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Wenn. Und Aber
Von keno.taph.

Was Ihnen auch immer zu Ohren gekommen ist: Diesmal sitze ich nicht am Tresen, um einen zu heben. Zumindest nicht ausschliesslich. Ein bis zwei Gläschen am Abend empfehlen selbst die Ärzte, und wer wollte denen widersprechen, wenn sie einem gleich selbst einen Tipp geben, wie ihnen auszuweichen ist.
Wie auch immer. Es geht heute nicht darum, dass ich mir meinen Schlummerbecher genehmige. Für einmal liegt mir umgekehrt daran, dass mir der Sandmann vom Leibe bleibt, denn ich möchte mich beschweren – und das in aller Form. Ich habe einen lausigen Tag hinter mir, man hat mir übel mitgespielt. So etwas nehme ich nicht hin, selbst wenn es bedeutet, einen Abend lang in einer Kneipe nüchtern zu bleiben. Ich kann nur hoffen, dass sich jene Dame, gegen die ich die Beschwerde vorbringen möchte, auch wirklich zeigen wird. Ich sagte: Dame, aber das dürfen Sie getrost ironisch verstehen. Tatsächlich ist sie nichts weiter als eine Fee.
„Der will einer Fee begegnet sein?“, höre ich Sie höhnen.
Gemach, gemach – erstens kann von wollen keine Rede sein und zweitens dürfen Sie nicht gleich alles für bare Münze nehmen, was Sie in Märchen und Sagen über diese Geschöpfe gelesen haben. Zugegeben, ich hatte ein wenig Absinth intus, aber solch eine Lappalie hindert mich keineswegs daran, eine Fee zu erkennen, wenn mir eine über den Weg flattert.
Sie sind tatsächlich winzig. Zumindest jene Fee, die mir begegnet ist. Ich hätte sie, weil ich zunächst nicht bemerkte, dass sie auf meinem Glas gelandet war und sich einen Spass daraus machte, dessen Rand entlang zu balancieren, bei einem nachlässigen Schluck beinahe in mein Getränk bugsiert – das hielt mir die Fee freilich vor, kaum dass wir miteinander ins Gespräch gekommen waren. Ich weiss nicht, ob wir deswegen einen von Beginn weg nicht sonderlich leutseligen Kontakt miteinander hatten; ich halte es nicht für unmöglich, dass sie mir das Beinahemalheur nachtrug. Vielleicht war es aber auch ihre Umherschwirrerei, die mich nervös machte und kein Übermaß an Herzlichkeit aufkommen liess. Das Wesen umkreiste mich fortwährend, ähnlich wie ein Kolibri, der sich daran macht, einen besonders nektarhaltigen Blütenkelch zu plündern. Und dann die Sache mit den Wünschen. Seit meinem Erstkontakt mit der Feenwelt muss ich den Märchensammlern und Sagenschreibern den Vorwurf machen, die Sachlage zur Wunscherfüllungsfreudigkeit seitens der Feen grob fahrlässig zu vereinfachen, wenn nicht zu verharmlosen. Gestern erst flog mir jene Fee zu, und schon heute könnte ich sämtlichen Märchentanten und -onkeln stecken, was wirklich Sache ist. Von wegen glückbringend.
Absinth lasse ich mir erst seit kurzer Zeit und nicht wirklich regelmäßig servieren, damit wir uns auch richtig verstehen. Jene Geschichten von einst, wonach sich das Trinken solchen Schnapses mit Wahnvorstellungen räche, machten mir das Zeug anfänglich nicht sonderlich sympathisch. Dann aber genehmigte ich mir doch einmal eine Kostprobe und war dabei um Unvoreingenommenheit bemüht. Es schmeckte nicht bloß passabel, sondern tat auch seine versprochene Wirkung. Machen wir uns nichts vor: Der Stoff haut mächtig rein. Überdies macht es mir Spaß, das Trinkritual zu zelebrieren, indem ich am Absinthbrunnen hantiere, den mir der Wirt freundlicherweise bei jeder Bestellung an den Tisch bringt, obgleich ich meinen Absinth grundsätzlich alleine zu mir nehme. Sand, der in der Sanduhr rieselt, gemahnt in seiner spröden Blässe bloss an die Sterblichkeit aller Dinge. Absinth aber, in vollkommener Gelassenheit über das Stück Zucker rinnend, verheisst einen Vorgeschmack aufs Paradies, das vielleicht doch jenseits irdischer Beschwerlichkeiten zu finden ist. Natürlich war mir auch die Bezeichnung „Grüne Fee“ geläufig. Dass dann aber ausgerechnet eine Fee aufkreuzte, als ich mir ein paar Gläschen Absinth einverleibte, muss purer Zufall gewesen sein. Ich würde auch heute noch nicht an Feen glauben, wenn mich nicht, als ich damals das Glas ergreifen und zum Mund führen wollte, ein jähes Geräusch hätte zusammenfahren lassen, das übrigens mitnichten wie das Klingeln von Glöcklein klang, sondern eher wie das überlaute Summen eines angriffslustigen Rieseninsekts. Das Geräusch drang von der Tischplatte herauf und als ich niederblickte, sah ich etwas auf meine Hand, die das Glas hielt, zufliegen. Schnell wie ein Geschoss.
„Hornisse!“, schoss es mir durch den Kopf, und ich hätte, die Hand zur Seite reissend, beinahe den letzten Rest im Glas verschüttet.
Das Ding stieg hoch und summte nun dicht vor meinem Gesicht, direkt über meiner Nasenspitze.
„Libelle!“, durchzuckte es mich, und gleich danach, als das Geräusch so dicht bei meinem Ohr zu einem eigentlichen Dröhnen anschwoll: „Libellenmutant!“
Dann aber erkannte ich, die Augen weit aufreissend, dass es überhaupt kein Insekt war, sondern ein Winzigwesen mit Flügeln, die mit entnervender Hektik aneinanderschlugen. Ich war gewahr, wie sich mein Mund, der sich in Erwartung des nächsten Schlucks Absinth bereits geöffnet hatte, nicht mehr schließen ließ. Erst recht nicht mehr, als das Ding mich ansprach. Es tat dies mit einer feinen Stimme, kaum mehr als ein Zittern in der Luft, aber doch kräftig genug, um erstaunlich leicht vernehmbar zu sein. Ein einziger Satz klang in meinen Ohren, ernst und feierlich vorgebracht wie eine Offenbarung: „Drei Wünsche stehen dir frei.“
Als ich, wie vor den Kopf gestoßen und durch den Absinth gedanklich vielleicht auch nicht mehr ganz so beweglich, nicht gleich reagierte, wiederholte das Wesen die Worte mehrfach, so dass sie, hierbei massiv an Feierlichkeit einbüssend, zu einer latent quengelnden Litanei wurden. Meine Fee zählte vermutlich nicht zu den geduldigsten ihrer Art, aber immerhin begriff ich nach einer Weile, dass sie mir den Jackpot verhieß, ohne dass ich je Lotto gespielt hätte.
Ich kippte den Rest Absinth hinunter, ließ ihn bedächtig durch die Kehle rinnen, stellte das Glas auf den Tisch zurück und starrte darauf, ohne es loszulassen.
Nun galt es Ruhe zu bewahren.
Vielleicht war die Fee wahrhaftig bloß dem Absinth entflogen, zumal sie tatsächlich einen leichten Stich ins Grüne zu haben schien, doch das mochte auch mit der schummrigen Beleuchtung hier drinnen zu erklären sein. War es kein Hirngespinst, galt es alles zu vermeiden, was dieser aussichtsreichen Eröffnung ein vorzeitiges Ende bereitet hätte. Ich war sogar darauf bedacht, jegliche hastigen Bewegungen zu unterlassen. Dass mir die Fassung nicht gänzlich flöten ging, dafür sorgte auch gleich die Fee selbst, als sie mit der Teilnahmslosigkeit eines gewieften (wenn nicht durchtriebenen) Juristen ihre absonderlichen Rahmenbedingungen herzuzählen begann: Besagte Wünsche seien quasi indirekt als Konditionalsätze im korrekten Konjunktiv II zu äußern, wenn sie in Erfüllung gehen sollten. Ihr musste mein Gesichtsausdruck aufgefallen sein, denn sie wiederholte sich, ohne dass ich sie dazu aufgefordert hätte, nur war mir diesmal, als klänge so etwas wie Häme mit.
„Da begegne ich einmal im Leben einer Fee – und dann erinnert sie mich ausgerechnet an den Deutschlehrer meiner Gymnasialzeit. Den im Übrigen keiner in meiner Klasse ausstehen konnte.“ Hätte ich mir diesen Kommentar verkniffen, wäre mir die zweite Vorgabe vielleicht erspart geblieben. Halten Sie ein Feenantlitz und Tücke für unvereinbar? Bis zum damaligen Moment hätte ich Ihnen vermutlich beigepflichtet, nun aber weiß ich es besser, auch wenn sich damals im schwachen Licht und bei den winzigen Gesichtszügen nur wenig mit Gewissheit entdecken ließ.
„Tja, was kann ich sagen“ – ihr Ton, obgleich noch immer fein, entbehrte nicht länger einer Note unverbrämter Gehässigkeit – „Sie haben keinen Schimmer davon, wie viel Ärger wir schon mit Beschwerden und Klagen zum Urheberrecht realisierter Wünsche hatten. Feenzauber hat einen reichlich wackligen Rechtsstand, das können Sie mir glauben.“
Und natürlich wünschte ich mir nun im Nachhinein, auf diese Bemerkung hin meinen Mund gehalten statt den Mangel an rechtlicher Standhaftigkeit mit der minimalen Körpergrösse der Fee in ein kausales Verhältnis gesetzt zu haben. Das Summen der Flügel schien daraufhin einen Augenblick lang merklich lauter zu werden. Ich sah, wie das Köpfchen zu mir hoch ruckte und wenn die Augen nicht so klein gewesen wären – ich bin mir sicher, ich hätte darin ein Funkeln gesehen. Wolle ich (fuhr die Fee mit einer Langsamkeit fort, als genösse sie jede Silbe), dass meine drei Wünsche Wirklichkeit würden, dürfe ich sie nicht selbst aussprechen, sondern müsse das jemand anderes für mich tun lassen. Würde ich die Wünsche mit eigener Stimme bekannt geben, seien sie verwirkt.
„Schikane“, dachte ich und spürte mit dem Nachgeschmack vom Absinth einen Anflug von Wut in meiner Kehle hochsteigen.
Dies sei keine Schikane, meinte die Fee ungerührt. Feenwünsche seien kein Egotrip, sondern auch dazu da, zwischenmenschliche Regungen edlerer Art zu fördern. Es sei nun meine Sache, andere so zu inspirieren, dass sie sich wünschten, was mir am Herzen liege. Was von meinem jeweiligen Gegenüber fortan so formuliert werde, wie von ihr bestimmt, gehe in Erfüllung – unabhängig davon, ob es auch tatsächlich mein eigener Wunsch sei oder nicht.
Ich konnte mich nicht länger zurückhalten und fragte bissig: „Habe ich das richtig mitgekriegt? Ich soll jemanden – ohne ihn oder sie ausdrücklich in Kenntnis zu setzen – dazu bringen, sich etwas zu wünschen, wonach allein mir der Sinn steht und was ihm oder ihr vielleicht noch nicht einmal einen eigenen Vorteil verschafft?“
Die Fee neigte bedächtig das Haupt, was sicherlich gravitätisch ausgesehen hätte, wäre sie grösser als der Daumen eines schmächtigen Mannes gewachsen.
Ich bemühte mich, Theatralik in die Stimme zu legen, ohne gleich allzu dick aufzutragen: „Ich habe ja nicht einmal so viele verlässliche Freunde wie freie Wünsche.“
Die Fee hob den Kopf erneut, so tief von unten herauf wirkte ihr Blick aus ihren Knopfaugen verschlagen. Sie sagte bloß ein einziges Wort, das aber so bedeutungsschwer, dass es wie ein Stein zwischen uns fiel: „Eben.“
Ich spürte, wir mir Schamröte in die Wangen stieg – und das bei einem Gegenüber, das ich in der Pfeife hätte rauchen können.
„Wohlan denn…“ – ich war bemüht, die fehlende Unerschrockenheit mit der Zuhilfenahme meines hochtrabendsten Wortschatzes wenigstens notdürftig zu übertünchen – „… so sei es. Ich werde schon jemanden auftreiben, der mir mit meinen Wünschen zur Hand geht.“
Vielleicht lag es daran, dass ich Mühe hatte, unter den gegebenen Umständen den Kopf klar zu kriegen. Vielleicht ging mir auch bloß das Gesumme der Feenflügel allmählich auf die Nerven. Jedenfalls lag mir nicht länger daran, die Unterhaltung fortzusetzen. Die Fee machte denn auch Anstalten, von dannen zu schwirren, kehrte dann aber zurück und flog mir den Nasenrücken hoch und so dicht an meine Stirn, dass ich schielen musste, um sie überhaupt noch zu sehen.
„Du hast den morgigen Tag für die drei Wünsche, nutze die Zeit!“ Möglicherweise bilde ich mir das nur ein, aber mir schien für einen Moment, etwas tippte mir direkt über der Nasenwurzel an die Stirn – wie von filigranen, aber energisch ausholenden Fäustchen.
Dann schob sie noch hinterher, und das ähnelte nun doch ein wenig einer Drohung: „Ich werde nach Ablauf der Frist wiederkehren!“ Ein Blinzeln meinerseits, und die Fee war verschwunden.
Ich räusperte mich, drückte mir mit zwei Fingern die Nasenflügel und zog an meiner Nasenspitze, schluckte schwer und bestellte sicherheitshalber noch ein Glas. Für einmal aber keinen Absinth, wie Sie sich denken können.
Ich schlief unruhig, von wirren Träumen heimgesucht, in denen ich mich durch die buntfarbene Unwirklichkeit einer Märchenwelt gehen sah, mit beschwingten Schritten, ein fröhliches Klingeln in den Ohren, das erst abbrach, als ich mir – jäh von einer düsteren Vorahnung befallen – die Narrenkappe mit den goldglänzenden Schellen vom Kopf zog. Mehrfach fuhr ich hoch und glaubte im stickigen Dunkel zu hören, wie es mir um die Ohren sirrte. Am Morgen, als ich schlaftrunken vor den Spiegel trat, erkannte ich an den Stichen an Hals und Wangen, dass es tatsächlich bloss blutrünstige Mücken gewesen sein konnten.
Beim Frühstück und hinterher bei der Fahrt ins Büro – wer will’s mir verdenken – ging mir das Erlebnis vom gestrigen Abend nicht mehr aus dem Kopf. Recht eigentlich beunruhigt war ich vom Gedanken, dass der Absinth offenbar noch immer das Zeug dazu hatte, einen halluzinieren zu lassen. Wenigstens war mir das Gaukelbild einer an sich niedlich anzusehenden Fee vergönnt gewesen und nicht jenes einer hakennasigen Hutzelhexe.
Im Büro gab es eine Menge Arbeit zu erledigen, aber als beim Mittagessen in der Kantine Kollege Neumann in der ihm eigenen umständlichen Art meinte, er wünschte sich, die Ressourcen, insbesondere die seinigen, lägen in dieser Firma nicht länger brach, klangen mir die Verheissungen und Verfügungen meiner Fee erneut in den Ohren. „Warum auch nicht?“ dachte ich belustigt und warf Neumann einen Köder hin: „Entlöhnt dürften wir auf alle Fälle großzügiger sein.“
Neumann hatte das Stichwort – ein „Wenn ich soundso viel verdienen würde, könnte ich …“ hätte genügt, dazu noch die Salärsumme, und das wär’s gewesen. Aber ich hätte besser daran denken sollen, dass Neumann kaum je auf Äußerungen seines Gegenübers einging, es sei denn, sie passten zu dem, was er ohnehin zu sagen beabsichtigte.
„Ach, schnöder Mammon ist bloss Symptombekämpfung“, sagte er prompt. Ausgerechnet heute übertraf sich der Kollege mit seinen Verbalkapriolen. „Man müsste endlich Nägel mit Köpfen machen. Du wärst der ideale Mann dafür, ein altgedienter, verdienstvoller Mitarbeiter, der den Betrieb seit vielen Jahren kennt.“
Wenn ich bereits damals wirklich etwas auf die Begegnung mit der Fee gegeben hätte, hätte ich ihn wohl noch zu stoppen versucht; stattdessen ließ ich ihn ausreden: „Wenn du denen da oben einmal so richtig die Meinung geigen würdest, ließe sich doch sicherlich etwas ausrichten. So etwas wünschen wir uns doch alle.“
Es gab einen Augenblick der Stille und für einen Sekundenbruchteil schien der Lärm in der Kantine nur noch gedämpft wahrnehmbar, wie hinter Glas. Irgendwo erklang Gelächter, ganz kurz nur, aber melodisch und glockenhell.
Nach dem Lunch fühlte ich mich ein wenig seltsam. Ich schob das auf die wie üblich eher schwere Kantinenkost, spürte aber tief im Innern, dass mir die Vorahnung, dass an der Feensache doch etwas dran war, Unbehagen bereitete. Es fiel mir schwer, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Als ich dann am frühen Nachmittag in die Teppichetage zitiert wurde, war ich nicht einmal mehr sonderlich überrascht. Der Direktor saß hinter seinem ausladenden Schreibpult, das stets eine Spur zu ordentlich aussah, um für wirkliche Arbeit herhalten zu müssen. Auf einem der Besuchersessel hatte der Vize Platz genommen, der sich nun aber bei meinem Eintreten erhob und wie eine Schildwache dem Direktor an die Seite stellte.
Noch bevor jemand im Raum den Mund öffnete, wusste ich, wie die Unterredung enden würde.
Neumann hatte Recht: Er war wahrhaftig nicht der einzige, der sich wünschte, jemand würde der Firmenleitung endlich einmal tüchtig den Marsch blasen. Ich hatte mir in all den Jahren immer wieder ausgemalt, wie ich eines Tages hier stehen und die Gelegenheit ergreifen würde, heroisch für die Wahrheit, die bekanntlich stets unbequem war, eine Bresche zu schlagen. Der Direktor und sein Vize lächelten mich an. Ersterer hob an mit „Lieber …“
Ich war mir sicher, mehr Herablassung in diesem einen Wort zu hören, als hineinzupacken ich je für möglich gehalten hatte. Die Dämme barsten und der Schrecken über die Erkenntnis, mich ins Unabwendbare fügen zu müssen, wurde überspült und fortgerissen. Es brach aus mir heraus und ich hieb das Lächeln meiner obersten Vorgesetzten in Stücke.
Bevor man mich freistellte, wurde mir noch mitgeteilt, dass man mir wegen meiner langjährigen Verdienste um die Firma eine großzügige Lohnerhöhung in Aussicht hatte stellen wollen. Übel genug, dass da niemand war, dem ich die Schuld am Eklat hätte geben können – außer mir selbst.
Ich hatte die Fee als einen zwar merkwürdigen, aber bedeutungslosen Nebeneffekt meines gestrigen Absinthquantums abgetan und dadurch so einen der drei Wünsche höchst fahrlässig vergeudet. Immerhin lag etwas Trost in der nunmehrigen Gewissheit, dass an den Worten der Fee nicht länger zu zweifeln war: Nun galt es, meinen nächsten Wunsch äußerst sorgfältig abzuwägen und ihn einer vertrauenswürdigen Person gewissermassen in den Mund zu legen.
Doch da setzten die Schwierigkeiten an.
Ich war nie ein Mensch gewesen, der für Geselligkeit viel übrig gehabt hätte. Das zeigte sich unter anderem im Umstand, dass mir für das Herzählen jener Menschen, denen ich mich zumindest annähernd freundschaftlich verbunden fühlte, die Finger einer Hand genügt hätten.
So stand ich vor einem zweifachen Problem: Zum einen musste ich einen optimal erwogenen Wunsch vor Ablauf der Frist finden, und wegen der vagen Angabe der Fee konnte ich mir nicht einmal sicher sein, ob ein Kalendertag oder vierundzwanzig Stunden gesetzt waren. Zum anderen hatte ich jemanden aufzuspüren, der mir vertraut genug war, um ihn verlässlich dazu zu bringen, das zu äußern, was ich wollte, oder aber jemanden aufzutreiben, der mir nahe genug stand, um zu begreifen, woran mir lag. In meiner Situation traf es sich fraglos ungünstig, von ungebremst daherplappernden Mitmenschen umgeben zu sein. Da ich nun freigestellt war, blieb mir wenigstens etwas Zeit, um mir den Inhalt der beiden verbliebenen Wünsche mit gebührender Umsicht zu überlegen. Eine Weile trug ich mich mit der Absicht zu versuchen, mir meine Anstellung zurückwünschen zu lassen bzw. die Standpauke, zu der ich mich erdreistet hatte, ungeschehen zu machen. Ich verwarf diesen Plan dann aber wieder. Aus der Sache musste doch mehr herauszuschlagen sein.
Mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Von jeder Uhr, an der ich vorbei kam, glaubte ich das Ticken der Zeiger wie bei einem Countdown zu vernehmen. Ich war auf der Jagd nach den beiden ultimativen Wünschen, indem ich zuerst im Park spazieren ging, mich danach in ein Café setzte und schließlich einmal mehr in meiner Stammkneipe hockte. Alle möglichen Szenarien hatte ich mir ausgemalt, mich in diese und jene Situation versetzt – und alles zusammen war doch zu wenig, um dem Anspruch gerecht zu werden, nicht bloss irgendwelche, sondern die einzigen zwei richtigen Wünsche aus- und zugesprochen zu bekommen.
Ich saß am Tresen und beobachtete, wie sich das Glas in meiner Hand in gleichmütigem Wechsel leerte und füllte. Endlich fuhr ich wie aus einem Halbschlaf hoch, schlagartig der Klammheimlichkeit gewahr werdend, mit der sich die Zeiger über das Zifferblatt der Wanduhr oberhalb der aufgereihten Flaschen hingestohlen hatten. Es ging auf Mitternacht zu und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich eines Anstoßes von außen bedurfte, um mir zumindest über den einen meiner beiden verbliebenen Wünsche schlüssig zu werden. Ich fingerte das Handy aus der Jackentasche und klappte es auf.
Leerer Akku. Natürlich.
Den Kopf voller Gedanken über die Begegnung mit der Fee, hatte ich gestern Abend vergessen, das Ding aufzuladen. Ich eilte nach hinten zu den Toiletten, wo ein antiquarisches Münztelefon an der Wand hing. Es sah aus wie ein Exponat, das man vergessen hatte in ein Museum zu überführen, aber es funktionierte. Nach dem siebten Läuten meldete sich Claus schlaftrunken und erklärte sich wenig erbaut über meinen Anruf zu später Stunde.
„Claus, hör mir zu“, unterbrach ich seinen unwirschen Kommentar zum redlich verdienten Schlaf nach vollbrachtem Tagewerk. „Wenn ich dich nun frage, was du dir am meisten wünschst, wirklich am meisten von allem, was würdest du antworten?“
Am andern Ende der Leitung reihten sich heiser gegrummelte Flüche aneinander, die schliesslich in ein Gähnen übergingen.
„Nicht zu lange überlegen“, schob ich eilig nach. „Sei ganz spontan. Sprich einfach frei von deiner Trinkerleber weg.“
Abgesehen davon, dass er sich für meinen schwächlichen Versuch, die Sache jovial flapsig anzugehen, gänzlich unempfänglich zeigte, war solches Drängen in ihn ein Fehler. Dass er gleich einen Konditionalsatz hingekriegt hatte, durfte ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Ich hatte seine Unbedarftheit, zumal vom Bettrand aus, schlicht unterschätzt. Aber ich kannte ihn lange genug und hätte wissen müssen, wie wichtig ihm als Lokalpatriot und Fussballfan die Qualifikation unseres städtischen Klubs an den Ausscheidungsspielen war.
Nun sitze ich hier, müde von der Warterei, und auch ein wenig durstig, also habe ich mir eben doch einen Absinth bestellt und dann noch einen, und wenn’s noch lange dauert, werde ich mir noch einen weiteren oder zwei genehmigen. Sie werden mir kaum verübeln, dass ich nicht sonderlich guter Laune bin. Doch noch gebe ich mich nicht geschlagen. Wenn die Fee anschwirrt, wird sie jemanden antreffen, der sich nicht für dumm verkaufen lässt. Einen Wunsch habe ich mir aufgespart, und nachdem es weder mit einem Kollegen noch mit einem Freund geklappt hat, habe ich mir gesagt, ich versuche es einmal mit einer Zufallsbekanntschaft. Mit jemandem wie Ihnen zum Beispiel. Ich wende mich an Sie und damit an jemand mir gänzlich Unbekannten. Ich bitte Sie (ich würde Sie sogar anflehen, wenn ich einen Hang zum Dramatischen hätte), meinen letzten Wunsch an meiner Stelle zu äußern. Die Sache kann schließlich nicht ärger misslingen als bei den beiden Malen zuvor. Natürlich kann ich auch Ihnen nicht explizit sagen, worin mein Wunsch besteht: Anspielungen müssen genügen. Ich sage deshalb nur mal so viel: „Aus eins mach drei.“ Alles klar? Wenn es hinhaut, werde ich Ihnen einen Wunsch abtreten, woraufhin Sie sich wiederum dasselbe wie ich jetzt wünschen und sich gegenüber Ihren Freunden grosszügig zeigen. Und so weiter.
Im Nu werden wir nach dem Schneeballprinzip eine Lawine auslösen und wer weiß: Am Ende hätten Sie und ich uns darum verdient gemacht, die Pioniere in der Erschaffung einer wunschlos glücklichen Gesellschaft geworden zu sein. Sie ahnen, was für Maßstäbe die Sache mittlerweile angenommen hat?
Da! Die Fee kommt dahergesummt – nur die Ruhe jetzt.
Was sagt sie da?
Wünsche seien natürlich nicht kumulierbar?
Ob ich Sie für dumm verkaufen wolle?
Was für bodenlos naive oder schlechterdings idiotische Vorstellungen ich von den Fähigkeiten einer Fee hätte, wenn ich sie derart durchschaubar hintergehen wolle?
Dafür gehöre mir mein letzter Wunsch ersatzlos gestrichen.
Dabei hätte ich die vielleicht letzte Gelegenheit gehabt, aus meiner Eigenbrötelei herauszufinden.
Soziabilität! Ob ich überhaupt verstehe, was das heiße.
Jedenfalls sei sie – so offen erlaube sie sich nun zu sein – ihrer Pflichten mir gegenüber ledig. Seinerzeit habe sie es verabsäumt, an meiner Wiege zu erscheinen und sich mit dem Schicksal über den Verlauf meines Lebenswegs zu einigen. Als ihre Nachlässigkeit unlängst aufgeflogen sei, habe man sie von oben dazu verdonnert, mir die Erfüllung dreier Wünsche anzubieten – und den Rest der Geschichte würde ich ja kennen.
Ich versuche ergeben zu lächeln und mir nichts anmerken zu lassen. So einfach hätte es sein können, aber wer hätte auch gedacht, dass in einer so winzigen Fee solch ein grossmäulig bevormundender Moralapostel steckt?
Kommando zurück – vergessen Sie, worum ich Sie gebeten habe.
Mein Plan B tritt in Aktion.
Ich kann nicht anders und beuge mich nach vorn über den Tisch, wie um mein Ohr der Fee näher zu bringen. Meine Hand tastet derweil unter der Tischplatte nach der Fliegenklatsche, die ich mir heute unterwegs gekauft und unmittelbar nach meiner Ankunft in der Bar mittels Klebeband in Reichweite versteckt habe. Ein Ruck und ich halte die Fliegenklatsche, noch immer vom Tisch verborgen, in der Hand.
„Wo meine Wünsche versagen, wird mein Wille nicht fehlen.“
Mir geht der Satz so leicht über die Lippen, als hätte ich ihn einst als Zitat irgendwo aufgeschnappt. „Auf jeden Fall als Epitaph nicht ungeeignet“, denke ich noch und hole jäh und schwungvoll aus. „Wenn ich könnte, wollte ich …“ Der Konjunktiv II ist etwas für die Zaghaften.
Wenn ich will, kann ich schon.

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Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011

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