte ich beleidigt. „Ich bin außerdem älter als du, also hab mal Respekt.“

„Fällt mir schwer, sorry.“ Und dann brach er in Gelächter aus. Nach einer fassungslosen Sekunde lachte ich mit, bis mir der Bauch wehtat.

„Also, Jason“, sagte ich, als wir uns wieder beruhigt hatten. „Wo ist eigentlich Ben?“

„Der ist krank.“

„Oh, der Arme. Was ernstes?“

„Nee. Nur so eine 24-Stunden-Sache.“

„Ah, okay. Sag ihm gute Besserung von mir.“

„Klar. Was machst du heute noch so?“, fragte er.

„Vermutlich Hausaufgaben. Und du?“

„Vermutlich Hausaufgaben.“ Er grinste. Als wir fertig gegessen hatten beschlossen wir zusammen in die Bibliothek zu gehen und Hausaufgaben zu machen.

Ich schrieb die gewünschten zwei Seiten für meinen Geschichtslehrer, während Jason sich mit Mathe abmühte.

Als ich fertig war und das Französische Gedicht rausholte, das wir übersetzen sollten, sah mich Jason hilfesuchend an.

„Ich bin am Verzweifeln. Ich hasse Strahlensätze!“, stöhnte er leise und ließ den Kopf auf den Tisch sinken.

„Ich habe eine Idee. Du übersetzt für mich dieses Mist und ich rechne deine Aufgaben.“ Ich schenkte ihm meinen schönsten Augenaufschlag, den ich auf Lager hatte und er grinste.

„Einverstanden.“

Und so machten wir es dann. Jason war schnell fertig, ich aber auch. Wir verließen die Bibliothek und gingen nach draußen. Es regnete nicht mehr, also schlenderten wir über die Wiese, die an das Internat angrenzte und redeten über dies und das.

Ich wusste nicht wie, aber irgendwann fiel mir ein, dass Jason mir eine Frage noch nicht beantwortet hat.

„Sagst du mir, warum du dich geprügelt hast?“, fragte ich vorsichtig. Wir hatten uns auf einen trockenen Steinvorsprung gesetzt und beobachteten einen kleinen See, der hinter dem Internat lag.

„Ach das… Du wirst es nicht verstehen.“

„Erklär es mir.“

„Der andere… Try hat mich sozusagen herausgefordert.“

„Aha. In wie fern?“

Jason leckte sich nachdenklich über die Lippen. „Er hat mich Schwächling genannt.“

„Und deshalb schlägst du ihn?“, quiekte ich.

„Nein… Er hat mich geschubst und meinte ich könnte mich ja eh nicht wehren. Ich weiß auch nicht. Das ist schon so, seit wir hier auf der Schule sind. Wir provozieren uns wohl ständig gegenseitig immer.“

„Du bist doof, weißt du das?“, fragte ich und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter.

Er legte einen Arm um mich und sagte scherzhaft: „Sind wir das nicht alle irgendwie?“

Ich lachte leise. Es fühlte sich schön an, so bei Jason zu sein, aber ich musste die ganze Zeit an seinen großen Bruder denken. Ich bekam ein schlechtes Gewissen und lehnte mich wieder unauffällig von ihm weg.

„Ich glaube, ich geh lieber wieder rein, muss noch was für die Schule machen“, sagte ich und sprang auf. Plötzlich fühlte ich total unwohl. Jason sah mich überrascht an.

„Äh, ja klar.“ Er stand auch auf und wir liefen schweigend wieder nach drinnen. Die warme Luft strich mir über die Wangen während ich schnell durch die Eingangshalle ging.

Im zweiten Stock verabschiedete ich mich hastig von Jason und ging in mein Zimmer. Dort ließ ich mich frustriert seufzend auf mein Bett fallen.

Warum zur Hölle dachte ich ständig an Nick? Warum hatte seine Stimme so verdammt toll geklungen als er vorgelesen hatte? Und warum konnte ich nicht bei Jason sein, ohne ihn mit seinem älteren Bruder zu vergleichen?

„Alles klar?“, tönte es skeptisch neben mir, doch ich trat mir nur die Schuhe von meinen Füßen und drehte mich genervt stöhnend zur Wand. Eine Unterhaltung mit Mister Ich-bin-viel-heißer-als-der-Rest-der-Welt hätte mir jetzt grade noch gefehlt.

 

Den Mittwochvormittag brachte ich hinter mich ohne ein einziges Mal mit Nick oder Jason zu reden. Was eigentlich sehr einfach war, da ich Jason nicht einmal begegnete und Nick in keinem der Fächer neben mir saß.

In Englisch behandelten wir gerade Der Herr der Fliegen von William Golding. Ich hatte das Buch bereits bearbeitet und wollte meine Mutter bitten, mir meine alten Aufschriebe zu schicken. In Biologie hörte ich kaum zu und in Erdkunde betrachtete ich auch lieber den See und die große Wiese, die man vom Unterrichtsraum aus sehen konnte.

Als ich zum Mittagessen schlenderte, wanderte mein Blick über alle Gesichter, die mir entgegen kamen und versuchte ihnen Namen zuzuordnen. Es war erschreckend, wie wenige ich erkannte. Während ich mit meinem Tablett in den Händen nach einem freien Tisch umsah, ging ich in Gedanken meine näheren Bekannten durch. Nick, Jason, Jasons Kumpel Ben, mein Chemiepartner Felix und irgendwie auch Mike, Nicks bester Freund.

Ich sah einen freien Platz und steuerte zielsicher auf ihn zu. Ohne die Jungs, die an dem Tisch saßen zu beachten, stellte ich mein Essen ab und setzte mich.

„Oh, hi Nay“, hörte ich plötzlich eine etwas schüchterne Stimme. Ich sah auf und erblickte Felix, der mir schräg gegenüber saß. Neben ihm saßen noch zwei andere Jungen, die ich aber nicht kannte.

„Hey Felix, sorry, ich hab dich erst gar nicht gesehen.“ Ich lächelte ihn freundlich an und seine Wangen wurden zart rosa.

„Ja… Ähm, das sind übrigens Timothy und Stan“, stellte er seine Freunde vor und ich schenkte ihnen auch ein Lächeln.

„Und, wie geht’s so?“, fragte ich und versuchte ein Gespräch aufzubauen. Stan trug eine Brille und seine braunen Korkenzieherlocken hingen über den oberen Rand der Gläser, sodass man seine Augen nur erahnen konnte. Timothy hingegen hatte glatte schwarze Haare, die plattgedrückt auf seinem Kopf lagen. Felix sah aus, wie eine Mischung der beiden und sie alle schienen mir ziemlich sympathisch.

Wie sich herausstellte, waren Timothy und Stan in unserer Parallelklasse. Sie waren zweieiige Zwillinge und Cousins von Felix. Alle drei waren im Schachclub und ich bereute es sofort, dass ich bisher alle Schachspieler als verklemmte Nerds abgestempelt hatte. Die drei waren zwar etwas schüchtern, aber richtig nett. Nach den ersten Minuten war das Eis gebrochen und gerade als sie mir angeregt von einem Schachtunier erzählten, das am Freitagabend stattfand, legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter und Mike lehnte sich gegen die Tischkante.

„Wow Nay, warum zur Hölle sitzt du bei diesen Vollpfosten?“, fragte er mit einem abfälligen Grinsen in Richtung meiner neuen Freunde.

„Der Vollpfosten bist du, Mike“, sagte ich mit meinem unschuldigsten Lächeln und lehnte mich zurück. „Was gibt’s?“

Er schaute mich erst etwas verdutzt an, dann ignorierte er die drei anderen und wandte sich ganz mir zu.

„Kommst du heute zum Basketballtraining?“

Verständnislos starrte ich ihn an, bis mir wieder einfiel, dass der Coach mich ja zum Training eingeladen hatte. Das heute Abend stattfand.

„Klar, ich würde niemals eine Gelegenheit verpassen, euch Angeber alt aussehen zu lassen“, meinte ich zwinkernd und Mike grinste zurück.

„Wir werden sehen, Kleine.“ Und damit war das Gespräch beendet und Mike ging, ohne Felix und Co einen weiteren Blick zu würdigen.

Ich war fertig mit Essen und verabschiedete mich schnell von den drei etwas belämmert drein blickenden Jungs. Ich schenkte ihnen noch ein aufmunterndes Lächeln, dann verzog ich mich in mein Zimmer. Nick war nicht da und ich erledigte schnell einige Hausaufgaben. Schließlich hielt ich es nicht länger in dem Zimmer aus und beschloss in den Aufenthaltsraum zu gehen.

Als ich ihn betrat waren nur drei Jungs da, die bei meinem Eintreten verstummten. Ich versuchte sie nicht länger zu beachten und setzte mich auf ein freies Sofa. Die Jungs nahmen ihr Gespräch wieder auf, doch ich hörte nicht hin. Ich zog die Beine an und schlang die Arme um mich. Langsam ließ ich mich gegen die Lehne sinken und starrte an die Wand, wo ein Poster hing, dass wohl vor geraumer Zeit ein Batman Fan aufgehängt hatte. Völlig versunken in die Betrachtung des Bildes, zuckte ich zusammen, als sich plötzlich jemand neben mich setzte. Ich drehte den Kopf und erkannte, dass es einer der Typen war, die schon vor meiner Ankunft hier gewesen war. Er sah gerade gut genug aus, um sich etwas darauf einbilden zu können. Grinsend legte er mir einen Arm um die Schulter und fragte: „Na Schätzchen, heute Nacht schon was vor?“

Ich runzelte die Stirn und wollte von ihm wegrücken, doch da war die Sofalehne im Weg.

„Und du bist…?“, fragte ich schließlich.

„Jake. Der Mann deiner Träume“, sagte er provozierend anziehend.

Ich hob eine Augenbraue und sagte lässig: „Sicher, dass du ein Mann bist?“

Seine Freunde begannen schallend zu lachen, doch er verbarg seine Verwirrung schnell und säuselte: „Ich kann es dir ja beweisen, wenn du willst.“

„Nein danke, kein Bedarf.“ Dieser Typ war eindeutig ein Arschloch und ich sollte machen, dass ich hier wegkam. Ich stand auf und sagte: „Ich will euch nicht weiter stören, bei… was auch immer.“ Schwungvoll öffnete ich die Tür und im gleichen Moment wollte jemand anderes reinkommen, sodass wir zusammen stießen und ich hingefallen wäre, hätte er mich nicht aufgefangen.

Ich sah auf und – wie konnte es anders sein – sah in Nicks Gesicht.

„Hi“, seufzte ich leicht genervt.

Nick sah von mir zu den Typen und wieder zurück. Dann zog er mich einfach mit sich aus dem Raum und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.

„Was zur Hölle hast du da drin gemacht?“, fragte er mich wütend.

„Nichts. Was ist denn? Meine Güte, schau mich nicht so an, ich hab gar nichts gemacht!“

Ein leichtes Grinsen schlich in sein Gesicht und Nick zog mich spontan in eine Umarmung.

„Ähm…“, machte ich, während mein Herz anfing zu rasen und mein Gesicht heiß wurde.

„Du machst mich noch wahnsinnig“, sagte Nick leise, dann ließ er mich los. „Versprich mir nie wieder mit Jake und seinen Freunden zu reden.“

„Warum das denn? Also nicht, dass ich es vorhätte, aber…“

Wir hatten uns in Bewegung gesetzt und gingen in die Richtung unseres Zimmers.

„Sagen wir es so: Wenn seine Eltern nicht massenhaft Geld an diese Schule gespendet hätten, wäre er längst geflogen?“

„Was? Warum?“

„Das ist nicht so wichtig. Halt dich einfach von ihm fern.“

„Alles was du sagst“, knurrte ich sarkastisch.

 

Um kurz vor sieben verließ ich in Sportklamotten unser Zimmer und ging mit meiner Tasche über der Schulter runter in die Halle. Ich war schon etwas nervös, wie das Training laufen würde. Aber wie heißt mein Motto doch so schön: Beginne jeden Tag mit einem Lächeln und dann Augen zu und durch.

Der Couch begrüßte mich gut gelaunt und zeigte mir einen kleinen Raum, in dem ich mich in Zukunft immer umziehen konnte. Von dort aus konnte ich auch schnell in die Dusche gelangen. Ich stellte meine Tasche ab, band meine Haare zusammen und ging in die Halle.

Nick, der sich vorhin ziemlich schnell verkrümelt hatte, stand ein paar Meter entfernt und passte mit Mike Bälle hin und her.

Ich sah mich um und erkannte noch ein paar andere Jungs die ich mehr oder weniger kannte.

Der Couch teilte uns in zweier Gruppen ein, damit wir uns aufwärmen konnten. Ich war mit einem großen blonden Typ zusammen, der ziemlich scharf aussah. Obwohl er das zu wissen schien, verhielt er sich doch sehr nett.

„Ich bin Ram“, stellte er sich lächelnd vor und ich lächelte zurück.

Ram erklärte mir die Übungen, dann dehnten wir uns kurz. Schließlich mussten wir Sit Ups machen und immer wenn wir oben waren einen Basketball hin und her werfen. Nach einer halben Ewigkeit pfiff der Couch und ich ließ mich erschöpft keuchend auf den Rücken fallen.

„Machst du schon schlapp?“, fragte Ram grinsend.

„Bin nur aus der Übung“, erwiderte ich und ergriff die Hand, die er mir entgegen streckte.

Er zog etwas zu stark und ich stolperte kichernd gegen ihn.

„He, ihr zwei, flirten könnt ihr wann anders, jetzt kommt her!“, rief der Couch und Ram gab mich aus der Umarmung frei.

Als wir zu den anderen stießen streifte mein Blick Nick, der irgendwie ziemlich schlecht gelaunt zu sein schien. Was hatte der denn jetzt wieder?

Couch Klein teilte uns in zwei Teams und Ram und ich waren im gleichen. Ich mochte Ram jetzt schon, er war total sympathisch und nett. Und nicht eingebildet. So wie manche andere Leute.

Unser Team gewann knapp und ich konnte am Ende zufrieden sagen, dass ich einiges an unserem Sieg geleistet hatte.

In meiner Umkleide schlüpfte ich schnell in meinen Bikini, steckte meine Haare hoch und ging zu den Duschen. Etwas unsicher stand ich davor. Was, wenn einer von den Jungs da drinnen nackt war? Mein Herz begann zu stolpern. Dann stieß ich die Milchglastür auf und betrat den gekachelten raum dahinter. Es war ziemlich dämpfig und fast alle Duschen waren schon besetzt. Ich ging schnell zu einer freien und ignorierte die anerkennenden Pfiffe so gut wie möglich.

Ich ließ das heiße Wasser auf meinen Körper herunter prasseln, dann machte ich den Fehler mich genauer umzusehen. Ach du Schande. Sie hatten zwar alle was an, aber mal ehrlich, jedes Mädchen wäre vollkommen überfordert, wenn es von weiß Gott wie vielen Sixpacks umringt wäre. Warum zur Hölle sahen die denn alle so scharf aus? Ich entdeckte Nick und mein dummes, oberflächliches Herz begann zu rasen. Eindeutig, er war hier der heißeste. Ich schloss schnell die Augen und duschte weiter, sonst würde ich hier noch vor versammelter Mannschaft zu sabbern anfangen.

„Na Süße, du und ich?“, fragte plötzlich jemand neben mir und als ich völlig verdutzt die Augen öffnete, grinste mich mein Duschnachbar dümmlich an.

Ich schüttelte einfach nur den Kopf, spülte den letzten Rest Duschgel ab. Dann verließ ich die Dusche schnell, wenn auch etwas zu hastig, denn draußen im Flur knallte ich gegen jemand und wir segelten beide in Richtung Boden.

„Oh mein Gott, tut mir leid, ich…“, stotterte ich und setzte mich auf, was nur zur Folge hatte, dass ich auf dem Kerl saß. Der übrigens Ram war. Er starrte mich an, dann brach er in schallendes Lachen aus und ich konnte nicht anders als mit ein zu stimmen.

„Ich will ja eure kleine Party hier nicht stören, aber ihr blockiert den Weg“, knurrte plötzlich Nick, der eben die Dusche verlassen hätte.

„Ähm, sorry“, murmelte ich mit feuerroten Wangen. Schnell stand ich auf und verschwand in meiner Umkleide. Verdammt, war das peinlich gewesen.

 

Ich hatte mich so schnell wie möglich angezogen und war in mein Zimmer geflüchtet. Jetzt hockte ich hier mit feuchten Haaren auf dem Bett und machte Hausaufgaben.

Ich fühlte mich absolut unwohl. Am liebsten hätte ich mich zusammen gerollt und hätte geschlafen um einfach nicht mehr an das alles hier zu denken. Ich war verwirrt und etwas fühlte sich falsch an.

Schlecht gelaunt packte ich meine Sachen für den nächsten Tag und tigerte unruhig im Zimmer hin und her. Schließlich ging ich runter in die Bücherei lieh mir das erstbeste Buch aus, das ich in Finger bekam. Es war ein Krimi von Agatha Christie und gemeinsam mit einer Packung Keksen die ich mir aus einem Automaten im Gang geholt hatte legte ich mich ins Bett und begann zu lesen.

Nick bemerkte ich erst, als er mir mit den Fingern vor dem Gesicht herum schnippte. Ich blinzelte verwirrt und wand den Blick von dem Buch ab. Nick strich sich gerade durch das tropfnasse Haar – eine Geste die mein dummes Herz schneller schlagen ließ – und ich überlegte warum er bei dem Wetter noch draußen gewesen war. Er ließ sich auf sein Bett fallen und erwiderte meinen Blick müde.

„Wie sieht’s aus, bist du jetzt ein Teammitglied?“, fragte er mit einem halben Grinsen.

„Willst du das denn?“, fragte vorsichtig zurück. Meine Stimme hörte sich etwas kratzig an, als hätte ich geweint. Hatte ich aber nicht! Ich räusperte mich und wartete auf Nicks Antwort. Ich hatte keine Ahnung wie seine Gefühle zu mir standen, und ging eigentlich nicht davon aus, dass er mich im Team wollte.

„Du spielst echt gut“, gab er widerstrebend zu. Dann grinste er frech und meinte: „Wenn du fleißig übst, wird vielleicht noch was aus dir.“

Ich deutete diese Antwort als Ja und schnaubte amüsiert. „Ich kann es auch ohne Training mit dir Aufnehmen.“

„Aber sicher, Kleine.“ Seine Stimme triefte vor gutmütigem Sarkasmus und ich wandte mich kopfschüttelnd wieder meinem Buch zu.

 

Das Wochenende kam so schnell, dass ich am Samstagmorgen richtig überrascht war, als ich aufwachte ohne von einem Wecker geweckt zu werden.

Jason kam am Vormittag vorbei und überredete mich zum Schwimmen mit zu kommen. Jason war im Schwimmteam der Schule und abgesehen vom richtigen Training ging er samstags immer Schwimmen.

Es gab ein großes Becken zum Bahnen schwimmen und ein kleineres, tieferes vor dem zwei Sprungbretter standen.

„Und, traust du dich aufs drei-Meter-Brett?“, fragte Jason grinsend.

Als Antwort rannte ich los um vor ihm oben zu sein. Wir sprangen eine Weile abwechselnd und einmal ging mein Bikinioberteil fast auf, was zum Glück nur ich merkte. Es war nur wenig los, trotzdem fing ich mir ein Paar Pfiffe und dumme Bemerkungen ein.

Wir gingen in das andere Becken, doch nach zehn Bahnen setzte ich mich an den Rand und sah nur noch zu, wie Jason durchs Wasser pflügte. Er schien der geborene Schwimmer zu sein und bewegte sich im Wasser viel eleganter als an Land.

Gegen Mittag verließen wir gutgelaunt die Schwimmhalle. Meine Haare waren noch ziemlich nass und Jason zupfte ständig an ihnen herum und schien es unwahrscheinlich komisch zu finden, wie lang sie waren und was man alles mit ihnen machen konnte. Da es Zeit zum Mittagessen war, gingen wir direkt in den Speisesaal. Ich sah mich suchend um und sah hier und da ein paar bekannte Gesichter.

Ein Lächeln schlich in mein Gesicht und ich spürte so etwas wie Glück ganz tief in mir.

Ich zuckte zusammen, da mich jemand im Vorbeigehen anrempelte. Ganz beiläufig, doch es war etwas zu heftig, als dass es ein Versehen gewesen sein könnte. Ich drehte mich um und sah Nick lachend mit seinen Kumpels weiter laufen. Sofort schlug mein Glücksgefühl in Melancholie um. Warum hatte er das denn jetzt gemacht?

Ich schüttelte leicht den Kopf, nahm mein Tablett und folgte Jason an einen Tisch, wo schon Ben und Charles saßen. Was war bloß mit mir los? Wahrscheinlich bekam ich demnächst meine Tage. Ich seufzte und setzte mich.

„Was ist los, Nay?“, fragte Charles.

„Ach nichts, ich bin nur müde“, meinte ich und lächelte ihn an.

„Das ist ja doof. Kommst du dann heute Nachmittag nicht mit in die Stadt?“

„Wie?“ Ich stutze verwirrt.

„Wir können jeden zweiten Samstag mit so einem Schulbus in die Stadt runter fahren“, erklärte Ben.

„Ach so. Ja doch, ich komm mit. Muss ich halt morgen bisschen länger schlafen.“ Ich lachte und machte mich über mein Essen her. Jetzt würde ich erst mal aufhören nachzudenken. So einfach war das.

„Hey schaut mal, die Post kommt“, rief Jason und reckte den Hals in Richtung Tür. Ich drehte den Kopf und sah einen Mann, der ein Wägelchen schob, eintreten.

„Samstagmittags kommt unsere Post. Es lohnt sich nicht für die Post hier jeden Tag hochzufahren, deshalb kommt alles gesammelt am Samstag“, erklärte Ben mir schnell und ich nickte nur, da ich den Mund voll hatte.

Einige Schüler stürmten schon auf den Postmann zu, doch da „meine“ Jungs sitzen blieben aß ich einfach weiter.

Erst als der erste Andrang weg war gingen wir und nannten unsere Namen. Ben und Charles hatten von ihren Eltern Postkarten bekommen. Für Jason war nichts dabei und ich bekam dafür gleich zwei Briefe. Ein großer, schwerer Umschlag, der ziemlich förmlich aussah und dann noch ein kleiner, auf dem ich die kraklige Schrift meines Bruders erkannte.

Als wir wieder saßen öffnete ich erst den großen. Es war die Einladung für den Wohltätigkeitsball, den meine Eltern nächstes Wochenende geben würden. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass ich nicht hinmusste, jetzt, wo ich ja aufs Internat ging, aber das war ihnen anscheinend egal. In ihm stand das gleiche schleimige Gedöns, dass auch die anderen Gäste zu lesen bekamen. Kein einziges persönliches Wort von meinen Eltern an mich.

Als nächstes öffnete ich den Brief von John. Es war verhältnismäßig viel, dafür, dass er ja noch so jung war.

 

Hallo Nay,

ich vermiss dich ganz arg. Mama und Papa streiten sich die ganze Zeit, was gut ist, weil sie dann nicht auf mich achten und ich machen kann was ich will! Außer wenn die Nanny da ist. Aber es ist ja schlecht, falls sie sich trennen. Das will ich nicht.

Kommst du zum Ball? Ich darf nicht hin, aber dann sehen wir uns!

Hab dich lieb,

John.

 

Ich las alles dreimal durch, dann ließ ich das Blatt sinken. Ich war nicht nur wütend, ich war stinksauer. Es war in Ordnung, dass meine Eltern mich vernachlässigten, aber das sie sich vor John stritten und ihn nicht beachteten! Verdammt. Ich zog mein Handy aus der Tasche und sprang auf. Jetzt würde ich erst mal einen Anruf tätigen.

 

*Nicks Sicht*

 

Schlecht gelaunt stocherte ich in meinem Essen herum. Warum zur Hölle konnte ich mich Nay gegenüber nicht wie ein normaler Mensch verhalten?

„Jo, Nick, fahren wir heut mit runter?“

Mike riss mich aus meinen Gedanken und ich sah überrascht auf.

„Was?“

„In die Stadt? Wir? Heute? Alter, du bist in letzter Zeit echt voll neben der Spur.“ Mike lachte und ich verdrehte die Augen.

„Ich weiß nicht, hab eher keine Lust.“

„Was ist denn mit dir los? Du willst den Samstagnachmittag in der Anstalt bleiben?“

Anstalt, Irrenhaus, Folterkammer. So nannten wir das Harrison Springer schon immer. Naja, seit unserem ersten Schultag hier zumindest, als wir uns kennengelernt hatten. Mike und ich waren schon vom ersten Moment an Freunde gewesen.

„Ähm, ich glaub ich hab noch Hausaufgaben.“

„Und die willst du echt machen? Mann…“

„Geh doch ohne mich“, seufzte ich und lehnte mich zurück. Mein Blick zuckte automatisch zu Nay, die bei meinem kleinen Bruder am Tisch saß.

„Sag mal, deine miese Laune… Die kommt doch nicht von Nay, oder?“ Mike hatte die Stimme gesengt und sah mich verschwörerisch an. „Also, die Kleine ist echt heiß, ich könnte auch nicht widerstehen, wenn sie nur ein Bett weiter läge.“

„Was… redest du da für einen Müll? Ich steh nicht auf sie!“ Wirklich nicht. Nay war… keine Ahnung was sie war. Manchmal kam sie mir vor wie eine Schlampe, weil sie sich an so viele Jungs dranhängte, aber dann fiel mir ein, dass es außer ihr hier ja nur Jungs gab. Und dann wunderte ich mich immer was zur Hölle sie hier wollte und bewunderte sie. Halt stopp, nein. Ich bewunderte sie nicht. Sie war nur so ein nerviges kleines Mädchen. So. Ende.

„Natürlich nicht. Deshalb starrst du sie auch nicht die ganze Zeit an.“ Mike hob eine Augenbraue und grinste.

„Tu ich nicht“, knurrte ich.

„Weißt du, du solltest sie ficken und gut ist.“

Ich riss die Augen auf, doch bevor ich mich in eine Diskussion stürzen konnte sah ich, dass der Postmann kam.

„Ich geh mal nach der Post schauen“, rief ich und sprang auf. Mike blieb etwas verwirrt zurück und als ich schließlich – mit leeren Händen – zurückkam, hatte er sich zum Glück in ein Gespräch mit Ram verwickelt. Mit Ram war ich nicht sehr gut befreundet, vor allem weil er sich an Nay ranmachte. Halt, das war nicht der Grund. Der Grund war… Ach, er war einfach ein Schleimbeutel.

Ich schüttelte den Kopf um die wirren Gedanken loszuwerden und aß mein restliches Essen auf.

Als ich fertig war saß Nay nicht mehr an ihrem Tisch, sondern stand bei der Eingangstür und hielt ein Handy an ihr Ohr. Ich sprang auf und lief zu Jason rüber. Bei ihm saßen Ben und Charles, zusammen waren sie in einer Band. Eigentlich waren sie ganz gut, was ich natürlich nie wirklich zugeben würde.

Ich setzte mich halb auf den Tisch und stellte meine Füße auf einem Stuhl ab.

„Hi Nick“, meinte Jason.

„Hi…“ Meine Augen hingen an Nay, die ziemlich ärgerlich in ihr Telefon sprach. „Mit wem telefoniert sie da?“, fragte ich.

„Hm? Ach so, ich weiß nicht genau. Sie hat ihre Post durchgelesen, ist aufgesprungen und jetzt steht sie dort. Vielleicht ihre Eltern…“, mutmaßte Jason.

„Hm…“

Nay schien jetzt richtig wütend zu werden. Sie verzog das Gesicht und mir tat ihr Gesprächspartner leid. So wollte ich nicht angefaucht werden.

„DU HAST WAS?!“ Ihr entgeisterter Ausruf war durch die ganze Halle zu hören.

Sie schien jetzt auch zu bemerken, dass sie sich nicht ganz unauffällig verhielt und verließ den Saal.

„Ich glaub ich seh mal nach ihr“, murmelte Jason doch ich hielt ihn zurück. Wär ja noch besser wenn mir der kleine Bruder das Mädchen ausspannen würde. Ach stopp, ich hatte ich ja darauf geeinigt, dass ich nichts von ihr wollte. Trotzdem. Nur weil ich sie nicht wollte musste das nicht heißen, dass sich andere auf sie stürzen durften.

„Ich mach das schon“, meinte ich und wollte gehen, doch jetzt hielt Jason mich seinerseits zurück.

„Was?“

„Wieso sollst du das machen und nicht ich? Sie mag dich nicht mal!“, zickte Jason leise, damit seine Freunde ihn nicht hörten.

„Das weißt du doch nicht. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sie mich mehr als dich mag.“

Jason hob beleidigt eine Augenbraue.

„Okay hör zu, ich will nichts von Nay und wenn du was von ihr willst ist das deine Sache. Trotzdem mach ich das jetzt.“

„Warum? Ich…“

„Du hast einfach keine Ahnung von Frauen, deshalb.“ Und damit ließ ich meinen sprachlosen Bruder zurück.

Okay, ich war ein Arsch. Und Jason hatte schon Ahnung von Frauen, sogar mehr als mir lieb war. Und ich wusste nicht warum ich mich so verhielt, was ich damit bezwecken wollte.

Während ich den Saal durchquerte, fiel mir wieder ein, was Mike vorgeschlagen hatte. Okay, unter normalen Umständen hätte ich das sogar gemacht. Also, wenn gerade Ferien wären und sie nicht das einzige Mädchen unter weiß Gott wie vielen Jungs.

Ich betrat die Halle und sah Nay auf der Treppe sitzen. Sie hatte die Arme über die angewinkelten Knie gelegt und starrte vor sich hin. Ich fuhr mir durch die Haare und setzte mich zu ihr.

„Und, wie läuft’s?“, fragte ich leise.

Sie seufzte. „Es läuft halt. Muss ja.“

Wow, sie hatte mich nicht angefaucht, das war schon mal ein gutes Zeichen. Andererseits schien sie ziemlich geknickt.

„Mit wem hast du grad telefoniert?“

„Ach… Meine Mutter.“ Sie warf mir ein kurzes Lächeln zu. „Ich will eigentlich nicht darüber reden.“

„Okay. Dann reden wir über was anderes. Fährst du heute mit in die Stadt?“

„Ja. Ja, ich muss hier mal raus. Frische Luft schnappen und so.“ Sie lachte verlegen und sah mich wieder an. „Gehst du auch?“

„Ja“, sagte ich reflexartig. Na super, jetzt durfte ich mir für Mike eine Ausrede ausdenken, warum ich doch mitkam.

 

*Nays Sicht*

 

Ich hatte aufgelegt, nachdem meine Mutter und ich uns fünf Minuten lang halb angeschrien hatten. Meine tolle Mum war derzeit auf Mallorca. Und das obwohl mein Dad auf Geschäftsreise war! Das hieß also, dass John ganz allein mit Kindermädchen zuhause war! Und das Kindermädchen hatte schließlich keinen 24 Stunden Job.

Ich seufzte schwer und ließ mich auf die Treppe sinken. Mein armer Johnny. Ich fühlte mich schlecht, dass ich so weit weg war und nicht mehr auf ihn aufpassen konnte. Er war doch so klein und schutzlos gegenüber den Streitereien unserer Eltern! Ich hoffte, dass seine Freunde für ihn da waren obwohl die kleinen Kerle ja auch nicht viel machen konnten. Oh Gott, oh Gott. Ich würde ihn heute Abend auf jeden Fall anrufen.

Jemand setzte sich neben mich.

„Und, wie läuft’s?“, fragte Nick leise. Er klang irgendwie ein bisschen frustriert, als hätte seine Stimmung sich meiner angepasst.

Ich seufzte und meinte: „es läuft halt. Muss ja.“

„Mit wem hast du grad telefoniert?“

Na super, er hatte meine peinliche Schreiattacke also mitbekommen. Aber er hörte sich eher besorgt als provozierend an. War mir auch egal, was er jetzt dachte.

„Ach… mit meiner Mutter. Ich will eigentlich nicht darüber reden.“

„Okay. Dann reden wir über was anderes. Fährst du heute mit in die Stadt?“

„Ja. Ja, ich muss hier mal raus. Frische Luft schnappen und so.“ Wie blödsinnig ich mich anhörte. Ich lachte um meine Sprechpause zu überbrücken, dann fragte ich schüchtern: „Gehst du auch?“

„Ja“, meinte er sofort und mein Herz, das mal wieder auf Drogen zu sein schien, machte einen Purzelbaum. Verdammt, das mit diesen Gefühlen musste aufhören. Nick war wahrscheinlich sowieso nur ein Playboy und ich konnte es mir nicht leisten, in Gefahr zu laufen, ihm das restliche Jahr aus dem Weg gehen zu müssen. Also sollte ich mich lieber auf eine unkomplizierte Irgendwie-Freundschaft konzentrieren.

 

Im Bus war es laut und ich war froh, dass ich einen Fensterplatz bekommen hatte. Es gab vier Busse, die nach dem Mittagessen losfuhren und uns um sieben Uhr wieder von einer Haltestelle im Zentrum der Stadt abholen würden. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht bei Jason und seinen Freunden bleiben würde, sondern bei Nick.

Die Busse waren nach Jahrgängen getrennt und ich saß neben Nick, der mir gut gelaunt von einem Basketballladen erzählte, der das Schulteam sponserte. Dort hing das Team meistens rum, wenn sie in die Stadt gingen.

„Hört sich toll an“, meinte ich.

„Ist es auch.“ Der Mann, dem der Laden gehörte, hatte mal in irgendeiner Liga gespielt, was laut Nick ziemlich cool war.

Ich stellte fest, dass ich zwar gut spielte, aber von diesen Meisterschaftsdingern und den berühmten Spielern keine Ahnung hatte.

Der Bus hielt und die Schüler strömten nach draußen. Nick nahm meine Hand, damit ich ihm im Gedränge nicht verloren ging und zog mich in eine Richtung.

Wir gingen die Fußgängerzone runter  und Nick erzählte mir so dies und das über die Stadt.

„Nick? Nick, hey warte mal!“ Ein platinblondes Mädchen mit knallrosa Lippen und Stiefeletten in der gleichen Farbe kam auf Nick zu und gab ihm zur Begrüßung zwei Küsschen auf die Wangen. Als sie sich vorbeugte, hüpften ihr fast ihre Brüste aus dem Push Up BH. Nick blieb verwirrt stehen und starrte das Mädchen an.

„Nick, wie geht’s dir, warum hast du dich nicht gemeldet?“, flötete sie und beachtete mich gar nicht.

„Äh…“, machte Nick sehr geistreich.

Zwei weitere, platinierten Mädchen, mit ziemlich dümmlichen Gesichtsausdrücken stellten sich hinter sie und … tja, sie machten nichts, außer dekorativ da zu stehen.

„Also…“, machte Nick und ich verschränkte die Arme.

„Willst du sie mir nicht vorstellen?“, fragte ich böse grinsend, weil ich ahnte, dass er ihm ihr Name nicht einfiel.

„Ja, Nick, wer ist eigentlich die da?“, fragte Miss Oberzicke und sah mich herablassend kühl an.

„Ja, das ist Nay und das ist…“ Er kniff leicht die Augen zusammen und das Mädchen schnappte empört nach Luft.

„Du weißt meinen Namen nicht mehr?!“, fiepte sie und erinnerte mich dabei an einen dieser Mini-Köter… Tschiwauwaus oder wie die hießen.

„Doch natürlich, weiß ich ihn noch, du heißt…“, sagte Nick und in dem Moment stießen Mike und zwei andere aus dem Team zu uns.

„Brenda, wie geht’s?“, grinste er, doch Brenda würdigte ihm keines Blickes.

„… Brenda, genau, wollt ich grad sagen.“

„Tja, dann weißt du bestimmt auch, wann es war, oder, Nick?“, fragte Brenda bissig.

„Ähm… Auf der Faschingsparty?“

„Nein, Mann, da hab ich mit ihr geschlafen“, meint Mike und Brenda lief feuerrot an.

Ich konnte es nicht mehr unterdrücken und lachte los. Was immer zwischen den beiden gewesen war, ich hatte Mitleid mit Nick, dass er sich mit so was einließ…

„Was lachst du so blöd?“, fauchte Brenda.

„Hab mich nur verschluckt“, kicherte ich und bog mich vor Lachen. Nicks Gesicht war einfach göttlich.

Ich biss mir auf die Unterlippe bis Brenda und ihr Gefolge davon gerauscht war, dann lachte ich schallend weiter.

„Nick, du hast… du hast ernsthaft mit der da geschlafen?“, lachte ich fassungslos und Mike klopfte mir grinsend auf die Schulter.

„Die Frage ist eher, wer nicht mit ihr geschlafen hat.“

Ich hörte auf zu lachen und schüttelte den Kopf.

„Ihr seid so erbärmlich.“

„Und stolz drauf“, meinte Mike und ging mit dem anderen schon mal vor.

„Was geht dich das überhaupt an?“, murmelte Nick, doch ich kicherte nur gut gelaunt weiter.

„So unglaublich niveaulos…“

„Was ist eigentlich dein Problem?“

„Mein Problem? Was ist dein Problem, dass du mit dem Aussehen nichts Besseres als die da gekriegt hast?“

„Nay, ich fürchte du hast mir jetzt ein Kompliment gemacht“, meinte Nick und versuchte vom Thema abzulenken.

Wir betraten ein kleines Geschäft.

Als erstes sah ich nur Schuhe… Basketballschuhe natürlich, viele Chucks und Nikes. Dann sah ich Trikots und andere Klamotten, einen Fernseher in einer Ecke und weiter hinten im Laden zwei Sofas.

„Hallo Jungs, wie geht’s?“ Ein Mann mittleren Alters trat hinter dem Tresen vor und begrüßte uns freundschaftlich.

„Und wer ist die junge Dame?“

„Das ist Nay, sie spielt jetzt in unserem Team, und das ist George.“

„Hi“, sagte ich und schenkte ihm ein Lächeln.

„So so, dann bist du also dieses Mädchen, dass seit neuestem aufs Harrison Springer geht?“

„Ja genau.“

„Dann bin ich mal gespannt, wie du dich beim Spiel nächste Woche schlägst.“

Ich nickte, obwohl ich nichts von dem Spiel wusste. Wir holten uns Kaffee aus einem Automaten und setzten uns aufs Sofa. Ram kam auch nach kurzer Zeit rein und setzte sich neben mich.

„Wir haben nächste Woche ein Spiel?“, fragte ich ihn leise.

Die anderen unterhielten sich über irgendwelche Spieler und da konnte ich eh nicht mitreden.

„Ja, gegen die Hunting Bees.“

„Hunting Bees? Ist das ein Schwulenteam?“

Ram sah mich verdattert an, dann brach er in Gelächter aus.

„Was lachst du denn so? Welcher Hetero nennt sich denn Jagende Biene?“, fragte ich hilflos, obwohl ich ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. „Oder finden Jungs das seit neuem cool?“

„Nein… Nein…“, lachte er. „Ich glaube sie finden es cool.“

„Dann überrascht mich das männliche Geschlecht heute zum zweiten Mal. Hey, gibt’s hier irgendwo eine Drogerie? Ich muss mir ein paar Sachen kaufen.“

„Ja klar, komm mit.“

Wir verließen den Laden und Ram fragte: „Warum zum zweiten Mal?“

„Ach, wir sind vorhin so einer echt klischeehaften, echt billigen Tusse begegnet und die ist voll ausgeflippt, weil Nick ihren Namen vergessen hatte, obwohl er mit ihr geschlafen hatte. Und es hat mich echt überrascht, dass er so niveaulos ist, wenn’s um die Auswahl seiner… ähm… Bettpartner geht.“

„Welche genau meinst du jetzt?“

Wir betraten die Drogerie und ich begann nach einem Shampoo zu suchen.

„Brenda oder so.“

„Hm. Tja, die kenn ich nicht. Aber ich merk mir auch keine Namen.“

Ich hob eine Augenbraue und er hob abwehrend die Hände.

„So hab ich’s nicht gemeint. Außerdem hab ich eine Freundin.“

„Jaja, natürlich“, lachte ich. „Mango oder Vanille?“

„Äh… keine Ahnung?“

Ich nahm das mit Mangoduft und ging weiter nach hinten, wo ich nach Tampons suchte. Ram schien die Umgebung hier nicht allzu sehr zu zusagen, denn er starrte die ganze Zeit auf den Boden oder an die Decke. Mir war es nicht peinlich, ich fand es eher schrecklich komisch. Nachdem ich die richtigen gefunden hatte ging ich zur Kasse. Ich verstaute das Zeug in meiner Umhängetasche, dann traten wir nach draußen.

„Eine Freundin also. Wie lange seit ihr schon zusammen?“, fragte ich während wir die Fußgängerzone entlang schlenderten.

„Zwei Jahre oder so was. Sie geht auf das Mädcheninternat.“

„Welches?“, fragte ich verwirrt.

„Ach, da hinten, wenn man ein Stück weiter fährt nach dem Harrison Springer. Die Internate schmeißen immer abwechselnd Partys und laden das jeweils andere dazu ein.“

„Ah, cool.“

Wir redeten noch über dies und das, später gingen wir in ein Café, wo ich Ram bewies, dass es durchaus möglich für ein Mädchen war einen riesigen Eisbecher mit extra Sahne zu essen, ohne danach kotzen zu müssen.

Später im Bus schien Nick immer noch ein bisschen sauer zu sein, weil ich ihn so aufgezogen hatte, also saß ich neben Ram und blieb auch während dem Abendessen bei ihm. Er erzählte mir, dass er und seien Freundin sich bei so einer Party kennengelernt hatten und feststellten, dass sie beide in der gleichen Gegend wohnten und vor allem den selben Humor hatten. Obwohl er sie als typisches Mädchen beschrieb war sie mir ziemlich sympathisch. Ich sah Ram an, dass er sie ziemlich liebte und ich freute mich für ihn.

Als ich ins Zimmer kam, lag Nick auf dem Bett und machte Hausaufgaben. Wie konnte man dabei nur so heiß aussehen?

Ich rief mir in Erinnerung, dass er mit Brenda geschlafen hatte, was ihn wieder total lächerlich erscheinen ließ. Ich setzte mich auf mein Bett und holte meine Schulsachen raus.

Wenn das hier ein Film wäre, dann wäre ich total traurig gewesen, als ich bestätigt bekommen hatte, dass Nick ein Playboy war und wäre heulend weggerannt. Er wäre mir hinter her gekommen und hätte mir seine Liebe gestanden und ich ihm meine.

Im wahren Leben hatte ich ihn ausgelacht, obwohl mir klar war, dass es mich nichts an ging, mit wem er was machte.

„Ist was?“ Nick sah mich an und ich merkte, dass ich ihn schon eine Weile anstarrte.

„Nein.“ Ich schrieb den Satz zu Ende, den ich angefangen hatte, dann räumte ich meine Sachen weg und ging ins Bad. Nachdem ich Zähne geputzt hatte, fielen mir das Shampoo und die Tampons ein, die noch in meiner Tasche waren. Also ging ich zurück ins Zimmer um sie zu holen und blieb verwirrt in der Tür stehen.

In der Mitte des Zimmers standen Nick und ein anderer Typ, den ich nicht kannte. Und sie küssten sich. So Mund auf Mund. Ich rieb mir ungläubig die Augen.

Nick hatte die Augen offen und als er mich sah stieß er den Typen weg. Dieser starrte ihn an, dann mich, dann wurde er rot und rannte aus dem Zimmer.

Die Tür fiel ins Schloss und Nick und ich sahen uns an. Was in Gottes Namen war das denn gewesen? War Nick etwa schwul? Der heißeste Playboy der Schule stand auf Typen?

Ich wusste nicht was ich sagen sollte und er wusste es anscheinend auch nicht, also holte ich Shampoo und Tampons aus meiner Tasche und ging wieder ins Bad. Ich verstaute sie dort, dann zog ich mich um und ging wieder ins Zimmer, wo Nick immer noch wie versteinert da stand.

Ich setzte mich auf mein Bett und sah ihn abwartend an. Wie in Zeitlupe drehte er sich zu mir und sagte langsam: „Bevor ich es dir erkläre: Wenn du jemandem davon erzählst bring ich dich um und es ist mir egal, dass du ein Mädchen bist.“

„Okay“, meinte ich.

„Ich bin nicht schwul“, sagte er schließlich mit Nachdruck.

„Klar. Deshalb hast du auch grad einen Jungen geküsst.“ Überraschung Nummer 3 heute.

„Ich hab ihn nicht geküsst.“ Er machte eine kurze Pause und setzte sich neben mich. „Er hat mich geküsst.“

„Aha. Und warum?“

Nick starrte ins Leere.

„Wenn ich das wüsste…“ Er sah mich an, dann wanderte sein Blick nach unten und er musterte meine Oberweite. „Nein, ich bin definitiv nicht schwul.“

Unter normalen Umständen hätte er jetzt gegrinst und ich hätte ihm eine gescheuert. Stattdessen sagte ich nur: „Schau wo anders hin.“

Er blinzelte und sah mir wieder ins Gesicht.

„Ich versteh das nicht. Warum hat er das gemacht? Ich kenn den nicht mal.“

„Erzähl erst mal was genau passiert ist.“

Nick räusperte sich und stützte die Ellenbogen auf die Knie.

„Also… Du warst im Bad und dann hat jemand an der Tür geklopft. Ich steh auf und ruf nur so, is offen, und da kommt der Typ rein. Und dann hat er mich geküsst.“

„Hat er davor noch irgendwas gesagt?“, fragte ich.

„Hm, ja… Alter ist das peinlich“, murmelte Nick. Dann fuhr er fort. „Er hat gesagt, ich wäre… Mann, ich kann das nicht sagen, dass ist das schwulste, was ich je gehört hab!“

Nick sprang auf und ging zum Fenster. Ich wusste nicht ob ich lachen sollte oder nicht, aber ich fand das alles total absurd.

„Also hat er gesagt, dass er auf dich steht?“, half ich Nick auf die Sprünge.

„Ja.“

„Hat er vielleicht gesagt, warum?“

„Ja…“

„Aha. Und du bist homophob?“

„Was?“ Er sah mich verwirrt an.

„Du hast Angst vor Schwulen“, erklärte ich.

„Nein! Nein, meine Güte, aber der kann doch nicht einfach… Ich mein, ich bin halt nur nicht schwul!“

„Ja, ich weiß. Aber es ist dir unangenehm?“

„Natürlich, verdammt! Warum hat der das gemacht? Er kennt mich doch gar nicht.“ Nick sah mich hilfesuchend an.

Okay, Nay, du kannst das. Du bist ein Mädchen und du hast schon oft mit anderen Mädchen über Handlungen von Jungs diskutiert.

„Ich schätze, er ist schwul.“

„Ach nee.“

„Unterbrich mich nicht! Also, da haben wir diesen schwulen Typen auf einer Jungenschule. Er hat vermutlich niemand dem er sich anvertrauen kann, weil mal ehrlich, ihr würdet natürlich sofort davon ausgehen, er wollte was von euch. Dann verliebt sich der Typ, was seine Situation nur noch verschlimmert. Jetzt staut sich diese ganze Geheimniskrämerei in ihm auf, bis irgendwann alles überläuft und er vermutlich in einer Kurzschlussreaktion seinem Hetero-Schwarm mitteilt, was er fühlt.“

„Okay. Und was machen wir jetzt?“

„Wir? Nick, der steht auf dich, nicht auf uns“, kicherte ich und Nick sah mich böse an.

„Aber wir sind die einzigen die wissen, dass er schwul ist.“

„Tja dann… Also ich schätze, er wird jetzt auch überlegen, was wir machen. Und weil ihm nach einer Weile klar sein wird, dass du als obercooler Macho niemals zu geben wirst, von einem Jungen geküsst worden zu sein, hofft er, dass er nicht geoutet wird. Wahrscheinlich ist dem Ärmsten das alles auch noch peinlich.“

„Also tun wir so, als wäre es nicht passiert und er wird mich in Ruhe lassen?“

„Ja. Denk ich. Es könnte natürlich auch ganz anders kommen, aber… das sehen wir dann.“

„Okay.“

Nick ließ sich auf sein Bett fallen. Er sah immer noch total verwirrt aus.

„Ich glaube ich werde nie wieder eine Erektion kriegen können.“

Ich verschluckte mich an der Luft und hustete wie verrückt. Nicht, dass Nick beachtet hätte, dass ich fast erstickte.

„Warum das denn?“, keuchte ich.

„Weil ich immer daran denken werde, wie er mich geküsst hat und das ist so was von… ab turnend.“

„Mein armer Nick“, lachte ich. Der andere Typ tat mir allerdings viel mehr leid. Immerhin hatte er wirklich niemand mit dem er reden konnte. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis ihn aufzusuchen.

„Du findest das total lustig, was?“, fragte Nick verärgert.

„Nein. Gar nicht.“

Dann landete ein Kissen in meinem Gesicht.

„Das war ein Fehler, Nick. Ich habe einen kleinen Bruder und ich bin Weltmeisterin im Kissenschlachten gewinnen“, sagte ich bedrohlich.

„Wie du weißt, habe ich auch einen Bruder, und…“

Doch ich ließ ihn nicht mal mehr ausreden und schon brach die größte Kissenschlacht los, die das Internat je gesehen hatte.

Aber als wir später wieder im Bett lagen wurde Nick wieder nachdenklich. Woher ich das wusste, wo ich doch eigentlich schlafen sollte? Nick redete die ganze Zeit vor sich hin. Ich verstand zwar nicht was er sagte, aber es nervte mich unglaublich.

„Kannst du jetzt mal leise sein?“, zischte ich nach einer Weile.

„Sorry“, seufzte er. „Sag mal Nay, kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Lässt du mich dann schlafen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Klar.“

„Na gut, was willst du?“ Erst nachdem ich es ausgesprochen hatte, wurde mir klar, dass ich vielleicht erst hätte nachfragen sollen, was er wollte.

„Küss mich.“

„Um Gottes Willen, bloß nicht!“, sagte ich reflexartig, aber mein Herz raste wie verrückt.

„Ach jetzt komm schon. Du bist die einzige weibliche Person die ich bis nächsten Samstag zu Gesicht bekomm!“

„Ach was… Versuchs doch mal mit den Sekretärinnen vom Direktor.“

„Ich bitte dich, da könnte ich ja gleich wieder den Typen von vorhin küssen.“

Ich lachte leise.

„Was bringt dir das schon, wenn ich dich küsse?“

„Ich will nur wissen ob… es noch geht.“

„Wovon redest du jetzt?“, fragte ich misstrauisch, obwohl ich da schon so eine Ahnung hatte.

„Bitte Nay! Dann hast du auch was bei mir gut!“

Ich seufzte und dachte nach. Wenn ich meinen ganzen Stolz runter schluckte, dann war mir klar, dass ich Nick zu gern küssen würde. Aber nicht um ihm zu zeigen, dass er eindeutig nicht schwul war.

„Komm schon, wir sind doch Freunde“, versuchte Nick mich weiter zu überreden.

„Freunde küssen sich aber nicht.“

„So gute Freunde sind wir auch wieder nicht.“

Ich lachte empört auf und sah Nick an, der sich in seinem Bett aufgesetzt hatte. So im dunklen Zimmer sah er noch unwiderstehlicher aus, als sonst.

„Ich bin so erbärmlich“, seufzte ich und er grinste als ich aufstand und zu ihm rüberging.

Ich setzte mich neben ihn aufs Bett und zögerte unsicher.

„Also…“, machte ich, doch Nick zog mich kurzerhand auf seinen Schoß und küsste mich. Und wie er mich küsste…

Mein Hirn schaltete ab und ich vergrub die Hände in seinen Haaren.

Irgendwann mussten wir leider aufhören, aus atemtechnischen Gründen. Nick zog sich ein bisschen zurück und grinste mich an.

„Also, ich bin so was von hetero“, meinte er.

„Na das kannst du laut sagen“, murmelte ich und er lachte.

Ich kletterte von ihm runter und setzte mich neben ihm aufs Bett. Mein Herz stolperte nur so vor sich hin und mein Atem ging ein Tick zu schnell. Nick konnte wirklich verdammt gut küssen.

Wir saßen eine Weile schweigend neben einander, aber es war keine unangenehme Stille.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum der Typ auf die steht“, sagte ich nach einer Weile.

Nick stöhnte auf und vergrub das Gesicht an meiner Schulter.

„Grad hab ich nicht mehr daran gedacht und dann erinnerst du mich dran“, nuschelte er in mein Schlaf-Shirt.

„Oh, soll ich dich wieder ablenken?“, gurrte ich in einem Ton, als würde ich mit einem kleinen Kind reden.

„Ja, bitte“, meinte er und hob hoffnungsvoll den Kopf, aber ich lachte nur.

„Das hättest du wohl gerne. Jetzt erzähl mir endlich was der Typ gesagt hat!“

„Na gut.“ Sein Gesicht sank wieder an meine Schulter. „Er meinte, er findet mich total männlich, aber er wüsste, dass ich innerlich einen weichen Kern hätte und verletzlich wäre. Und er findet mich heiß. Weißt du wie ekelhaft die Vorstellung für mich ist, dass ein anderer Typ mich heiß findet?“

Ich sah zu Nick runter und meinte trotz Dunkelheit erkennen zu können, dass er rot war. Und zwar nicht nur zart an den Wangen, sondern knallig feuerrot wie ein Leuchtturm.

„Du tust mir so leid“, kicherte ich. „Aber der andere tut mir noch mehr leid.“

„Warum das denn?“

„Immer nach Sport oder nach dem Training wenn ich mit euch duschen muss… Hast du eine Ahnung, wie ich mich da fühle?“

„Du musst die anderen ja nicht anschauen“, meinte Nick und er klang aus irgendeinem Grund verstimmt.

„Wenn du mit einem Haufen Supermodels unter der Dusche wärst, wo würdest du da hin schauen?“, fragte ich zurück und Nick schnaubte.

„Du vergleichst unsere Klasse mit Supermodels?“

„Also die meisten sind schon heiß… Mike zum Beispiel oder Ram… und du natürlich“, kicherte ich und strubbelte ihm durch die Haare, weil er mir ein bisschen angepisst vorkam. „Aber aus m Basketball find ich eigentlich alle heiß, zumindest vom Körper, weil die … ihr so trainiert seid. Und sonst… ja also richtig hässliche sind eigentlich keine dabei. Scheiße, ich brauch ein Mädchen mit dem ich über so was reden kann.“

„Das Gefühl hab ich auch“, meinte Nick belustigt, obwohl er immer noch schlecht gelaunt klang.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich es vermissen könnte mit einem Mädchen zu reden. Die sind immer so kompliziert.“

„Du bist aber schon eins, oder?“, fragte Nick gespielt zweifelnd.

„Ja, du Penner.“ Ich lehnte meinen Kopf an seinen. Es hatte schon etwas Seltsames an sich, so im Dunkeln an einander gekuschelt da zu sitzen, aber ich fühlte mich wohl, und ich hatte nicht vor, so schnell wieder in mein eigenes Bett abzuhauen.

„Findest du’s nicht langweilig auf eine Schule zu gehen, auf der nur Jungs sind? Wissenschaftliche Studien haben sogar belegt, dass man in gemischten Klassen besser lernt“, sagte ich mit meiner Streberstimme und Nick lachte.

„Die Eltern der meisten hier schicken ihre Söhne hier her, weil sie nicht wollen, dass sie mit Mädchen auf eine Schule gehen.“

„Deine auch?“, fragte ich grinsend.

Darauf sagte Nick nichts.

„Aber dann sind die doch bestimmt voll angepisst, dass ich jetzt hier bin“, meinte ich nach einer Weile.

„Ja, stimmt. Tatsächlich soll es sogar schon böse Briefe an den Schulleiter gegeben haben, aber der hält alles unter Verschluss.“

„Woher weist du’s dann?“

„Connections sind alles, Süße.“

Ich lachte, weil es so süß klang wie er es sagte und auch irgendwie scharf, aber das versuchte ich zu ignorieren.

„Ich halte dich immer noch vom Schlafen ab.“

„Hm. Ich bin zu müde um aufzustehen“, meinte ich und sah zu meinem Bett.

„Soll ich dich rüber tragen?“, fragte Nick.

„Ich bin dir doch viel zu schwer.“

„Du? Ich bitte dich, du bist ein Fliegengewicht.“

„Du hast so eine große Klappe… Ahh, lass mich runter!“

Nick hatte mich kurzer Hand wie ein Baby auf seine Arme gehoben und war aufgestanden. Doch als er mich auf meinem Bett ablegen wollte, zog ich ihn so mit, dass er auf mich drauf fiel. Darauf folgte eine Kitzel Attacke seinerseits, bis ich japsend und kichernd um Erbarmen flehte.

„Jetzt bin ich aber zu faul um wieder in mein Bett zu gehen“, meinte Nick.

„Dann bleib halt hier“, murmelte ich müde und weil er grade so praktisch neben mir lag, kuschelte ich mich an ihn und schlief ein.

 

*Nicks Sicht*

 

„Dann bleib halt hier“, murmelte Nay und ich konnte meinen Ohren kaum trauen. Jetzt kuschelte sie sich auch noch an mich und gab keinen Mucks mehr von sich, abgesehen von leisen, regelmäßigen Atemzügen.

Die Kleine war einfach unglaublich süß. Ich hätte nie erwartet, dass sie mich küssen würde, aber als sie es dann doch gemacht hatte…

Bei dem Gedanken und wahrscheinlich auch, weil sich ihr warmer Körper so eng an mich schmiegte, regte sich etwas in meiner Hose. Ich atmete langsam aus und dachte an die unerotischsten Dinge die mir einfielen. Aber ich brauchte nur an den schrägen Typen zu denken und schon verging mir wieder alles. Was war bloß los mit dem Freak? Ich hatte nichts gegen Schwule solange sie mich in Ruhe ließen, aber das ging echt zu weit. Gott, machte ich etwa den Eindruck als wäre ich auch schwul? Nein, sicherlich nicht.

Nay bewegte sich und ich legte seufzend einen Arm um sie. Am liebsten hätte ich sie die restliche Nacht lang geküsst… und noch mehr. Obwohl Nay das erste Mädchen war, mit dem ich nicht schlafen wollte. Das heißt, ich wollte es schon, aber noch nicht sofort.

Dieses Mädchen verdrehte mir wirklich ganz schön den Kopf. Was war an ihr bloß anders? Sie war nicht so oberflächlich, wie die anderen mit denen ich bis jetzt was gehabt hatte. Sie hatte Humor. Und sie war unvoreingenommen, aber wenn ihr etwas nicht passte konnte sie auch ziemlich bissig sein. Außerdem war sie so ziemlich das komplette Gegenteil von hässlich. Wenn ich ihr vor ein paar Wochen auf der Straße begegnet wäre, wäre sie mir vermutlich nicht mal aufgefallen. Aber so wie sich jetzt an mich kuschelte, konnte ich sie schlecht ignorieren.

Nay bewegte sich etwas und legte ihren Kopf auf meine Brust.

„Meins“, nuschelte sie leise und ich lachte leise.

„Oh Nay… Was ist bloß los mit mir?“, flüsterte ich leise.

Ihre Hand wanderte über meinen Bauch und ich legte schnell meine eigene über ihre. Mein Herz schlug längst nicht mehr ruhig vor sich hin und mein Atem ging auch schneller. Wenn ich nicht in mein Bett rüber ging, wär’s das wohl mit der erholsamen Nacht gewesen.

Ich versuchte aufzustehen, doch Nay legte jetzt auch noch ein Bein über meine und ich stöhnte unterdrückt auf. Bilder schoben sich in meinen Kopf, die wirklich unpassend in dieser Situation waren und ich versuchte sie zurück zu drängen. Wenn ich Nay jetzt damit weckte, dass ich einen Ständer bekam, würde sie mich entweder auslachen oder ziemlich angepisst sein. Ich atmete langsam ein und aus. Dann würde ich heute Nacht wohl nicht schlafen. Wurde ja auch total überbewertet.

 

Ich wurde von der süßesten Stimme die ich je gehört hatte geweckt.

„Raus aus meinem Bett, da ist jemand an der Tür!“

Okay, was sie sagte war nicht so süß.

Ich öffnete die Augen. Nay kniete angezogen neben mir und rüttelte an meiner Schulter.

„Na los“, zischte sie.

Ich brummelte müde. Was machte die denn jetzt für einen Stress? Weil ich aber so ein gütiger Mensch bin, stand ich auf, schleppte mich in mein Bett und kroch unter die Decke. In dem Moment schwang auch schon die Tür auf und Jason kam rein.

„Nick, schläfst du etwa immer noch?“, lachte er und ich stöhnte genervt. Kleine Brüder konnten echt nerven.

„Nein, jetzt nicht mehr“, maulte ich.

„Okay, wir sind dann auch schon weg“, sagte Nay und schob Jason Richtung Tür.

Warum hatte sie es plötzlich so eilig?

„Wo geht ihr hin?“, fragte ich und legte einen Arm unter meinen Kopf.

„Jason will mir das Wawa vorführen, dass er gestern gekauft hat.“

„Er will was?!“

„Ein Wah-Wah, auch bekannt als Cry-Baby ist ein Gerät um den Klang einer Gitarre zu…“

„Ist okay, ist okay, geht einfach“, wehrte ich lachend ab. Sobald mein Bruder angefangen hatte, über Gitarren zu reden, war er nicht mehr zu bremsen. Die Tür fiel ins Schloss. Nay hatte keine Ahnung worauf sie sich da eingelassen hatte…

Ich konnte nicht mehr schlafen weshalb ich aufstand. Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, sah ich auf die Uhr. Elf Uhr am Sonntag. Mike würde noch schlafen und ich hatte absolut keinen Bock dem Typen von gestern auf dem Gang zu begegnen. Also würde ich wohl im Zimmer bleiben.

Immerhin konnte ich jetzt mal ausgiebig über das Zeug nachdenken, dass mir in letzter Zeit passierte.

Okay, über den Typen wollte ich nicht wirklich nachdenken, ich hoffte einfach, dass er mir nie wieder begegnen würde. Und solange Nay den Mund hielt, würde auch niemand davon erfahren.

Nay… Nays Mund… Ich merkte, wie meine Gedanken abschweiften und räusperte mich. Mir war klar, dass ich mehr, oder zumindest etwas anderes als Freundschaft für sie empfand. Aber eine Beziehung hier im Internat konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Das würde doch alles kompliziert machen… Und was würde Mike bloß dazu sagen? Sie erschien mir nicht als der Typ Mädchen, das sich in einen Playboy wie mich verliebte.

Ich schnaubte. Ich sollte weniger über so einen Schwachsinn nachdenken. Da es bald Zeit zum Mittagessen war, beschloss ich nach unten zu gehen. Auf dem Flur lief mir Jason in die Arme.

„Wo hast du Nay gelassen?“, fragte ich im Vorbeigehen.

„Die ist glaub noch im Musiksaal“, meinte er und war schon um die Ecke verschwunden.

Da der fast auf dem Weg war, beschloss ich, sie abzuholen. Nachher verirrte sie sich noch, das sähe ihr ähnlich.

Der Musiksaal lag ganz am Ende des langen Flurs, der sich durch das Wohnabteil der Schule zog. Der obere Teil der Wand war verglast, sodass man hinein sehen konnte.

Ich blieb überrascht stehen, als ich Nay durch diese Verglasung hindurch sah. Sie saß vor dem Klavier und spielte. Die Töne drangen leise nach draußen. Ich verstand nicht so viel von Musik wie mein Bruder, aber mir war klar, dass sie verdammt gut spielen konnte. Ich betrat den Musiksaal leise, damit sie es nicht bemerkte und zu spielen aufhörte.

Nachdem das Stück vorbei stand sie seufzend auf und drehte sich um, während sie den Klavierdeckel zu machte. Als sie mich sah riss sie erschrocken die Augen auf und lies den Deckel los, der mit einem lauten Schlag zu fiel.

 

*Nay*

 

Heute Vormittag hatte ich zwei Sachen festgestellt. Erstens: Es wäre mir unglaublich unangenehm, wenn jemand denken würde, dass zwischen mir und Nick mehr als Freundschaft war, und zweitens: Wenn Jason erst Mal seine Gitarre in der Hand hatte, legte er sie nicht mehr so schnell weg.

Als ich das Musikzimmer betreten hatte, war mir sofort der Flügel aufgefallen, der gegenüber von dem Schlagzeug stand. Er war abgedeckt gewesen, anscheinend spielten nicht viele darauf.

Als Jason mir die halbe Geschichte der Rock Musik erzählt hatte und er ausreichend sein Cry-Baby getestet hatte, hatte ich ihn schon mal voraus geschickt.

Zuhause hatte ich auf einem Klavier gespielt, aber ich hatte auch ein paar Mal bei meinem Lehrer auf einem Flügel gespielt. Trotzdem waren Anschlag und Klang ungewohnt. Ich spielte ein Stück von Einaudi, meinem Lieblingskomponisten. Während meine Finger über die Tasten glitten, merkte ich, dass ich das Spielen mehr vermisste, als ich gedacht hatte.

Ich beendete das Stück mit einem Arpeggio und erhob mich seufzend. Als ich mich umdrehte rutschte mir vor Schreck der Klavierdeckel aus den Fingern und fiel knallend zu.

„Nick, was machst du denn hier?“, fragte ich ertappt.

„Ich war auf dem Weg zum Mittagessen und dachte ich hole dich ab“, meinte er langsam. „Du kannst echt gut spielen.“

„Es geht.“ Es war mir nicht klar warum, aber irgendwie war es mir peinlich, dass er mich gehört hatte.

„Was war das für ein Stück?“

„Nefeli“, meinte ich kurz angebunden. 

„Das…“

„…kennst du eh nicht. Gehen wir“, schnappte ich und ging an ihm vorbei aus dem Raum.

„Hey, was ist denn auf einmal los?“, rief Nick mir nach und schloss auf.

„Nichts.“ Ich zuckte mit den Schultern. Okay, entweder ich bekam demnächst meine Tage oder ich hatte einen schlechten Tag. Oder ich war verwirrt, was Nick anging. Wahrscheinlich traf alles zu, aber ich sollte trotzdem versuchen, meine schlechte Laune nicht an Nick auszulassen. Er konnte ja nichts dafür, dass mein Kreische-Teenie-Herz bei seinem Anblick total ausflippte. Er sah ja nicht mit Absicht so aus… Aber für seinen Charakter konnte er schon was! Obwohl er ja meistens ein Arsch war. Wenn er nicht grade total süß und…

„Hallo? Nay? Ich rede mit dir.“

Seine Stimme riss mich dankbarerweise aus meinen wirren Gedankengängen und ich sah ihn an, was dazu führte, dass ich die erste Stufe der Treppe verpasste und wohl runter gefallen wäre, hätte Nick mich nicht im letzten Moment zurückgerissen.

„Ist alles okay? Du scheinst mir nicht so… geistig anwesend“, meinte Nick grinsend.

„Jaja, mir geht’s bestens.“

Nick schüttelte nur belustigt den Kopf und wir gingen die Treppen runter, wobei ich den Blick strickt auf den Boden gerichtet hatte, um mich nicht nochmal so zu blamieren.

 

Physik war so sterbensöde, dass ich die ganze Zeit nur auf meinem Block rumkritzelte und meine Gedanken schweifen ließ und aus dem Fenster schaute, anstatt Nick, der neben mir saß und ebenfalls nicht gerade aufmerksam mit dem Stuhl wippte, zu beachten.

Ich hatte gestern kaum noch mit ihm geredet und mir war jetzt auch ein bisschen klarer warum. Es war mit schlicht weg einfach unangenehm. Seit wir und geküsst hatten konnte ich ihn noch weniger ansehen als sonst. Nicht dass ich verliebt war, nein, ich gehörte ja nicht zu den niveaulosen Brendas, die auf Player abfuhren und sich mir nichts dir nichts flachlegen ließen. Es war mir einfach unangenehm, dass ich ihn so nah an mich heran gelassen hatte, wo ich ihn doch kaum kannte. Mir fehlte tatsächlich gerade nichts mehr als ein Mädchen zum Quatschen. Ich hatte zwar nie wirklich viele oder gute Freundinnen gehabt, aber da doch immer jemand zum Reden gewesen.

Ich sah auf meine Armbanduhr und verstand nicht, wie das Wochenende so schnell vergehen hatte können. Das nächste wünschte ich mir aber auch nicht herbei, da war dieser dumme Ball von meinen Eltern. Immerhin war John auch da. Am besten wäre es wahrscheinlich, wir verkröchen uns den ganzen Abend in unseren Zimmern und schauten einer dieser Kinderfilme, die John so liebte. Früher hatte ich mich nur dazu hinreißen lassen, wenn ich krank war, aber jetzt vermisste ich es schrecklich, wie John aufgeregt auf dem Sofa herum hüpfte und den Figuren Ratschläge und Vorwürfe zu rief.

Nick trat mir auf den Fuß und ich fuhr zusammen. Die halbe Klasse sah mich an und Herr Fluid stand verärgert vor meinem Tisch. Ich hatte die schlimme Vermutung, dass er mich etwas gefragt hatte.

„Äh…“, machte ich und sah an die Tafel. „Also…“

„Deine Eltern bezahlen nicht teures Geld, damit du im Unterricht träumst“, raunzte er mich an und ich wurde rot. „Wer hat aufgepasst und kann meine Frage beantworten?“

Er wandte sich zum Glück von mir ab und ich fuhr mir übers Gesicht. Da ertönte ein Signalton aus dem Laufsprecher an der Wand und die nasale Stimme einer Sekretärin ertönte.

„Nanayda Griffin bitte ins Büro des Direktors, Nanayda Griffin.“

Ein belustigtes Raunen ging durch die Klasse und Nick meinte leise: „Was hast du denn böses angestellt, Nanayda?“ Er betonte meinen Namen total dämlich und ich streckte ihm die Zunge raus, während ich meine Sachen in meine Tasche schmiss und den türschlagend den Raum verließ.

Während ich zum Direktor ging, versuchte ich das positive an der Sache zu sehen: Ich war von Physik befreit. Hm. Weniger als ich erwartet hatte.

Die Sekretärinnen winkten mich unwirsch durch und als ich die Tür zum Büro öffnete, sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich nichts verbrochen hatte. Meine Mutter hatte deutlich gemacht, dass sie mich von der Schule nehmen würde, sobald sie irgendeinen Grund dazu hatte.

Herr Fisten telefonierte gerade und bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mich setzen sollte.

Ich vertrieb mir die Zeit damit, meine Haare zu mustern und festzustellen, dass die roten Strähnen ausgeblichen waren. Sollte ich sie nachfärben und zur Feier des Balls meiner Eltern gleich alles rot machen?

„Nanayda.“

Die Stimme des Direktors ließ mich zusammen zucken.

„Wie fühlst du dich?“

„Äh… super?“

„Das freut mich.“ Er lächelte schleimig und ich bekam fast ein bisschen Angst vor ihm. „Du hast gezeigt, dass du eine sehr gute Schülerin bist und ich hoffe, das bleibt so.“

Ich nickte und lächelte höflich. Was wollte der von mir?

„Coach Klein hat mir erzählt, dass du dem Basketballteam beigetreten bist.“

„Das stimmt“, bestätigte ich.

„Er hat auch erzählt, dass du eine großartige Spielerin bist, deshalb tut es mir leid dir das sagen zu müssen: Du kannst weiter am Training teilnehmen, allerdings wird dir nicht gestattet werden bei den Spielen mitzumachen.“

„Warum das denn?!“ Ich war völlig entgeistert.

„Weil es gleichgeschlechtliche Mannschaften sind. Es steht so in den Regeln, da kann man nichts machen.“

„Aber…“

„Nanayda, du bist hier an einem Jungeninternat, dies ist sicherlich nicht der erste Kompromiss, den du zu machen hast. Daher wird es dir wohl nicht so viel ausmachen.“

Die Botschaft war klar und deutlich angekommen. Mir war klar, dass ich es mir nicht mit dem Penner verscherzen sollte, also drückte ich meine Wut noch kurz für ein paar Sekunden nach unten und verlies mit einem starren Lächeln das Büro.

Inzwischen war es schon Pause und ich lief schlecht gelaunt durch die volle Halle zur Treppe wo Nick und Mike saßen. Total entnervt ließ ich mich neben sie auf die Stufen fallen und schloss stöhnend die Augen.

„Das ist nicht die Art Stöhnen, das ich von einer Frau in meiner Gegenwart erwarte. Was ist los?“, fragte Mike und ich boxte gegen seine Schulter.

„Herr Fisten meint, ich darf bei den Basketballspielen nicht mitmachen, weil ich ein Mädchen bin“, knurrte ich.

„Also…“, begann Nick und ich sah ihn mit meinem bösesten Blick an.

„Sag nichts Falsches oder ich erwürge dich heute Nacht, wenn du schläfst.“

„Du hast recht, das ist total unfair und … gemein.“

„Nick!“, rief ich genervt musste aber trotzdem lachen.

„Es ist schon ungerecht, vor allem weil du echt gut spielst“, sagte Mike. „Aber es sind nun mal Jungs Mannschaften.“

Es läutete und ich machte mich seufzend zu Chemie auf.

Auch diese Stunde trug nicht gerade zu meiner guten Laune bei. Wir machten keine Projektarbeit. Nur theoretisches Gefasel. Herr Bronsin redete über alkalische und saure Was-auch-immer und Indikatoren.

„Wer kann mir sagen was Phenolphtalein also ist?“, fragte er und sah erwartungsvoll in die Runde.

Ich hatte meine Füße gegen die Vorderwand des feuerfesten Tischs gestellt und kippte mit dem Stuhl etwas nach hinten.

Ein Schüler in der ersten Reihe meldete sich.

„Wirklich? Nur einer? Na gut.“ Der enttäuschte Lehrer rief den Typ auf der sofort mit einer lexikonreifen Erklärung präsentierte.

„Phenolphtalein ist ein weißes Pulver und ein Farbindikator. Es zeigt an, ob ein Stoff sauer oder alkalisch ist.“

Das war so ziemlich genau das, was der Lehrer eben gesagt hatte, trotzdem war Herr Bronsin zufrieden.

„Und wann verfärbt es sich rosa? Nay?“

„Hm?“ Mein Stuhl kippte fast ganz um. „Also… wenn es das Ufer wechselt?“, antwortete ich so leise, dass Herr Bronsin es nicht hörte, die anderen Schüler aber schon. Es ging ein Lachen durch die Klasse und ich wurde fast ein bisschen rot. Ich war so eigentlich nicht, so aufrührerisch.

„Das bedeutet, dass der Stoff alkalisch ist“, sagte ich daher lauter und Herr Bronsin nickte.

In den letzten zehn Minuten tischte er uns auf, dass wir mit unserem Projektpartner bis zu den Herbstferien in fünf Wochen eine zehnseitige schriftliche Ausarbeitung über eines der Themen, die er uns zur Verfügung stellte, schreiben sollten. Felix und ich entschieden uns für das Periodensystem. Geschichte, Benutzung etc., etc. 

Wahrscheinlich lag es an meiner schlechten Laune, aber ich hatte absolut keine Lust mit Felix zu arbeiten. Er war ja nett und alles… Aber er war… Naja.

Ich schlurfte lustlos zur Sporthalle runter und hörte die anzüglichen und dämlichen Kommentare der Jungs gar nicht, während ich in die Kammer ging, in der ich mich umzog.

Nach der Stunde, in der ich wenigstens gut mitgemacht hatte, dementsprechend aber auch erschöpft war, ging ich zu Coach Klein und stellte ihn, so freundlich ich konnte, zur Rede.

„Ich weiß, ich habe auch schon mit Direktor Fisten geredet und mit dem Trainer der Mannschaft, gegen die wir am Samstag spielen. Der Direktor ist ziemlich dagegen, aber wenn wir ganz viel Glück haben und die andere Mannschaft nicht kneift… Wer weiß?“ Er zwinkerte mir verschwörerisch zu.

„Aber mach dir erst mal keine zu großen Hoffnungen.“

„Alles klar“, grinste ich breit und ging in die Umkleide um mich zum Duschen fertig zu machen.

Weil die meisten Jungs schon zum Mittagessen davon gestürmt waren, hatte ich diesmal meine Ruhe und bekam keine Herzattacken.

Beim Essen saß ich erst allein, weil ich meine Ruhe haben wollte, aber dann kam erst Felix, um einen Termin für das Chemieprojekt zu verabreden und dann Jason, der mich zu seiner Bandprobe einlud. Ich versprach zu kommen und hoffte, dass ich einfach nur gemütlich auf dem Sofa in der Ecke sitzen und zu hören musste.

Jason ließ mich nicht aus den Augen, während ich mein Tablett im fast leeren Speisesaal wegräumte und dann gemeinsam mit ihm zum Musikzimmer ging.

„Wir haben einen neuen Song, den haben wir in den Sommerferien in Frankreich geschrieben…“

„Ihr wart alle drei in Frankreich?“

„Ja, meine Eltern haben da ein Haus, wo wir immer Urlaub machen und Freunde einladen können.“

Jason erzählte mir von dem Song und mir wurde bei seiner Begeisterung warm ums Herz. Als er sagte, nach seiner Karriere als jüngster Schwimmer mit olympischem Gold würde er als Musiker groß rauskommen, stiegen mir beinah die Tränen in die Augen.

Verdammt, spätestens Übermorgen waren meine Tage so was von fällig.

Charles und Ben waren schon im Musiksaal als wir ankamen.

„Hi Jungs“, rief ich und lies mich auf das Sofa fallen.

Sie stimmten sich kurz aufeinander ein, dann drehte sich Jason zu mir um und verkündete: „Wir spielen jetzt den neuen Song: Music never stops.“

Ich stieß einen Jubelruf aus und klatschte lachend. Eigentlich hatte ich einen etwas unbeholfen 0-8-15 Song über Musik erwartet, aber der Text war tiefgründig, voller Metaphern und Jason traf jeden Ton exakt. Der Beat ging ins Ohr und die Akkorde forderten einen regelrecht zum Tanze auf.

Mein Mund klappte immer weiter auf, während sie spielten. Dieses Lied war genial und wenn die drei so weiter machten, könnten sie der neue Green Day werden.

 

*Jason*

 

Ich verlor mich in der Musik, während meine Finger die Saiten ohne mein Zutun fanden. Den Rausch, den ich beim Musikmachen hatte, verspürte ich sonst nur beim Schwimmen. Dabei konnte ich alle anderen Gedanken ausschalten und nur ich selbst sein. Ich öffnete die Augen und sah zu Nay hinüber. Ihre Augen leuchteten und ihr Mund stand leicht offen. Entweder gefiel ihr der Song oder sie fand ihn schrecklich…

Eine Haarsträhne fiel ihr in die Augen und fast hätte ich mich verspielt, weil meine Finger reflexartig in ihre Richtung zuckten.

Nay war ein perfektes Mädchen. Sie war hübsch, cool, nett, unvoreingenommen und klug. Außerdem hatte sie sich nicht von meinem Bruder einwickeln lassen.

Mein Herz hämmerte wie verrückt in meiner Brust als sie mich angrinste und beide Daumen hochhob. Es gefiel ihr also.

Obwohl es kein Liebeslied war, kam es mir plötzlich so vor. Auf einmal hatte ich den Mut ihr zu sagen, was ich empfand, wie sehr ich sie mochte. Doch ich wusste, dass dieser Mut mit dem Ende des Lieds verschwinden würde.

„Wow, das war klasse!“, rief Nay und sprang auf, als wir geendet hatten.

„Meine Güte, ihr solltet die Schule abbrechen und nach Hollywood durchbrennen!“, lachte sie.

„Hollywood ist was für Schauspieler. Wir Musiker bleiben lieber in England“, meinte Charles grinsend und Ben stimmte ihm zu.

„Ihr seid trotzdem super. Und eure Band braucht unbedingt einen Namen“, fuhr sie fort.

„Überleg du dir doch einen“, meinte ich so lässig ich konnte und Nay hob eine Augenbraue.

„Echt jetzt?“

„Warum nicht? Uns fällt ja keiner ein…“

„Also gut.“ Ihre Augen funkelten und ich wusste, dass sie schon eine Idee hatte. „Dann spielt ihr mal schön weiter und ich lasse mir was einfallen.“

Sie holte einen Block und einen Stift aus ihrer Tasche und begann etwas aufzuschreiben.

„Okay, Jungs. Dann mal weiter.“

 

*Nay*

 

Der Song hatte mich inspiriert. Ich hörte bei den Liedern, die sie coverten nicht so genau hin, wie bei den eigenen und versuchte herauszufinden, was ihren Stil ausmachte.

Ich notierte Ideen, strich sie wieder durch und schrieb neue auf. Irgendwann bemerkte ich etwas in den Texten, das mir davor nicht aufgefallen war. In allen steckte eine Kritik, ein Unwille über die gegebenen Umstände und der Wunsch auf Veränderungen… Eine Revolte, ein letzter Versuch die Fesseln die Gesellschaft abzuschütteln.

Ich sah mir die drei Jungen an. Sie waren eigentlich ganz normal, aber mit ihren Instrumenten und der Musik wurden sie zu etwas besonderem. Sie waren anders als der Rest, durch ihre Musik.

„Ich hab einen Namen“, verkündete ich stolz, als Jason seine E-Gitarre wegstellte.

„Dann lass mal hören.“ Er richtete sich gespannt auf.

„Sound of Revolution.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und beobachtete die drei, wie sie einen Blick tauschten.

„Das ist gut“, sagte Charles schließlich überrascht.

„Ja. Ja, echt gut“, meinte auch Ben und begann breit zu grinsen.

„Es passt richtig gut zu uns. Wie bist du da drauf gekommen?“, fragte Jason.

Ich zuckte mit den Schultern und grinste. Im Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Dann klingelte mein Handy und ich zuckte überrascht zusammen.

„Sorry“, murmelte ich und wandte mich ab.

Nick trat ein, doch das registrierte ich nur am Rande, während ich mein Handy aus meiner Hosentasche holte und abnahm.

„Hallo?“, meldete ich mich ohne vorher auf den Display zu sehen.

„Hallo Nanayda, hier spricht deine Mutter.“

„Oh. Was willst du denn?“, fragte ich überrascht und drehte mich halb von den Jungs weg.

„Ich wollte mit dir nur noch mal über den Wohltätigkeitsball dieses Wochenende reden.“

„Verdammt!“ Irgendwie war mir das ganz entgangen. Dieses Wochenende war doch auch mein erstes Spiel – sofern sie mich mitspielen würden.

„Ich dachte mir schon, dass du es vergessen hast. Aber keine Sorge, ich habe schon alles organisiert. Also am Freitag wird dich Herr Parkin um halb drei abholen, dann haben wir noch genug Zeit für die Anprobe und können das Kleid ändern lassen, falls es nötig ist. Am Sonntagabend bist du dann wieder im Internat und…“

„Mum, ich kann nicht kommen“, unterbrach ich sie.

„Wie bitte?“

„Ich kann nicht. Am Samstag ist ein Basketballspiel“, erklärte ich.

Erst schwieg sie, dann sagte sie perplex mit hoher Stimme: „Du stellst diese… Veranstaltung über die Verpflichtungen, die du deiner Familie gegenüber hast?“

„Jetzt mach mal halb lang!“, rief ich wütend. Da wurde mir klar, dass mich alle ansahen.

„Sorry“, murmelte ich schnell und ging raus in den Gang.

„Meine Familie ist mir wichtig, aber ihr braucht mich auf diesem Ball überhaupt nicht. Was denkt denn der Coach von mir, wenn ich bei meinem ersten Spiel nicht auftauche?“

„Ein Wunder, dass sie dich überhaupt mitspielen lassen. Nanayda, du bist ein Mädchen! Du gehörst ein Mädcheninternat und in eine Mädchensportmannschaft… Warum spielst du kein Volleyball oder Tennis?“

„Weil das lahm ist!“

„Nicht in diesem Tonfall, junge Dame! Du wirst am Samstag hier sein, ob du willst oder nicht!“

Es folgte eine sehr lange und sehr laute Diskussion.

„Du unterstützt mich nie!“, warf ich ihr irgendwann an den Kopf. „Du bist so eine beschissene Mutter!“

„Rede nicht so mit mir!“, kreischte sie und wenn wir jetzt beide zuhause wären, würde sie oder ich vermutlich etwas kaputt machen. „Und wenn dir deine Eltern schon so egal sind, dann komm wenigstens wegen John. Du kannst mir nicht vorwerfen eine schlechte Mutter zu sein, wenn du eine schlechte Schwester bist.“

„Wag es nicht!“

Wir schrien uns fünf Minuten lang an – ich schrie etwas leiser, weil mich sonst alle hören konnten.

„Okay Mum“, sagte ich schließlich. Es war sinnlos, was wir hier machten. „Ich schlage dir jetzt etwas vor: Wie wäre es, wenn ich einfach nachmittags komme, wenn das Spiel aus ist?“

Sie schwieg. Meine Mutter war sauer und ich wusste, dass sie nicht so einfach nachgeben würde. Wir hatten uns noch nie gut einigen können, da keine von uns nachgeben wollte.

„Wann ist es denn aus?“, fragte sie nach kurzer Zeit ärgerlich.

„Moment.“ Ich öffnete die Tür zum Musiksaal.

„Nick? Weißt du von wann bis wann das Spiel am Samstag geht?“

Er sah mich etwas verdutzt an.

„Also, wir fahren hier um neun los und sollten spätestens um zwölf Uhr fertig sein“, meinte er langsam.

„Und wo ist es?“

Er nannte mir den Namen der Schule und ich schloss die Tür wieder nickend.

Dann gab ich meiner Mutter die Informationen weiter.

„Nein. Nein, Nanayda, es tut mir leid, aber das ist mir zu stressig. Wenn dann etwas bei dem Kleid nicht passt oder du im Stau steckst oder dich beim Spiel verletzt…“

„Mum! Jetzt komm schon! Ich kann doch auch das schwarze Kleid anziehen. Das eine, dass du in den Ferien gekauft hast…“

„Das ist viel zu kurz für diesen Anlass! Ich kann nicht zulasse, dass meine Tochter auf meinem eigenen Wohltätigkeitsball wie eine Schlampe aussieht!“

„WIE BITTE?“ Das war genug. Jetzt reichte es mir. „Wieso hast du es gekauft, wenn ich darin angeblich wie eine Schlampe aussehe?“

„Na, da hatte ich es noch nicht an dir gesehen. Aber ich will jetzt nicht länger mit dir streiten. Herr Parkin holt dich am Freitag.“

„Aber…“ Doch da hatte sie schon aufgelegt. Ich starrte das Handy in meiner Hand an. Dann ging ich in den Musiksaal und ließ mich frustriert auf die grüne Couch fallen.

„Ich hasse meine Mutter.“

 

*Nick*

 

Ich musste mit Nay reden und zwar dringend. Mittlerweile war mir klar geworden, dass Jason auf sie stand. Und wie ich mein Glück kannte, würde mein kleiner Bruder mir vielleicht tatsächlich das Mädchen ausspannen, wenn ich weiter nur rumtrödelte. Ich war sicher nicht in sie verliebt, ich war einfach nicht der Gefühlstyp. Aber ich wollte nicht, dass irgendjemand außer mir mit ihr zusammen war. Außerdem würde sie wohl kaum nein sagen, wenn ich ihr auf die richtige Art zeigte, was ich wollte. Noch nie hatte mir ein Mädchen lange widerstehen können.

Ich wusste, dass sie gerade bei der Probe von meinem Bruder war, also machte ich mich auf den Weg zum Musiksaal. Als ich reinkam, klingelte gerade ihr Handy.

„Hallo?“, meldete sie sich und ich steckte die Hände in die Hosentaschen. Super Timing.

„Oh. Was willst du denn?“, fragte Nay überrascht und drehte sich halb um.

In einem kurzen Anfall von Eifersucht überlegte ich, ob sie mit einem Jungen telefonierte.

„Verdammt!“, rief sie plötzlich.

Ich sah Jason fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern.

„Mum, ich kann nicht kommen“, sagte Nay und ich atme erleichtert aus.

„Ich kann nicht. Am Samstag ist ein Basketballspiel“, erklärte Nay ihrer Mutter.

„Jetzt mach mal halb lang!“, rief sie keine Minute später und sah auf.

Sie wurde rot und murmelte ein hektisches „Sorry“ und ging dann raus auf den Gang.

„Hat sie wieder Streit mit ihrer Mutter?“, fragte ich als sie draußen war.

„Ich weiß auch nicht mehr als du“, meinte Jason nachdenklich.

„Ich frag mich, was da vorgefallen ist“, meinte Ben, dann zuckte er mit den Schultern und holte seinerseits das Handy hervor um Charles ein Lied vorzuspielen.

Jason und ich beobachteten Nay, die immer wütender wurde und wild gestikulierte. Ihre Stimme klang gedämpft in den Musiksaal, doch ich konnte nicht verstehen, was sie sagte.

Dann wurde sie ruhiger und kurz darauf öffnete sie die Tür und streckte den Kopf herein.

„Nick? Weißt du von wann bis wann das Spiel am Samstag geht?“

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen wovon sie redete.

„Also, wir fahren hier um neun los und sollten spätestens um zwölf Uhr fertig sein“, meinte ich dann langsam.

„Und wo ist es?“

Ich nannte den Namen der Schule und sie schloss die Tür wieder nickend.

„Sie hat es echt nicht leicht“, meinte Jason.

„Eltern sind nie einfach“, erwiderte ich abwesend.

„Also unsere Eltern sind um einiges einfacher als ihre!“

„Das kannst du doch nicht wissen“, sagte ich leicht genervt und in diesem Moment kam Nay wieder rein und ließ sich aufs Sofa fallen.

„Ich hasse meine Mutter“, stöhnte sie und verschränkte die Arme über dem Gesicht.

„So schlimm kann es doch nicht sein“, sagte ich so gut gelaunt, wie ich konnte.

Sie hob die Arme an und sah mich verstört an.

„Sie zwingt mich ein doofes Kleid anzuziehen und vor fremden Leuten Vorzeigetochter zu spielen. Aber das kann sie sich abschminken“, sagte sie düster. „Wenn sie mir meinen Spaß nimmt, nehme ich gerne auch ihren.“

„Okay“, sagte ich gedehnt.

„Leute, es ist Zeit zum Essen“, verkündete Charles plötzlich.

War es etwa schon Abend? Wie schnell die Zeit verging… Aber ich wollte unbedingt noch mit Nay reden.

Ich achtete darauf, dass die anderen vor uns liefen und zog Nay kurz vor der Treppe in eine Nische.

„Was soll das?“, fragte sie verwirrt.

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. War das wirklich so eine gute Idee? Nay war kein normales Mädchen. Wenn sie mir einen Korb gab, würde ich ziemlich dumm da stehen. Ich suchte hastig nach einer Ausrede, aber jemand ganz anderes kam mir zu Hilfe.

 

„Na, ihr Turteltäubchen?“

Ich fuhr herum. Ein gut gelaunter, ewig blonder Ram kam über den Gang auf uns zu. Nay wurde rot und sah noch süßer aus als sonst.

 

*Nay*

 

Nick zuckte zusammen und fuhr herum, aber als er Ram erkannte, reagierte er nicht genervt, wie ich es erwartet hatte. Es schien als wäre froh, dass wir ausgerechnet jetzt unterbrochen wurden.

Ich hingegen wurde rot und trat sofort einen Schritt von Nick weg.

„Wir sind nicht…“, begann ich, doch Ram winkte ab.

„Mir musst du nichts erklären“, sagte er zwinkernd.

Nick machte ein paar Schritte auf die Treppe zu.

„Tja, dann gehen wir mal essen, was?“

„Okay“, antwortete ich gedehnt und folgte ihm mit Ram verwirrt.

Was war das denn gewesen? Er hatte mir doch etwas sagen wollen! Aber was? Ich wusste nicht, ob ich froh sein sollte, dass Ram aufgetaucht war, denn jetzt war ich ziemlich neugierig auf das, was Nick mir zu sagen hatte. Ich beschloss ihn darauf anzusprechen, sobald wir allein waren, doch es sollte anders kommen. Denn als ich gerade die Cafeteria betreten wollte, sah ich jemand in der Bibliothek verschwinden, mit dem ich dringend reden wollte.

„Ich muss mir noch ein Buch ausleihen, bis gleich“, meinte ich hastig zu meinen Begleitern und lief schnell auf die Tür zu.

In der Bibliothek war es still. Kaum ein Schüler war hier, da die meisten sowieso nebenan beim Essen waren. Ich ging leise den Mittelgang entlang und warf Blicke nach rechts und linkszwischen die Regale. Plötzlich hörte ich ein leises Rascheln. Ich trat zwischen zwei hohe Regale und ging langsam auf die Wand zu, bei der sich ein weiterer Gang befand. Dann bog ich um die Ecke und da stand er. Der Typ, der Nick geküsst hatte.

„Hi, ich…“, sagte ich leise und dem Jungen fiel vor Schreck das Buch aus der Hand.

Er lief feuerrot an und bückte sich um es auf zu heben.

„Was willst du von mir?“, nuschelte er und schob das Buch unordentlich ins Regal.

„Ich will nur mit dir reden.“

„Ich wüsste nicht, was wir zu reden hätten. Außerdem muss ich jetzt zum Essen.“ Er wollte sich an mir vorbei schieben, doch ich hielt ihn am Handgelenk fest.

„Jetzt warte doch mal!“

„Lass mich los, wir kennen uns nicht mal.“

„Natürlich tun wir das, du hast…“

„Ich habe gar nichts, verstanden?“, zischte er und riss sich los. „Und selbst wenn, dann ginge es dich gar nichts an.“

„Hör mal, ich weiß, wie es ist ein Außenseiter zu sein. Wenn du mit jemandem reden willst…“

„Ich bin kein Außenseiter und ich will auch nicht mit dir reden, kapiert?“ Und damit riss er sich los und verschwand zwischen den Regalen.

Okay, das hatte jetzt nicht so gut funktioniert. Ich hatte nicht einmal herausgefunden, wie er hieß. Aber mir war immerhin klar, dass er unglücklich war und Hilfe brauchte. Und die würde er bekommen. Außerdem war er sicherlich nicht der einzige Homosexuelle an dieser Schule.

Ich setzte mich an einen der Tische, die in der Mitte der Bibliothek standen. Ich hatte nicht wirklich Hunger und mit Nick würde ich frühestens reden können, wenn wir in unserem Zimmer waren. Außerdem musste ich Coach Klein noch Bescheid sagen, dass ich an diesem Spiel nicht teilnehmen konnte. Ich hoffte, dass er mir das nicht übel nahm und beschloss, ihn gleich aufzusuchen.

Die Lehrer hatten im Harrison Springer ihren eigenen Flügel, zu dem Schüler keinen Zutritt hatten und sie hatten auch ihre eigene Cafeteria, aber ich wusste, dass der Coach abends noch oft in seinem kleinen Büro bei der Sporthalle war und Trainingspläne für das Basketballteam entwarf.

Ich ging runter in die Sporthalle. Das Licht war schon aus und die Atmosphäre war richtig gruslig. Ich ging rüber zu dem Büro und klopfte.

„Ja?“, tönte eine Stimme gedämpft von drinnen, aber es war nicht die von Coach Klein.

Stirnrunzelnd öffnete ich die Tür und trat ein. An dem Schreibtisch saß ein junger, attraktiever Mann. Er trug eine lange Sporthose und ein schwarzes Muskelshirt. Seine dunkelblonden Haare waren raspelkurz geschnitten und er hatte einen leichten Bartschatten.

„Ich äh, ich suche Coach Klein“, stammelte ich schließlich, als mir klar wurde, dass ich ihn anstarrte.

„Ich glaube, er ist gerade beim Essen. Kann ich dir vielleicht helfen?“, fragte er mit seiner freundlichen, waren Stimme und lehnte sich gegen den Schreibtisch.

„Naja, äh…“ Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wer Sie sind“, meinte ich dann schüchtern.

„Oh entschuldige, ich bin Jackson Finning. Ich bin auch Sportlehrer, aber das ist jetzt mein erstes Schuljahr.“

„Oh, cool“, sagte ich und ergriff mit feuerrotem Gesicht seine Hand.

„Du bist vermutlich Nanayda, Kleins neues Basketball-Ass.“

„Ja. Also ich meine, so gut bin ich auch wieder nicht.“ Mein Herz stolperte vor sich hin und ich stand kurz davor in hysterisches Gekicher auszubrechen.

Was war bloß mit mir los? Der Typ war viel älter als ich! Und ein Lehrer! Aber er sah echt süß aus… Eh, ja, Nay, konzentrier dich!

„Ich wollte nur sagen, dass ich am Spiel am Samstag nicht teilnehmen kann, weil ich übers Wochenende nachhause muss.“

„Oh, na das ist aber Schade. Wo es doch das erste Spiel der Saison ist. Warum musst du denn heim?“

„Meine Eltern geben so einen dummen Ball, auf den ich muss. Eigentlich hätte es noch locker gereicht nach dem Spiel hinzufahren, aber meine Mutter will keinen Stress“, seufzte ich.

„Ach, der Wohltätigkeitsball der Griffins? Na, vielleicht sehen wir uns ja.“ Er zwinkerte mir zu und ich hatte dieses Gefühl, das man hat, wenn ein Aufzug fährt und dann anhält. Beinahe wäre mir schwindlig geworden.

„Okay, ich sag ihm Bescheid“, meinte Jackson Finning.

„Wem?“, fragte ich perplex und er hob eine Augenbraue.

„Dem Coach?“

„Ach so. Äh, ja danke. Ich hätte es ihm ja auch selbst am Mittwoch gesagt, aber ich dachte er sollte es so schnell wie möglich wissen.“

„Da hast du Recht.“

„Ja. Okay, danke nochmal. Auf Wiedersehen“, sagte ich hektisch und verließ den Raum und das Untergeschoss so schnell mich meine Beine trugen. Oh Gott, war das peinlich gewesen. Was war nur in mich gefahren? Gute Güte, das war doch … echt … richtig … peinlich! Gott!

Ich schüttelte den Kopf und ging in die sich leerende Cafeteria um etwas zu essen. Nick und Co waren schon abgezogen und ich setzte mich alleine an einen Tisch. Ich sollte diesen Vorfall dringend vergessen und nie wieder in die Nähe von Jackson… Herr Finning gelangen. Ich kicherte leise und schüttelte abermals den Kopf. Irgendwas stimmte eindeutig nicht mit mir. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass ich am Wochenende nicht hier war und mal wieder mit Mädchen zusammen war.

 

Als ich am Dienstag um sechs Uhr erwachte, glaubte ich eine glühende Kugel verschluckt zu haben. Ich hatte unglaubliches Bauchweh und noch bevor ich das Blut in meiner Unterhose sah, wusste ich, dass ich meine Tage hatte.

Nachdem ich mich im Bad versorgt hatte und wieder in mein Bett gekrochen war, rollte ich mich zusammen und betete zu Was-auch-immer, es möge mich verschonen. Ich hatte keine Schmerztabletten dabei, deshalb würde ich den Tag irgendwie überstehen müssen. Und am besten sollte auch keiner merken, was mit mir los war, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Haufen Jungs nicht so gleichgültig wie Mädchen reagieren würde. Allerdings waren sie ja auch schon zu alt, um sich über so etwas Banales lustig zu machen, oder?

Nick ging vor mir ins Bad, da ich mich schlafend stellte und keine Lust auf Bewegung hatte. Als er dann aber mit tropfenden Haaren neben meinem Bett stand und mir die Decke wegzog, konnte ich nicht anders, als „zu erwachen“.

„Spinnst du?“, fauchte ich und drehte den Kopf, um ihn wütend anzufunkeln. Ich hatte gestern nicht noch mal mit ihm geredet, da sich irgendwie nicht der richtige Zeitpunkt ergeben hatte.

„Vielleicht“, meinte er grinsend und nicht die Spur eingeschüchtert. „Aber du solltest langsam mal aufstehen.“

Ich brummte genervt und setzte mich stöhnend auf.

„Geht’s dir gut?“, fragte Nick und hob skeptisch eine Augenbraue.

„Bestens. Sieht man das nicht?“, knurrte ich und schleppte mich ins Bad.

 

In Französisch stand ich die vollen eineinhalb Stunden kurz davor, mich zu erschlagen, erschießen oder aus dem Fenster zu stürzten. Aber irgendwie schaffte ich es, keinen Selbstmord zu begehen.

Geschichte war dagegen ein Segen, weil es mich ein bisschen von meinen Bauchschmerzen ablenkte, aber ich konnte mich nicht sehr konzentrieren. Und dann saß auch noch Nick neben mir. Ach Nick…

Ich warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Er kritzelte auf seinem Block herum und war eindeutig nicht aufmerksam. Von draußen schien die Herbstsonne ins Zimmer und warf ihm Schatten ins Gesicht. Er sah aus wie gemalt. Seine dunkelbraunen Haare wellten sich leicht und meine Finger zuckten.

Okay Nay, konzentrier dich! Ich richtete den Blick wieder an die Tafel und sah Nick in der restlichen Stunde kein einziges Mal mehr an.

In Mathe saß ich zum Glück nicht neben ihm und passte deshalb ganz gut auf. Der junge Lehrer Herr Johnson predigte voller Freude irgendwas von Wurzeln und Hochzahlen.

„X ist also die n-te Wurzel von 2 oder x ist 2 hoch 1 n-tel. N ist aber nur ein Platzhalter für eine beliebige Zahl!“

„Wir sollten mal für die Entenrechte demonstrieren gehen“, murmelte ich und mein Nebensitzer lachte leise über den flachen Witz.

Ich schenkte ihm ein Grinsen und die restliche Stunde witzelten wir über alles was uns unter die Augen kam.

„Worüber hast du die ganze Zeit mit Logan geredet? “, fragte Nick nach der Stunde, als wir in die Cafeteria gingen. „Man hat euch durchs ganze Zimmer Lachen gehört.“

„Wer ist Logan?“

„Der Typ, mit dem du die ganze Zeit geflirtet hast.“

„Ich habe nicht mit ihm geflirtet, sonst wüsste ich ja wie er hieß. Also, falls wir hier beide von meinem Nebensitzer sprechen“, schnaubte ich.

Was hatte Nick jetzt bitte für ein Problem? Wahrscheinlich konnte er Logan nicht leiden und musste das jetzt auf mich projizieren. Penner.

Ich stieg gerade von der letzten Treppenstufe und wollte mich an einem Typen vorbei schieben, doch der streckte genau in diesem Moment sein Bein aus und ich ging zu Boden.

„Geht’s noch?“, fauchte ich und rappelte mich auf.

„Oh Entschuldigung, Süße“, säuselte der Typ.

Ich sah ihn genervt und verwirrt an. Was war bei dem denn kaputt?

„Erinnerst du dich nicht mehr an mich?“, fragte er grinsend.

„Ich verdränge nervige Sachen immer schnell“, sagte ich gedehnt und wollte weiter gehen, doch der Typ war tatsächlich dreist genug mich am Handgelenk festzuhalten.

„Weißt du nicht mehr, ich bin der Mann deiner Träume.“

Ich drehte mich um und scannte ihn von oben bis unten ab.

„Das glaube ich nicht, Schätzchen. Und jetzt lass mich los, ich hab heute noch was Besseres vor.“

Die beiden Typen neben ihm lachten dämlich und er ließ mich verärgert los.

Ich ging weiter und hörte noch das gezischte „Schlampe“, aber da war ich schon in der Cafeteria.

Ich stellte mich nachdenklich neben Nick in die Schlange. Wer war das gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern ihn mal im Unterricht gesehen zu haben. Er kam mir auch etwas älter vor, also war er wahrscheinlich ein Jahrgang über uns.

„Ahhh!“, rief ich und Nick sah mich schräg an.

„Hast du was genommen?“

„Nein. Mir ist nur eben eingefallen, wie so ein Typ heißt, der mich gerade dumm angemacht hat.“

Er runzelte die Stirn und warf einen Blick über die Schulter.

„Das war dieser Jake aus dem Aufenthaltsraum. Du hast gemeint ich soll mich von ihm fernhalten. Warum eigentlich?“

„Weil er ein Arsch ist, deshalb.“

Nick schien nicht darüber reden zu wollen und so sehr interessierte ich mich auch nicht für Geisteskranke, also fragte ich nicht weiter nach.

Nach dem Essen gingen wir nach draußen. Es gab hinter dem Internat einen Basketballplatz, auf dem das Team im Sommer trainierte. Jetzt waren da die meisten und warfen Körbe.

Ich legte mich mit meiner Tasche als Kopfkissen auf eine der Bänke in die Sonne und genoss die Wärmer auf der Haut.

„Spielst du nicht mit, Nay?“, rief Mike über den Platz.

„Heut nicht“, rief ich zurück und schloss die Augen.

Ich trommelte mit den Fingern leicht auf meinem Bauch herum und ließ meinen Gedanken schweifen. Mit fiel meine Begegnung von gestern Abend wieder ein und ich musste sofort dümmlich grinsen. Jackson Finning war schon ziemlich ansehnlich. Nicht das ich was von ihm gewollt hätte, aber man durfte ja sabbern…

„Na, wenn das nicht meine kleine Wildkatze ist.“

Irritiert öffnete ich ein Auge. Oh nein.

„Was willst du eigentlich von mir?“, knurrte ich den Neuankömmling an und setzte mich auf.

„Muss ein Mann einen Grund haben um mit einer schönen Frau zu reden?“

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich mir nicht so ganz sicher bin, ob du ein Mann bist.“

„Und ich habe dir schon mal angeboten, es dir zu beweisen.“

„Verpiss dich einfach, Jake.“

„Nö“, meinte er schulterzuckend und setzte sich neben mich auf die Bank.

Ich sah ihn perplex an, dann stand ich auf und setzte mich auf die übernächste Bank. Als er es mir gleich tat schnaubte ich frustriert.

„Ist das jetzt nicht ein bisschen kindisch?“

„Du hast angefangen“, sagte er nur und zwinkerte mir zu.

„Ich habe keine Lust mit dir zu reden, also hau einfach ab.“

„Was habe ich dir bitte getan? Du magst mich doch nur nicht, weil Nick mich nicht leiden kann.“

„Ich mag dich nicht, weil du ein penetranter Idiot bist. Und weil du mir ein Bein gestellt hast. Im Ernst, geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist.“

„Genau, Jake, lass sie in Ruhe.“

Nick kam auf uns zu und sah nicht gerade gut gelaunt aus. Jake stand lässig auf und sah seinen Rivalen herablassend an.

„Du glaubst du bist was Besseres, aber das bist du nicht, Shettler.“

„Na, das lass mal meine Sorge sein, Miller.“

Jake stieß einen belustigten Laut aus, als auch noch Mike und Ram in unsere Richtung kamen.

„Sie sind in der Überzahl, Mylady, ich muss mich zurückziehen. Bis bald“, schnurrte er lächelnd und ging davon.

„Was zur Hölle läuft bei dem falsch?“, fragte ich langsam und drehte mich zu meinen Freunden um.

„Das wüsste ich auch mal gern.“

 

Am Mittwoch ging es meinem Bauch schon etwas besser, weshalb meine Laune auch ziemlich gut war. Als hätte meine Mum das gespürt, rief sie mich am frühen Abend an, um mir den restlichen Tag zu verderben.

„Was willst du?“, knurrte ich und räumte einhändig meine Hausaufgaben weg.

„Himmel, Nanayda, wo sind deine Manieren? So habe ich dich nicht erzogen. Ich hoffe du verhältst dich wenigstens anderen Menschen gegenüber höflich.“

„Ich behandle die meisten so, wie sie mich behandeln“, gab ich schnippisch zurück. „Also was willst du?“

„Ich habe eben mit deinem Schuldirektor telefoniert, ein sehr netter Mann übrigens.“

„Aha.“ Ich hob die Augenbrauen.

„Ich habe ihn angerufen, um Bescheid zu geben, dass du am Wochenende nachhause kommst. Er meinte du wärst eine vorbildliche Schülerin, was ich mir zwar nicht vorstelle kann, aber ich möchte trotzdem, dass er weiterhin so denkt.“

„Ich dachte, du willst mich auf diese Mädchenschule schicken?“

Sie schwieg kurz, dann sagte sie: „Du sollst deiner Familie alle Ehre machen. Du sollst nicht von der Schule fliegen oder sonst irgendwie unangenehm auffallen, ist das klar? Wenn ich du mir einen noch so kleinen Grund gibst, dich dort wegzuholen, werde ich das tun, bevor du uns Schande bereiten kannst.“

„Autsch“, schnaubte ich und ließ mich aufs Bett fallen.

„Tja, warum auch immer, dein Vater unterstützt deine… emanzipierte Seite.“ Sie seufzte und ich hörte leise Glas klirren. Trank sie etwa um die Uhrzeit? „Du benimmst dich am Samstag vorbildlich oder ich überzeuge ihn, dass das Harrison Springer einem pubertierenden Mädchen nicht gut tut, verstanden?“

„Ja“, knurrte ich und legte auf.

Ich konnte mich an keine Zeit erinnern in der meine Mutter und ich eine gesunde Beziehung geführt hatten, aber seit ich auf dem Internat war, war es viel schlimmer als früher.

„Wie geht’s dir?“, fragte Nick, der bis eben mit Kopfhörern Musik gehört hatte.

„Ganz gut schätze ich.“

„Das war deine Mum, oder?“

Ich atmete tief aus und starrte auf meine Bettdecke.

„Wenn ich mich auf dieser Wohltätigkeitsscheiße am Samstag nicht angemessen benehme, sorgt sie dafür, dass ich auf das katholische Mädcheninternat gehe, auf dem sie war.“

„Dann schmier ihr einfach eine  Abend lang Hönig um den Mund und alles ist gut“, schlug Nick vor und ich sah auf.

„Ich habe es einfach satt, dass sie nicht akzeptiert wie ich bin und mich schon mein ganzes Leben lang zu ändern versucht.“

„Und was sagt dein Vater dazu?“

„Wir reden nicht besonders viel…“

Ich zog mich im Bad fürs Training um und packte meine Tasche, dann gingen wir nach unten in Halle, wo mich fast der Schlag traf.

Jackson Finning in Sporthose und weißem ärmellosen Shirt warf locker ein paar Körbe und Coach Klein war nirgends zu sehen.

„Oh bitte nicht“, wisperte ich.

„Was ist los?“, fragte Nick stirnrunzelnd. „Kennst du den?“

„Was? Nein, nein, ich äh stell mal die Tasche hab“, stammelte ich und ging weiter.

Als ich zurückkam, war der Coach zum Glück wieder da.

„Ah Nay, Jackson hat mir schon gesagt, dass du am Samstag nicht kannst. Ziemlich Schade.“

Ich sah Coach Klein kurz etwas belämmert an, dann ging mir ein Licht auf.

„Ach so, ja. Tut mir wirklich leid, aber mit meiner Mutter ist nicht zu reden.“

„Nächstes Mal dann.“

„Auf jeden Fall.“ Ich nickte bekräftigend und der Sportlehrer drehte sich den anderen zu.

„Also gut Leute, ich möchte euch jemanden vorstellen. Das ist Herr Finning. Er ist ab diesem Schuljahr auch Sportlehrer hier und er wird, wenn alles gut läuft, das Team übernehmen.“

Ein Raunen ging durch die Jungs, aber mir verschlug es komplett die Sprache.

„Wie ihr vielleicht schon gemerkt habt, bin ich nicht mehr der Jüngste, aber bis Weihnachten bin ich auf jeden Fall noch dabei. Und jetzt fangen wir an, los geht’s!“

Ich spielte nicht besonders gut, weil mein Bauch sich ständig verkrampfte, aber es war nicht so schlimm und ich warf ein paar Körbe für die ich mich nicht schämen musste.

Beim Ausdauer- und Krafttraining lief es allerdings ziemlich mies. Bei den Sit Ups gab ich letztendlich auf und sank auf den Rücke. Ich presste meine Hände auf meinen Unterleib und hoffte, dass niemand hersah.

Ram, der neben mir saß, warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts. Wahrscheinlich war ihm klar, was für ein Problem ich hatte, schließlich hatte er eine Freundin.

„Nicht schlapp machen da drüben“, rief Coach Klein und ich stieß ein unwilliges Wimmern aus, bevor ich halbherzig weiter machte.

Ich war entsprechend froh, als das Training vorbei war und zog mich schnell um, um duschen zu gehen. Wie immer war es ein schräges Gefühl zwischen den ganzen Typen, aber ich gab mir Mühe, sie einfach auszublenden.

Stattdessen dachte ich an den neuen Lehrer, was nicht unbedingt sinnvoller war, aber er verschwand einfach nicht aus meinen Gedanken. Jackson Finning hatte angedeutet, dass wir uns auf dem Ball meiner Eltern vielleicht sehen würden. Kam er also auch hin? Aber er war doch nur ein einfacher Lehrer, oder? Und falls ich ihn treffen sollte, wie verhielt ich mich dann am besten?

 

 

Der Donnerstag zog an mir vorbei, ohne dass ich ihn wirklich wahrnahm und auch am Freitag war der Unterricht viel zu schnell vorbei.

Beim Mittagessen lehnte ich meine Stirn stöhnend an Nicks Schulter.

„Bitte bring mich um“, meinte ich unwillig und Nick klopfte mir aufmunternd auf den Kopf.

„Komm schon, Nay. Das wird halb so schlimm.“

„Halb so schlimm? Ich werde ein dämliches Kleid tragen und Schuhe, in denen ich fast so groß wie du bin. Ich darf nicht sagen was ich denke und muss mich gut benehmen. Das wird der Horror.“

„Also, ich würde dich schon gern mal in einem Kleid sehen.“

„Klappe, Mike“, knurrte ich und hob den Kopf, um dem Neuankömmling einen wütenden Blick zuzuwerfen.

„Obwohl wir dich ja auch schon in weniger gesehen haben“, fügte er noch anzüglich hinzu, was er jedoch sofort bereute, weil ich mich über den Tisch lehnte und ihm heftig auf den Arm schlug.

„Das ist, als hätten wir uns im Freibad gesehen. Sonst nichts.“

„Red dir das nur ein, wenn du dich…“

„Jetzt lass sie in Ruhe, Mike“, unterbrach Nick seinen besten Freund endlich und ich murmelte ein Danke in Richtung meines Essens.

„Wann wirst du abgeholt?“, wechselte Ram das Thema, der ebenfalls an unserem Tisch saß.

„Halb drei. Und sobald ich zuhause bin, darf ich Kleider anprobieren, weil ich in dem, das ich habe, ja wie eine Schlampe aussehe“, zischte ich und ahmte die Stimme meiner Mutter nach.

„Ich bin mir sicher, dass du in nichts wie eine Schlampe aussehen würdest“, erwiderte Ram und Nick brummte leise so etwas wie „Schleimer“.

„War das jetzt doppeldeutig?“, fragte ich grinsend und ignorierte Nicks Kommentar.

„Nein, niemals!“ Ram schob sich unschuldig eine Gabel Bratkartoffeln in den Mund und ich schüttelte den Kopf.

Dann fiel mir etwas ein und ich verzog den Mund zu einem bösen Grinsen.

„Hey, wie spät ist es?“

„Halb zwei.“

„Okay, das reicht noch. Ich bin dann mal oben.“

Ich sprang auf und rannte beinahe die Treppe hoch. Im Zimmer angekommen kramte ich hektisch in meinem Koffer und hatte auch schnell gefunden, was ich suchte: Eine Schaumtönung, Farbe Granatrot. Ich hatte sie in weißer Voraussicht eingepackt, damit ich hier nachfärben konnte und jetzt wollte ich die Idee umsetzten, die ich neulich in Direktor Fistens Büro gehabt hatte.

Kichernd ging ich ins Bad und zog mich bis auf die Unterhose aus. Dann beugte ich mich übers Waschbecken und als meine Haare vollkommen durchnässt waren, begann ich vorsichtig den nach Erdbeeren riechenden Schaum einzumassieren. Dabei musste ich gut aufpassen, um nicht alles vollzuspritzen, aber weil ich schon Übung in so was hatte, ging es recht gut. Schließlich richtete ich mich wieder auf und betrachtete mich im Spiegel. Nachdem ich nochmal ein bisschen am Ansatz nach gearbeitet hatte, wusch ich mir die Hände und setzte mich auf die Kloschüssel. Die Farbe musste einen halbe Stunde lang einwirken, dann musste ich alles gründlich auswaschen und anschließend zumindest ein bisschen föhnen, weil ich nicht mit nassen Haaren im Auto sitzen wollte.

Ich trommelte gelangweilt auf meinen Oberschenkeln herum, als plötzlich die Tür auf ging. Ich stieß einen erschrockenen Schrei aus und bedeckte hektisch meine Brüste mit den Händen.

Nick stand da wie angewurzelt und starrte mich an, als wäre ich eben zu ihm ins Bad gestolpert und nicht umgekehrt. Ich starrte ebenso überrascht zurück, bis mir bewusst wurde, dass ich nur einen Slip trug und Nick mich gerade ausführlich musterte.

„Geht’s noch? Raus hier!“, fauchte ich und Nick blinzelte.

„Äh ja, sorry“, stammelte er und flüchtete türschlagend aus dem Bad.

Kaum war er weg sprang ich auf du schloss hastig ab, was ich vorhin offensichtlich vergessen hatte. Mein Herz hämmerte laut gegen meine Brust und ich beschloss, dass fünfundzwanzig Minuten auch ausreichend waren und stieg unter die Dusche, um die Farbe auszuwaschen.

 

Als ich wenig später mit halbwegs trockenen Haaren aus dem Bad kam, saß Nick auf seinem Bett und knetete nervös die Finger.

„Nay!“, rief er, als er mich sah und sprang auf.

Ich hob die Augenbrauen und sah ihn abwartend an.

„Ich ähm… Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass du da drin bist. Und…“

„Schon okay“, beschwichtigte ich ihn mit einem lockeren Grinsen. „An mir ist ja nichts, was du noch nie gesehen hast.“

Eigentlich war es mir unglaublich peinlich, dass er mich fast komplett nackt gesehen hatte. Aber ich wollte auch nicht, dass er mich für spießig hielt und immerhin hatte er wirklich schön öfter so etwas gesehen.

Augenblicklich schoss mir durch den Kopf, ob ich ihm gefiel und ob er mich mit jemandem verglichen hatte. Diese Brenda, die uns neulich über den Weg gelaufen war, hatte schon einen ganz guten Körper gehabt.

„Ah… Ja“, machte Nick und fuhr sich durch die Haare. Dann setzte er ein Grinsen auf und sagte: „Steht dir. Die Haarfarbe meine ich. Komplett gefärbt sieht es besser aus, als nur gesträhnt.“

„Danke“, murmelte ich und drehte mich schnell weg, damit er nicht sah, dass ich rot wurde.

Okay, ich musste jetzt hier raus. Außerdem war ich sowieso spät dran. Ich wollte nach meiner Reisetasche greifen, doch Nick war schneller.

„Ich trag sie dir runter. Wir wollen doch nicht, dass du auf dem Weg umkippst und dich dann nicht auf dem Ball amüsieren kannst.“

„Volldepp.“

„Gentleman trifft es besser, finde ich“, sagte er und zwinkerte mir zu, dann gingen wir gemeinsam nach unten.

Ich zog mir im Laufen meine Jacke an und als meine Hand seinen Arm streifte, wünschte ich, Nick würde mitfahren. Ich hatte keine Lust auf meine Familie und irgendwie fühlte ich mich auch schlecht Johnny gegenüber zu treten, weil ich ihn so allein gelassen hatte und mich nur selten meldete.

Nick trug mir die Tasche über den Platz, bis zur bereits wartenden Limousine. Herr Parkin war schon ausgestiegen und nahm sie Nick ab, um sie einzuladen.

„Also dann“, murmelte ich.

„Das wird schon nicht so schlimm“, meinte Nick aufmunternd.

„Viel Glück beim Spiel morgen“, sagte ich resigniert.

Ich öffnete die Tür und wollte schon einsteigen, als Nick mich plötzlich an sich riss und fest umarmte. Überrumpelt erwiderte ich die stürmische Umarmung und schmiegte mich an ihn. Unsere Blicke schienen an einander festzukleben und wir sahen uns mehrere Sekunden lang tief in die Augen.

„Mach’s gut“, wisperte er mir ins Ohr, dann ließ er mich los und ging ohne sich nochmal umzudrehen ins Gebäude zurück.

Ich sank zittrig in den Autositz und zog die Tür zu. Auch als Herr Parkin schon losgefahren war, konnte ich Nicks warmen Körper immer noch spüren.

Ach Nick…

 

Ich hörte den Kies unserer Auffahrt bereits unter den Rädern der Limousine knirschen und noch bevor ich einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, wusste ich, dass ich zuhause war. Aber das Gefühl des Ankommens war weder Erleichterung, noch Freude, sondern ein nervöses Flattern im Magen und Unwille.

Ich hatte keine Lust auf den Ball und meine Eltern. Und ich freute mich zwar John zu sehen, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich kaum bei ihm meldete.

Und irgendwie fühlte ich mich nur wie ein Besucher, als ich aus dem Auto ausstieg und langsam auf die große Eingangstür der Villa zuging. Dann nahm ich doch den Weg ums Haus herum.

Der rechteckige Pool und die hellen Terrassenfließen sahen aus wie immer, nur die Pflanzen hatten von Sommer auf Herbst umgestellt. Ich konnte es kaum fassen, dass ich erst seit zwei Wochen auf dem Internat war.

Die Verandatür war nur angelehnt. Ich drückte sie auf und betrat den Wintergarten. Die Wände waren fast komplett aus Glas, durch das sich die Sonnenstrahlen brachen und schräg auf das helle Parket schienen. Es gab nur wenige Pflanzen in dem achteckigen Raum. Die Ottomane meiner Mutter stand in der Mitte des Raums, auf dem Beistelltisch standen ein Glas und eine Kristallflasche, die eine honigfarbene Flüssigkeit enthielt.

Leise durchschritt ich den Raum und betrat den Flur, der zum Salon und zur Eingangshalle führte. Zur letzteren begab ich mich jetzt. Die breite Wendeltreppe wand sich neben der offenen Tür nach oben.

„Hallo?“, rief ich. „Ich bin wieder da!“

Ich erwartete, dass John jeden Moment um eine Ecke gestürmt kam, doch es blieb still.

Verwirrt ging ich die Treppe nach oben. Das Zimmer meines Bruders du mein eigenes waren leer. Mit gerunzelter Stirn betrat ich die kleine Bibliothek meines Vaters.

„Hallo?“, rief ich nochmal und ließ meinen Blick über den Ohrenbackensessel schweifen.

„Du brauchst nicht so zu schreien“, sagte eine tiefe Stimme ruhig und ich wirbelte herum.

„Deine Haare sehen grässlich aus, was hast du mit ihnen angestellt?“

„Ich… Gefärbt. Also, eigentlich getönt, aber… Ja.“

Ich schrumpfte unter seinem strengen Blick förmlich, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Schön, dass du da bist, Nanayda.“

Ich stieß ein erleichtertes Lachen aus.

„Hallo. Wo sind Mum und John?“

„Dein Bruder… hat seine Liebe zum Reiten entdeckt. Deine Mutter hat ihn zum Unterricht gefahren. Sie müssten demnächst zurück sein.“

„Oh schön. Ich wusste gar nicht, dass er Pferde mag“, meinte ich stirnrunzelnd.

„Mir ist es auch neu. Wenn das bis Weihnachten anhält, schenken wir ihm ein Pferd.“

Ich nickte und lächelte. Es freute mich, dass mein Bruder ein neues Hobby gefunden hatte.

„Ich muss noch arbeiten, wir sehen uns zum Diner“, sagte mein Vater.

Das war seine Art, mir zu sagen, dass ich mich aus dem Staub machen sollte. Also nickte ich und ging in mein Zimmer.

Ich genoss es, die Musik richtig laut aufzudrehen und nur in Stoffshorts und Schlabbert-shirt durch den Raum zu tanzen. Diese Privatsphäre hatte mir doch ganz schön gefehlt. Ich surfte gerade im Internet, als die Tür auf ging und dann hatte John sich auch schon zu mir aufs Bett geworfen und umarmte mich.

„Hi Kleiner!“, lachte ich, während ich den Laptop gefährlich instabil auf den Knien balancierte.

„Ich bin gar nicht klein“, sagte er sofort und strahlte mich an.

Die ersten Worte, die meine Mutter an mich wandte, als ich mit meinem kleinen Bruder runter zum Diner kam, waren: „Kind, deine Haare sind ja grauenhaft!“

„Hat Dad auch schon gesagt“, erwiderte ich grinsend, doch anstatt gemeinsam gegen mich zu wettern, warfen sich meine Eltern nur einen verärgerten Blick zu und konzentrierten sich dann auf ihre Weingläser.

Beim Abendessen unterhielten John und ich uns pausenlos und meine Eltern trugen kaum etwas zum Tischgespräch bei.

Aber als Johnny mit einem Schokopudding in der Hand auf der Couch im Wohnzimmer, in welches das kleine Esszimmer über ging, saß, sahen sie mich beide an und mein Vater sagte: „Es freut mich, dass du dich an der Schule so gut eingegliedert hast.“

„Vermisst du nicht ein paar Mädchen?“, fragte meine Mutter hoffnungsvoll und ich zuckte mit den Schultern.

„Es geht. Mit Jungs hab ich mich schon immer besser verstanden. Außerdem sind dort die meisten sehr nett.“ Zumindest halbwegs.

„Und du gehst auch nicht zur Schule um Freunde zu finden“, grollte mein Vater leise und faltete seine Servierte.

„Was soll das denn jetzt, Paul? Willst du etwa, dass sie sich komplett desozialisiert?“, fauchte meine Mutter augenblicklich.

„Sie besucht das Internat um etwas zu lernen und nicht um Spaß zu haben!“

„Ähm“, versuchte ich einzugreifen, doch die beiden beachteten mich nicht.

„Kontakte sind wichtig! Vor allem später auf der Uni.“

„Trotzdem braucht sie sich dort nicht mit den Jungs herumzutreiben. Nanayda, dass das klar ist: kein Freund bevor du nicht deinen Abschluss hast!“

„Äh…“, machte ich wieder, doch jetzt ging meine Mutter völlig ab und schrie meinen Vater in Grund und Boden, dass man eine gute Partie nehmen sollte, wenn man sie fand.

John sah zu uns herüber und ich schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnten sie nur vor ihm so streiten? Abgesehen davon war der Grund ihres Streits etwas, was sie nichts anging und worauf sie sowieso keinen Einfluss hatten.

Ich schnappte mir John und ging mit ihm nach oben in das kleine Fernsehzimmer, wo wir uns schon früher durch das halbe Disney Repertoire geschaut hatten. Ich wollte nicht, dass er dem Geschrei meiner Eltern so ausgesetzt war, ich wollte ihn beschützen.

Nachdem Quasimodo in der Notre Dame die Glocke geläutet, Bernhard und Bianca das Känguruland besucht und eine Ratte Ratatouille gekocht hatte, war John endlich auf meinem Schoß eingeschlafen und ich trug ihn – wenn auch unter großer Anstrengung – in sein Zimmer und legte ihn ins Bett.

„Schlaf gut, Kleiner“, murmelte ich, bevor ich ging und mich selbst hundemüde bettfertig machte.

 

Es war ein seltsames Gefühl wieder im eigenen Bett zu schlafen. Alles war vertraut und doch anders. In der kurzen Zeit, in der ich weggewesen war, hatte ich mich komplett an das Internat gewöhnt und ich schämte mich ein wenig, dass ich kein bisschen Heimweh gehabt hatte. Sogar John hatte ich viel weniger vermisst als gedacht.

Ich schob mein schlechtes Gewissen beiseite und schlug die Decke zurück. Die Sonne schien bereits ins Zimmer und ich trat ans Fenster von dem aus ich den großen Garten und den Pool überblicken konnte. Es waren schon einige Gärtner und Arbeiter da, die die Hecken stutzten, einen Springbrunnen aufstellten und die Lichterdekoration anbrachten. Ich öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, dann ging ich ins Bad.

Eine halbe Stunde später saß ich allein am Frühstückstisch und knabberte an einem Brötchen. Beim Gedanke an den Ball heute Abend drehte sich mir der Magen um. Nick und das restliche Team bereiteten sich jetzt bestimmt schon auf das Spiel vor und ich saß hier und durfte später mit reichen Snobs Konversation betreiben.

Ich hörte meine Mutter in der Eingangshalle herumschreien und sprang auf und sprang auf als ihre Stimme näher kam. Doch es war zu spät und sie betrat den Raum.

„Nanayda, da bist du ja! Ich dachte schon, du stehst nie mehr auf. Komm mit in den Salon, die Schneiderin ist bereits da.“

„Also eigentlich wollte ich…“

„Jetzt lehn du dich nicht auch noch gegen mich auf! Ab mit dir!“

Seufzend gab ich nach und folgte ihr in das andere Zimmer, wo eine spindeldürre Schwarzhaarige auf uns wartete. Über einem Arm hatte sie zwei dieser grauen Tüten hängen, in denen man Kleider transportierte.

„Ah, Frau Crawley, schön, dass Sie noch so kurzfristig Zeit für uns hatten“, begrüßte meine Mutter sie und die Frau nickte wohlwollend.

„Ich habe die Kleider dabei, die Sie ausgewählt haben“, sagte sie mit nasaler Stimme und öffnete die erste Tüte. „Allerdings haben Sie nichts von ihrer Haarfarbe gesagt!“, fügte sie missbilligend hinzu und ich hob eine Augenbraue.

„Nun, ich wusste selbst nichts davon, es tut mir schrecklich leid“, sagte meine Mutter in exakt demselben Tonfall.

Als nächstes musste ich mich peinlicher Weise bis auf die Unterwäsche ausziehen und wurde in  das erste Kleid gesteckt. Es war zart hellblau mit einer glitzrigen Schicht Tüll und schmal geschnitten mit bravem Ausschnitt und kurzen Ärmeln. Es sah aus wie ein Barbiekleidchen.

„Bezaubernd“, sagte meine Mutter entzückt, während ich wenig überzeugt an mir herunter sah. „Nur diese Haare… Aber wie könnten sie hochstecken, nicht wahr?“

„Natürlich.“

Die beiden Frauen musterten mich.

„Also… Könnte ich vielleicht mal das andere anprobieren?“, fragte ich hoffnungsvoll, denn ich hatte den granatroten Stoff bereits hervorblitzen sehen.

„Schaden kann es nicht“, murmelte meine Mutter. „Aber ich denke, wir nehmen dieses.“

Die Schneiderin holte das zweite Kleid hervor und mir verschlug es den Atem. Es hatte exakt die Farbe meiner Haare und war ein Traum. Es war ärmellos und hatte einen V-Ausschnitt. Am Körper war es gerade so weit, dass es locker fiel und sich leicht an meine Taille schmiegen würde. Der Rock war bodenlang und warf leichte Falten. Ich biss mir auf die Zunge und schluckte als ich es von hinten sah, wo der Rücken frei war und von dünnen Bändchen zusammen gehalten wurde. Vorsichtig schlüpfte ich hinein und drehte mich hin und her.

„Das will ich“, ächzte ich. Es passte wie angegossen.

Doch als ich das Gesicht meiner Mutter sah, wusste ich, dass ich es vergessen konnte.

„Das ist viel zu wild! Wieso habe ich das nur ausgewählt… Packen Sie es ein, Frau Crawley, und wir nehmen das blaue.“

„Aber…“, sagte ich, doch dann wurde mir das Kleid über den Kopf gezogen und ich verstummte kurz. „Komm schon, das Kleid ist der Hammer! Das andere ist stinklangweilig. Bitte, lass mich das nehmen!“

„Nein, Nanayda“, sagte meine Mutter scharf und winkte die Schneiderin raus.

„Mach dich nützlich, anstatt mir zu widersprechen. Und glätte bitte diesem Mobb auf deinem Kopf, das ist ja nicht auszuhalten.“ Und mit diesen Worten ließ sie mich fuchsteufelswild stehen.

Ich starrte auf die Tüte mit dem blauen Kleid. Dann machte es klick und ich schnappte mir es, um der Schneiderin nachzujagen.

Ich erwischte sie draußen in der Einfahrt, wo sie gerade in ihr Auto einsteigen wollte.

„Warten Sie“, rief ich und sie drehte sich um.

„Was gibt es denn noch?“, fragte sie verwirrt.

„Meine Mutter hat sich um entschieden. Ich soll doch das rote nehmen“, keuchte ich etwas außer Atem.

Sie sah mich verwirrt an.

„Aber ich hatte den Eindruck es hätte ihr gar nicht zugesagt.“

„Doch hat es.“

Frau Crawley runzelte die Stirn.

„Dann sollte ich noch mal mit ihr sprechen bevor…“

„Also bitte“, sagte ich im strengen Tonfall meine Mutter. „Sie ist eine vielbeschäftigte Frau und Ihre Stammkundin. Sie hat keine Zeit für lästige Nachfragen und Sie wollen sie sicher nicht verärgern, indem Sie nicht mal dem Wort ihrer Tochter Glauben schenken?“

„Ich… natürlich nicht. Hier.“ Hektisch tauschte sie die Tüten aus und lächelte mir noch mal beschwichtigend zu, bevor ich mich grinsend umdrehte und mit dem roten Kleid über dem Arm wieder nach drinnen ging.

Am frühen Nachmittag ging ich mit John durch den Garten und wir sahen uns die Dekoration an. Dann schlichen wir uns in den großen Saal, den wir eigentlich nie benutzten, außer für Veranstaltungen wie Bälle. Auf der linken Seite war eine Doppelglastür, die in den Garten führte. Die Vorhänge waren dort und an den Fenstern zurückgezogen, damit die Gäste später den Garten bewundern konnten.

„Weißt du noch, als du mir letzten Winter hier drin Fahrradfahren beigebracht hast?“, fragte mein Bruder lachend.

„Oh ja. Mama hätte mich fast umgebracht.“ Ich grinste in mich hinein und sah zu, wie Johnny Anlauf nach und über den glatten Boden schlitterte. Er lachte vergnügt und ich setzte mich auf den kalten Boden.

Ich lehne mich zurück und stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab. Johnny tollte durch die Halle und alles schien wie vor ein paar Wochen zu sein, als ich noch nicht gewusst hatte, ob ich je aufs Harrison Springer gehen würde.

„Nay?“ John war vor mir auf den Boden gesunken. „Kommen deine Schulfreunde heute auch her?“

„Oh, nein, ich glaube nicht“, sagte ich und lächelte.

„Schade. Ich mag die mal kennenlernen.“

„Vielleicht da ich sie ja in den Weihnachtsferien mal ein“, schlug ich vor, obwohl ich eigentlich nicht wusste, wen von den Chaoten ich hier haben wollte.

Aber Johnny freute sich und das war mein Ziel gewesen.

Nach einer Weile ging ich nach oben, da ich mich einerseits meiner Mutter entziehen wollte und mich andererseits für den Ball fertig machen musste.

Ich hatte mich nie gern hübsch gemacht, aber heute fühlte ich mich ziemlich mädchenhaft, während ich mein Make Up passend zum Kleid auswählte, welches ich die ganze Zeit bewunderte.

Mit einem Lockenstab bändigte ich meine Mähne ein bisschen, ohne die Wellen zu verlieren und als ich schließlich in dem Kleid und schwarzen High Heels, die darunter verschwanden, vor dem Spiegel stand erkannte ich mich kaum wieder.

„Oh mein Gott“, wisperte ich gedehnt und setzte mich vorsichtig aufs.

Es war noch ein bisschen früh, deshalb warf ich einen Blick auf mein Handy. Ram hatte mir geschrieben, dass sie knapp gewonnen hatten und der Coach eine kleine Party schmiss. Ich grinste in mich hinein, während ich mir das Team beim Discotanzen vorstellte.

Ich wäre viel lieber bei ihnen, als hier. Aber was sollte man machen. Ich nahm mir ein Buch und begann darin zu lesen.

 

Es war schon eine Weile her, seitdem ich den Ruf meiner Mutter ignoriert hatte, als ich auf die Uhr sah. Es war kurz nach acht.

Kurz erschrocken, dass es schon so spät war zuckte ich zusammen, aber da die Partys meiner Eltern immer bis nach Mitternacht gingen, beschloss ich mich nicht zu stressen und ruhig nach unten zu gehen. Vielleicht schaffte ich es ja ans Büffet, ohne erkannt zu werden…

Ich stieg die Treppe nach unten und es wurde mir wieder bewusst, dass ich eigentlich nicht wirklich in Absatzschuhen laufen konnte. Trotzdem schaffte ich es in die Halle hinunter ohne mir ernsthafte Verletzungen zuzuziehen. Ich schlüpfte in den Saal und schritt zügig durch die Menge. Von überall her schillerte mir Glitzer und gebleichte Zähne entgegen.

Ich schlängelte mich unbemerkt bis zur Wand zu den Tischen durch, auf denen Drinks und Häppchen standen. Ich schnappte mir Käse-Trauben-Spieß und knabberte daran, während ich mich im Raum umsah. Herr Gott noch mal, wie konnte man es nur aushalten, regelmäßig auf solche Veranstaltungen zu gehen? Nächstes Mal würde ich auf keinen Fall kommen.

Eine junge Frau lachte übertrieben laut und schrill über etwas und ich war versucht mir die Ohren zuzuhalten, als plötzlich meine Mutter auftauchte.

„Nanayda, wie siehst du denn aus?“, zischte sie. Ihr Tonfall stand in einem so krassen Gegensatz zu ihrem scheinheiligen Lächeln, dass ich nur schnauben konnte.

„Was ist mit dem anderen Kleid passiert?“

„Es hatte Schwierigkeiten mit meinem Charakter.“

Meine Mutter starrte mich an, doch machte sie eine vage Handbewegung.

„Jetzt lässt sich nichts mehr daran ändern und so ungern ich das in diesem Aufzug tue, komm mit, ich werde dich ein paar Leuten vorstellen.“

Sie zog mich am Ellenbogen mit und ich stöhnte entnervt.

„Sei nett!“, raunte sie mir zu, dann setzte sie ein strahlendes Lächeln auf und berührte einen fetten, alten Mann mit Halbglatze an der Schulter.

„Walden, ich möchte dir meine Tochter vorstellen. Nanayda, dass ist Walden Fisten, ein Geschäftspartner deines Vaters, und seine Frau Emilia.“

„Es freut mich sehr“, schnurrte der Freak und gab mir einen feuchten Händedruck.

Ich quälte mich zu einem Lächeln.

„Sind Sie mit meinem Schulleiter verwandt? Er heißt auch Fisten.“

„Oh ja, wir sind Brüder.“

Wer hätte das gedacht.

„Und wie läuft es in der Schule?“, fragte der Typ mit einem Lächeln, dessen Falschheit es mit der meiner Mutter hätte aufnehmen können. Allerdings war es viel schmieriger.

„Gut, das Internat ist echt cool.“

Meine Mutter zuckte beinah unmerklich bei diesem vulgären Wort zusammen und ich grinste breit.

„Es ist sehr außergewöhnlich, dass du dort bist, nicht wahr? Wo es doch ein Jungeninternat ist…“, säuselte seine Frau, ein dürres Ding, das an seinem Arm hing.

„Ich mach selten das, was gewöhnlich ist.“

„Ah… Das sehe ich“, sagte die Frau und ließ ihren Blick über mich schweifen.

Ich hob die Augenbrauen und gratulierte mir innerlich dafür, dass ich meine Mutter in den Wahnsinn trieb.

„Schatz, geh doch mal nach da drüben, da sind ganz viele Mädchen in deinem Alter“, presste sie hervor und im Weggehen hörte ich Emilia Fisten noch sagen: „Unsere Tochter geht ja auf eine reine Mädchenschule…“

Ich hatte nicht vorgehabt tatsächlich zu diesen Mädchen zu gehen, doch auf meinem Rückweg zum Essen, das mir in meinem Kopf verlockend zurief, wurde ich von Claire abgefangen.

„Oh mein Gott, Nanaaaydaaa! Ist das schön dich zu sehen! Du musst unbedingt mitkommen!“

Das Mädchen, das an jedes Ende eines Satzes ein Ausrufezeichen hängte, seit ich sie kannte, zog mich zu der Sitzecke wo noch fünf andere ihres Kalibers saßen.

Claire war die Tochter einer Freundin meiner Mutter und wir waren zusammen aufgewachsen – leider – aber ihre Freundinnen kannte ich nicht.

„Das sind Chloe, Julia, Gianna, Stacy und Chantal. Girls, das ist Nanayda. Sie geht auf ein Internat, wo nur Jungen sind“, stellte mich unter bedeungsschwerem Gequietsche vor.

Die Girlys, die fast alle rosa Tüll-Kleidchen trugen, begannen ebenfalls zu quietschen und ich landete zwischen Julia und Gianna. Durch die „Dsch“s am Anfang ihrer Namen verknotete sich fast meine gedankliche Zunge.

„Oh mein Gott, sind die Typen heiß? Also wenn ich an einer Jungenschule wäre, hätte ich jeden Tag einen anderen. Hast du einen Freund?“, kicherte Stacy mich an und ich starrte sie etwas perplex an.

„Ähm, nein.“

„Nein, sie sind nicht heiß oder nein, du hast keinen Freund?“, hakte Chantal nach und aus ihrem Blick konnte ich schließen, dass ihr einziger Gedanke den Farben meines Kleids und dem der anderen galt, die sich wohl schrecklich bissen.

Mädchen. Wie zur Hölle hatte ich sie nur vermissen können?

„Letzteres“, sagte ich und kaum, dass ich meinen Mund geschlossen hatte, kam von Claire: „Du willst wahrscheinlich frei bleiben! Das würde ich auch machen, bei der Auswahl, die du haben musst! Das ist ja so aufregend!“

„Oh ja… Vor allem das Duschen nach dem Sport“, sagte ich und versuchte nicht laut aufzulachen.

Jetzt hatte ich erstmal fünf Minuten Ruhe, während sich diese rosa Plüschtiere kreischend über Sixpacks und V-Muskeln ausließen. Danach wechselten sie zu Bikinis und nachdem ich gesagt hatte, was für einen ich hatte, wurde ich auch damit in Ruhe und konnte mich in Gedanken an einen stillen Ort verfrachten.

„Oh mein Gott, er ist ja so heiß!“, seufzte Claire plötzlich verträumt und zog somit alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Wer?!“, wollte Stacy sofort wissen.

„Na er! Der gutaussehende Sportler, der da so verloren rumsteht! Der in dem schwarzen Anzug mit der azurblauen Krawatte!“

Auch ich sah hinüber und zuckte zusammen.

„Scheiße“, entkam es mir und Chantal warf mir einen skeptischen Blick zu.

„Kennst du ihn etwa?“, fragte Chloe, ohne den Blick von dem Objekt der Begierde zu lösen.

„Also… Das ist ein Lehrer an meiner Schule.“

„Was?! Oh mein Gott, kein Wunder, dass du dich eben bei den Schülern so zurückgehalten hast, wenn du solche Lehrer hast!“, quietschte Claire und ich wäre am liebsten im Boden versunken, da Jackson Finnings Blick eben über uns geschweift war.

„Äh ja, wollen wir nicht über Nagellack reden?“, versuchte ich es und senkte den Blick leicht panisch, aus Angst er könnte mich erkennen und herkommen.

„Spinnst du?! Du musst uns vorstellen!“

„Oder hast du ein Verhältnis mit ihm?“

Ich hätte Chantal ohne nachzudenken eine reingehauen, wenn Herr Finnings Blick nicht eben zurückgekehrt wäre.

Ein halbes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er kam auf uns zu.

„Hallo Nanayda“, sagte er gutgelaunt und sein Blick streifte nur kurz über die ihn anhimmelnden Teenie-Girls.

„Hi Herr Finning“, sagte ich rotanlaufend. „Wie war das Spiel?“

„Gut, aber mit dir wäre der Sieg wahrscheinlich nicht so knapp gewesen.“

„Ach was…“

Gianna stupste mich an und blinzelte mich an. Ich wollte sie erst fragen, ob sie eine Bindehautentzündung hatte, aber dann wurde mir klar was sie wollte.

„Ähm, das sind Julia, Gianna, Claire, Chantal, Chloe und… und Stacy. Und das ist mein Sportlehrer Herr Finning.“

Von allen Seiten kamen hohe, langgezogene „Hi“s und der Lehrer lächelte höflich in alle Richtungen.

„Wie wäre es, wenn du mir deine Eltern vorstellst, ich habe sie noch gar nicht getroffen“, sagte er dann plötzlich und ich sprang sofort auf.

„Ja, klar. Ciao Leute“, verabschiedete ich mich hastig und folgte ihm einmal quer durch die Halle.

„Wie dankbar ich Ihnen auch für diese Rettungsaktion bin, meine Eltern dürfen Sie gern ohne mich kennenlernen, Herr Finning.“

Er lachte und fuhr sich etwas verlegen durch das kurze Haar.

„Ich habe sie vorhin auch schon gesehen, das war nur eine Ausrede. Und bitte nenn mich Jackson, wir sind ja nicht in der Schule und so alt bin ich auch wieder nicht.“

„Ähm okay“, sagte ich nervös und lächelte. In meinem Kopf drängt sich mir gerade eins von Claires „Oh mein Gott!“s auf, doch ich tat mein bestes, um es nieder zu kämpfen.

„Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich dich so entführt habe“, grinste er und heiliger Strohsack, der Kerl hatte Grübchen. Keine süßen Grübchen, sondern sexy Grübchen.

„Nein, nein, wie gesagt bin ich… dir dankbar. Ich kenn die alle nicht und ich will sie ehrlich gesagt auch nicht kennenlernen. Ich saß da nur, weil ich niemand anderen gefunden habe.“

„Das trifft sich ja gut, ich kenne hier nämlich auch niemand. Keine Ahnung warum mein Vater mich mitgeschleift hat.“

Ich überlegte wie alt Jackson wohl sein mochte. Höchstens 26 schätzte ich.

„Wollen wir rausgehen, bevor uns jemand nerviges findet?“, schlug ich vor und Jackson nickte begeistert.

Ich führte ihn durch die angelehnte Verandatür nachdraußen. Die Nachtluft war überraschend mild und wir setzten uns auf ein niedriges Mäuerchen, von dem aus man den mit Lichtern geschmückten Garten überblicken konnte. Es war schon dunkel und alles schien zu funkeln.

„Wie romantisch“, sagte Jackson leise und ich sah ihn überrascht an.

Als er meinem Blick begegnete, hob er ebenso überrascht die Augenbrauen.

„Tut mir leid, ich hab das nur so gesagt, ich äh… Nicht, dass du denkst, ich flirte mit dir. Was ich nämlich nicht darf, weil ich dein Lehrer bin. Willst du was trinken? Ich hol uns was zu trinken“, sagte er und sprang auf.

Ich lachte und er erwiderte es kopfschüttelnd, während er nach drinnen ging. Er ließ mich nicht lang allein und kam bald mit zwei Gläsern zurück. In dem, welches er mir reichte, war die alkoholfreie Orangenbowle, er selbst hatte die normale, rote, von der ich nicht wusste, wonach sie schmeckte.

„Sorry wegen eben. Ich bin noch nicht so lange Lehrer und ein bisschen unsicher“, erklärte er grinsend und ich schmunzelte.

„Das merkt man überhaupt nicht.“

Wir stießen an und tranken einen Schluck.

„Wieso bist du eigentlich hier, wenn du es gar nicht willst?“, fragte Jackson.

„Naja, meine Mum hat mich gezwungen. Außerdem redet sie ständig davon, mich auf das katholische Mädcheninternat abzuschieben, auf dem sie war.“

Er nickte verständnisvoll.

„Wie kam es denn dazu, dass du auf eine Jungenschule gehst?“

„Lange Geschichte“, lachte ich. „Und hey, es steht nicht in der Hausordnung, dass die Schule nur für Jungen ist. Wie sind Sie äh, du denn dazu gekommen, an einer gleichgeschlechtlichen Schule zu unterrichten?“

„Irgendwo muss man ja anfangen“, meinte er schulterzuckend. „Außerdem war ich selber am Harrison Springer. Es ist zwar ein bisschen seltsam seine alten Lehrer als Kollegen zu haben, aber sie sind alle ganz nett.“

„Hm. Ich wöllte nicht an so einem Internat Lehrer sein. Da ist man so von der Welt abgeschnitten. Und tschüss, soziales Leben.“

Ich beobachtete ihn genau, als ich das sagte und tatsächlich verdüsterte sich sein Blick ein bisschen. Er nahm noch einen Schluck von seiner Bowle, dann sagte er: „Meine Verlobte hat mich in meinem Abschlusssemester verlassen. Sie ist am Tag der Hochzeit einfach abgehauen, ohne Erklärung. Und da wollte ich einfach erstmal Abstand… Ich hätte dir das nicht sagen sollen, das war unpassend.“

„Schon okay“, murmelte ich. „Ist vergessen.“

Wir saßen eine Weile schweigend da und betrachteten den Garten. Es war keine unangenehme Stille und ich fühlte mich wohl und entspannte mich total.

Ab da schlugen wir unverfängliche Themen an, wie die Schule oder unsere Lieblingsbasketballteams. Tatsächlich saßen wir stundenlang hier draußen und um Mitternacht hörten wir drinnen die Gläser klirren und mein Vater hielt eine Rede über den wohltätigen Zweck dieses Abends, um zu möglichst hohen Spenden zu animieren, doch wir blieben draußen.

„Jetzt trinken sie gewöhnlich alle nochmal zehn Kisten Sekt und spenden Unsummen und dann gehen alle nachhause“, gähnte ich und legte leicht fröstelnd die Arme um mich.

„Halte ich dich vom Schlafen ab?“, fragte Jackson sofort.

„Nein, ich kann erst hoch, wenn die letzten weg sind.“

„Dann nimm wenigstens das hier“, meinte er und schlüpfte aus seinem Jackett.

Ich nahm es zögerlich entgegen, war dann aber doch froh, als ich es mir um die Schultern legte.

„Fährst du noch heute Nacht zum Internat zurück?“

„Nein, ich fahre mit meinem Vater und schlafe bei meinen Eltern. Morgen geht’s dann zurück.“

„Ich wünschte ich wäre schon dort. Klar, ich habe ein schlechtes Gewissen, wegen meinem Bruder, aber ich fühle mich schon nach so kurzen Zeit dort heimischer als hier.“

„Das ist doch gut. Und mit deinem Bruder kannst du schließlich telefonieren. Obwohl das natürlich nicht dasselbe ist.“

„Ich weiß, es ist nur… Ich will ihn vor allem beschützen und das kann ich nicht, wenn ich so unerreichbar bin.“

„Du bist eine gute Schwester“, sagte Jackson nachdenklich. „Aber du bist nicht für ihn verantwortlich.“

„Hm“, brummte ich.

„Komm, lass uns reingehen, bevor du noch vor Müdigkeit von der Mauer fällst.“

Er stand auf und reichte mir die Hand. Schief lächelnd ergriff ich sie und folgte ihm nach drinnen.

 

Todmüde ließ ich mich in die Limousine fallen. Die Party gestern hatte länger als sonst gedauert und Jackson und ich hatten bis um drei zusammen auf einem Sofa gesessen und uns über die anderen Gäste lustig gemacht.

Als ich dann endlich nach oben gekommen war, hatte mein Bruder mich hellwach in meinem Bett erwartet und mich weitere drei Stunden voll gequasselt.

Heute hatte ich um acht Uhr aufstehen und den ganzen Vormittag mit Johnny Pferde bestaunen dürfen.

Das Mittagessen mit der Familie war auch alles andere als erholsam gewesen und den Nachmittag hatte ich ebenfalls mit Johnny und anschließend mit packen verbracht.

Als ich jetzt also im Auto auf dem Rückweg ins Internat saß hatte ich ein extrem hartes Wochenende und eine Nacht mit nur zwei Stunden Schlaf hinter mir. Mein Kopf tat weh und hielt mich davon ab, während der Fahrt zu schlafen.

Also starrte ich in den dunkler werdenden Abend hinaus und tat mein bestes um gegen die aufsteigende Übelkeit anzukämpfen.

Ich freute mich auf das Internat und auf mein Bett, aber als ich an Nick dachte begann sich alles zu drehen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir uns am Freitag fast geküsst hätten und überhaupt war die Stimmung zwischen uns in letzter Zeit angespannt. Und ich war mir auch nicht mehr ganz so sicher, was meine Gefühle für ihn anging.

Ich hatte nicht so viel Glück, wie bei der Fahrt am Freitag, da hatten wir nur drei einhalb Stunden gebraucht, aber heute schien es, wie bei meiner ersten Anreise, die sechs Stunden gedauert hatte. Der Stau vor uns, wollte sich einfach nicht lichten und Herr Parkin fuhr nach einer Weile auch von der Hauptstraße, um mir in einer Apotheke Kopfschmerztabletten zu besorgen.

Sie verwandelten das Pochen nur in einen dumpfen Schmerz, aber immerhin verschwand die Übelkeit. Schlafen konnte ich trotzdem nicht.

Es war halb zehn, als die Limousine hielt. Obwohl ich mich extrem zusammen reißen musste, um überhaupt aus dem Auto zu kommen, ließ ich mir es nicht nehmen, meine Tasche selbst zu tragen und nachdem ich mich höflich von meinem Fahrer verabschiedet hatte, wankte ich wie ein Zombie nach drinnen.

Im Gebäude war es still und auf meinem Weg zum Zimmer begegnete ich kaum jemandem.

Und dann war ich endlich da. Ich stieß die Tür auf und stolperte nach drinnen.

„Na, seht mal, wer wieder da ist“, sagte Mike, der grinsend am Fenster stand.

Jason saß auf dem Schreibtischstuhl und Nick auf dem Bett.

Ich machte nur „Mh“ und ließ mich in Jacke und Schuhe aufs Bett fallen. Das Kissen drückte sich mir ins Gesicht, aber ich war viel zu geschafft um auch nur mit dem großen Zeh zu zucken.

„Diese euphorische Freude in ihren Augen! So kennen wir unsere Nay“, lachte Jason und ich stöhnte nur unwillig.

„Okay, haut ab Jungs“, sagte Nick und ich wusste, dass er grinste. „Das arme Kind braucht Ruhe.“

„Klar, bis morgen dann.“

Ich hörte die Türe auf und zu gehen, dann senkte sich die Matratze neben mir und meine Schuhe wurden mir von den Füßen gezogen.

„Wie war der Ball?“, war das letzte was ich hörte, bevor ich einschlief.

 

Ich erwachte so langsam, dass ich erst nach einer Weile bemerkte, dass ich nicht mehr schlief. Seufzend atmete ich tief durch und genoss die völlige Entspannung. Langsam drehte ich den Kopf und starrte eine Weile das leere Bett mir gegenüber an.

Mit einem Schlag war ich hell wach und setzte mich kerzengerade auf. Wie spät war es? Im Zimmer war es hell und ich musste verschlafen haben. Panisch stand ich auf, wobei ich mich in der Decke verhedderte und vom Bett auf den kalten Boden fiel.

„Scheiße“, fluchte ich, als ich jetzt einen Blick auf Nicks Wecker erhaschte. Physik hatte ich bereits zur Hälfte verpasst.

Wieso hatte Nick mich auch nicht geweckt? Fuchsteufelswild und mit einem flauen Gefühl im Magen machte ich mich hastig fertig und schnappte mir meine Tasche.

Meine Haare waren total durcheinander, aber ich hatte nicht die Nerven sie zu kämmen. Stattdessen hastete ich über die Internatsflure zum Physikraum.

Dort vor der Tür zählte ich langsam auf zehn um mich zu beruhigen und nicht wie ein aufgescheuchtes Hühnchen nach drinnen zu stolpern. Dann klopfte ich.

Auf das „Herein“ öffnete ich die Tür und trat unsicher ein.

Herr Fluid sah mich überrascht an und die halbe Klasse hatte sich zu mir umgedreht.

„Guten Morgen, Nanayda. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich noch zu uns gesellst.“

„Äh“, machte ich unsicher wegen seines ruhigen Tonfalls.

„Ich hab ihm von deinen Kopfschmerzen erzählt, die du vorhin hattest“, schaltete Nick sich da plötzlich ein.

„Oh ja, ach so, ich… Es ist jetzt besser und ich wollte nicht so viel verpassen“, stammelte ich und huschte auf meinen Platz neben meinem Mitbewohner.

„Wieso hast du mich nicht geweckt?“, zischte ich Nick zu, kaum dass Herr Fluid sich zur Tafel umgedreht hatte, um eine Formel zu erklären.

„Hab ich versucht, aber da war nichts zu machen. Schau mich nicht so an, immerhin hab ich dich gedeckt“, flüsterte er zurück und ich zog unentschieden die Nase kraus.

Hatte ich etwa so tief geschlafen? Vorstellbar war es, da ich gestern unwahrscheinlich müde und fertig gewesen war und am Wochenende praktisch nicht geschlafen hatte.

Ich nahm meinen Block heraus und begann von Nicks Blatt das abzuschreiben, was bereits nicht mehr an der Tafel stand.

 

In der Pause gesellten sich Mike, Jason und Ben zu uns.

„Ich gratuliere dir offiziell zu deinem ersten Mal schwänzen“, grinste Jason stolz und legte mir einen Arm um die Schultern.

„Ich habe nicht absichtlich geschwänzt“, verteidigte ich mich sofort.

„Das sagen sie beim ersten Mal alle“, meinte Ben verständnisvoll und zwinkerte mir zu.

„Im Ernst!“, ereiferte ich mich, doch bei den belustigten Gesichtern der vier Jungs vor mir, kapitulierte ich frustriert und lehnte mich an Jason, dessen Arm noch auf meinen Schultern lag.

„Ich bin immer noch total müde“, gähnte ich und schloss die Augen halb.

„Wie war denn der Ball jetzt? Hast du ein paar verwöhnte Schnösel verführt?“, hakte Mike nach und ich verdrehte die Augen.

„Wieso sollte ich das dort machen, wenn doch Englands reiche Jungs alle hier sind?“

„Das stimmt auch wieder“, meinte er gleichgültig.

Nick hatte die Arme verschränkt und lehnte am Geländer der Treppe.

„Was hast du dann gemacht?“, fragte er gelangweilt als wollte er so schnell wie möglich das Thema wechseln.

„Also eigentlich… nicht viel“, sagte ich. Sollte ich von Jackson, äh Herr Finning erzählen oder nicht? Ihrer Reaktion nicht sicher, meinte ich schließlich: „Ich wurde gleich zu Anfang von einer Bekannten überfallen und zu ihren pinken Girlies verschleppt. Bis vor ein paar Tagen haben mir Mädchen gefehlt, deshalb danke ich diesem Abend, dass er mich erleuchtet hat, wie nervig mein Geschlecht ist.“

„Mädchen sind nicht nervig“, widersprach Jason. „Nur… anders.“

„Wer weiß, wahrscheinlich ist Nay gar kein Mädchen sondern ein Alien, das sich als eines ausgibt“, mutmaßte Mike und ich sah Nick die Augen verdrehen, doch da klingelte es und ich konnte nichts mehr dazu sagen, weil die restlichen Schüler nach oben strömten und uns auf der Treppe mitrissen.

Chemie war zäh und verging doch viel zu schnell. Ich hatte keine Lust auf Sport, vor allem weil ich Jackson Finning nicht begegnen wollte. Denn ich wusste nicht wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Am besten würde ich so tun, als wären wir uns auf dem Ball nicht begegnet und hätten über private Dinge gesprochen.

Mit diesem Entschluss folgte ich den anderen nach unten in die Sporthalle. Beim Aufwärmen musste ich allerdings feststellen, dass nur Coach Klein anwesend war. Ich wollte aber auch nicht nachfragen, wo der neue Sportlehrer war, wahrscheinlich unterrichtete er einfach in anderen Klassen und ich würde ihn nur beim Basketball Training sehen.

Ich entspannte mich also und machte gut mit, weshalb ich nach der Stunde ziemlich ausgepowert war und auf dem Weg zum Mittagessen fast auf dem Zahnfleisch ging.

Als ich mit meinem Tablett auf Ram zusteuerte, tauchte plötzlich Felix vor mir auf. Ich hatte meinen Chemiepartner während des Unterrichts nicht vermisst, deshalb fiel mir erst jetzt auf, dass er nicht da gewesen war. Wegen seiner roten Nase und dem blassen Gesicht vermutete ich allerdings, dass er krank war.

„Hi Felix, wie geht’s dir?“, fragte ich lächelnd und versuchte nicht allzu sehnsüchtig zu dem freien Stuhl neben Ram zu linsen.

„Nicht sehr gut, aber geht schon“, krächzte er. „Ich wollte nur mal fragen, wann wir mit unserem Aufsatz anfangen wollen.“

„Was für ein Aufsatz?“, fragte ich verwirrt.

„Na, der über das Periodensystem. Ich weiß, wir haben noch einen Monat bis zu den Herbstferien, aber wir sollten besser früh als spät anfangen.“

„Mh, klar da hast du natürlich recht“, stimmte ich ihm zu. Ich hatte total vergessen, dass wir diesen Aufsatz schreiben mussten, aber wir sollten wohl tatsächlich bald damit anfangen. „Wie wäre es, wenn wir uns morgen nach dem Mittagessen in der Bibliothek treffen? Also, wenn es dir bis dahin besser geht, meine ich.“

„Ja, kein Problem. Bis dann, Nay“, verabschiedete er sich und ich gelangte ohne weitere Störungen zu meinem Basketballfreund.

„Na du“, begrüßte er mich glucksend. „Ich hab gehört, du hast heute Morgen Physik geschwänzt.“

„Ich hab nur verschlafen, meine Güte! Was ist das hier für ein Dorf, dass sich jede Kleinigkeit so herumspricht?“

Ram lachte nur und ich widmete mich meinen Spagetti.

„Wie war dein Wochenende?“, fragte ich kauend.

„Ach naja, ganz gut, aber relativ langweilig. Und wie war dein Ball? Hast du dich wie eine Prinzessin in rosa Rüschen gefühlt?“

„Oh ja!“, quietschte ich meiner besten Claire-Imitation. „Und um Mitternacht hab ich meinen Traumprinzen geküsst!“

„So siehst du aus. Nicht. Aber wo wir schon dabei sind, was ist eigentlich mit Nick los?“

„Wieso, was meinst du?“ Ich folgte seinem Blick durch die Cafeteria, wo Nick bei seinen Freunden saß, sich allerdings kaum an den Gesprächen beteiligte.

„Er ist in den letzten Tagen irgendwie etwas verändert, findest du nicht? Er hat beim Spiel am Samstag einen von den Bees ziemlich aggressiv gefault und ist auch sonst genervt.“

„Wirklich? Aber du hast schon recht, entweder ist er total genervt oder… Ich weiß nicht.“

„Mich mag er ja sowieso nicht besonders, aber ansonsten ist er doch immer besser drauf.“

Ich sah noch mal zu Nick hinüber und in diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Sofort sah ich weg, erschrocken über die Tatsache, dass mein Herz einen Satz gemacht hatte.

„Er ist irgendwie komisch zu mir. Wenn wir allein sind, ist er total nett, aber meistens, wenn andere dabei sind ist er… eben seltsam.“

„Vielleicht steht er ja auf dich.“

Ich verschluckte mich und hustete heftig.

„Das tut er ganz sicher nicht“, ächzte ich, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war. „Es wäre doch total unlogisch, oder? Immerhin bin ich doch nicht sein Typ und außerdem macht er nicht den Eindruck auf mich, als würde er lange zögern, wenn er etwas will. Oder?“

„Aha“, machte Ram grinsend. „Wie es aussieht, stehst du also auch auf ihn!“

„Tu ich nicht! Okay, vielleicht ein bisschen.“ Ich senkte die Stimme. „Aber egal, wie er sich auch verhält, Nick würde das nie erwidern.“

„Frag ihn doch einfach“, meinte Ram schulterzuckend.

„Bist du verrückt? Das würde erstens unsere Freundschaft ruinieren und zweitens… Wir wohnen im gleichen Zimmer, hast du eine Ahnung, wie schräg das wäre?!“

„Schon gut, schon gut“, lachte er leise. „Aber denk dran: wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“

 

*Nick*

 

Schlecht gelaunt stocherte ich in meinem Essen herum.

Seit Nay wieder da war, hatten wir kaum ein Wort gewechselt und dabei war ich, bevor sie gegangen war, so kurz davor gewesen, ihr zu sagen, was ich für sie empfand.

Egal, wie unwahrscheinlich es wegen ihrem passiven Benehmen war, dass sie auf mich stand, ich war schließlich Nick Shettler und es wäre doch gelacht, wenn ich mich nicht trauen würde, auf ein Mädchen zuzugehen. Schon vor einer Woche hatte ich den Entschluss gefasst, ihr zu sagen was Sache war, weil ich auf meinen Bruder eifersüchtig gewesen war. Auf meinen Bruder.

Ich schnaubte. Es war lächerlich, anzunehmen, dass sie mir irgendjemand wegnehmen würde und am besten sollte ich das Ganze planen. Vielleicht konnte ich sie ja in mich verliebt machen, bevor ich meine Gefühle aussprach. Aber was hieß da vielleicht, bisher war mir noch kein Mädchen begegnet, das mir auf Dauer hatte widerstehen können. Allerdings war Nay ein besonderes Mädchen, sie hatte Klasse und Humor und sie lief mir nicht hinter her, wie die meisten anderen. Aber gerade das machte es noch interessanter für mich, sie zu erobern.

Ich hob den Blick, um zu ihr hinüber zu sehen. Sie saß mit Ram an einem Tisch und in dem Moment, in dem ich zu ihr sah, drehte auch sie den Kopf zu mir und wir sahen uns eine Sekunde lang in die Augen. Dann wandte sie sich wieder ab.

War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich runzelte die Stirn, als sie und Ram die Köpfe zusammen steckten und scheinbar miteinander flüsterten.

In diesem Moment schlug Mike mir auf die Schulter und rief: „In einem Monat ist Halloween!“

„Ja, Mann, ich weiß“, sagte ich langsam, noch halb in Gedanken versunken und drehte mich zu ihm.

„Ernsthaft? Das ist die ganze Reaktion?“

„Wie soll ich denn sonst reagieren?“

„Euphorischer, Alter. Du weißt doch, dass unsere Schule dieses Jahr die Party ausrichtet und ich habe vorhin mit einer der Sekretärinnen gesprochen. Wir Schüler dürfen dieses Mal alles selbst planen. Natürlich muss der Direktor alles absegnen und es wir Aufsichten geben, wie immer, aber überleg doch mal wie geil das wird!“

„Hm. Du meinst, wir können den Dresscode untergraben und endlich mal für gute Musik sorgen?“

„Genau das meine ich! Alle Zehntklässler, die Lust haben, mit zu planen, treffen sich Donnerstagabend nach dem Essen hier. Sie machen auch noch eine Durchsage deswegen, aber ich sag dir, dieses Jahr rocken wir das Ding.“

„Ja“, grinste ich breit, während in meinem Kopf eine Idee entstand. „Dieses Mal wird alles anders.“

Während wir über die beste Musik fachsimpelten, beobachtete ich, wie mein Bruder und seine Band an Nays Tisch vorbei schlenderte und Jason sie ansprach. Sie unterhielten sich kurz, dann lachte sie. Ich konnte es bis hier her hören. Dann stand sie auf und folgte ihnen aus der Cafeteria.

Ich schüttelte den Kopf. Das war egal. Am Ende würde ich sie erobern, das stand fest.

 

Ich traf Nay später auf dem Weg zum Abendessen wieder. Sie schien ziemlich müde und sie war allein, was mich verwirrte, da ich angenommen hatte, dass sie mit meinem Bruder zusammen war.

„Hey“, sagte ich und streifte sie im Vorbeigehen leicht.

„Hi…“, hörte ich sie gedankenverloren murmeln und drehte mich im Laufen um, was ein Fehler war, weil ich prompt gegen jemand stolperte.

Nay kicherte und verdrehte die Augen.

Oh Mann, sie sah richtig süß aus und ich musste mich zum Affen machen…

„Wieso bist du allein?“, fragte ich um davon abzulenken, während wir uns an der Essensausgabe in die Schlange einreihten.

„Ach, die anderen wollten lieber üben und sich von Chips ernähren, aber ich hab echt genug Solos gehört und verdammt Hunger.“

„Kann ich verstehen“, grinste ich, denn ich wusste, wie Jasons Geschredder auf die Dauer nerven konnte.

„Sag mal, Jason ist doch das mit dem Schwimmen auch total wichtig, oder?“, hakte sie plötzlich nach.

„Ja. Soweit ich weiß trainiert er fast jeden Tag irgendwie. Warum?“

Sie öffnete den Mund, doch dann hielt sie inne und setzte ein Lächeln auf.

„Ach nur so. Ich dachte, dass Sportler sich gesünder ernähren würden. Hey, da ist Mike, setzten wir uns zu ihm?“

„Klar.“

Was war das denn? Ich wusste, dass es ihr eben nicht um das gegangen war. Und überhaupt hatte sie so etwas Bedrücktes an sich… Stirnrunzelnd folgte ich ihr an den Tisch, wo sie sich aber sofort mit Mike über Halloween unterhielt und mich ignorierte.

Als ich fertig war, beschloss ich im Musikraum vorbeizusehen und ließ Nay sitzen, nicht sicher, ob sie es überhaupt bemerkte. Fast wurde ich bei dem Gedanken wütend, aber eigentlich hatte sie ja nichts gemacht und später in unserem Zimmer würde ich noch genug Zeit mit ihr haben.

Jason und seine Jungs saßen auf dem Boden, um sie herum lagen Blätter verstreut und ich erkannte, dass sie an einem Song schrieben.

Sie waren so in ihre Diskussion vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkten, als ich eintrat. Kurz überlegte ich, ob ich sie zwingen sollte, sich unten etwas Anständiges zu essen zu holen, doch dann überlegte ich es mir anders und ging wieder.

Ich brütete gerade über den Physikhausaufgaben, als mein Handy klingelte.

„Hm?“, meldete ich mich, mit den Gedanken noch bei der Rechnung.

„Hiiii“, säuselte mir es ins Ohr und ich verzog das Gesicht.

„Hi Brenda“, seufzte ich. „Was gibt’s?“

„Ich hab dir verziehen, Süßer“, schnurrte sie.

Ihre Stimme war so unerträglich, dass ich mich verwirrt fragte, was ich je an ihr gefunden hatte.

„Aha“, machte ich und in diesem Moment kam Nay rein.

Sie setzte sich auf ihr Bett mir gegenüber und musterte mich interessiert.

„Und ich freue mich schon sehr auf Halloweenparty bei euch.“

„Ah…“

„Willst du wissen was ich für ein Kostüm habe?“, fragte sie aufgeregt und ich verzog das Gesicht.

In Gottes Namen, nein, ich wollte es nicht wissen.

„Ich komme als Catwoman“, gurrte sie bewusst doppeldeutig.

„Wie schön für dich, hör mal, ich muss jetzt auflegen.“

„Warum? Ich dachte wir könnten…“

„Oh Mann, verschon mich“, knurrte ich und legte auf.

„Wer war das denn?“, fragte Nay und ich seufzte.

„Ähm Brenda. Sie ist… nervtötend.“

„Tja. Ich schätze sowas muss man ertragen, wenn man alles vögelt was Silikon hat.“

Mir klappte der Mund auf, aber Nay ließ mir nicht die Zeit zu antworten und verschwand im Bad.

Was zur Hölle war das denn gewesen?

 

*Nay*

 

Ich starrte mein Spiegelbild an und fragte mich was zur Hölle mit mir los war. Was war in mich gefahren, dass ich Nick so etwas in so einem Tonfall an den Kopf warf? Obwohl ich eigentlich schon Recht hatte. Brenda war eine dumme Schlampe und ich… war eindeutig in ihn verknallt. Wie auch nicht, bei seinem Humor, seinem Charakter und verdammt er sah einfach zum Anbeißen aus.

Mir ging Rams Satz erneut durch den Kopf. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Ich würde es auf ewig bereuen, wenn ich Nick nicht meine Gefühle gestand. War es nicht sinnlos, wie die Angst dem Glück immer im Weg stand? Klar, war die Chance gering, aber ich sollte es versuchen. Wenn es nicht funktionierte, dann konnte ich mir immerhin nichts vorwerfen und außerdem war ich auch nicht so verliebt, dass ich ohne ihn krepieren würde.

Jetzt blieb nur noch zu überlegen, wie ich es am besten anstellte…

Nachdem ich mich fürs Schlafen fertig gemacht hatte, ging ich zurück ins Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Nick saß wieder über seinen Hausaufgaben und beachtete mich nicht. Ich überlegte kurz, ob ich etwas sagen sollte, entschied mich allerdings dagegen und machte mich meinerseits an Physik.

Es wurde spät, bis wir schließlich in stillem Einverständnis das Licht ausgeschalten hatten und jetzt lagen wir da und keiner sagte einen Ton.

„Tut mir leid, dass ich das eben gesagt habe“, sagte ich schließlich, als ich es nicht mehr aushielt.

„Hm“, machte Nick.

„Aber es ist doch war! Du und Mike seid so begeistert von euren hirntoten Eroberungen und das ist total abstoßend und oberflächlich.“

Okay, ja, das würde ihn garantiert besänftigen. Nicht.

Nick schnaubte leise.

„Denkst du wirklich, ich würde mit jedem Mädchen schlafen, das mir über den Weg läuft? Einfach so?“

„Naja ich… nein, aber, ich meine, ihr… Ihr redet da drüber, als ob es so wäre“, verteidigte ich mich vorsichtig.

„Also erstens gibt es einen Unterschied zwischen dem was man sagt und wie es ist. Und zweitens kann nicht jeder in unserem Alter noch Jungfrau sein.“

Der Tonfall, in dem er das sagte, ließ mir den Magen in die Hose rutschen.

„Aha“, presste ich hervor.

Wie hatte ich nur so naiv sein können, zu denken er könnte mich mögen oder sogar besonders finden und wie hatte ich mich nur je für ihn interessieren können?

Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand und versuchte nicht wie ein dummes Kind über diese verächtliche, herablassende Bemerkung in Tränen auszubrechen. Es war absolut nichts falsch daran Jungfrau zu sein und Nick war ein Arsch.

„Nay…“, seufzte er sanfter, doch ich wollte nichts mehr hören.

„Lass mich in Ruhe, ich will schlafen“, murmelte ich und darauf schwieg er.

 

Ich hatte schlecht geschlafen und als Nicks Wecker mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf riss fühlte ich mich alles andere als gut. Dementsprechend blieb ich einfach liegen und ließ Nick als erstes ins Bad. Meine Wut von gestern war verraucht und hatte ein Stechen in der Brust hinterlassen.

Weil ich die Dusche noch laufen hörte, ich selbst aber zu faul war, um mich noch vor dem Unterricht unter das kalte Nass zu stellen, beschloss ich, mich schon mal anzuziehen.

Gedankenverloren schälte ich mich auf meinem Schlafanzug und schlüpfte in BH und Top. Dann stand ich vor dem offenen Schrank und wühlte darin herum.

Plötzlich ging die Badezimmertür auf und ich fuhr herum. Nick trug nur eine Jeans und mein Herz begann zu rasen, als ich seinen trainierten Oberkörper sah. Als hätte ich ihn nicht schon oft genug so gesehen…

Wie angewurzelt standen wir so da und starrten uns an, bis durch Nick ein Ruck ging und er einen Schritt auf mich zu machte und die Hände auf meine Schultern legte, als ob er mich küssen wollte. Ich rührte mich keinen Zentimeter und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und ehe ich mich versah, hatte ich die Arme um seinen Nacken geschlungen und meine Lippen auf seine gelegt.

Ich schmiegte mich an ihn, als er den Kuss erwiderte und spürte seine Körperwärme durch meine Kleidung. Seine Lippen waren so weich und löschten alles aus, jeden Zweifel und allen Ärger.

Es klopfte an der Tür und wir fuhren auseinander. Mike trat ein und zumindest ich lief feuerrot an.

„Ähm“, machte Nick und fuhr sich durch die Haare.

„Ich… Bad“, machte ich und verschwand dorthin, noch genug geistige Stärke aufbringend, um zu wissen, dass ich keine Hose trug.

 

Ich schaffte es, den ganzen Vormittag Nick und Mike und allen anderen aus dem Weg zu gehen, sodass ich mit niemandem reden musste, bis zum Mittagessen.

Ram fing mich ab, als ich aus der Cafeteria huschen wollte, um draußen zu essen.

„Was ist denn mit dir los, Nay?“, begrüßte er mich charmant irritiert und ich zog ihn kurzerhand mit nach draußen auf die Treppe.

„Also… Weißt du noch, diese No risk no fun Geschichte?“

Er verschränkte grinsend die Arme.

„Jaah?“

„Tja, die Sache ist die… Nick und ich haben uns geküsst, dann kam Mike rein und ich bin abgehauen und seither haben wir nicht geredet“, sprudelte es aus mir heraus und Ram hob die Augenbrauen.

„Und warum nicht? War er so schlecht oder was?“

„Nein, natürlich nicht!“ Ich lief feuerrot an und fuhr mir beschämt übers Gesicht. „Es ist nur… Keine Ahnung, ich weiß einfach nicht, was ich machen soll! Wenn ich mich ihm jetzt einfach an den Hals werfe, hält er mich noch für so ein Flittchen und oh Gott, es ist mir so peinlich.“

„Warum ist dir das denn peinlich? Küsst du etwa schlecht?“

„Ram“, stöhnte ich genervt. „Das war die einzige Sache über die ich mir heute noch nicht den Kopf zerbrochen hab. Was wenn er es… Wenn es ihm nicht gefallen hat? Oh Gott, ich komme mir vor wie so ein hysterisches Mädchen.“

„Naja, du bist ein hysterisches Mädchen“, grinste der Blonde und ich verdrehte die Augen.

„Ich hab nicht so viel… Erfahrung mit… Jungs“, sagte ich schließlich.

„Aber deshalb musst du dich doch nicht schämen“, versuchte Ram mich jetzt etwas ernster zu beruhigen.

„Soll ich jetzt etwa einfach zu ihm hingehen und ihn fragen ob er mit mir zusammen sein will, oder was?“

„Also, Nicks Neandertalerhirn ist damit vermutlich überfordert. Aber vielleicht solltest du dafür sorgen, dass keiner von euch beiden wegrennen kann, wenn ihr euch das nächste Mal küsst.“

„Und wie soll ich das bitte anstellen? Wahrscheinlich macht er sich jetzt gerade mit Mike darüber lustig, dass ich sabbere oder so.“

„Dann schnapp ihn dir heute Abend und überzeug ihn vom Gegenteil!“

„Aber…“ Ich vergrub ächzend den Kopf in den Händen.

Was für ein Destaster. Ich hätte Nick nie so spontan küssen sollen! Jetzt hatte ich absolut keine Kontrolle mehr über die Situation und so wie ich Nick kannte, würde er nie von selber den Mund aufmachen. Und wenn ich ihn jetzt einfach darauf ansprach, würde er vermutlich selber wegrennen, da hatte Ram schon Recht.

„Komm schon, ich bin ziemlich sicher, dass Nick auch auf dich steht, so wie er sich immer verhält. Und du kannst bestimmt super küssen.“

„Haha“, machte ich sarkastisch und hob den Kopf.

Ram verdrehte die Augen, dann beugte er sich einfach vor und legte seine Lippen auf meine.

„Was zur Hölle…“

Ich fuhr erst zurück, als es zu spät war und Nick und Mike uns bereits entgeistert anstarrten.

„Das ist nicht das wonach es aussieht, Nick“, beeilte ich mich sofort zu sagen und sprang knallrot auf.

„Spar dir den Atem, Schlampe“, knurrte er und ich riss die Augen auf.

„Hey, ganz ruhig, Nick“, sagte Ram empört, doch dieser schenkte ihm nur einen vernichtenden Blick.

„Weiß deine Freundin, dass du sie betrügst? Scheiße, Mann“, fluchte Nick, drehte sich um und stürmte durch die Eingangstür nach draußen.

„Das hätte ich echt nicht von dir gedacht, Nay“, murmelte Mike und folgte ihm, ehe ich etwas sagen konnte.

„Verdammt“, wisperte ich. „Jetzt hasst er mich.“

„Oh Mann, tut mir so leid, Nay, du weißt, wie das eben gemeint war. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er gleich um die Ecke kommt“, entschuldigte Ram sich, doch winkte ab.

„Schon gut, ist okay.“

Meine Augen brannten, doch es kamen keine Tränen, ich war einfach viel zu geschockt. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte ich alles kaputt gemacht.


 

 

Irgendwie schaffte ich es mich zusammenzureißen und in die Bibliothek zu gehen, wo Felix und ich unser Chemieprojekt anfangen wollten. Als ich nach hinten zu den Tischen kam, saß er bereits mit vier dicken Büchern da und hatte eines vor sich aufgeschlagen.

„Hey“, sagte ich, als ich mich setzte.

„Hi Nay. Ich hab hier erstmal das was wir lesen sollten, bevor wir ernsthaft recherchieren. Zum Einarbeiten sozusagen.“

„Das alles?“, fragte ich und schluckte trocken.

„Was? Nein, nein“, lachte Felix und ich atmete erleichtert aus. „Es ist nur ein Kapitel pro Buch. Ich würde sagen, wir lesen die erstmal und machen Notizen und dann tauschen wir uns aus und dann sehen wir weiter.“

„Alles klar.“

Ich nahm mir eins der Bücher und begann zu lesen.

Die Schrift war klein und die Seiten groß und nach einer Stunde fühlte ich mich als würden mir die Buchstaben davonlaufen und auf meinem Notizblock Polka tanzen. Felix war ganz vertieft, während ich mich nur noch zurücklehnen und um Gnade betteln konnte. Gerade wollte ich fragen, ob wir für heute nicht schlussmachen könnten, als ich jemand zwischen den Regalen entdeckte, über den ich schon mal in der Bibliothek gestolpert war. Es war der Junge der Nick geküsst hatte.

„Hey Felix“, flüsterte ich und er sah auf, wobei sein Blick aussah, als wäre er eben aus dem Wasser aufgetaucht.

„Weißt du, wer der Typ da drüben ist?“

„Na klar“, sagte er überrascht. „Es überrascht mich, dass du ihn nicht kennst, wo du doch mit Jason befreundet bist. Das ist der Co-Captain vom Schwimmteam Chris Berry.“

„Tatsächlich“, sagte ich langsam, aber nicht wirklich überrascht, da sein breites Kreuz und die eher schmalen Hüften schon darauf hindeuteten. „Ist er in unserer Stufe?“

„Ja. Ein unscheinbarer Typ, solange er nicht gerade durchs Wasser pflügt.“

„Ich geh mal kurz zu ihm rüber, bin gleich wieder da“, sagte ich und stand auf.

„Äh…“, machte Felix, doch ich winkte nur ab und ging auf den Typen zu, der mit dem Rücken zu uns an einem Regal stand und nach einem Buch zu suchen schien.

„Hey“, machte ich und tippte ihn an.

Sofort versteifte Chris sich, drehte sich aber langsam um.

„Was willst du von mir?“, fragte er leise und sein Blick huschte nervös zu Felix, der uns beobachtete.

„Ich will nur mit dir reden, okay? Ich dachte, wir könnten vielleicht Freunde sein oder so“, schlug ich vor.

„Nein, danke, ich brauche keine Freunde und jetzt lass mich in Ruhe.“

„Jetzt warte doch mal!“, beschwichtigte ich ihn. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du einfach damit klar kommst, insgeheim schwul und in den wohl heißesten Typen der Schule verknallt zu sein.“

Chris zuckte zusammen und abermals huschte sein Blick umher.

„Ich sehe schon, du lässt mich sowieso nicht in Ruhe“, knurrte er und fuhr sich durch die kurzen, schwarzen Locken, während ich nur siegessicher grinste.

„Treffen wir uns nach dem Abendessen hinter der Schule. Aber danach lässt du mich in Ruhe, kapiert?“

„Ja, ja“, machte ich und hob unschuldig die Hände. Dann drehte ich mich um und ging zurück, um gutgelaunt meine Arbeit fortzusetzen.

Als wir abends die Bibliothek verließen und in die Cafeteria gingen, fielen mir wieder meine eigenen Probleme ein, als ich das Basketballteam an einem vollen Tisch sitzen sah. Sie waren alle so betont ausgelassen, dass ich das unbestimmte Gefühl hatte, sie würden mich ausschließen wollen. Ram entdeckte ich nirgends, was mich auch etwas verwirrte. Schließlich setzte ich mich zu Jason, Charles und Ben.

Alle drei sahen mich an, dann tauschten sie einen bedeutungsschweren Blick.

„Was?“, fauchte ich etwas gereizter als ich war.

„Das sollten wir wohl eher dich fragen“, stellte Jason mit gehobenen Augenbrauen fest. „Denn anscheinend hast du mit Ram rumgeknutscht.“

„Hab ich nicht! Er hat mich nur geküsst, weil… Das geht euch überhaupt nichts an, woher wisst ihr das überhaupt?“

„Diese Schule ist ein Dorf“, sagte Ben und lehnte sich zurück.

Ich stöhnte genervt und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

„Im Ernst, Nay, er hat eine Freundin“, fügte der Drummer hinzu.

„Das weiß ich! Und wir sind nur Freunde, meine Güte. Warum bin ich nochmal an dieser Schule?“

Ich hob den Kopf und strich mir die Haare zurück.

„Wir haben uns nur geküsst, weil ich Komplexe hatte und dachte, dass ich nicht küssen kann und was kann ich dafür, dass Nick in dem Moment um die Ecke gekommen ist? Außerdem hat er gar kein Recht dazu, sich so aufzuregen.“

Okay, eigentlich schon, aber das mussten die ja nicht wissen.

Ich wurde vor dem restlichen Gespräch gerettet, da Nick in diesem Moment an den Tisch trat.

„Kann ich dich kurz sprechen, Nay?“, fragte er, ohne mich anzusehen.

Na klasse, vom Regen in die Traufe.

Mein Stuhl quietschte und mein Herz raste als ich aufstand und Nick aus der Cafeteria folgte.

Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass das Team beschlossen hat, dass Teamkollegen nichts miteinander anfangen sollten. Für das Klima und so. Also halt dich von Ram fern, der hat sowieso schon eine Freundin.“

Verwirrt hob ich die Augenbrauen.

„Darf ich dir wenigstens erklären, was da passiert ist? Weil es nämlich…“

„Lass es sein, ich lass mich nicht gern anlügen.“

Mir stiegen vor Wut Tränen in die Augen und ich musste heftig blinzeln, um sie zurückzudrängen.

Nick drehte sich um und stieg die Treppe nach oben.

„Nick“, sagte ich trocken und er blieb stehen ohne sich umzudrehen. „Dir ist klar, dass diese… Regel dich mit einschließt?“

„Ja“, sagte er nur und ließ mich stehen.

Ich wusste nicht, wie lange ich da stand und die Treppe anstarrte, aber irgendwann, als die ersten Schüler aus der Cafeteria kamen, gab ich mir einen Ruck, drehte mich um und verließ das Gebäude.

Draußen war es schon ziemlich dämmrig, aber nicht sehr kalt und windstill. Es überraschte mich nicht, dass Chris bereits da war und auf mich wartete. Er lehnte an der Mauer und rauchte eine Zigarette.

„Ich dachte, rauchen ist hier verboten“, sagte ich und lehnte mich neben ihn an den kalten Stein.

„Ist es auch.“ Er hielt mir eine Packung Lucky Strike hin.

„Ich rauche nicht.“

„Selber Schuld“, meinte er schulterzuckend und blies mir eine Ladung Rauch ins Gesicht.

„Hey!“, hustete ich und machte einen Schritt zur Seite. „Du bist doch im Schwimmteam, du solltest nicht rauchen.“

„Was willst du von mir?“, seufzte er gelangweilt.

Hier draußen wirkte er auf einmal nicht mehr so verunsichert und fast ängstlich wie in der Schule. Nein, hier im Halbdunkeln jagte er mir fast ein bisschen Angst ein, mit seiner düsteren Ausstrahlung und den halb gesenkten Lidern. Auf seine Art sah er sogar sexy aus, wie er den blaugrauen Rauch ausatmete und auf den Boden starrte.

„Du machst einen unglücklichen Eindruck auf mich.“

„Du bist auch nicht grade eine Glücksfee“, schnaubte Chris und ich hob die Augenbrauen. „Ich meine, was ist alles in deiner Familie kaputt, dass du auf ein Jungeninternat gehst?“

Ich presste die Lippen zusammen und sah weg. Eigentlich hatte ich ihm irgendwie helfen wollen und nicht mein verdrehtes Leben vorgelegt bekommen.

„Ganz ehrlich, ich bin nicht der von uns beiden, der Hilfe braucht.“

Wir standen eine Weile einfach nur so da, irgendwann reichte Chris mir nochmal die Zigaretten und dieses Mal nahm ich auch eine. Der Qual schmeckte scheußlich und der Gestank vertrieb auch nicht die dumpfe Leere in mir. Aber er dämpfte den Schmerz und die Wut darüber, dass ich jetzt wahrscheinlich keine Chance mehr bei Nick hatte.

„Bist du in ihn verliebt?“, fragte ich nach einer Weile.

„In wen?“

„Na in Nick. Du weißt schon, der Junge, den du geküsst hast“, sagte ich in einem Anfall von trockenen Humor.

Chris zuckte mit den Schultern.

„Er ist heiß“, meinte er nach einer Weile zögernd. „Aber letztendlich ist er nur ein oberflächlicher Arsch.“

„Ist er nicht!“, widersprach ich sofort, doch Chris verdrehte nur schief grinsend die Augen.

„Schon klar, er ist nett zu dir und du hast dich in ihn verknallt. Aber der Typ nutzt jeden aus und wenn du ihn mal rangelassen hast, dann wird er dich fallenlassen, genau wie die anderen Mädels, die er letztes Jahr hatte.“

„Meine Güte, wie du redest. Er ist noch nicht mal 17, so viele kann er doch noch nicht gehabt haben.“

Chris trat seine Zigarette aus.

„Der Typ ist total verdreht. Und er steht nur auf die Jagd, das weiß jeder, der ihn in den letzten Monaten beachtet hat. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, dann belass es bei einer Freundschaft, egal wie „nett“ er zu dir ist.“

Bevor ich etwas antworten konnte, drehte er sich um und ging davon.

Verwirrt und aufgewühlt stand ich da, bis mir bewusst wurde, wie kalt es geworden war und ich mich schleunigst in mein Zimmer aufmachte.

Nick war nicht da und ich nahm an, dass er in Mikes Zimmer oder sonst wo war, aber eigentlich wollte ich ihn gar nicht sehen, nach der Abfuhr von vorhin. Also machte ich mich bettfertig, ging nochmal die Hausaufgaben für morgen durch und ging dann relativ früh schlafen.

 

Als ich am nächsten Morgen völlig gerädert aufwachte, war Nicks Bett unberührt. Nervös ging ich duschen und wusch mir den Rauch aus den Haaren, denn ich wollte ganz sicher keinen Ärger fürs Rauchen kassieren.

Als ich vor dem Raum, in dem wir Englisch hatten, ankam, war niemand zu sehen. Stattdessen hing ein Schild an der Tür, auf dem stand, dass die Stunde wegen Krankheit ausfiel.

„Na klasse“, murmelte ich. Wenn ich das schon gestern gewusst hätte, dann hätte ich liegen bleiben können.

Ich fragte mich, was die restliche Klasse jetzt wohl so trieb, aber eigentlich war ich ganz dankbar, etwas Ruhe zu haben und verzog mich in die Bibliothek, um noch ein bisschen auf den Biologietest zu lernen, den ich gleich schreiben würde.

Da ich Bio und Erdkunde nicht mit Nick zusammen hatte, sah ich ihn erst mittags beim Essen. Er saß bei seinen Freunden, die sich über irgendetwas zu amüsieren schienen, was er erzählte.

Ich überlegte kurz, ob ich mich dazu setzen sollte, immerhin war ich ja auch Teil des Basketballteams, aber dann entschied ich mich doch dafür, dass Abstand vielleicht gar nicht so schlecht war, und setzte mich zu Ram.

„Na du“, begrüßte er mich vergnügt, als ich mein Tablett auf den Tisch knallte.

„Hi“, brummte ich und begann in meinem Essen zu stochern.

„Ich habe meine Freundin übrigens dazu überreden können mich nicht zu verlassen, nachdem Nick ihr irgendeinen Müll über uns erzählt hat, danke der Nachfrage.“

„Was? Oh Mist, tut mir leid.“

„Dass wir noch zusammen sind?“, fragte er grinsend und ich verdrehte die Augen.

„Nein, dass du Ärger hattest. Ich auch.“

„Mh ja, ich hab von Nicks neuer… Regel gehört.“

„Das war eine miese Abfuhr. Und dann war es auch noch eine indirekte, als wäre ich etwas anderes nicht wert“, seufzte ich verdrossen, doch Ram schüttelte den Kopf.

„Ach was, das war nur ein Eifersuchtsanfall!“

„Klar. Und deshalb hat er heute auch wo anders geschlafen.“

„Er hat was?!“ Ram starrte mich ungläubig an, bevor er in Gelächter ausbrach.

„Ich wüsste nicht was daran so witzig sein sollte“, zischte ich wütend und sah mich verstohlen um, ob wir schon angestarrt wurden.

„Meine Güte, ihr seid sowas von verheiratet, Nay. Ich kann’s gar nicht fassen…“ 

Das Training an diesem Tag war schlecht wie lange nicht mehr, aber das ganze Team schien so neben der Spur zu sein. Nachdem Couch Klein uns eine Gardinenpredigt gehalten hatte, entließ er uns schließlich und ich war froh, dass Herr Finnig heute nicht da war. Ihn hätte ich heute kaum noch ausgehalten…

 

Die Tage verstrichen, ohne dass Nick und ich ein Wort wechselten. Als ich am Samstag Jason beim Schwimmtraining zu sah war meine Laune also am absoluten Tiefpunkt, aber ich war eher wütend als traurig. Deshalb fuhr ich auch jeden an, der sich meiner Bank auf einen Meter näherte.

Die meisten anderen Zehntklässler waren damit beschäftigt, die Halloweenparty zu planen, doch ich wollte mich nicht beteiligen. Zwar war Ram davon überzeugt mich heute Nachmittag in den Kostümladen mitzuschleppen, aber ich selbst hatte nicht die geringste Lust dazu.

„Du siehst ja beschissen aus.“

Ich wollte den Typ, der sich neben mich gesetzt hatte, schon zusammen schreien, was ihm einfiel, als mir klar wurde, dass es Chris war. Mit nassen Haaren und in Badeshorts sah er ganz anders aus.

„Oh danke. Das Kompliment rettet mir den Tag“, fauchte ich also nur milde gestimmt und richtete den Blick wieder auf Jason, der durchs Wasser pflügte.

„Kein Ding. Du bist doch nicht etwa hier, um mich zu stalken?“

„Nein. Obwohl du sonst der Mittelpunkt meines Universums bist, bin ich wegen Jason da.“

„Na, du hast aber gute Laune.“

Er stand auf, um weiter zu machen.

„Hey, warte mal. Gehst du heute Nachmittag auch in die Stadt?“

„Ist das ein Friedensangebot?“, fragte er nur mit einem halben Grinsen vom Startblock aus, wartete aber nicht auf meine Antwort und machte einen Köpfer ins Becken.

Tatsächlich fand ich, dass Chris und Jason die besten Schwimmer im Team waren, und das, obwohl ich nicht viel davon verstand. Aber es hatte wohl seine Gründe, dass die beiden Captain und Co-Captain waren.

„Du schwimmst wirklich gut“, sagte ich zu Jason, als er sich gegen zwölf Uhr aus dem Becken wuchtete.

„Danke“, meinte er grinsend. „Aber das muss ich auch. Immerhin sind im Frühling die Jugendmeisterschaften.“

„Oh und da fahrt ihr hin?“

„Nicht wir alle. Davor findet noch ein Turnier statt und die besten zwei dürfen gehen“, erklärte er mir, während er sich abtrocknete.

„Aber gewinnen da nicht sowieso Chris und du?“

Jason sah mich mit einem seltsamen Ausdruck an, dann sagte er: „Chris darf nicht in Wettkämpfen schwimmen. Er hat Herzprobleme.“

„Oh.“ Völlig überrascht stand ich da, sodass ich nicht mal daran dachte, wegzusehen, als Jason unter dem Handtuch die Badehose auszog.

Das erklärte aber auch so einiges. Seine chronisch schlechte Laune, das Rauchen…

„Und trotzdem ist er Co-Captain?“, fragte ich verwirrt.

„Naja, er ist trotzdem noch ein verdammt guter Schwimmer, auch wenn er das nicht mehr unter Beweis stellen darf, ohne einen Schlaganfall zu riskieren.“

„Scheiße… Das muss echt hart sein“, murmelte ich.

„Ja. Ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn ich nicht mehr… Aber ist ja auch egal. Komm, lass uns was essen gehen.“

In der Cafeteria sah ich Felix von weitem und versteckte mich unauffällig hinter Jason. Wir waren mit unserer Chemiearbeit in dieser Woche gut vorangekommen, aber ich wollte auf keinen Fall am Wochenende arbeiten.

Beim Essen saß ich bei Jason und seinen Freunden und ließ mich mit Musikerfachsimpel berieseln. 

Während wir draußen standen und auf den Bus warteten, der uns in die Stadt brachte, holte ich mein Handy hervor und rief zuhause an. Mein kleiner Bruder meldete sich schon nach dem dritten Klingeln.

„Hallo Kleiner“, sagte ich lächelnd und versuchte mein schlechtes Gewissen zu unterdrücken, weil ich ihn die ganze Woche nicht angerufen hatte.

„Hallo Nay!“, flüsterte er fröhlich.

„Was ist los? Warum flüsterst du denn?“, fragte ich verwirrt und nickte Ram zu, der sich gerade zu mir gesellte.

„Weil Mama und Papa mich nicht hören sollen.“

„Und warum?“

„Weil ich eigentlich in meinem Zimmer bleiben muss“, erklärte er mir. „Ich hab nämlich was Böses gemacht und jetzt sind sie sauer.“

„Was war das denn?“, wollte ich mit gerunzelter Stirn wissen.

„Ich hab Mamas Saft weggeleert. Den, von dem sie immer so komisch wird.“

Meine Augen weiteten sich und mein Mund klappte auf.

„Aber warum hast du das denn gemacht, Johnny?!“

„Weil sie die ganze Zeit davon trinkt und ich mag das nicht“, murmelte er entschuldigend.

„Was? Die ganze Zeit? Aber… Oh Gott…“

Verzweifelt rang ich nach Worten. Meine Mutter entwickelte sich also zur Alkoholikerin und Johnny bekam es auch noch mit.

„Wo ist Mama denn jetzt?“, fragte ich.

„Draußen mit Papa und sie streiten sich. Aber das machen sie immer, weil Papa den Saft auch nicht mag und dann schreit er sie deswegen an und dann trinkt sie noch mehr.“

Ich schluckte und schloss die Augen.

„Was ist das für ein Saft, Nay?“

„Das… Das ist ein ganz böser Saft. Und den darfst du nicht trinken, ja?“

Ich zitterte und spürte wie Ram mich vorsichtig an den Ellenbogen festhielt.

„Ihhhhh nein, der riecht doch ganz eklig“, lachte Johnny, aber es klang nicht ganz so unbeschwert wie früher.

„Ja“, krächzte ich. „Geht’s dir gut?“

Johnny schwieg kurz und mir brach fast das Herz als er sagte: „Ja, schon. Aber ich muss jetzt wieder in mein Zimmer. Sonst streiten Mama und Papa noch mehr wegen mir.“

„Okay. Okay, aber du weißt, dass das nicht deine Schuld ist, ja? Nichts davon. Und du kannst mich wirklich immer anrufen, wenn was ist. Versprichst du mir, dass du anrufst, wenn etwas passiert?“

„Ja, klar. Tschüss, Nay!“

„Tschüss, Johnny“, murmelte ich und legte auf.

„Wenn dein Gesicht nicht sofort wieder Farbe annimmt, ruf ich einen Krankenwagen“, hörte ich Ram sagen. „Nay, was ist los? Rede mit mir!“

Ich öffnete blinzelnd die Augen.

„Mein Bruder… ich hätte ihn nicht mit meinen Eltern allein lassen sollen, er… Er braucht mich doch“, stammelte ich.

Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, wie Johnny unsere betrunkene Mutter nach einem Streit mit unserem Vater im Wohnzimmer vor fand und sie ihn beschimpfte, so wie mich früher. Aber bei mir waren es nur die schwarzen Tage gewesen. Ganz vereinzelt. Und jetzt schienen es schwarze Wochen zu werden… Und unser Vater war ja sowieso kaum zuhause und wenn schien er nur noch mit unserer Mutter zu streiten.

Natürlich machte ich mir auch Sorgen um meine Mutter und die Ehe meiner Eltern. Aber jetzt stolperte mein herz nur wegen Johnny so nervös vor sich hin. Er war doch noch viel zu klein, um so einer Situation ganz alleine standzuhalten! Er brauchte eine gesunde Kindheit, um ein gesunder Erwachsener zu werden.

„Bitte beruhig dich und atme! Ich weiß echt nicht, was ich mit dir machen soll“, rief Ram verzweifelt und schüttelte mich.

Keuchend schnappte ich nach Luft und atme. Ein, aus. Ein, aus.

„Geht schon, alles okay“, krächzte ich und lehnte mich gegen ihn. „Ich hab nur… ich mach mir nur so Sorgen. Er ist doch noch zu klein für das alles.“

„Hey, schon gut! Was ist denn passiert?“, fragte Ram und führte mich in die hinterste Reihe im Bus.

Am liebsten hätte ich ihm alles erzählt und mein Herz ausgeschüttet, um meine Angst durchs Teilen zu vermindern. Doch dann besann ich mich eines besseren. Ich konnte ihm doch hier nicht meine halbe Lebensgeschichte erzählen! Außerdem würde das ja auch nichts bringen. Das ging nur mich und meine Familie etwas und das musste ich allein regeln.

„Es ist schon okay“, meinte ich und fuhr mir übers Gesicht. „Ich hab ein bisschen überreagiert. Aber keine Angst, es geht allen gut.“

Ich lachte, doch es klang hölzern und Ram schien es mir nicht abzukaufen.

„Du hattest gerade einen Kreislaufzusammenbruch.“

„Ich saß den ganzen Vormittag in der Schwimmhalle, weißt du was da für eine Luft ist?“, tat ich das ganze ab.

Ram hob die Augenbrauen, sagte aber nichts mehr.

Als wir ausstiegen, hatte ich meine Probleme gut in meinem Hinterkopf verstaut und man sah mir nichts mehr an.

Ich sah Chris, der gerade hinter uns ausstieg, und winkte ihn zu uns.

„Ram zwingt mich, mir ein Kostüm zu kaufen. Kommst du mit und hilfst mir mit schlechter Laune alles nieder zu machen?“

„Klar“, meinte der Schwimmer schmunzelnd und wir setzten uns in Bewegung.

Ram und Chris schienen sich schon zu kennen, waren aber offensichtlich keine Freunde. Überhaupt schien Chris keine Freunde im Internat zu haben.

Wir machten uns auf den Weg zu einem kleinen Kostümladen und Ram regte sich lautstark darüber auf, dass die Stadtwochenenden vom Harrison Springer und die des St. Andrews – das war die benachbarte Mädchenschule, auf die seine Freundin ging – fast immer versetzt statt fanden.

Ich fand es ehrlich gesagt auch ein bisschen krass. Nicht, dass ich unbedingt ein paar Mädchen kennen lernen wollte, aber diese Separierung war schon ziemlich mittelalterlich.

Der Laden war absolut vollgestopft. Die Kostüme schienen teilweise Second Hand zu sein und die Beleuchtung war gedimmt. Möglicherweise um ein paar Nutzungsspuren zu kaschieren. Die Gänge zwischen den Kleiderstangen waren kaum einen halben Meter breit und es wimmelte nur so von Schülern.

„Na klasse“, hörte ich Chris neben mir murmeln. „Ich warte dann draußen.“

„Vergiss es“, rief ich und schnappte seinen Arm. „Wenn ich muss, dann musst du auch.“

Er gab ein unwilliges Brummen von sich, ließ sich aber von mir mitziehen. Ich folgte Ram in den hinteren Teil des Ladens, vorbei an Prinzessinnen- und Tierkostümen.

„Als was verkleidest du dich denn?“, fragte ich den blonden Basketballer, der auf einem Tisch in Masken wühlte.

„Als etwas absolut ekliges und grauenhaftes“, verkündete er verheisungsvoll und Chris schnaubte.

„Unser Direx?“

Ram sah ihn verblüfft an, dann brach er in Gelächter aus.

„Nein, Mann, das ist mir dann doch zu hart. Ich gehe als hirnfressender Zombie.“

„Dann wird aber keiner vor dir Angst haben. Über so viele Hirne verfügt unsere Schule nämlich nicht“, meinte ich breit grinsend und dachte an Jake und seine Gefolgschaft.

Ram nickte und erwiderte mein Grinsen. Dann sah er zu Chris.

„Und in was für ein Kostüm stecken wir unsere Lady?“

Chris hob die Augenbrauen und musterte mich nachdenklich. Dann sagte er: „Eindeutig als Hexe.“

 

*Nick*

Der Samstag hatte ziemlich gut begonnen. Mike und ich waren in seinem Zimmer herum gelegen und hatten so getan, als würden wir endlich mit unserem Chemieaufsatz anfangen und ich hatte kaum an Nay gedacht.

Überhaupt schaffte ich es relativ gut sie aus meinen Gedanken zu streichen. Wieso sollte ich auch schon über sie nachgrübeln, das tat ich sonst ja auch bei keiner. Und diese dummen Gefühle, die ich mir beinahe eingeredet hatte, waren auch aus meinem Kopf verschwunden.

Klar fand ich sie immer noch heiß, aber durch ihre Hurerei mit Ram war mir klar geworden, dass sie doch nicht anders als die Mädchen, die ich kannte, war. Also verdiente sie auch keine Sonderbehandlung.

„Nick, du starrst sie schon wieder an.“

Ich zuckte leicht zusammen und drehte den Kopf zu Mike, der neben mir saß.

„Sie ist ja auch die einzige Person im Bus, die man anstarren kann, ohne schwul zu wirken“, meinte ich leichthin und Mike grinste.

„Na sie ist schon heiß, aber was du da abziehst ist echt nicht mehr normal.“

„Verdammt, was willst du eigentlich?!“, schnaubte ich genervt und verschränkte die Arme, was keine so gute Idee war, da der Bus gerade um eine Kurve fuhr und ich fast aus dem Sitz fiel.

„Meine Güte Nick, jetzt gib doch zu, dass du auf sie abfährst. Ist doch nichts Schlimmes dran.“

Ich runzelte die Stirn und stimmte ihm schließlich widerstrebend zu.

„Wo liegt dann das Problem? Klar ist es ein bisschen unpraktisch, dass ihr wegen eurem Zimmer das restliche Schuljahr aufeinander hängt, aber Nay ist nicht wie Brenda. Sie wird dir nicht hinterherlaufen, wenn du nichts mehr von ihr willst.“

„Da könntest du recht haben“, meinte ich und sah wieder zu Nay hinüber, die neben Ram saß.

Vorhin auf dem Parkplatz schien sie eine Art Nervenzusammenbruch gehabt zu haben, doch jetzt lachte sie schon wieder über einen vermutlich ziemlich schlechten Witz.

„Na dann schnapp sie dir, Mann. Du bist ein Jäger und sie ist die Beute. Und wenn du mit ihr fertig bist, dann war’s das.“

„Weißt du, wie beschissen du dich anhörst?“, fragte ich belustigt.

„Ja, im Ernst. Du kannst doch nicht wollen, dass so ein zweitklassiger Typ wie Ram sie vor dir kriegt.“

„Das wollen wir ja nicht riskieren“, sagte ich grinsend und fuhr mir durch die Haare.

Mike hatte Recht. Was war nur los mit mir? Die Jagd war tatsächlich das, was mich an Nay reizte. Vor allem weil es dieses Mal wirklich eine Herausforderung werden würde.

„Ich schätze, sie ist fällig.“

Wie alle anderen mussten auch wir in den Kostümladen, obwohl ich eigentlich keine Lust auf eine richtige Verkleidung hatte. Dennoch ließ ich mich von Mike mitreißen, der schon total mit der Planung der Party und der Entwicklung eines Plans, wie er am besten eine heiße Tussi ins Bett bekommen würde, beschäftigt war.

Doch als wir dann endlich zwischen den Haufen von Verkleidungen standen, sah ich etwas, das mich wie ein Schlag in den Magen traf.

Der Typ war da. Der Typ, der mich damals geküsst hatte und den ich jetzt erst als Chris Berry, Co-Captain des Schwimmteams, identifizieren konnte, war hier. Und er stand direkt neben Nay.

 

*Nay*

„Eine Hexe? Wie kommst du denn da drauf?“, wollte ich verwirrt wissen.

„Deine Haare“, meinte Chris, scheinbar verwirrt, dass mir das noch nicht eingefallen war.

„Stimmt, sie ist eindeutig eine Hexe“, meinte auch Ram jetzt.

„Soll ich da jetzt etwa in Spinnweben und mit Spitzhut auftauchen?“, fragte ich grinsend und beide Jungs verdrehten fast gleichzeitig die Augen.

„Nay, Halloween ist für Frauen dazu da, sexy auszusehen. Schaust du kein How I met your mother?“

„Oh Mann“, lachte ich ironisch. „Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen. Also gut, such du dir dein Zombie Zeug und find was für Chris. Ich geh mal nach dort drüben, das sieht mir eher nach Hexen aus.“

Kopfschüttelnd durchquerte ich den Laden und begann mich dann durch einen Haufen orange und schwarz zu arbeiten. Schließlich fand ich dann doch das ein oder andere, was nicht allzu lächerlich aber auch nicht nuttig aussah und machte mich damit auf zur Anprobe.

Dort musste ich leider erstmal eine Weile anstehen und da keine bekannten Gesichter in der Nähe waren, wurde das ziemlich langweilig.

Aber dann stand ich endlich in einer der Kabinen und gerade, als ich meine Hose öffnete, schlüpfte noch jemand herein.

„Hey, hier ist… besetzt.“ Erschrocken starrte ich Nick an, der direkt vor mir stand.

„Was hat der Typ hier verloren?“, knurrte er und sah mich wütend an.

Verwirrt wich ich einen Schritt zurück, doch er folgte mir, sodass ich zwischen ihm und der Wand eingeklemmt war.

„Du redest also wieder mit mir?“, fragte ich nicht halb so schnippisch wie ich es gern gehabt hätte.

„Klar“, meinte er und verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen, das seine Augen jedoch nicht erreichte. „Und jetzt sag mir, was du mit ihm zu schaffen hast?“

„Mit wem?“, stöhnte ich genervt, obwohl mein verräterisches Herz wild zu schlagen begann, wegen seiner plötzlichen Nähe.

„Jetzt stell dich nicht so dumm! Mit Chris.“

„Ich… Keine Ahnung, wir sind irgendwie Freunde.“

„Ich will nicht, dass du mit ihm befreundet bist“, knurrte Nick wütend, was wiederum mich wütend machte.

„Seit wann hast du mir vorzuschreiben, mit wem ich rede?“, fauchte ich.

„Wenn du irgendjemand erzählst, was…“

„Jaja, du brauchst keine Angst zu haben, um deinen Ober-Macho-Ruf, du Idiot. Und jetzt raus hier. Falls du es noch nicht bemerkt hast, bin ich gerade beschäftigt“, meinte ich und funkelte ihn an.

Nicks Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen und er stützte rechts und links von meinem Kopf seine Hände ab.

Ich schluckte schwer, als sein Gesicht immer näher kam. Meine Güte, wie konnte ein einziger Kerl mich so dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen?

Mein Lider klappten zu, in der Erwartung er würde mich küssen. Doch als nichts geschah, öffnete ich sie verwirrt wieder.

Nicks Blick ging mir durch Mark und Bein. Er sah mir direkt in die Augen und eine Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Körper. Sein Oberkörper schwebte nur Millimeter vor meinem und jede Faser meines Körpers wollte ihn. Hier und jetzt.

Eine Sekunde bevor ich soweit war, selbst die Initiative zu ergreifen, neigte er den Kopf etwas zur Seite und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.

„Bis dann“, meinte er, drehte sich um und verließ die Kabine.

Bis dann?! Was sollte das denn heißen?

Völlig perplex stand ich da und starrte auf den Vorhang. Was in Gottes Namen…

Ich schüttelte meinen Kopf und nahm das erste Kostüm vom Haken. Ich würde jetzt ganz bestimmt nicht über diesen schizophrenen Charakter nachdenken. Am Ende kam sowieso wieder nichts dabei heraus.

 

Zwei Stunden später und um dreiundzwanzig Euro und neunundsiebzig Cent leichter stand ich endlich wieder draußen auf dem Gehsteig.

Ram und Chris stolperten hinter mir aus dem Laden. Die beiden waren meiner Ansicht nach wie für einander geschaffen – Ram, aufgedreht und spontan und Chris, genervt und voll von trockenem Humor.

Jedenfalls hatten sie sich gegen mich verbündet und mich mehr Kostüme anprobieren lassen, als ich zählen konnte. Obwohl ich den Verdacht hatte, dass Chris das nur gemacht hatte, um sich selber unauffällig aus der Affäre zu ziehen. Denn er war tatsächlich irgendwie darum herum gekommen, eine Verkleidung zu kaufen.

„Geh einfach als Wasserleiche. Da musst du nicht viel ändern“, grinste Ram, als wir im Bus saßen und Chris verdrehte die Augen.

„Ha ha. Sehr witzig“, knurrte er, doch er sah eher belustigt als verärgert aus.

„Das wird das legendärste Halloween aller Zeiten“, seufzte Ram zufrieden und lehnte sich zurück.

„Warum das denn?“, fragte ich und unterdrückte ein Gähnen.

„Ich war am Donnerstag bei der Planungsveranstaltung. Es wird sich so einiges ändern, da die Schüler jetzt das Ruder in der Hand haben.“

Ich hob die Augenbrauen. Klar, eine Party mit Lehreraufsicht würde garantiert klasse werden.

Im Internat gingen wir alle zuerst in die Cafeteria um etwas zu essen und danach folgte ich Jason in das Musikzimmer.

„Nächste Woche beginnt das Extratraining für den Wettbewerb“, sagte er.

Jason saß auf dem Sofa und zupfte auf seiner Gitarre herum.

„Cool“, machte ich und ließ mich neben ihn sinken. „Aber ist der nicht erst im Frühling?“

„Die Vorauswahl ist aber schon am Wochenende vor den Weihnachtsferien.“

„Das kriegst du doch locker hin. Immerhin bist du der beste im Team“, meinte ich und lächelte ihn aufmunternd an.

Er zuckte mit den Schultern und sah mich an.

„Aus diesem Team vielleicht. Ins Finale kommen aber nur die besten zehn von fünfhundert. Und die fünfhundert sind die, mit den besten Zeiten aus der Vorauswahl von allen Schülern, die teilnehmen.“

„Ach du meine Güte! Aber du schaffst das bestimmt“, sagte ich überzeugt und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Ich hoffe es“, murmelte Jason.

Dann wandte er sich wieder seiner Gitarre zu.

Wir saßen eine Weile einfach so da und irgendwann verabschiedete Jason sich, da er noch Hausaufgaben zu erledigen hatte.

Also saß ich allein in dem dämmrigen Zimmer und meine Augen fielen mir zu. Die Ereignisse des Tages stürmten auf mich ein.

Chris hat einen Herzfehler.

Meine Mutter ist Alkoholikerin.

Die Ehe meiner Eltern ist völlig kaputt.

Johnny muss mit allem allein klar kommen.

Nick ist ein schizophrener, mega heißer Arsch, der nicht weiß, was er will…

Genervt riss ich die Augen wieder auf und erhob mich.

Ich wollte das alles vergessen, ich wollte mich nicht um den ganzen Müll kümmern müssen, der um mich herum passierte. Ich war doch nicht die Verantwortliche…

Mein Blick fand das Klavier auf der anderen Seite des Zimmers. Ich ging hinüber und klappte es auf.

Die schwarzen und weißen Tasten leuchteten mich an. Nach kurzem Zögern setzte ich mich auf den Hocker und meine Finger fanden wie von selbst ihren Platz.

„Du spielst wahnsinnig gut.“

Ich zuckte zusammen und riss die Hände hoch. Der Schlussakkord wurde nur noch vom Pedal gehalten.

Ich drehte mich um und sah den Sprecher in der Tür stehen.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Schon gut, Herr Finning“, stammelte ich. „Haben… Haben die Lehrer nicht einen eigenen Flügel?“

„Doch, aber wir haben kein Musikzimmer. Ich schätze, du hast die Zeit vergessen.“

Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war halb elf. Seit einer halben Stunde müsste ich laut Hausordnung auf meinem Zimmer sein.

„Sieht so aus, ich… Muss ich jetzt nachsitzen?“

Ich stand auf und strich mir nervös die Haare aus dem Gesicht.

„Nein“, meinte Herr Finning. „Aber lass dich nicht nochmal erwischen.“

„Ja, klar“, sagte ich sofort und schob mich an ihm vorbei aus dem Zimmer.

„Nanayda?“

Ich drehte mich nochmal um.

„Du solltest Unterricht nehmen. Du bist wirklich talentiert.“

„Es gibt hier aber keine Musiklehrer“, lachte ich verlegen.

„Ich bin zwar kein richtiger Klavierlehrer, aber ich denke, das ein oder andere könnte ich dir schon beibringen“, meinte er schulterzuckend und mir klappte der Mund auf.

„Sie spielen Klavier?“, entkam es mir völlig verblüfft.

„Ja“, lachte er. „Also überleg’s dir. Und jetzt ab ins Bett.“

Ich nickte hastig und machte mich davon.

Hinter der nächsten Ecke blieb ich jedoch stehen und lauschte, doch von dem Klavier war nichts zu hören.

Als ich wieder im Zimmer war, hatte ich Nick schon wieder ganz verdrängt. Doch er tauchte sozusagen schmerzhaft in meinen Gedanken wieder auf, als ich im dunklen Zimmer über seine ausgestreckten Beine stolperte und hinfiel.

„Verdammt noch mal“, ächzte ich und drehte mich zu dem Idiot auf dem Bett um. „Kannst du nicht aufpassen?“

„Ich war nicht derjenige, der sich nachts auf den Fluren rumtreibt.“

Ich hörte, dass er grinste, aber es klang trotzdem herablassend.

„Mh“, machte ich und rappelte mich hoch.

„Nay…“

Seine Finger streiften meinen Arm und ich drehte mich zu ihm um.

Sein Gesicht lag halb im Dunkeln. Er sah aus wie eine Götterstatue.

„Ja?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen.

Er öffnete leicht seinen perfekten Mund, der nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war.

„Ach, nichts“, sagte er dann plötzlich und lehnte sich wieder zurück.

„Wa-was? Ich glaub das einfach nicht“, platzte ich aufgebracht heraus und baute mich vor ihm auf. „Das hört jetzt sofort auf, hast du mich verstanden?!“

„Ähm, nein? Nicht so wirklich“, meinte Nick und klang dabei belustigt, aber auch ein bisschen eingeschüchtert. So genau konnte ich das im dunklen Zimmer nicht erkennen.

„Dieses nervige Heiß und Kalt Spielchen!“

„Heiß und Kalt Spielchen?“, wiederholte er und legte den Kopf schief.

„Wir haben uns geküsst und nicht drüber geredet, dann hast du gesehen, wie Ram und ich uns geküsst haben und einen totalen Anfall gekriegt, obwohl du keine Ahnung hattest, was los war! Dann hast du mich wieder ignoriert, nur um mich vorhin im Kostümladen wegen Chris anzumotzen und mich dann wieder fast zu küssen! Und dann bist du abgehauen, küsst mich schon wieder fast, aber dann ist nichts! Ich mein, was soll der Scheiß? Weißt du nicht, was du willst oder findest du es einfach nur lustig, so mit mir zu spielen?!“

„Wenn du es jetzt so zusammenfasst, klingt es echt wie ein Heiß und Kalt Spielchen“, meinte Nick schließlich, als ich geendet hatte.

Doch diese Pseudo Antwort machte mich nur noch rasender und jetzt explodierte ich richtig.

„Oh, bitte! Das ist doch einfach lächerlich! Ich… Ich kann das nicht, okay? Ich bin keine von deinen Püppchen, mit denen du machen kannst was du willst. Ich sollte mich gar nicht mit solchen Problemchen befassen müssen, weil ich eigentlich viel größere hab! Und glaub mir, ich würde liebend gern das liebeskranke Mädchen, das den heißen Sportler anhimmelt, spielen, ich würde mich viel lieber auf deine beschissenen Spielchen konzentrieren, aber das kann ich nicht! Das kann ich einfach nicht, weil… weil…“ Heiße Tränen rannen mir über die Wangen, mein Herz raste und mein ganzer Körper zitterte. „Ich kann das jetzt nicht.“

„Hey, nein, Süße, was ist denn los?“, wisperte Nick erschrocken und zog mich sanft neben sich.

Bestürzt legte er einen Arm um meine Schultern und ich lehnte mich gegen ihn, um T-Shirt mit Tränen zu ruinieren.

„Schht, was hast du denn?“, fragte er immer wieder leise, doch irgendwann gab er es auf und hielt mich einfach nur noch fest.

Mein Herz tat mir so weh, das ich es kaum aushalten konnte. Ich wollte hier nicht sein. Ich wollte nicht dieses verzweifelte Mädchen sein, das eine total kaputte Familie hatte, um die es sich nicht kümmern konnte.

„Ich kann nicht… Ich kann nicht…“ Mein Heulkrampf ließ nicht zu, dass ich anständige Sätze bilden konnte und Nick drückte mich fest an sich.

Ich ließ zu, dass er uns in eine liegende Position brachte und mich von hinten in die Arme nahm. Wir lagen einfach nur so da, bis ich keine Tränen mehr hatte und ruhig wurde.

„Mein Bruder…“, begann ich, doch meine Stimme brach.

„Schon gut, Nay“, murmelte Nick. „Ich weiß. Es wird alles wieder gut, versprochen.“

„Nick?“

Ich drehte mich in seinen Armen um und blinzelte ihn durch meine verklebten Augen an.

„Können wir nicht einfach normale Freunde sein?“

„Doch, natürlich.“

Er strich mir die Haare aus dem Gesicht und ließ zu, dass ich mich an ihn kuschelte. Sekunden später war ich eingeschlafen.

 

Mein Kopf pulsierte schmerzhaft und während ich an die weit entfernte Decke starrte, war ich mir nicht einmal mehr im Klaren darüber wo ich mich befand.

Dann pumpte die Luft meine Lungenflügel wieder auf und die erschrockenen Rufe drangen an mein Ohr.

„Nay! Verdammt, tut mir leid!“

„Platz da, zur Seite, du, ruf die Schulschwester!“

Blinzelnd machte ich meine Mitschüler um mich herum aus, die in ihren verschwitzen Sporttrikots einen bunten, verschwommenen Kreis um mich gebildet hatten.

Herr Finning, der heute den Sportunterricht leitete, trat in mein Blickfeld und fesselte meine Augen mit seinen.

„Alles okay?“, fragte er bestürzt.

Zur Antwort entkam mir nur ein trockenes Husten.

„Mike, hast du das Zielen total verlernt oder was?“, schnauzte der Lehrer den Schuldigen an, der mir mit voller Wucht einen Volleyball auf die Stirn verpasst hatte.

„Sorry, Nay, tut mir so leid, geht’s dir gut?“

„Klar, sieht man doch“, brummte ich und legte eine Hand auf meine Stirn. „Autsch.“

Ich versuchte mich aufzusetzen, wurde aber von mindestens sechs Händen nach unten gedrückt.

„Bleib bloß liegen, vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.“

„Die wird nicht besser, wenn ihr mich alle so anstarrt. Das ist ja wie im Film“, murmelte ich benommen und blieb einfach auf dem Hallenboden wo ich war.

„Jungs, der Unterricht ist beendet, na los“, vertrieb Herr Finning die Zuschauer.

„Ich bleibe, immerhin ist das meine Schuld“, sagte Mike zerknirscht.

„Und ich bleibe auch“, hörte ich Nick irgendwo sagen.

Genervt verdrehte ich die Augen, wobei mir nur noch schwindliger wurde.

„Haut ab, alle beide. Mir geht’s gut“, betonte ich und schloss die Augen.

Leider ging es mir dann doch nicht so gut, denn ich hatte tatsächlich eine leichte Gehirnerschütterung. Die Schulschwester stellte mich für die nächsten drei Tage frei, damit ich mich ordentlich erholen konnte, und verschrieb mir Bettruhe.

Das mit der Ruhe gestaltete sich jedoch als äußerst schwierig, da Jason, Ben und Charles extra ihre Bandprobe verschoben, um an meinem Bett zu sitzen und mich mit lustigen Geschichten aus ihrer Klasse zu versorgen. Ich fand das total nett von ihnen, aber dann war ich doch auch froh, als sie wieder weg waren und ich meine Ruhe hatte.

Was für ein beschissener Tag das doch gewesen war. Am Morgen war ich viel zu früh aufgewacht und hatte mich dann beschämt auf Zehenspitzen ins Bad geschlichen, um Nick nicht zu wecken, der neben mir im Bett gelegen hatte. Mir war mein Ausbruch der letzten Nacht unheimlich peinlich und unangenehm und ich war ganz froh gewesen, dass wir bisher noch keine Zeit gehabt hatten, miteinander zu sprechen. Als er kurz nach sieben das Zimmer betrat, schloss ich die Augen und stellte mich schlafend.

Warum war es nur so schwierig eine unkomplizierte Freundschaft mit einem perfekten Typen zu führen?

 

Die nächsten Tage vergingen zum Glück schnell und die Schwindelgefühle waren auch bald weg. Nick war nicht viel da und wenn doch redeten wir höchstens über den Unterricht. Dafür besuchten Jason und Ram mich so oft sie konnten und während Jason mich über sein strenges Training und seinen neuen Ernährungsplan auf dem Laufenden hielt, beschwerte Ram sich die meiste Zeit über Chris. Daraus, dass er so viel von ihm redete, schloss ich aber, dass die beiden Freunde geworden waren und ich freute mich, dass Chris die Pausen nicht mehr allein in der Bibliothek verbrachte.

Als ich mich am Freitag zum Englischunterricht einfand, fühlte ich mich frisch und ausgeruht und hatte ziemlich gute Laune. Am vergangenen Abend hatte ich mit Johnny telefoniert und danach mit meiner Mutter und dabei unauffällig in Erfahrung gebracht, dass die Situation zuhause doch nicht so schlimm war, wie ich gedacht hatte, und außerdem immer ein Kindermädchen bei Johnny war. Bestimmt war das nicht optimal, aber es war viel besser, als der Gedanke, dass meine Mutter Alkoholikerin war.

Unser Englischlehrer eröffnete uns zu Beginn der Stunde, dass er heute eine Unterrichtseinheit zur Entstehung der Sprache einschieben würde. Die Klasse stöhnte auf, doch ich war gut gelaunt genug, um mich an der Diskussion über die Notwendigkeit der mündlichen Kommunikation zu beteiligen und als wir uns danach in Dreiergruppen zusammenfanden, war ich sogar glücklich damit, bei Nick und Mike zu landen.

„Ich werde euch Tabellen austeilen, auf denen ihr lateinische Wörter und ihre englische Übersetzung findet. Analysiert, in wie fern sich die Wörter ähneln und versucht ein System zu finden“, wies unser Lehrer uns an und Mike verdrehte die Augen.

„Warum zur Hölle lernen wir das?“, murmelte der Basketballer und starrte stumpfsinnig auf die Tabelle vor uns.

„Ist immerhin entspannter, als die Interpretation von Herr der Fliegen“, gab Nick zu bedenken und ich verdrehte die Augen.

„Jetzt lasst mal die Tabelle sehen, ist doch eigentlich ganz interessant!“

Da die Jungs die Arbeit nicht wirklich ernst nahmen und lieber Witze über Latein rissen, hatten wir keine wirklichen Ergebnisse zu präsentieren und hielten uns im Hintergrund, während die anderen Gruppen ihre Erkenntnisse präsentierten.

„Sehr richtig erkannt, Thomas“, lobte der Lehrer gerade. „Zuerst haben sich die stimmlosen Plosive zu Frikativen weiter entwickelt, wie zum Beispiel das bilabiale p zu einem f, und dann wurden die weichen Konsonanten hart, wie ein b, dass zu einem p wurde.“

Mike schnaubte leise und flüsterte: „Also damit kann ich echt nichts anfangen, aber Nay, wenn du dich mal bilabial um meine Konsonanten kümmern willst…“

„Halt die Klappe, Mann“, knurrte Nick, doch ich konnte nicht anders als zu kichern.

Grinsend schüttelte ich den Kopf und gab mir dann Mühe, dem Unterricht weiter zu folgen.

Der Tag verging schnell und ereignislos und schon bald fand ich mich in der Sporthalle zum Basketballtraining wieder.

Die meisten Jungs waren noch in der Umkleide und ich warf Jackson Finning einen flüchtigen Blick zu, dessen Muskeln sich unter seinem T-Shirt beim Körbe werfen höchst positiv in Szene setzten. Wenn ich ein paar Jahre älter wäre…

Bei dem Gedanken lief ich rot an und richtete den Blick wieder nach vorn.

„Nay!“

Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich zu unserem Coach in spe um.

„Ja?“, fragte ich gedehnt.

„Du willst schon wieder mitspielen? Willst du dich nicht lieber noch ein paar Tage schonen? Immerhin hattest du eine Gehirnerschütterung.“

Herr Finning kam mit einem besorgten Gesicht auf mich zu und musterte mich, als würde ich gleich zusammen brechen.

„Es war ja nur eine total leichte“, meinte ich schulterzuckend. „Und Ram meinte vorhin, dass morgen ein Spiel ist und da will ich unbedingt dabei sein!“

Herr Finning fuhr sich nachdenklich durch sein kurzes Haar.

„Bist du sicher, dass du wieder fit bist?“

„Sonst wäre ich nicht hier.“

„Hm“, machte er. „Na gut, du kannst mit machen. Ich rede mit Coach Klein wegen  dem Spiel.“

„Danke“, seufzte ich erleichtert und machte mich auf zu meiner Umkleide.

Das Training lief ziemlich gut und die Coaches waren sich einig, dass ich morgen nicht auf der Bank sitzen sollte.

Später saßen alle aus dem Team zusammen im Aufenthaltsraum. Ich lehnte am Tischkicker und beobachtete den kleinen, weißen Ball, der von zwei Jungs hin und her geschossen wurde.

Zweifelsfrei freute ich mich auf das Spiel, aber ich war auch ziemlich nervös. Ich vertraute in meine Fähigkeiten, aber ich hatte noch nie bei einem richtigen Spiel mit gemacht, geschweige denn vor Zuschauern gespielt.

Wir würden gegen die Basket Hawkins antreten. Immerhin war es ein Heimspiel. Dennoch bildete sich ein nervöser Knoten in meinem Magen.

„Hey.“

Ich zuckte zusammen, als ich die Hände auf meinen Schultern spürte, entspannte mich aber wieder, als ich Nicks Stimme erkannte.

„Hey“, murmelte ich und verfolgte den Ball weiter mit den Augen.

„Sicher, dass du morgen schon spielen kannst?“

Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr und ein Schauer jagte mir über den Rücken. Ich musste mich mit aller Macht zusammen reißen, um mich nicht an ihn zu schmiegen.

„Ja“, wisperte ich, dann räusperte ich mich.

„Ich geh mal ins Bett“, teilte ich ihm mit und verließ den Raum, solange ich noch die Kraft dazu hatte.

 

„Es sind die letzten zwei Minuten des Spiels und die Mannschaften sind gleich auf – jetzt geht es um alles oder nichts! Ram Suarez prescht mit dem Ball nach vorn – und wird abgewehrt von Tobey Michel. Pass zu Johnson, er wirft und… daneben. Jetzt hat Mike McFurie wieder den Ball, er passt zu Nick Shettler, dem Kapitän der Springer’s, aber der wird geblockt. Weiter Pass zu Nanayda Griffin, der ersten weiblichen Spielerin seit langem, und sie wirft und – trifft! Ja! Die Springer’s haben gewonnen!“

Die Stimme des Kommentators dröhnte mir mit dem Rhythmus meines Puls in den Ohren, während die Schüler am Rand des Spielfelds in tosenden Lärm ausbrachen.

Gewonnen! Gewonnen!

Ein Freudenschrei kam aus meiner Kehle, während das ganze Team mich auf einmal zu umarmen schien. Ich bekam kaum etwas mit, so voller Extase und Freude war ich. Plötzlich stand Nick mir.

„Wir haben gewonnen!“, brüllte er begeistert und riss mich an sich.

„Ja!“, rief ich begeistert zurück, als er mir unvermittelt einen Kuss auf den Mund drückte, bevor er sich wieder dem Siegesgeschrei seiner Freunde anschloss.

Wie benommen stand ich da und versuchte zu realisieren, was eben geschehen war. Nach diesem schier endlosen und harten Spiel hatten wir gewonnen und ich hatte auch noch den entscheidenden Korb geworfen. Und Nick hatte mich geküsst.

„Gut gemacht, Nay“, rief mir Jackson Finning zu und ich hielt lächelnd einen Daumen in die Höhe.

 

Am Sonntag arbeitete ich zusammen mit Felix an unserem Chemieprojekt und wir kamen so gut voran, dass wir am Abend nur noch ein paar Feinheiten vor uns hatten.

Als ich die Bücherei verließ schwirrte mir nur so der Kopf vor Fachchinesisch und draußen war es bereits ziemlich dunkel.

Chris kam gerade über die untere Treppe in die Halle und seine nassen Haare ließen vermuten, dass er eben geschwommen war.

„Hey“, machte er und ich kam ihm lächelnd entgegen.

„Hi.“

„War ein tolles Spiel gestern.“

„Warst du auch da? Ich hab dich gar nicht gesehen.“

Chris zuckte mit den Schultern.

„Ich geh eine rauchen. Kommst du mit?“

„Äh… ja. Ja, ich komme gern mit frische Luft schnappen.“

Chris grinste ironisch und wir gingen nach draußen, hinter die Schule.

„Also, was gibt’s so neues?“, fragte ich, während Chris sich eine Zigarette anzündete.

Er zuckte erneut mit den Schultern und blies den grauen Rauch aus.

„Nick hat mich geküsst“, sagte ich.

Chris seufzte leise.

„Ich weiß. Hab’s gesehen, so wie der Rest der Schule.“

„Oh“, machte ich und wurde rot.

„Ihr seid Gesprächsthema Nummer eins in der Schule.“

„Ach was. Außerdem war es doch nur ein ganzer kurzer Kuss, der nichts bedeutet hat. Ram und ich haben das gestern erörtert und sind zu dem Schluss gekommen, das Nick zu nett ist, um mich trotz meinen ganzen Problemen anzubaggern.“

Chris schnaubte.

„Tatsächlich.“

„Denkst du das nicht?“, fragte ich nervös.

„Ich denk gar nichts darüber.“

„Doch, jetzt sag schon!“

„Ich dachte, du hast zu viele andere Probleme, als dass du dich mit ihm befassen könntest.“

Ich verschränkte die Arme.

„Eben! Warum küsst er mich dann?“

„Meine Güte“, seufzte Chris und fuhr sich durch seine schwarzen Locken.

„Du bist der untuntigste Schwule, den ich kenne“, stellte ich fest.

„Wie viele kennst du denn?“

Darauf schwieg ich und entlockte ihm so ein halbes Grinsen.

„Was denkst du denn jetzt wegen Nick?“

„Willst du nicht lieber erörtern, ob du mal bei dir zuhause das Jugendamt vorbei schicken willst?“

Ich biss mir auf die Lippe.

„Ich will momentan an gar nichts denken, was außerhalb des Schulgeländes ist.“

„Davon dass man seine Probleme ignoriert, verschwinden sie nicht.“

Wir schwiegen eine Weile und starrten in den Himmel.

„Nay. Ich hab das schon mal gesagt und ich werd’s auch nur noch einmal wiederholen: Nick wird dir wehtun. Erspar dir das Ganze und halt dich einfach von ihm fern.“

„Aber wie? Wie soll ich das denn schaffen?“

 

Am Montagmorgen saßen Nick und ich direkt neben einander in der ersten Stunde und verhielten uns, als wäre alles ganz normal. Mein Magen knurrte munter vor sich hin, da ich das Frühstück verschlafen hatte.

„Du hättest mich echt wecken können“, raunte ich Nick zu.

„So fest, wie du geschlafen hast, hattest du es aber echt nötig“, meinte er schulterzuckend und warf mir einen besorgten Blick zu.

Sorge? Um mich?

„Das Frühstück hätte ich aber auch nötig gehabt.“

Nick schenkte mir ein schiefes Grinsen.

Kurz vor dem Ende der Stunde ertönte der Gong, der eine Durchsage ankündigte.

„Was denn jetzt schon wieder“, stöhnte jemand hinter mir, dann dröhnte schon die Stimme von Herrn Direktor Fisten durch die Schule.

„Guten Morgen“, begann er und räusperte sich. „Der Ausschuss der Schule hat beschlossen, dass wir uns den neuen gesundheitlichen Normen des allgemeinen Schulverbandes aschließen werden. Das bedeutet, dass jeder Schüler die beiden großen Pausen draußen auf dem Schulhof statt in der großen Halle zu verbringen hat. Und zwar ohne Ausnahme.“ Dies betonte er besonders. „Es werden Lehreraufsichten in den Fluren sein. Des Weiteren wird der Speiseplan auf mehr Gemüse lastigere Gerichte umgestellt und montags werden rein vegetarische Gerichte serviert werden.“

„Was?!“

Ich war nicht die einzige, die entsetzt aufgeschrien hatte und so bekam ich das Ende der Durchsage gar nicht mehr mit.

„Das darf doch nicht wahr sein“, stöhnte ich und legte eine Hand auf meinen leeren Bauch.

Auch Nick schien nicht sonderlich begeistert zu sein.

„Also los, ihr habt ihn gehört. Raus mit euch“, sagte Herr Fluid und machte wedelnde Bewegungen mit den Händen.

„Das können die doch nicht ernst meinen“, tönte es aus allen Ecken auf dem Flur, während uns die Aufsichten nach draußen scheuchten.

„Ich hab nicht mal eine Jacke dabei“, seufzte ich, als mir auf dem Hof die kalte Luft entgegen schlug.

„Hier, nimm den“, sagte Nick und bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er sich bereits seinen Kapuzenpullover über den Kopf gezogen.

„Aber dann wird doch dir kalt“, wehrte ich ab und starrte auf sein T-Shirt, dass ein Stück hochgerutscht war und den Bund seiner Boxershorts entblößte.

„Ach was“, brummte er und zerrte mir einfach den Pullover über den Kopf.

„Hey!“, rief ich, schlüpfte aber in die Ärmel und sofort wurde mir wärmer.

Nick wuschelte grinsend durch meine zerzausten Haare. Ich schluckte trocken und machte einen Schritt zurück.

„Danke“, murmelte ich und versuchte meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Da ich so sehr auf Nick fixiert war, zuckte ich erschrocken zusammen, als mir direkt auf die Nase ein Regentropfen fiel.

„Das ist ja so typisch“, knurrte Mike, der sich gerade zu uns stellte. „Kaum führen sie diesen Müll ein, schon fängt es an zu regnen.“

Ich gab irgendetwas Zustimmendes von mir, doch zu mehr war ich nicht fähig, da Nick gerade gut gelaunt damit beschäftigt war, mir die Kapuze überzuziehen und meine Haare darunter zu verstauen.

„Ähm“, machte ich, während Nick zufrieden sein Werk musterte.

Mike verzog keine Miene, als wäre das hier gerade keine total peinliche und angespannte Situation.

Der Regen plätscherte immer weiter und die Tropfen fielen auf Nicks weißes T-Shirt und durchnässten. Bald war es bereits durchscheinend und schmiegte sich eng an seine Muskeln. Wie paralysiert starrte ich ihn an.

„Äh Nay?“

„Hm?“, machte ich abwesend.

„Es hat geklingelt. Wir können rein.“

Mein Blick wanderte von seinem Sixpack über seine Brustmuskeln zu seinem Gesicht und ich stellte fest, dass er ein selbstzufriedenes Grinsen mit aller Mühe unterdrückte. Ich lief rot an und sah schnell weg.

„Worauf wartest du dann noch?“, murmelte ich und machte mich hastig auf nach drinnen.

Beim Mittagessen stürmte ich völlig fertig vom Volleyballspielen an Rams Tisch. Zwar hatte ich nicht wirklich viel gespielt, aber am Ende war ich trotzdem. Nick hatte mit mir ein Team gebildet und mich ritterlich gegen alle Schmetterbälle von der anderen Seite verteidigt und ich war gar nicht mehr aus dem Sabbern herausgekommen, weil ich die ganze Zeit Visionen von seinem durchnässten T-Shirt gehabt hatte.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte ich und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

„So siehst du aus“, brummte Chris, der neben Ram saß und in seinem vegetarischen Auflauf stocherte.

„Was ist denn passiert?“, hakte Ram nach und ich hob den Kopf.

„Nick macht mich fertig. Erst küsst er mich und dann… umsorgt er mich auch noch die ganze Zeit.“

Ich erzählte von meiner Schmach und Ram brach in Gelächter aus.

„Meine Güte, ob ihr beide das noch mal auf die Reihe kriegt…“

Ich zuckte unglücklich mit den Schultern und begann mein Essen in mich rein zu schaufeln.

„Und ich hab ihm auch noch gesagt, dass ich gerade nicht in der Verfassung für Jungs bin.“

„Schätze, du bist an der falschen Schule“, murmelte Chris und Ram verdrehte die Augen.

„Hör nicht auf den Pessimisten da. Entweder legt er es jetzt echt darauf an oder, und das halte ich für wahrscheinlicher, weil Nick echt okay ist, er will einfach nur für dich da sein, weil du eine schwere Zeit durchmachst.“

„Ganz bestimmt“, knurrte Chris und Ram tat so, als würde er nach ihm schlagen.

Ich seufzte unglücklich und legte die Gabel weg.

 

Ich verbrachte den Nachmittag damit auf Tests zu lernen, während ich auf dem Sofa im Musikzimmer lag und Jason, Charles und Ben zu hörte, wie sie ihren neusten Song einstudierten. Jason warf mir dabei immer wieder seltsame Blicke zu, doch ich achtete kaum auf ihn.

Nach dem Abendessen verzog ich mich ins Bett zum Lesen und ignorierte die Französischhausaufgaben, die am Fuß meines Bettes lagen, gekonnt.

Als Nick das Zimmer betrat, war ich fast weggedöst.

„Hey“, machte er und ließ sich neben mich aufs Bett fallen. „Wie geht’s?“

„Müde“, brummte ich und drehte mich auf den Rücken, um ihn ansehen zu können. „Ich bin total ferienreif.“

„Gehst du nachhause? In den Herbstferien, meine ich.“

„Ja. Muss man da nicht sowieso gehen?“

Nick schüttelte den Kopf.

„Ich bleibe in den kurzen Ferien immer da.“

„Und was machst du dann die ganze Zeit hier?“

„Das Übliche, Mike bleibt auch“, meinte er schulterzuckend. „Außerdem dürfen wir in den Ferien jeden Tag in die Stadt.“

Ich seufzte.

„Am liebsten würde ich auch da bleiben.“

Nick lächelte leicht.

„Versuch den Kontakt zu deinen Eltern nicht zu verlieren. Sonst endest du noch so wie ich“, sagte er und zwinkerte mir zu.

„Wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt.

Nick schien die Frage unangenehm zu sein, denn er wandte den Blick ab.

„Ach, wer hat denn da seine Hausaufgaben noch nicht fertig?“, fragte er und ich stöhnte auf.

„Fang jetzt bloß nicht mit Französisch an. Ich bin viel zu müde, um auch nur eine Vokabel zu wissen.“

„Dafür hast du ja mich“, meinte er grinsend und zog den Ordner heran.

Letztendlich machte Nick dann alles allein und ich gab nur ein paar zustimmende Laute von mir.

Kaum waren wir – oder besser gesagt er – fertig, klappten mir die Augen zu und ich fiel in einen traumlosen Schlaf.

 

Der Vormittag zog sich zäh dahin, aber immerhin fiel Mathe aus und so hatten wir früher aus.

Ich beschloss die Zeit zu nutzen, indem ich Jackson Finning aufsuchte, um mit ihm über den Klavierunterricht zu reden, den er mir angeboten hatte. Da ich mir sicher war, ihn dort zu finden, ging ich in die Sporthalle, wo gerade eine Klasse Unterricht hatte. Coach Klein beaufsichtigte sie und Herr Finning war nirgends zu sehen, also beschloss ich ihn in dem Büro zu suchen, in dem wir uns kennengelernt hatten.

Tatsächlich war es seine Stimme, die mich auf mein Klopfen herein bat und ich trat erleichtert ein.

„Oh hallo, Nanayda. Müsstest du nicht gerade im Unterricht sein?“, fragte er nach einem kurzen Blick auf die Uhr.

„Nein, ist ausgefallen. Ich komme wegen des Klavierunterrichts.“

„Ach, dann hast du es dir also überlegt“, stellte er fest und musterte mich interessiert.

„Ja, ich würde es gern machen“, sagte ich und er nickte begeistert.

„Gut, wann hast du denn Zeit?“

„Immer nachmittags, aber ich weiß nicht, wann der Musikraum belegt ist.“

Herr Finning nickte.

„Ich werde mich mal erkundigen. Hast du irgendwelche Noten?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Gut, dann wird ich welche organisieren. Irgendwelche Vorlieben?“

„Ähm“, machte ich überrascht und versuchte mich an etwas zu erinnern. „Kein Ahnung.“

„Okay. Sprechen wir einfach morgen Abend nach dem Training noch mal darüber.“

„Ja, natürlich. Danke Herr Finning“, stimmte ich sofort zu.

„Gut, dann…“

Er wurde von einem plötzlichen Geschrei aus der Halle unterbrochen.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, murmelte er und spähte an mir vorbei durch die offene Tür.

 

*Jason*

 

Es war nicht mein Tag. Ich hatte verschlafen und war fast zu spät zur ersten Stunde gekommen, dann hatte ich bemerkt, dass ich die Hausaufgaben liegengelassen hatte und sofort eine Strafarbeit von meinem Lehrer kassiert.

Außerdem hatte Nick, dieser Pfosten von einem Bruder, in der Pause wieder so eine Show mit Nay abgezogen. Als ob das gestern mit dem Regen nicht schon gereicht hätte. Er spielte nur mit ihr und sie ließ es einfach geschehen.

Und jetzt auch noch Fußball. Ich konnte jegliche Art von Sport außerhalb des Wassers nicht ausstehen, aber für Fußball empfand ich noch eine ganz neue Form des Hasses. Es war ein dämliches, nutzloses Spiel und man war entweder gut oder total schlecht darin, so wie ich. Im Gegensatz zu Ty, diesem dämlichen Angeber, traf ich den Ball nämlich nicht mal, wenn ich direkt vor ihm stand. Es war eine Katastrophe.

Coach Klein hatte uns zu allem Übel auch noch in gegnerische Mannschaften gesteckt und mich fürs Tor eingeteilt. Hier stand ich also, meinen Lieblingsfeind und besten Stürmer der Schule vor der Nase und wartete darauf, dass er mir mit einem harten Ball die Hand brach.

„Jason, Achtung!“, rief Ben und ich versuchte aus meiner Starre zu erwachen, doch da war es bereits zu spät.

Der Ball segelte an mir vorbei ins Tor und ich stand nur da, wie bestellt und nicht abgeholt.

Der Schütze – Ty, wer hätte es gedacht – stieß ein frustriertes Stöhnen aus.

„Alter, da macht’s ja gar keinen Spaß mehr der Beste zu sein! Hör auf Finning anzuschmachten und konzentrier dich mal!“, rief er mir zu und ich runzelte genervt die Stirn.

„Was redest du eigentlich für einen Scheiß?“, knurrte ich.

Tatsächlich hatte ich in Richtung des Büros gesehen, aber nicht weil ich irgendwen beobachtet hatte.

„Das ist doch nur die Wahrheit, Mann“, sagte Ty grinsend. „Aber wer kann’s dir verdenken, immerhin muss er für Schwuchteln wie dich ein echtes Sahneschnittchen sein.“

„Halt deine verdammte Fresse oder ich schlag sie dir ein!“, brüllte ich und machte ein paar Schritte vor.

„Schluss jetzt Jungs, das reicht!“, schritt Coach Klein ein, doch das hielt uns nicht ab.

„Du willst mich schlagen? Mit deinen Mädchenhänden?“

„Die haben dir schon einmal deine hässliche Nase gebrochen und das können sie wieder“, fauchte ich.

„Runter vom Spielfeld, alle beide!“, rief Coach Klein und Ben legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Jetzt lass gut sein, Jason“, murmelte  er mir zu und Ty brach in Gelächter aus.

„Ach, dann ist doch er hier dein Bettgeselle?“

Ich riss mich los und keine zwei Sekunden später donnerte meine Hand in Tys Gesicht.

Viel zu schnell, wurde ich zurückgerissen und von ihm weggezerrt.

„Das kann doch nicht wahr sein“, brüllte Coach Klein. „Lernt ihr es denn nie? Zum Direktor, sofort!“

„Aber er hat…“, begann ich.

„Wir lösen unsere Konflikte hier nicht mit Gewalt, Shettler! Ich will kein Wort mehr hören, von keinem von euch!“

„Was ist hier los?“

Herr Finning kam durch die Halle auf uns zu und direkt hinter ihm war Nanayda.

„Oh nein“, murmelte ich und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

 

*Nay*

 

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, murmelte ich und tauschte den Kühlbeutel auf Jasons Hand aus.

Wir saßen in der leeren Cafeteria. Nachdem die beiden Lehrer eine lange Gardinenpredigt gehalten hatten, waren Jason und dieser Ty zum Direktor geschickt worden. Ich hatte in der Halle auf Nicks Bruder gewartet und ihm von der Krankenschwester etwas zum Kühlen geholt.

„Du riskierst einen Verweis, und das jedes Mal aufs neue. Ist doch scheiß egal, was dieser Idiot über dich sagt. Lass ihn nicht gewinnen und hör nächstes Mal gefälligst weg.“

„Ja“, brummte Jason verdrossen, doch ich glaubte nicht, dass er es so meinte.

„Jason, sieh mich an. Du wirst sonst von der Schule fliegen, verstehst du? Und ich will nicht, dass du von der Schule fliegst, weil ich die Montagnachmittage bei eurer Bandprobe sehr genieße, kapiert?“

Er grinste schief und sah seinem großen Bruder dabei so ähnlich, dass mein Herz ein kleines bisschen schneller schlug.

„Ist das der einzige Grund aus dem ich bleiben soll?“, fragte er belustigt und ich verdrehte die Augen.

„Natürlich nicht. Aber vor allem solltest du lernen diesen Deppen zu ignorieren oder ich schick dich in eine Anti-Aggressions-Selbsthilfegruppe.“

„Okay“, sagte er leise und grinste noch breiter.

„Okay.“

 

Die Tage bis Halloween verflogen so schnell, dass ich kaum etwas von ihnen mitbekam. Allerdings war ich auch zu beschäftigt, um die Kalendertage bis zu den Ferien zu zählen. Felix und ich schafften es, unsere Chemiearbeit mit Bravour zu beenden und ich war sicher, dass wir eine eins für sie bekommen würden. Die anderen Arbeiten, die wir schrieben verliefen auch ganz gut und da Jason mit mir Französisch gelernt hatte, schaffte ich es sogar einen verständlichen Aufsatz zu schreiben. Jackson Finning gab mir jetzt jeden Dienstagabend um 19 Uhr Klavierunterricht, was unheimlich Spaß machte, obwohl sich Ram und sogar Chris die ganze Zeit darüber lustig machten. Die beiden waren mittlerweile richtige Freunde geworden und Chris ließ sich zuweilen auch von Rams Halloweenfieber mitreißen. Er freute sich ganz besonders darauf, weil er da seine Freundin sehen würde, die auf die benachbarte Mädchenschule ging, mit der wir feiern würden. Auch die anderen Jungs schienen sich auf den weiblichen Besuch zu freuen und während dem Basketballtraining erhaschte ich ein paar Fetzen aus wirklich dreckigen Unterhaltungen, die sofort unterbrochen wurden, sobald ich in Hörweite kam.

Ich telefonierte auch ein paar Mal mit meinem kleinen Bruder Johnny, der schon die ganzen Ferien für uns verplant hatte. Ich wusste, dass unsere Eltern mit uns auf eine Kreuzfahrt irgendwo, wo es heiß war, gehen würden und ich die meiste Zeit als Babysitter für meinen Bruder abgestellt war, um darauf zu achten, dass er nicht über Bord ging, aber dennoch freute ich mich sehr darauf. Was mich weniger freute war, dass ich Nick dann eine Weile nicht sehen würde, was aber wohl ganz gut war, denn er machte mich wahnsinnig. Er verhielt sich absolut freundschaftlich und wir unterhielten uns viel, doch ständig berührte er mich wie zufällig oder warf mir einen dieser Blicke oder so ein spezielles Grinsen zu, dass mein Herz ins Stolpern kam.

Heute war Freitag und somit der letzte Schultag vor den Ferien als auch der Tag vor Halloween. Die meisten Zehntklässler waren gerade damit beschäftigt, die Sporthalle zu dekorieren und sich um die Musik zu streiten, während ich in Chris‘ Zimmer saß und versuchte, ihn dazu zu überreden, sich zu verkleiden.

„Komm schon, wenn ich muss, dann musst du auch!“

„Vergiss es“, meinte er grinsend und verschränkte die Arme hinterm Kopf.

„Bitte!“

„Nein.“

„Nur ein bisschen?“

„Nein.“

„Für mich?“, bettelte ich und er verdrehte die Augen.

„Auch nicht für David Beckhams Hintern.“

„Bist du sicher? Der hat einen echt scharfen…“

„Nay!“

„Ist ja gut“, meinte ich grinsend und warf einen Blick auf die Uhr. „Oh Mann, mir ist so langweilig! Und ausgerechnet heute ist das Training wegen der ganzen Deko abgesagt.“

„Tja.“

„Was machst du eigentlich in den Ferien?“

„Ich geh nachhause.“

„Wo wohnst du überhaupt? Das hast du nie erwähnt“, fiel mir auf.

„Nordengland, würde dir nichts sagen. Ist ein verlassenes Kaff, in dem es absolut nichts gibt. Nicht mal ein Schwimmbad.“

Ich wusste, dass Chris sich mit seinen Eltern nicht gut verstand. Er hatte einmal erwähnt, dass sie nicht besonders auf Kommunikation standen, aber wie alles andere schien ihm das egal zu sein. Der Co-Captain des Schwimmteams zeigte sowieso nur selten Interesse an irgendetwas. Ich war mir nicht ganz sicher, ob seine Coolness die meiste Zeit einfach nur gespielt war oder ob ihm wirklich alles egal war, denn er redete kaum über sich.

„Wie läuft’s mit Nick?“, fragte er routinemäßig.

„Das willst du doch gar nicht hören.“

„Schon, aber wenn ich nicht frage, wirst du nur unerträglich und erzählst es dann doch irgendwann.“

Ich grinste schuldbewusst.

„Ach, ich weiß nicht. Ist wohl ganz gut, dass wir jetzt ein bisschen Abstand kriegen, damit sich die ganze Situation beruhigt, oder?“

„Klar.“

„Aber noch weniger will ich mich mit meinen Eltern auseinander setzen.“

„Mh“, machte Chris. „Eltern sind scheiße.“

„Jap.“

Ich streckte mich und gähnte.

„Du kriegst das schon hin, Nay.“

Ich sah auf und runzelte die Stirn.

„Was lässt dich da so sicher sein?“

„Du hast es geschafft, in einem Jungeninternat aufgenommen zu werden. Du kannst alles schaffen.“

In diesem Moment hörte sich das irgendwie ganz logisch an, doch als ich ein paar Stunden später in meinem Bett lag, war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich alle Probleme, die sich mir in den Weg stellte, überwinden würde.

 

Am Samstagmorgen färbte ich mir zu allererst meine Haare nach, da das rot schon etwas ausgeblichen war und ich für meinen Hexenlook heute Abend möglichst strahlen wollte. Danach – Nick war schon wieder beim Dekorieren, ich fand es total süß, wie sehr er sich dafür begeisterte – ging ich in die Schwimmhalle, um nach Jason zu sehen. Der pflügte wie ein gestörter durchs Wasser und bemerkte mich nicht, weshalb ich erst Chris zu sehen bekam.

„Wie geht’s, Rotschopf?“, begrüßte er mich und wuchtete sich aus dem Wasser, um zu mir auf die Bank zu kommen.

„Nennst du mich Blondi, wenn ich wieder meine Naturhaarfarbe hab?“

„Nein. Das passt nicht zu dir.“

„Gut“, grinste ich. „Wie geht’s?“

Er zuckte mit den Schultern und verfolgte mit den Augen Jason, der sein Tempo auch auf der was weiß ich wievielten Bahn nicht drosselte. Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob Chris wusste, dass sein Captain mir von seinen Herzproblemen erzählt hatte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht darüber reden wollte. Deshalb war ich auch ziemlich überrascht, als er jetzt zu reden begann.

„Ist scheiße“, murmelte er, weiter Jason anstarrend. „Das mit dem Wettkampf.“

„Hm“, machte ich unsicher.

„Sie lassen mich nicht mitmachen.“

„Ich weiß“, sagte ich leise und er nickte.

„Es geht mir aber gut. Ich würde Jason sogar schlagen, wenn sie mich lassen würden.“

Sein Unterton war bitterer, als je zuvor und ich wollte ihm gerade einen Arm um die Schultern legen, als er wieder aufstand und ins Becken zurückging.

„Wie geht’s der Hand?“, wollte ich von Jason wissen, als der mich endlich bemerkte und aus dem Becken kam.

„Geht so. Deine Haare sehen scharf aus.“

„Danke“, machte ich abwesend. „Denkst du, Chris geht es gut?“

„Was?“

Er schien kurz vergessen zu haben, wer Chris überhaupt war.

„Wegen des Wettkampfs und allem. Er kam mir eben so geknickt vor.“

Jason zuckte mit den Schultern.

„Den versteht doch keiner. Wusste gar nicht, dass du mit ihm so gut befreundet bist.“

Jetzt zuckte ich mit den Schultern.

„Sag mal…“, begann ich, obwohl es sicher eine ganz dumme Idee war. „Hast du eigentlich… in letzter Zeit mal mit Nick gesprochen?“

„Mit Nick? Warum…“ Jason stöhnte und verdrehte die Augen. „Nay, vergiss ihn endlich. Bei jeder gemischten Party schleppt er eine andere ab, das ist das einzige, worauf man sich bei ihm verlassen kann.“

„Willst du damit sagen, dass er…“

„Dass er heute versuchen wird, dich ins Bett zu kriegen“, schnaubte Jason. „Zumindest denke ich das, so wie er sich die ganze Zeit verhält.“

Ich presste die Lippen zusammen.

„Das glaube ich nicht.“

Jason musterte mich kurz, dann wandte er sich um.

„Glaub, was du willst. Du wirst es ja schon merken.“

Verwirrt durch Jasons beleidigendes Verhalten und unsicher gegenüber dem, was er gesagt hatte, verließ ich die Halle und ging in die Cafeteria, um Mittag zu essen.

„Hey.“

Ich zuckte zusammen, als sich das Objekt meiner Gedanken, direkt neben mich setzte.

„Hi.“

„Freust du dich schon auf nachher?“

„Was ist denn nachher?“, fragte ich nervös.

„Die Party.“

„Oh. Ach so, ja klar, ich denke an nichts anderes.“

„Man merkt’s“, meinte Nick grinsend und ich wurde rot.

„Wann kommen diese Mädels von der anderen Schule denn?“, wollte ich wissen, um von mir abzulenken.

„So gegen sieben denke ich. Die müssen um zwölf ja leider wieder gehen.“

„Mhmm“, machte ich und stocherte in meinem Essen herum.

„Alles okay bei dir?“, fragte Nick leise und beugte sich etwas näher zu mir, was mein Herz nahe ans Explodieren brachte.

„Jaja, klar.“

„Ist es wegen den Ferien und deinen Eltern?“

Oh Gott, es war ja so süß von ihm, dass er so aufmerksam war, auch wenn er komplett falsch lag.

„Ähm, nein ich… Schlecht geschlafen“, nuschelte ich.

In diesem Moment setzte sich Ram an unseren Tisch und Chris auch, obwohl es ziemlich gezwungen wirkte. Ich warf einen Blick auf Nick, doch der verhielt sich erstaunlicherweise total normal, obwohl er ja zu beiden kein wirklich gutes Verhältnis hatte.

Dennoch legte sich eine peinliche Stille über den Tisch, weshalb ich schnell mit Ram eine Unterhaltung über sein Kostüm begann.

 

Kritisch musterte ich mein Aussehen im Spiegel. Obwohl ich das erst sehr selten gemacht hatte, waren meine Smokey Eyes ziemlich gut geworden und der rotorangene Lippenstift passte perfekt zu meinen Haaren und meinem Hexenkostüm. Dieses bestand fast komplett aus schwarzer Spitze und Kunstsamt. Von den Schultern bis zu meinen Hüften schmiegte sich der weiche blickdichte Stoff eng an meinen Körper, um weiter unten in einen dichten Faltenrock aus Spitze überzugehen, der kurz über den Knien in ausgefranzten Zacken endete. Die Ärmel, die aus schwarzroter Spitze waren, fielen weit an meinen Armen herab und ergänzten meine rote Netzstrumpfhose. Ich trug dazu schwarze Ballerinas, weil ich keine High Heels da hatte und einen schwarzen Spitzhut mit breiter Krempe.

War das zu viel des Guten? Jedenfalls sah es eher edel als billig aus, obwohl ich noch nie von einer Edelhexe gehört hatte.

Ich seufzte und sah auf die Uhr. Die Party war seit einer halben Stunde in Gange und ich trödelte hier herum. Das ging nun wirklich nicht. Ich straffte die Schultern und machte mich auf den Weg nach unten.

Sie hatten die großen Türen der Sporthalle komplett geöffnet, sodass man von der Treppe aus bereits einen Eindruck von dem dunklen Getummel aus Leichen, Zombies, Vampire, Krankenschwestern und Hexen sehen konnte.

Am unteren Ende der Treppe standen Ram und ein hübsches, braunhaariges Mädchen. Sie waren eindeutig das sexieste Zombiepärchen, dass ich je gesehen hatte.

„Hey“, rief ich ihnen entgegen, um gegen die laute Musik, die drinnen lief anzukommen.

„Nay! Wow!“, würdigte Ram mein Kostüm begeistert. „Das ist Nathalie, meine Freundin. Nathalie, die berühmte Nanayda Griffin.“

„Hey“, sagte das Zombiemädchen und grinste mich an. „Hab schon viel von dir  gehört. Dein Kostüm ist echt spitze.“

„Danke. Deins auch“, sagte ich lächelnd.

Ein Pfiff ertönte hinter mir und ich drehte mich um, um Mike die Treppe runterkommen zu sehen.

Er trug ein schwarzes Cape und war im Gesicht bleich geschminkt, bis auf seine blutrote Lippen, von denen  Kunstblutrinnsale liefen.

„Hallo Graf Dracula“, meinte ich belustigt.

„Na hallo, Nay. Ich hab da drinnen ja schon einige Hexen gesehen, aber verhexen lassen würde ich mich nur von dir.“

„Ich fürchte ich habe meinen Zauberstab vergessen“, erwiderte ich und versuchte nicht zu lachen.

„Du kannst meinen haben.“

„Oh Gott, Mike!“, rief ich angeekelt und er verkrümelte sich grinsend nach drinnen.

„Habt ihr Nick gesehen?“, fragte ich wieder an meine angenehmere Gesellschaft gewandt und Ram nickte.

„Ist irgendwo im Gruselkabinett und bringt Krankenschwestern zum Schreien. Dadurch, dass er sie erschreckt, meine ich.“

„Ah“, machte ich gedehnt und warf einen Blick in die Sporthalle. „Ich geh mich mal umsehen, bis dann.“

Mit einem letzten Lächeln verabschiedete ich mich und schob mich in das Getümmel. Die laute Metalmusik hämmerte mir in den Ohren, während ich mich zum Buffet durchschlug, wo es rote Bowle, weiße Mäuse und allerlei andere schmackhafte Kleinigkeiten gab.

Ich stellte fest, dass die Mädels, die hier zu Gast waren, allesamt nicht mit ihren Reizen geizten. Nun gut, ich war heute auch ein bisschen provozierend gekleidet, aber die meisten von ihnen trugen nicht einmal halb so viel Stoff am Körper wie ich und tanzten, als ob sie es darauf anlegen würden, abgeschleppt zu werden. Okay, eigentlich waren es nur ein paar, die anderen wirkten ganz normal, aber da sie in meinen Augen alle wie potentielle Opfer von Nick aussahen, mochte ich keine von ihnen wirklich.

Die flackernden Scheinwerfer oben an der Hallendecke tauchten die ganze Szenerie in das Licht, das ein schauriger Monsterball einfach braucht und Spinnweben, Fledermäuse und Krabbeltiere, die an den Wänden und an Schnüren von der Decke hingen, sahen teilweise echter aus, als sie waren.

Ich lächelte. Hier könnte ich mich tatsächlich amüsieren, wenn ich nur endlich meinen Kopf ausschalten könnte.

Hier und da bemerkte ich einen Lehrer, der etwas verzweifelt versuchte, seiner Pflicht als Aufseher nachzukommen und ich hatte das Gefühl, dass sie alle zehn Minuten die Bowle überprüfte, damit niemand Alkohol hineinschütten konnte.

„Nettes Kostüm.“

Chris war neben mich getreten und ich strahlte ihn begeistert an.

„Sag nichts. Ram hat mich gezwungen.“

Er war wie meistens komplett schwarz angezogen und trug eine Schädelmaske die sein ganzes Gesicht bedeckte. Ich erkannte ihn nur an den schwarzen Locken, die dahinter hervorquollen.

„Sieht doch cool aus“, meinte ich grinsend und ich war mir sicher, dass er die Augen verdrehte.

„Anscheinend. Ich wurde schon zweimal angesprochen. Von Mädchen.“

Ich konnte nicht anders, als zu lachen.

„Tanzt du mit mir?“

„Ganz sicher nicht“, murrte er und verschränkte die Arme.

„Bitte, ich will nicht allein tanzen!“

„Ich tanze mit dir.“

Ich drehte mich um und sah einen Axtmörder mit offener Kehle vor mir stehen.

„Hi Jason. Nettes Kostüm.“

„Danke“, grinste er.

Jason konnte tatsächlich tanzen und ich musste mir eingestehen, dass ich ihm das niemals zugetraut hätte. Irgendwann verloren wir uns in der Menge. Plötzlich spürte ich Hände an meinen Hüften und fuhr empört herum.

„Jake?“, fragte ich perplex.

„Nay“, seufzte er nicht gerade positiv überrascht, doch dann grinste er. „Dieses eine Mal sind auch noch andere Mädchen hier und trotzdem laufen wir uns in die Arme. Das ist ein Zeichen.“

„Ich bin dir nicht in die Arme gelaufen und jetzt lass mich in Ruhe.“

„Was hast du nur gegen mich? Ich hab dir nie etwas getan.“

„Ich… Du bist ein Arsch.“

„Sagt wer?“

„Nick“, murmelte ich unsicher und starrte den Typen an, der sich bei unserer ersten Begegnung als der Mann meiner Träume vorgestellt hatte. „Außerdem verhältst du dich auch so.“

„Nick mag mich nur nicht, weil Ty mein kleiner Bruder ist“, knurrte Jake und musterte mich eingehend.

„Ty? Ist das nicht der, der Jason ständig fertig macht?!“

„Genau.“

„Na dann liegt das mit dem Arschsein wohl in der Familie“, fauchte ich und drehte mich um.

Ich drängelte mich durch die tanzende Meute ans andere Ende der Halle, von dem ein Teil mit Stellwänden abgetrennt war. Hier befand sich also das Gruselkabinett. Ich suchte den Eingang, der mit Tüchern verhängt war und zögerte kurz. Ram hatte gemeint, dass Nick hier drin war, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihn treffen wollte.

„Hey, da bist du ja.“

„Nick.“

Er musste eben erst aus dem Ausgang des Kabinetts gekommen sein und seine dunkelbraunen Haare wirkten gräulich von den ganzen unechten Spinnweben darin.

Sein Kostüm bestand aus einem altmodischen, zerrissenen einmal weißgewesenen Hemd und einer schwarzen Hose.

„Was bist du?“, fragte ich verwirrt.

„Ein Schwerverbrecher auf der Flucht oder so“, meinte er und hob die Hände um mir die auseinander gebrochenen Handschellen an seinen Händen zu präsentieren.

„Ich hab’s nicht so mit Verkleidungen“, fügte er hinzu.

„Ich auch nicht“, sagte ich schnell und versuchte meinen Blick von den Rissen in seinem Hemd zu reißen, die eindeutig zu große Einblicke zuließen.

„Dafür ist deins aber ziemlich… gut.“

Als ich das Grinsen in seinem Gesicht sah, wusste ich, dass ihm eigentlich ein anderes Adjektiv vorschwebte und ich wurde rot.

„Danke.“

„Warst du schon drinnen?“

„Wo drinnen?“, fragte ich langsam.

„Im Gruselkabinett.“

„Oh. Äh nein. Ich grusele mich eigentlich vor nichts, deshalb find ich die Dinger immer langweilig.“

„Ich wette, du wirst schreien“, meinte er grinsend und ich runzelte die Stirn.

„Herausforderung akzeptiert.“

Am Anfang war es nur dunkel. Beziehungsweise es war scheißdunkel und ich bewegte mich an der Wand entlang tastend vorwärts, während ich Nicks Atem im Nacken spürte.

„Igitt, was ist denn?“, stöhnte ich, als ich plötzlich durch irgendetwas Nasses lief, das ich aber schnell als eingeweichte Stofffetzen identifizierte.

Ein paar Schritte weiter leuchtete auf einmal ein Licht neben mir auf und als ich den Kopf wandte, hing eine fette, schwarze Spinne vor meiner Nase.

„Ernsthaft? Spinnen und nasse Tücher?“, fragte ich Nick belustigt und drehte mich zu ihm um, was ich besser nicht getan hätte, denn so konnte mich jemand mit einem lauten Schrei von hinten anspringen.

Dennoch zuckte ich nur kurz zusammen und stieß den Typen unter dem weißen Laken reflexartig von mir weg. Es ging um eine enge Kurve hinter der ein kleines Spiegellabyrinth aufgebaut war. Ich lief mindestens dreimal gegen die Wand, aber gruslig fand ich auch das nicht.

Kaum hatten wir die Spiegel hinter uns gelassen, sprang ein weiterer Typ hinter einer Ecke hervor und stieß ein lautes „Wraaah!“ dabei aus. Er trug eine absolut grauenerregende Maske, von der Hautfetzen hingen und über seinen Arztkittel waren Kunstblutspritzer verteilt. Ich schreckte zurück, aber zum Schreien brachte auch er mich nicht.

„Ich glaube du verlierst die Wette“, grinste ich siegessicher und hielt auf den Ausgang zu, als sich mir plötzlich ein Clown mit verzerrten Gesichtszügen in den Weg stellte.

„Ahhhh!“

Ich hatte die Hände schützend vors Gesicht gerissen, mein Herz raste und mein Atem stockte.

„Oh Gott!“, kreischte ich und rannte an dem Typ vorbei nach draußen.

Nick trat lachend hinter mir aus dem Kabinett und ich drehte mich halb wütend halb beschämt zu ihm um.

„Von allen Dingen der Clown? Du hast Angst vor Clowns?“, lachte er und hielt mich am Arm fest, damit ich nicht weglief.

„Das nennt sich Coulrophobie und ist durchaus ernst zu nehmen“, brummte ich.

„Sind es ihre süßen roten Nasen? Oder etwa doch die fröhlichen, bunten Kleider?“

„Ich will nicht darüber reden“, schnappte ich, obwohl ich mir Mühe geben musste, nicht auch zu lachen.

„Komm schon, Nay“, sagte er und sah mir grinsend in die Augen.

Ich schluckte trocken und starrte auf seine Lippen, die nur zwei Handbreit von meinen entfernt waren.

„Aber nicht lachen, okay?“

„Ich versuch’s.“

„Ich hab als kleines Kind Es gesehen. Du weißt schon, die Buchverfilmung von Stephen King“, gab ich zu. „Und außerdem lachen sie die ganze Zeit und ganz im Ernst, Erwachsene, die sich grotesk schminken und so eine lächerliche Kleidung tragen sind doch nicht mehr ganz normal im Kopf.“

Nicks Lippen zuckten.

„Wehe du machst dich darüber lustig“, knurrte ich und starrte in sein angestrengtes Gesicht.

„Ich lache nicht“, presste er mühsam beherrscht hervor.

„Ich hoffe es doch.“

Ich starrte ihn noch eine Weile an, während er versuchte nicht zu lachen, dann verdrehte ich die Augen und ging davon. Natürlich war ich nicht sauer auf ihn, aber ich hatte das Gefühl, als ob ich ihn küssen würde, wenn ich noch länger da stehen blieb.

Ich machte mich auf die Suche nach Ram und seiner Freundin Nathalie und fand sie dort, wo ich sie verlassen hatte, zusammen mit Chris, der gelangweilt an der Wand lehnte. Er hatte seine Maske hochgeschoben, sodass sie oben auf seinen Locken thronte, was bei jedem anderen lächerlich ausgesehen hätte.

„Hey“, machte ich und stellte mich neben ihn.

Wir standen eine Zeit lang einfach nur so herum – gespielt gelangweilt mit geheucheltem Interesse an Rams und Nathalies Gespräche, während wir einfach nur die Leute beobachteten, die in die Halle kamen und sie verließen.

Schließlich beschloss das Pärchen vor uns, sich unter die Leute zu mischen und wir kamen mit in Ermangelung einer Ausrede.

Ich bewegte mich ein bisschen zur Musik, die zum Vergleich zu jeder anderen Schulparty auf der ich bisher gewesen war, richtig gut war. Gemeinsam mit den anderen grölte ich zu Zombie von The Pretty Reckless mit und gerade beschloss ich mir mal eine CD von der Band zu besorgen, als meine Augen an Nick hängen blieben.

Er stand lässig an die Wand gelehnt mit seinem typischen Grinsen – meinem Grinsen – da und unterhielt sich mit fünf Mädchen, die sich um ihn geschart hatten. Mein Magen verkrampfte sich zu einem schmerzhaften Knoten. Ich sollte jetzt dort neben ihm stehen, er sollte mit mir flirten und nicht mit irgendwelchen Schlampen, die er nicht kannte.

Ich versuchte die Eifersucht niederzukämpfen, immerhin hatte ich ja keinen Anspruch auf ihn, aber es gelang mir nicht so recht.

„Komm schon, Nay, jetzt schnapp ihn dir halt. Das hält man ja nicht aus“, sagte Ram neben mir grinsend und ich wurde rot.

„Wenn ich mich jetzt an ihn ran schmeiß, bin ich nicht besser als die anderen.“

„Doch. Du bist eine emanzipierte Frau und keine rollige Katze.“

„Hm“, brummte ich und zog die Nase kraus. „Ich hol mir mal was zu trinken.“

An der Bowle musste ich kurz anstehen, da sich ein kleiner Stau gebildet hatte, doch sobald ich das Getränk in der Hand hielt, fühlte ich mich besser. Ich warf noch einen Blick in Richtung Nick, schaute aber sofort wieder weg, da er auch zu mir sah. Als ich nach ein paar Sekunden erneut zu ihm blickte, hatte er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Mädchen vor ihm gerichtet.

„Hey Nay.“

Ich blinzelte und erkannte Felix, meinen Chemiepartner, vor mir. Seine beiden Schachfreunde waren bei ihm und ich meinte mich zu erinnern, dass sie Timothy und Stan hießen.

„Hi Jungs.“

Da sie mich irgendwie nur anstarrten, fragte ich schnell: „Wie findet ihr die Party?“

„Cool.“

„Ja, total.“

„Richtig schaurig könnte man sagen.“

„Und ihr seid also von der Raumflotte?“, hakte ich nach, als ich ihre Kostüme in Augenschein nahm.

„Du kennst Star Trek?“

„Lieblingsserie von meinem Vater“, meinte ich schulterzuckend und hob grinsend die Hand, um den Vulkaniergruß auszuführen.

Felix und seine Freunde waren begeistert und wollten mich sofort in eine Unterhaltung verstricken, doch ich war nicht so ganz bei der Sache, um über romulanisches Bier, Shakespear im klingonisches Original und LDS zu fachsimpeln und mein Blick schweifte erneut zu Nick. Doch er war nicht mehr da und eins von den Mädchen war ebenfalls verschwunden.

Mir klappte die Kinnlade herunter. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Er hatte doch nicht ernsthaft vor… Und außerdem war es gerade mal neun Uhr!

„Nay?“

„Entschuldigt mich“, murmelte ich und stürmte in Richtung Ausgang.

Ich wusste nicht wirklich warum ich das tat und was ich zu finden verhoffte, doch ich hastete nach oben, um in der leeren, stillen Eingangshalle stehen zu bleiben. Das war verrückt. Selbst wenn Nick jetzt mit irgendeinem Mädchen in irgendeiner dunklen Ecke stand, dann wollte ich das sicher nicht sehen und ich konnte ihn auch nicht dafür verurteilen, schließlich hatte ich nichts zu ihm gesagt. Das heißt, ich konnte ihn natürlich schon dafür verurteilen, dass er mit einer x-beliebigen Tussi rumvögelte, aber darüber wollte ich erst gar nicht nachdenken.

Ich stand zögernd auf der obersten Treppenstufe und verspürte wenig Lust mich in irgendeine Richtung zu bewegen. Das war doch lächerlich. Ich hatte nie eins dieser Mädchen werden wollen, deren Welt sich nur um einen Typen drehte. Ich seufzte. Jetzt ließ sich auch nichts mehr daran ändern. Dumm nur, dass ich mein Herz an so einen Idioten verloren hatte.

Wieder unten in der Halle verschanzte ich mich hinter Buffet und gab mir redlich Mühe, keinem meiner Freunde in die Arme zu laufen. Ich hatte jetzt wirklich keine Lust auf reden. Morgen um diese Zeit würde ich bereits zuhause sein, fertig für die Kreuzfahrt, und ich hatte das Gefühl, dass wenn ich Nick nach den Ferien wieder begegnen würde, alles anders wäre. Als wenn heute Nacht die letzte Gelegenheit wäre, ihm klarzumachen was ich fühlte. Dass ich mich in ihn verliebt hatte.

Die Zeit verging, aber er tauchte nicht auf und ich versteckte mich hinter dem Gruselkabinett, da ich keine Lust auf die Party hatte, mich aber auch nicht ins Zimmer traute.

Ich war nicht traurig und ich wollte auch nicht weinen. Irgendwie fühlte ich mich nur extrem angepisst. Ich war sauer auf mich, weil Jason recht gehabt hatte und weil ich die ganzen Wochen über zu feige gewesen war, obwohl mir eigentlich schon von Anfang an klar gewesen war, dass ich um Nick nicht herumkommen würde. Dazu war er einfach viel zu perfekt…

Ich ließ meinen Kopf gegen die Wand hinter mir rumsen.

 

Es war eine Viertelstunde vor Mitternacht. Die Party war gegen Ende immer lauter und ausgelassener geworden und es kam mir so vor, als ob alle jede Sekunde auskosten wollten. Bis auf mich. Ich wagte nicht, aufzustehen, weil ich sowieso nur nach Nick Ausschau halten würde und darauf konnte ich verzichten. Mein Kopf hämmerte und ich beschloss nach oben in die Halle zu gehen, bis das alles hier vorbei war.

Mitten auf der Tanzfläche, die ich versuchte so schnell wie möglich zu überqueren, trat mir allerdings so unvermittelt jemand in den Weg, dass ich gegen ihn lief und fasst umfiel.

„Nay! Ich hab dich schon überall gesucht!“, rief mir Nick über die Musik hinweg zu.

„Dann bist du mit deinem Betthäschen fertig?“, schnappte ich und er sah mich verständnislos an.

„Was?!“

„Dein Betthäschen!“, brüllte ich.

„Was für ein Betthäschen?“

Ich verdrehte die Augen und winkte ab. Dann entwand ich mich seinem Griff und stürmte an ihm vorbei.

„Hey warte!“

Ich fuhr herum, doch das nächste was er sagte hörte ich nicht.

„Was?!“

Jetzt verdrehte er die Augen und zog mich an der Hand aus der Halle.

„Was soll das?“, rief ich.

„Da drinnen versteht man ja das eigene Wort nicht“, schnaubte er und warf die Hallentür ins Schloss.

„Also, ich weiß nicht, ob man die einfach zu…“

„Ist doch egal. Also was war das mit dem Betthäschen?“, fragte er ernst und ich starrte zu Boden.

„Nichts, ist egal“, murmelte ich.

„Ich meine es ernst, Nay, wovon redest du?“

„Ja, sicher, als ob du jemals irgendetwas ernst meinen würdest“, schnaubte ich.

„Was…?“ Nick legte eine Hand unter mein Kinn und zwang mich so, ihm in seine verständnislosen grünen Augen zu blicken. „Bist du sauer auf mich?“

„Ich… nein“, stammelte ich durcheinander durch seine plötzliche Nähe. „Zumindest habe ich kein Recht dazu.“

„Was habe ich gemacht? Ich will nicht, dass du auf mich sauer bist.“

Seine Stimme brachte mich zum Schmelzen und ich versuchte die Tränen zu unterdrücken, die mir in die Augen schossen. Das hier war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um in Tränen auszubrechen.

„Ich meinte nur, wegen dem Mädchen von vorhin…“

„Welches… Ach, du meinst Charleen?“

„Wow, dieses Mal  weißt du ihren Namen ja noch“, schnappte ich und Nick ließ mein Kinn los.

„Nay, so war das nicht… Hey, bleib hier!“

Er hielt mich fest, als ich davongehen wollte und ich wich zurück, doch er folgte mir und plötzlich war da nur noch Wand hinter mir.

„Ich hatte nichts mit ihr. Ich schwöre es.“

Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn ich ein bisschen zu sehr erleichtert war.

„Aber aus der Tatsache, dass dir das nicht egal ist, schließe ich, dass ich dir nicht egal bin“, sagte er langsam.

„Natürlich nicht. Wir sind Freunde.“

„Wir sind keine Freunde, Nay“, murmelte er und kam noch näher, sodass unsere Körper sich berührten.

Mein Herz raste und ich konnte kaum einen klaren Gedanken mehr fassen.

„Wenn ich mit meinen Freunden rede, weiß ich nämlich immer, was ich sagen soll“, fuhr er leise fort und sah mir dabei direkt in die Augen. „Wenn ich an meine Freunde denke, schlägt mein Herz auch nicht doppelt so schnell wie sonst. Und wenn ich meine Freunde sehe, will ich sie auch nicht auf der Stelle küssen.“

Seine Lippen landeten weich auf meinen und ich stöhnte sehnsüchtig mit geschlossenem Mund. Seine Zunge stieß sanft gegen meine Lippen und forderte Einlass, doch ich schob ihn weg.

„Spiel nicht mit mir, Nick“, sagte ich mit erstickter Stimme. „Ich halte es nicht aus, wenn du mir das Herz brichst.“

„Ich brech dir nicht dein Herz, wenn du mir nicht meines brichst“, hauchte er und küsste mich erneut.

In derselben Sekunde ertönten drinnen die Glockenschläge aus der Anlage und ein lautes Gejohle drang durch die Tür. Mein Herz schien zu explodieren.

Es war Mitternacht und ich küsste den wundervollsten Jungen, den ich je kennengelernt hatte. Eben hatte er mir gestanden, dass er in mich verliebt war und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so glücklich gewesen war.

 

 

 

 

That's it! Ich hoffe es hat euch gefallen, Teil 2 ist schon da und wartet auf euch ;)

Ich bin kommisüchtig, also immer her mit der Kritik :D Wer wissen will, wann's wo weiter geht, kommt einfach in meine Gruppe "Bücher von Clara S."

Impressum

Texte: Clara Schilling
Bildmaterialien: Cover by Die Cara :D
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Cara und die Pia ;) euch beiden sind fast alle meine Bücher gewidmet und das nicht ohne Grund

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