Reifen quietschten, dann folgte ein ohrenbetäubender Schlag. Das kreischende Geräusch von berstendem Metall begleitete den Aufprall. Ein Gewirr aus hektischen Rufen und schrillen Sirenen durchschnitt die Nacht. Blaue Lichter zuckten im Dunklen. Der metallische Geruch von Blut hing in der Luft. Salzige Tränen auf den Wangen. Rauch drang in die Fahrerkabine, vernebelte die Sicht ... versengte die Haut ... machte das Atmen schwer. Eine Flut von Gefühlen. Schock. Ohnmacht. Angst. Verzweiflung. Panik. Bodenlose Panik. Sie zerrte an ihr, riss sie immer weiter in die Tiefe …
Alicia schreckte in ihrem Bett hoch. Ihr Herz raste. Wieder dieser Albtraum! Seufzend ließ sich zurück aufs Bett fallen. Sie versuchte ihre Atmung zu kontrollieren, ihre verkrampften Muskeln zu lösen. Konzentriert starrte Alicia auf einen unbestimmten Punkt an der Decke. Langsam beruhigte sich ihr Herz wieder. Seit gut einem Jahr träumte sie nun jede Nacht das Gleiche. Von einem Unfall – dem Unfall, bei dem ihr Mann Greg ums Leben gekommen war.
Eigentlich konnte sie den genauen Ablauf des Unfalls nicht kennen. Sie hatte zu Hause auf Greg gewartet. Das Abendessen stand zum Warmhalten im Backofen. Greg war seit fast zwei Stunden überfällig. Unruhig tigerte sie im Wohnzimmer umher. Sein Handy war aus. Kein Akku? Plötzlich läutete es an der Haustür. Hatte er den Schlüssel verloren? Erleichtert öffnete sie die Tür. Dann der Schock. Vor ihrer Haustür standen zwei Polizeibeamte. Sie versuchten ihr die Nachricht von Gregs Tod möglichst schonend beizubringen. Vergeblich. Als sie die Nachricht hörte, brach sie weinend zusammen.
Seither wachte sie jede Nacht schweißgebadet auf, immer mit dem Gefühl, den Unfall selbst durchlebt zu haben. Sie vermisste Greg so sehr …
Alicia riss sich aus den Gedanken. Müde rappelte sie sich auf. Ihr Wecker zeigte 3:35 Uhr. Zerschlagen tappte sie ins Bad. Dort spritzte sie sich Wasser ins Gesicht. Müde Augen blickten sie aus dem Spiegel an. Mechanisch rieb sie ihren Oberkörper mit einem nassen Lappen ab. Sie wollte den Schweiß des Albtraums loszuwerden.
Zurück in ihrem Bett versuchte Alicia wieder einzuschlafen. Vergeblich. Der Nachhall des Albtraums steckte ihr noch in den Gliedern. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Hin und her, hin und her …
Um 5:00 Uhr gab Alicia auf – wie jeden Morgen um diese Zeit. Eine weitere Konstante, die sie seit diesem schrecklichen Tag begleitete. Immer noch völlig erschöpft schlurfte sie in die Küche und warf die Kaffeemaschine an. Allein.
Tisch decken – allein. Frühstücken – allein. Zeitung lesen – allein. Ein bisschen Haushalt – allein. Alicias Tag sah immer gleich aus. Um 7:00 Uhr aus dem Haus, um 7:30 Uhr als Erste an ihrem Schreibtisch – allein. Die Kollegen würden bald kommen – trotzdem war sie allein. Gefangen in ihrer Trauer.
Würde es von jetzt an immer so sein? War das wirklich alles, was sie noch von ihrem Leben erwarten durfte?
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Katie stand lässig mit der Schulter an den Türrahmen gelehnt. Sie hatte die Arme vor dem Brustkorb verschränkt, den rechten Fuß, mit der Spitze nach unten, vor dem linken überkreuzt und warf einen tadelnden Blick auf Alicia.
„Was?“, fragte diese arglos, ohne aufzuschauen.
„Was ist genau die richtige Frage. Genauer, was machst du eigentlich noch hier?“ entgegnete Katie spitz.
Jetzt sah Alicia endlich von Ihrem Schreibtisch auf. Er war, wie so oft, übersäht mit Papieren unterschiedlicher Größe. Für jemanden, der sie nicht kannte, musste das ziemlich wild und unorganisiert aussehen, doch genau das Gegenteil war der Fall. Sie machte gerade die Buchhaltung. Ihr Chef, ein ziemlicher Chaot, brachte die Rechnungen nie in der richtigen Reihenfolge und meist erst kurz vor knapp zu ihr. Dann musste sie diesen Wust aus Papier erst einmal gründlich sortieren. Dabei hatte Katie sie gerade unterbrochen.
„Ich mache die Buchhaltung“, sagte Alicia – als ob Katie das nicht sehen konnte. „Du weißt, am Montag muss das fertig sein. Wie du siehst, muss ich erst mal etwas Ordnung in dieses Chaos bringen.“
„Mir ist schon klar, dass du mit der Buchhaltung beschäftigt bist. Die Frage war eher: Warum jetzt noch? Und wenn ich mal dezent anmerken darf, das sieht nicht danach aus, als ob du in nächster Zeit damit fertig wirst.“ Wieder warf Katie ihr einen drohenden Blick zu.
Alicia wusste schon, worauf diese Unterhaltung hinauslaufen würde. Es war Freitagabend 18:00 Uhr. Alle anderen hatten die Firma schon für ihr wohlverdientes Wochenende verlassen. Nur Katie und sie waren noch da.
Seit Gregs Tod hatte sie sich verbissen in ihre Arbeit als Sekretärin gestürzt. Zum Glück gab es immer etwas für sie zu tun. So bekam Alicia ihr Leben wieder halbwegs in den Griff. Na ja, für andere sah es zumindest so aus. Es gab eine Zeit, da drohte die Trauer ihr den Verstand zu rauben. Ihre Arbeit wurde alles für sie. Ihr Chef sah das natürlich gern. Klar, welcher Chef würde sich schon über einen Mitarbeiter beschweren, der klaglos Überstunden machte – freiwillig, ohne Lohnforderungen zu stellen. So betrachtet könnte man sie für ziemlich dumm halten, doch ohne diese Ablenkung hätte sie das letzte Jahr niemals überstanden. Im Büro es war ohnehin nicht so schlimm. Ständig klingelte das Telefon oder ihr Chef brauchte etwas von ihr. Da war für Ablenkung gesorgt. Zu Hause jedoch wurde sie von der Trauer fast zerdrückt. Besonders unerträglich waren die Wochenenden. Die schreckliche Leere zehrte sie aus, wollte sie überwältigen. Am Anfang war es besonders schlimm. Da hatte sie sich oft Arbeit mit nach Hause genommen. Die Monate vergingen, Schmerz und Einsamkeit wurden zur Gewohnheit - fast ertragbar. Trotzdem arbeitet Alicia abends so lang, bis ihr die Augen zufielen. Diese Taktik konnte und wollte sie nicht aufgeben. Meist ging sie erst um 20:30 Uhr oder 21:00 Uhr aus dem Büro. Auf dem Heimweg holte sie sich noch ein Sandwich aus dem Deli. Daheim schlüpfte sie noch schnell unter die Dusche, dann ging’s ins Bett. Meist war sie zu müde, um noch einen Gedanken an das leere Bett neben ihr zu verschwenden. Freilich funktionierte dieser Trick erst ein paar Wochen nach dem entsetzlichen Verlust und leider auch nur bedingt. Gegen den Albtraum half er nicht ...
„Hallo, Erde an Alicia, Erde an Alicia. Was ist jetzt?“ Katie zappelte ungeduldig vor Alicias Schreibtisch herum.
Alicia riss sich aus ihren Gedanken. „Was meinst du mit ‚was ist jetzt’“, erkundigte sie sich vorsichtig. Eigentlich war auch so klar, was ihre Freundin von ihr wollte. FEIERABEND! Ja, man durfte sich diese Forderung wirklich in großen, fett gedruckten Buchstaben vorstellen.
„Frag nicht so dumm. Du weißt genau, was ich meine. Mach Feierabend. JETZT!“ Das letzte Wort hatte Katie mit so viel Nachdruck gesprochen, dass es förmlich im Raum zu schweben schien, wie eine Gewitterwolke.
„Ja, mir ist schon klar, was du denkst, aber ich muss die Buchhaltung wirklich noch fertig machen.“ Alicia sah ihre Freundin flehentlich an. „Du weißt, wie viel am Montag immer los ist. Da komme ich unmöglich dazu und bis Montagabend müssen die Zahlen beim Finanzamt sein.“ Na ja, das war ein wenig übertrieben. Schließlich gab es noch die Möglichkeit eine Schätzung abzugeben oder um eine Fristverlängerung zu bitten. Das musste sie Katie jedoch nicht unbedingt auf die Nase binden.
„Ach und wenn du nicht fertig wirst, geht vermutlich die Welt unter?“, fragte Katie sarkastisch.
„Nein, natürlich nicht, aber es werden Säumniszahlung fällig. Die will ich natürlich verhindern.“ Warum verteidigte ich meinen Chef eigentlich so vehement?, dachte Alicia. Wenn er mir die Unterlagen rechtzeitig geben würde, wäre der Fälligkeitstermin kein Problem. Wie immer musste ich ihm erst mit dem Termin drohen, bevor er sich aufraffen konnte, mir alle Rechnungen zur Verfügung zu stellen. Genau genommen war es also seine Schuld, dass es immer so knapp wurde. Doch das beabsichtigte sie nicht Katie auf die Nase binden. Brauchte sie auch nicht. Das hatte Katie auch ohne ihren Hinweis längst herausgefunden.
„Wie wäre es dann, wenn unser Chef dir zur Abwechslung die Unterlagen einfach mal ein wenig früher geben würde? Dann könntest du pünktlich Feierabend machen, wie jeder andere auch und müsstest nicht dein halbes Wochenende mit dem Zeug hier verbringen.“ Wieder ein tadelnder Blick von Katie. „Vielleicht ist es ja ganz heilsam, wenn du es diesmal nicht schaffst.“
Oh Mann, auf den Vorschlag hatte Alicia gewartet. Fast schon ein K.O. Was konnte sie darauf noch einwenden? Dass so etwas herzlos wäre? Ha, ha, das nahm ihr nun wirklich niemand ab, ihre beste Freundin und Arbeitskollegin schon zweimal nicht. Dass ihr Job in Gefahr wäre, wenn sie es nicht schaffen würde? Wohl kaum, wer entlässt schon eine Arbeitskraft, die ohne Murren oder Gehaltsforderungen Überstunden schrubbt. Bisher hatte sie ja immer alles geregelt bekommen, egal, wie absurd knapp es war. Diese eine Verspätung konnte sie sich daher guten Gewissens erlauben. Vielleicht sollte sie wirklich mal einen dezenten Hinweis, auf die immer knappere Terminplanung platzieren. Ihr Chef schien sich ganz darauf zu verlassen, dass sie mit ihren Überstunden alles wieder hinbog. Wahrscheinlich war es wirklich an der Zeit die Bremse zu ziehen, um es nicht völlig aus dem Ruder laufen zu lassen. Aber Alicia hatte noch einen Trumpf auf der Hand.
„Ich kann das hier unmöglich so liegen lassen. Stell’ dir vor, es kommt jemand ins Zimmer und ein Zettel wird auf den Boden geweht. Die Putzleute entsorgen ihn vielleicht, weil sie ihn für Abfall halten. Was, wenn es sich dabei um eine wichtige Quittung handelt? Ich muss wenigstens die Papiere hier auf dem Schreibtisch noch fertig sortieren und abheften. Die Buchungen kann ich ja am Montag machen.“ Bingo. Alicia hörte Katie knurren, anschließend einen tiefen Seufzer. Sie hatte gewonnen. Katie ergab sich ihrem Schicksal.
„Na gut, dann helf’ ich dir halt, damit du wenigstens vor Mitternacht aus dem Büro kommst. Sag mir was ich tun soll“, seufzte Katie resigniert.
Oha, damit hatte Alicia nicht gerechnet. In den Abendstunden konnte sie konzentriert und in Ruhe arbeiten. Doch Katie hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie heute früher aus dem Büro zu bekommen. Scheinbar führte kein Weg daran vorbei, als sich bei der Arbeit helfen zu lassen.
„Die Quittungen müssen alle sortiert werden, nach Eingangs- beziehungsweise Ausgangsdatum und auch nach Uhrzeit.“
„Toll“, stöhnte Katie, machte sich aber gleich an die Arbeit.
„Wir werden die Quittungen erst mal nach Tagen sortieren. Jeder Tag gibt einen Stapel. Dann kann sich jeder einen Stapel schnappen und diesen nach Uhrzeit sortieren“, gab Alicia die Anweisung.
Zu zweit war der Schreibtisch jetzt natürlich nicht mehr groß genug, also wurde einfach eine Reihe auf dem Fußboden angelegt. Mit Katies Hilfe ging es tatsächlich erstaunlich schnell vorwärts. Schon um 18:45 Uhr war alles sortiert und fein säuberlich abgeheftet. Katie drängelte bereits, damit es endlich in das ersehnte Wochenende ging. Oder vielmehr, in das von Katie ersehnte Wochenende. Für Alicia gab es nichts, wonach sie sich sehnen konnte, also versuchte sie Zeit zu schinden. Noch schnell die Sprudelflasche leer trinken. Ach ja, die Kaffeetasse musste sie auch noch spülen. Computer herunterfahren und Kleinigkeiten in der Handtasche verstauen.
Katie wurde langsam wirklich sauer. Natürlich fiel ihr Alicias Verzögerungstaktik auf. Als die Freundinnen endlich die Firma verließen, war es schon 19:00 Uhr.
Immer noch viel zu früh, dachte Alicia. Was sollte sie nur mit der vielen Zeit anfangen. So früh konnte sie nun wirklich nicht ins Bett gehen …
Alicia hätte sich keine Sorgen machen brauchen. Katie wusste genau, wie der weitere Abend verlaufen sollte. Eigentlich überlegte sie schon seit ein paar Wochen, was sie mit Ihrer Freundin anstellen sollte. Sicher, sie verstand gut, dass für Alicia eine Welt zusammengebrochen war.
Ihre Freundin hatte mit Greg einen echten Traummann gefunden. So etwas gab es eigentlich nur in diesen schrecklich kitschigen Liebesromanen. Sie selbst hatte eher Pech mit ihren Partnern, Katie freute sich jedoch für ihre Freundin.
Dann der schreckliche Unfall, welcher Greg so plötzlich aus dieser Welt riss. Selbst Katie empfand es als tragisch. Daher wollte sie ihre Freundin auch nicht drängen. Sie ließ ihr Zeit – viel Zeit.
Aber was genug war, war genug. Nun war mehr als ein Jahr vergangen, doch Alicia konnte sich immer noch nicht aus ihrer Trauer befreien. Katie wusste, dass sie eingreifen musste, um etwas zu ändern.
Also hatte sie für heute Abend einen „Mädelsabend“ mit Kino geplant. Morgen wollte sie Ihre Freundin erst mal zum Shopping schleppen. Abends stand ein Besuch in einer Bar oder einem Club an. Für Sonntag hatte sie zwei Plätze beim Single Sonntagsbrunch reserviert. Sicher würden sich so kurzfristig keine Alternativen ergeben, aber so kam ihre Freundin wenigstens mal wieder unter Menschen.
So weit der Plan. Bloß wie sollte sie den Alicia schmackhaft machen? Sie fürchtete eine lange Diskussionsrunde, so lang, dass der Kinoabend für heute ausfallen musste.
Hier half nur die Salamitaktik. Erst mal nur einen Teil des Plans bekannt geben. Kino war schließlich recht harmlos. So konnte sich Alicia wieder an die Gesellschaft anderer Leute gewöhnen. Das war ja nicht zu viel verlangt, oder?
Also machte Katie beim Verlassen des Gebäudes den mutigen Versuch, in das Schneckenhaus ihrer Freundin einen Zugang zu finden.
„Ähm, Alicia, es hatte einen Grund, warum ich vorhin zu dir ins Büro gekommen bin“, begann Katie ganz vorsichtig. Ein tiefer Seufzer von Alicia folgte. Das würde nicht einfach werden. „Na ja, es ist halt so lange her, dass wir zwei was zusammen unternommen haben.“
Alicia holte tief Luft und wollte gerade zur Gegenwehr ansetzen, als Katie ihr zuvor kam. „Ja, ich weiß, du hast keine Lust. Ohne Greg macht das eh alles keinen Spaß und überhaupt bist du müde, willst nur nach Hause, noch was essen und dich endlich mal wieder richtig ausschlafen.“
Das waren ziemlich schwere Geschütze, die Katie gegen ihre Freundin auffuhr. Sie wollte diese Diskussion allerdings ausnahmsweise mal gewinnen. Also nannte sie gleich alle Gegenargumente. So plante sie ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Alicia hatte einen recht scharfen Verstand. Sie fand auch in fast aussichtslosen Situationen immer ein Argument, mit dem sie ihren Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Katie war es jedoch so wichtig ihre Freundin zurück ins Leben zu bringen. Sie hatte das Gefühl, dass Alicia mit dem Tod ihres Mannes ebenfalls gestorben war. Zumindest in emotionaler und sozialer Sicht war das sicher der Fall. Sie musste es einfach versuchen, daher begann sie die Gegenargumente zu entkräften.
„Alicia, bitte sei doch mal ehrlich. Es ist kurz nach 19:00 Uhr, also wirklich noch zu früh, um ins Bett zu gehen. Wenn ich so lange warte, bis du wieder Lust hast was zu unternehmen, dann bin ich wahrscheinlich schon kompostiert. Klar mit Greg war alles viel schöner, aber ich habe ja auch nichts Weltbewegendes geplant. Ich dachte, wir schauen uns zusammen was im Kino an. Du darfst den Film aussuchen. Wenn du Lust hast, können wir danach noch was trinken gehen, müssen wir aber nicht. Du kannst nach dem Film gerne nach Hause. Na, wie klingt das?“
Wie sollte sie Katies Argumente widerlegen? Ihre Freundin musste diesen Abend schon eine Weile geplant haben. Alles war sorgfältig durchdacht. Jetzt konnte ihr eigentlich nur noch irgendein Klischee, wie ‚ich habe Migräne’, helfen aus der Sache raus zukommen. Aber wollte oder vielmehr sollte sie wirklich diskutieren? Katie hatte ja nicht ganz unrecht. Sie war zu nichts mehr zu gebrauchen und lebte wie ein Einsiedler – völlig zurückgezogen. Eigentlich war es ein Wunder, dass Katie immer noch versuchte zu ihr durchzudringen. Ihre anderen Freunde hatten sich nach und nach von ihr abgewandt. Ohnehin waren alle eher mit Greg befreundet gewesen. Niemand konnte Gregs Humor widerstehen. Nach Gregs Tod stand sie diesen Freunden etwas hilflos gegenüber. Keiner wusste, wie man sich verhalten sollte. Dumme Situation. Letztendlich hatte sie sich in ihre Arbeit gestürzt, also verkümmerten diese Kontakte. Sie konnte auch das Mitleid der anderen nicht ertragen. Sie wollte eigentlich selbst den Schmerz vergessen, doch wie konnte sie das, wenn sie ständig die mitleidigen Blicke der anderen auf sich spürte? Noch schlimmer waren jedoch diese wachsamen Blicke. So, als ob jeder auf sie aufpassen müsse, damit sie sich nichts antat. Okay, sie hatte tatsächlich ein oder zwei schwache Momente gehabt. Der Gedanke aufzugeben erschien ihr so viel leichter, als weiterzukämpfen. Sie war aber zu feige gewesen. Oder war es Angst vor Schmerzen? Oder waren es Schuldgefühle Greg gegenüber? Er hätte sicher nicht gewollt, dass sie ihr Leben einfach wegwarf …
Sie wusste es nicht. Was es auch gewesen sein mochte, sie hatte durchgehalten, bis der schlimmste Schmerz vorüber war, und hatte ihr Leben neu organisiert. Ach, wem machte sie eigentlich was vor? Die vielen Überstunden bis in den Abend hatten nichts mit ‚organisiert’ zu tun. Es war nur ihre Form von Flucht.
Also gut, dachte Alicia, ich kann es wahrscheinlich eh nicht ewig raus schieben, dann gehen wir halt heute Abend ins Kino.
So einfach wollte sie es ihrer Freundin jedoch nicht machen. Um ihren Unmut über diesen Überfall klar zur Schau zu stellen, verzog Alicia ihr Gesicht zu einer Leidensmiene erster Güte.
„Also gut, wenn du willst“, antwortete Alicia wenig begeistert. Katie zog eine Augenbraue hoch. Offensichtlich war sie überrascht, wie schnell sie dem Vorschlag zustimmte. So schnell wollte Alicia jedoch ihre Freundin nicht vom Haken lassen. „Aber vorher muss ich noch heim – mich duschen und umziehen. Gegessen haben wir auch noch nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob das für heute Abend nicht ein bisschen viel wird. Verschieben wir das Kino doch auf morgen.“
Ha, so was in der Art hatte sich Katie schon gedacht. Erst mal Interesse heucheln und dann irgendeine fadenscheinige Ausrede suchen, um die Sache zu verschieben. Sie kannte die Tricks ihrer Freundin zur Genüge. Auch die Leidensmiene war vorherzusehen gewesen. So schnell gab Katie aber nicht auf.
„Wozu duschen, du arbeitest in einem klimatisierten Büro. Erklär’ mir also nicht, dass du verschwitzt bist. Und warum willst du dich umziehen? Was du anhast ist doch ganz passabel.“
Das meinte sie wirklich ernst. Alicia bevorzugte ein Businessoutfit mit einer Kombination aus Rock und Blazer oder Hose und Blazer, je nach Jahreszeit. Dazu trug sie, entsprechend der Temperatur, eine Bluse oder einen Pulli. Alles ganz klassisch in neutralen Farben. Das eignete sich auch hervorragend zum Ausgehen ins Kino. Heute trug sie einen grauen Zweiteiler mit einer zart rosa Bluse, die ihre Gesichtsfarbe ein wenig rosiger wirken ließ. Ihr leicht gebräunter Teint war verblasst, da Alicia sich am Wochenende in ihrer Wohnung verkroch. Die vielen Überstunden bis in den Abend taten ein Übriges. Im Neonlicht des Büros sah sie jetzt schon fast kränklich aus. Katie wusste, dass Alicia auch Make-up verwendete, um die dunklen Ringe unter den Augen zu überschminken. Sicher schlief Alicia immer noch schlecht und hatte Albträume. Die Bluse war wohl dazu gedacht, den blässlichen Teint etwas aufzubessern. Nun ja, das mit den Albträumen würde schwer zu ändern sein, aber vielleicht wurden diese auch besser, wenn Alicia sich wieder unter Menschen traute. Eventuell lernte sie ja jemanden kennen, der sie ein wenig von ihrer Misere ablenkte.
„Was das Essen angeht, können wir entweder ein Sandwich aus deinem Deli besorgen oder wir holen uns im Kino was. Wie wäre es mit einer schönen Portion Chilli-Cheese Nachos als Vorspeise und einer ordentlichen Portion Popcorn als Hauptgericht? Wenn du magst, gerne auch noch ein Eis als Nachspeise. Dann können wir direkt von hier zum Kino fahren. Du bist ja eh mit dem Bus gekommen. Wir fahren einfach mit meinem Auto. Nach dem Kino bringe ich dich heim. Okay?“
Alicia brummelte etwas Unverständliches vor sich hin, das ihren gedämpften Enthusiasmus zum Ausdruck bringen sollte. Wie sie es sich schon gedacht hatte. Alles war gründlich geplant und Gegenwehr zwecklos. Der Tag ‚X’ war gekommen. Ihrer Freundin wurde es zu bunt mit ihrem Einsiedlerdasein. Doch etwas stimmte nicht. Sie hätte von ihrer Freundin mehr erwartet als nur Kino. Nun ja, vielleicht handelte es sich nur um die Ouvertüre. Alicia seufzte erneut. Jetzt war sie sich jetzt sicher, dass der heutige Abend noch nicht alles sein konnte. Warum sollte Katie auch sonst so drängeln. Wahrscheinlich hatte sie für morgen auch schon was geplant. Aber es half alles nichts. Wenn sich ihre Freundin etwas in den Kopf setzte, konnte sie erstaunlich stur und hartnäckig sein.
Katie war 33 Jahre und damit nur knapp ein Jahr jünger als Alicia. Sie kannten sich schon seit ihrer Schulzeit. Alicia hatte Katie zwar während des Colleges für ein paar Jahre aus den Augen verloren, jedoch durch einen Zufall hier in San Diego wieder getroffen.
Alicia arbeitete nach dem College, mit dem Schwerpunkt Wirtschaft, als Sekretärin, war aber auf der Suche nach einem anderen Arbeitgeber. Ihr Boss hatte eine zu offensichtliche Neigung für sein weibliches Personal, welche immer grenzwertig nah an der sexuellen Belästigung entlang schrammte. Alicia zog sich auch damals schon eher konservativ „businesslike“ an, trotzdem waren die Blicke des Chefs eindeutig und die Sprüche dafür eher zweideutig.
Katie arbeitete schon damals als Personalmanagerin bei ‚Hernandez Time-Work Agency’. Ihr Chef Senior Hernandez war, wie es sich für einen gebürtigen Mexikaner gehörte, ein ziemlicher Macho. Wenn es jedoch um das heikle Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ging, war er außerordentlich korrekt. Das erwartete er auch bedingungslos von allen seinen Angestellten.
Erleichtert von ihrem etwas zu direkten Boss weg zu kommen, hatte Alicia die Möglichkeit zum Wechsel ergriffen. Nun arbeitete sie Sekretärin in derselben Firma wie ihre Freundin. Gut, da gab es noch die Sache mit den Unterlagen. Egal ob es offizielle Briefe waren, die mit einer Frist beantwortet werden mussten oder eben die Buchhaltung, alles kam viel zu spät. Ihr Chef hatte nun mal ein mexikanisches Gemüt und das bedeutete, dass viele Dinge „mañana“, also morgen oder besser gesagt, im letzten noch möglichen Moment erledigt wurden. Mit dieser Eigenart konnte sie aber wesentlich besser umgehen, als mit den so eindeutigen Blicken ihres vorherigen Chefs.
Wieder mal waren ihre Gedanken abgeschweift, doch wenigsten in ungefährlichen Gefilden geblieben. Sie war ihrer Freundin für ihre Geduld wirklich dankbar.
Abendessen, okay. Wie sollte sie sich entscheiden? Heute Abend wurde ohnehin alles umgekrempelt, also konnte sie auch mal was anderes essen.
„Ich denke ich nehme das 3-Gänge-Kino-Menü“, antwortete Alicia schließlich ihrer Freundin.
Katie wurde langsam ungeduldig, doch jetzt durfte sie es nicht übertreiben. Anscheinend ergab sich Alicia ihrem Schicksal. Sie wollte diese Chance nicht durch zu viel Ungeduld ins Wanken bringen. Katie war sich sicher, dass ihre Freundin nicht nur über die Menüauswahl nachdachte. Hoffentlich gingen ihr nicht irgendwelche schönen Momente mit Greg durch den Kopf. Das würde ihrer Melancholie wieder neue Nahrung geben.
Als Alicia endlich ihre Entscheidung bekannt gab, atmete sie spürbar aus. Ihr war überhaupt nicht bewusst gewesen, wie lang sie die Luft angehalten hatte. Aber um ehrlich zu sein, fiel ihr wirklich ein Stein vom Herzen. Die erste Hürde war genommen. Die anderen Pläne waren freilich eine andere Sache, doch immer schön einen Fuß vor den anderen. Heute Abend stand erst mal Kino an. Dabei fiel Katie ein, dass sie noch keinen Film ausgewählt hatte.
„Ähm, hast du dir schon Gedanken gemacht, was wir heute Abend anschauen sollen?“, fragte sie daher vorsichtig. Wie schon erwartet, erschien eine Falte zwischen den Augenbrauen ihrer Freundin. Diese Falte kam immer zum Vorschein, wenn sich Alicia über irgendetwas Sorgen machte. Katie ahnte, worum es ging. Ihre Freundin war wohl ein wenig überfordert mit der Aufgabe.
Alicia hatte natürlich keine Ahnung, welcher Film gerade lief. Viel schwieriger war die Frage, welches Genre ihr zerbrechliches Gefühlsleben wohl am ehesten ertrug. Romanzen, völlig ausgeschlossen … Action, nicht wirklich ihr Geschmack … Komödie, nach Lachen war ihr nun wirklich nicht zumute … Drama, nein danke, hatte sie selber genug …
„Ach, verschieben wir die Entscheidung doch einfach, bis wir im Kino sind und sehen, was läuft“, half ihr Katie aus der Zwickmühle.
Erleichtert atmete Alicia auf. So konnte sie sich erst mal die Kurzbeschreibungen in Ruhe durchlesen, bevor sie sich entscheiden musste.
„Okay“, nickte sie und folgte ihrer Freundin zum Auto.
*~*~*
Die Fahrt zum Kino dauerte nur zehn Minuten, doch die Parkplatzsuche nahm noch einmal zwanzig Minuten in Anspruch. Das ‚United Artists’ Kino, im ‚Horton Plaza’ San Diego, war recht beliebt. Zudem lag das ebenso beliebte Kneipenviertel ‚Gaslamp Quarter’ gleich um die Ecke. Gute Voraussetzungen für viele Leute und wenig Parkplätze.
Als sie endlich, mit viel Glück, einen ergattern konnten, mussten sie sich schon ein wenig beeilen, um zur Achtuhr-Vorstellung noch pünktlich zu sein. Na ja, vorne weg lief ohnehin immer mindestens zehn Minuten Werbung, aber bis jetzt wussten sie ja noch nicht mal, in welchen Film sie gehen wollten.
Katie schlug vor, dass sie schon mal die Verpflegung besorgen würde, während Alicia das Programmangebot studieren sollte.
Alicia schnappte sich ein Programm und blätterte es durch. Viele Filme schieden schon auf den ersten Blick aus, weil entweder ein verliebtes Pärchen das Bild zierte oder irgendwas explodierte. Auch die Namen der Schauspieler verrieten schnell, ob es sich um eine Komödie oder einen Actionfilm handelte. Alicia blätterte ratlos durchs Programmheft, dabei stieß sie auf die Fortsetzung vom ‚Fluch der Bahamas’. ‚Ferne Ufer’ hieß also der vierte Teil. Sie hatte noch nicht mal mitbekommen, dass ein vierter Teil geplant war. Hm, die ersten drei Teile hatten ihr ziemlich gut gefallen. Auch der Humor war eher von der trockenen Sorte, nicht so albern. Alles in allem recht amüsant, ohne zu viel Drama. Alicia entschied, es mit diesem Film zu versuchen. Die Entscheidung ging so erstaunlich schnell, dass sie beschloss, schon mal die Karten zu besorgen. Endlich kam Katie zurück. Sie war hoffnungslos überladen mit dem Essen, lief Alicia ihr schnell entgegen. Sie nahm ihrer Freundin einen Teil ab, bevor es zu einem Unglück und damit zu einer ziemlichen Sauerei kommen konnte. Katie hatte eine Riesenportion Popcorn und ein extragroßes Cola besorgt. Das Popcorn klemmte unterm Arm, das Cola hielt sie in der linken Hand. Dazu versuchte sie zwei Portionen Chilli-Cheese Nachos auf der rechten Hand zu balancieren.
„Sorry, das Eis konnte ich beim besten Willen nicht mehr tragen“, grinste Katie schief. „Außerdem wäre es sowieso schon geschmolzen, bis wir im Kino sind und die Hände zum Essen frei haben.“
Alicia lächelte bei den entschuldigenden Worten und Katies Dackelblick. Du meine Güte, wann hatte sie eigentlich zuletzt gelächelt? Es fühlte sich komisch an. Als ob sich ihre Muskeln erst wieder an diese ungewohnte Bewegung gewöhnen müssten. Alicia erschrak bei diesem Gedanken. Ihr letztes Lächeln lag wirklich schon lang zurück. Vielleicht sollte sie ihrer Freundin gegenüber etwas dankbarer sein und es ihr nicht so schwer machen. Katie war sicher krank vor Sorge, weil sie sich immer noch nicht aufraffen konnte, zur Normalität des Alltags zurückzukehren. Das war sicher auch der Grund für diesen Überfall heute Abend. Umso mehr freute es sie, dass sie Katie mit den Karten überraschen konnte.
„Du hättest die Karten aber nicht holen sollen“, beschwerte diese sich prompt. „Ich wollte dir ja nur die Auswahl des Films überlassen. Der restliche Abend sollte auf mich gehen. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, aber die Schlange war echt endlos lang“ entschuldigte sich Katie zerknirscht.
„Das geht schon in Ordnung“, beruhigte Alicia sie. „Du hast ja schon die Versorgung übernommen, also ist es nur fair, wenn ich die Karten zahle. Außerdem muss ich mich wohl auch entschuldigen. Mir ist erst jetzt klar geworden, wie viel Kopfzerbrechen ich dir die letzten Monate bereitet habe. Ich bin dir für deine Geduld echt dankbar. Die Kinokarten waren wirklich das Mindeste, das ich tun konnte.“ Jetzt war es Alicia, die zerknirscht schaute.
Katie verschlug es erst mal die Sprache. Sie stand einfach nur mit offenem Mund da und suchte perplex nach einer Antwort. Sie wollte ihrer Freundin schließlich keine Schuldgefühle einreden. Ja, sicher, sie hatte sich schon ziemliche Sorgen gemacht. Sie freute sich, dass es ihr gelungen war, Alicia aus dem Büro zu locken. Doch jetzt bekam Katie ein schlechtes Gewissen. Sie musste an die anderen Aktivitäten für dieses Wochenende denken. Ihr Dreistufenplan sah ja weit mehr als diesen Kinobesuch vor. Am Sonntag hatte sie einen ziemlichen Knaller geplant. Andererseits war sie auch froh, dass Alicia sich endlich ihrer Situation bewusst wurde. Also murmelte sie nur „Dazu sind Freundinnen schließlich da“, bevor sie sich in Richtung Kinosaal aufmachte.
Die Filmauswahl war perfekt. Donny Jepp spielte diesen ‚Captain Rob Robin’ einfach herrlich. Sie musste sogar hin und wieder mal lachen. Nun fühlte sie sich so gut, wie schon seit über einem Jahr nicht mehr. Dafür war Alicia ihrer Freundin echt dankbar und verzieh ihr den Überfall im Büro gerne.
Früher war sie gerne ins Kino gegangen. Nicht nur mit Greg. Früher ging sie regelmäßig mit Katie auf einen „Mädelsabend“. Greg schickte sie dafür mit seinen Kumpels zum Baseball. Anschließend ging es immer in eine Bar zur Spielanalyse. Ihr Mann sollte seine Freunde wegen ihr nicht vernachlässigen, also gab es diese geschlechtsspezifischen Unternehmungen.
Katie und sie waren nach dem Kino immer was trinken gegangen. Dabei hatte Alicia immer ein Auge offen gehalten, ob sich für Katie auch was ergeben könnte. Jetzt würde Katie wohl den Spieß umdrehen.
Alicia fühlte sich noch nicht bereit dafür, aber sie wollte ihrer Freundin nicht den Spaß verderben. So ließ sie sich noch zu einer Runde in eine Kneipe überreden.
Alicia war es egal, in welche Kneipe sie gehen würden. Also betraten sie die Erstbeste, die ihnen nach dem Verlassen des Kinos über den Weg lief. Zum Glück lag das ‚United Artists’ so schön zentral. Kaum aus dem Kino raus, Richtung ‚Gaslamp Quarter’, kamen sie schon zum ‚Rock Bottom Restaurant and Brewery’.
Hell, offen und freundlich, lud das Ambiente zum Chillen ein. Katie steuerte zielsicher auf den Tresen zu, um welchen ringsherum Stühle standen. Katie hatte schon ihre Gründe, warum sie in dieses Lokal gingen. Die Atmosphäre würde hoffentlich Alicias Ängste nehmen. Gleichzeitig konnte man sich leicht einen Überblick über die Gäste zu verschaffen. Auch man selbst konnte gut gesehen werden, also ideal um potenzielle Flirtpartner ausfindig zu machen.
Nachdem sie sich auf ihren Plätzen am Tresen niedergelassen und jeder ein kleines Bier bestellt hatte, sah sich Katie ein wenig um. Leider war das Angebot alles andere als vielversprechend. Überwiegend Paare, die kamen genau wie sie aus dem nahen Kino. Einige wenige Geschäftsleute aus dem Civic Center um die Ecke, die sich noch einen Drink nach Feierabend genehmigten. Bürohengste mit Anzug und Krawatte lehnte Katie strikt ab. Wer am Freitag erst so spät aus dem Büro kam, war ein kleines Rädchen im Getriebe und vom Boss wohl zu Überstunden verdonnert worden. Das blieb vermutlich auch kein Einzelfall. Katie wollte Alicia nun wirklich nicht mit einem Workoholic oder Schleimer verkuppeln. Ein echtes No Go.
Die wenigen akzeptablen Singlemänner waren hingegen alle schon im Gespräch mit interessierten Damen. Tja, die waren halt schneller gewesen. Filme mit Überlänge hatten bei so was auch Nachteile. Resigniert sah Katie ein, dass heute Abend wohl kein geeigneter Kandidat im Angebot war.
Wenigstens hat Alicia nicht die Flucht ergriffen. Vielleicht ist es ganz gut, dass heute Abend alles so harmlos ist, dann kann ich sie morgen auch eher zu dem Kneipenbummel überreden, dachte Katie hoffnungsvoll.
Sie selbst war auch noch solo, doch das störte Katie nicht. Sie war stark und unabhängig. Für sie war das Glas immer halb voll, nicht halb leer. Ihr unerschütterlicher Optimismus ließ sie auch so fest daran glauben, dass es für Alicia wieder ein Happy End geben würde.
Dann halt morgen, tröstete sich Katie und wandte sich Alicia zu. Diese betrachtete ihre Umgebung, scheinbar ohne allzu großes Misstrauen.
Auch das sah Katie als gutes Zeichen. Sie ging im Kopf ihre Pläne für den Samstag durch. Zunächst im ‚Hob Nob Hill’ schön frühstücken, dann zum ‚Horton Plaza’ ausgiebig shoppen, im Food Court vom Plaza was essen, anschließend Einkäufe heimbringen und einen Kaffee zum Entspannen. Kurze Pause, anschließend aufbrezeln für das Abendprogramm.
Abends zuerst essen, vielleicht Pizza. Das ‚Sloppy Joey’s’ wäre gut, anschließend auf die Piste. ‚Piste’ war noch nicht ganz definiert. Katie hatte sich mal zwei bis drei Plätze rausgesucht, wollte es jedoch von Alicias Durchhaltevermögen abhängig machen.
Das ‚Whiskey Girl’ sowie das ‚The Field - Irish Pub’ standen ganz oben auf der Prioritätenliste. Das ‚Field’ hatte 2010 sogar eine Auszeichnung als „best pub“ in San Diego erhalten. Na ja, entsprechend voll würde es sein, aber einen Versuch war es wert.
Vielleicht konnte sie Alicia ja auch zu einem Besuch im ‚Fluxx Nightclub’ überreden. Eine Runde abtanzen würde ihr sicher gut tun. Zwar waren, bei dem Geräuschpegel, im Nightclub Gespräche schwieriger, potenzielle Interessenten dafür umso zahlreicher. Besonders im ‚Fluxx’ tummelte sich jeder, der gesehen werden wollte und auch über das nötige Kleingeld dafür verfügte. Es war also nicht der schlechteste Platz, um einen guten Fang zu suchen.
Katie war zwar Optimist, aber auch Realist. Sie erwartete nicht wirklich, dass sich gleich was Passendes ergab, doch immerhin würde sie ihre Freundin mal wieder auf dem Markt präsentieren. So konnte sie außerdem ein Auge auf die Interessenten haben. Schließlich konnte sie es auf keinen Fall verantworten, wenn ein Casanova oder noch schlimmer, ein Perverser, sich an Alicia ran machen würde. Daher musste sie Augen und Ohren offen halten.
Ohnehin versprach sie sich vom Singlebrunch im ‚Holiday Inn on the Bay’ viel mehr. Kultiviertes, ruhiges Ambiente, entspannte Atmosphäre und Singles, die bereit waren 35 Dollar für ein Frühstück hinzublättern. Da sollte doch wenigstens ein Mann dabei sein, der Alicia zumindest in ein Gespräch verwickeln konnte. Alles Weitere brauchte ohnehin Zeit.
Mit ihren Plänen zufrieden, beobachtete Katie weiter, wie Alicia auf ihre Umgebung reagierte, als ob sie ein wertvolles Versuchsobjekt wäre, das man keinen Moment aus den Augen lassen konnte.
Alicia war etwas mulmig zumute, als sie sich an die Theke setzte. Sie wusste nicht, woran es lag. Alles war hell und freundlich, die Bedienung nett und das kleine Bier schmeckte ganz gut. Es war schon eine Ewigkeit her, seitdem sie zuletzt ein Bier getrunken hatte. Genauer gesagt, etwas mehr als ein Jahr, also zeigte das Bier ziemlich schnell seine Wirkung. Langsam entspannte sich Alicia ein wenig und betrachte ihre Umgebung eingehender. Sie war sich des wachsamen Blicks von Katie dabei jederzeit bewusst. Sie wollte ihrer Freundin jedoch ihre Anerkennung für die Bemühung zeigen und ließ daher alles geduldig über sich ergehen. Auch Alicia hatte schnell herausgefunden, dass Katies Hoffnungen wohl enttäuscht werden würden. Es war beim besten Willen kein Kandidat anwesend, mit dem Katie es wagen würde, ihre Verkupplungsaktionen bei ihr zu versuchen.
Erleichtert atmete Alicia aus. Sie konnte wirklich nicht böse auf ihre Freundin sein. Sie wollte ja nur, dass es ihr wieder besser ging. Doch Liebe ließ nicht erzwingen oder mit einem Fingerschnippen herbei wünschen. Ihre Ehe mit Greg etwas ganz Besonderes gewesen war. So ein Glück würde sie kein zweites Mal haben.
Schnell rief sie sich zur Ordnung. Ihre Gedanken bewegten sich schon wieder gefährlich nah in eine Richtung, die sie heute Abend wirklich nicht gebrauchen konnte. Also versuchte sie ihre Gedanken bewusst in eine andere Richtung zu lenken. Am Besten schien ihr dafür der Kinobesuch geeignet zu sein. Donny Jepp war zwar nicht der klassische, strahlende Held, aber er hatte das besondere Etwas, welches er auch in seine Interpretation des ‚Captain Rob Robin’ legte. Ihrer Ansicht nach stand oder fiel der Film mit Donny Jepp. Sie musste über die eine oder andere Szene schmunzeln, als sich ihre Gedanken wieder mal ungefragt auf den Weg zu einem anderen Thema machten.
Kaum war das Licht zum Hauptfilm ausgegangen, kam eine merkwürdige Spannung im Raum auf. Alicia konnte diese Spannung nicht so recht zuordnen. Sie schien von ihrem Nachbarn auszugehen. Das konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären. Immer wieder warf sie kurze Blicke in seine Richtung. Viel konnte man in der dämmerigen Beleuchtung ohnehin nicht ausmachen. Der Mann schien allein da zu sein, da der Platz neben ihm leer blieb. Sein Gesicht hatte ein klassisches Profil, das man auch in einem römischen Mosaik oder auf einer griechischen Vase hätte finden können. Die Augen scheinen in diesem schummerigen Licht richtig zu funkeln, doch das konnte auch eine Sinnestäuschung sein, hervorgerufen durch das Licht von der Leinwand. Angezogen war der Mann komplett in Schwarz, schwarzer Trenchcoat, schwarzer Rolli, schwarze Jeans, schwarze Sneaker. Er sah deswegen jedoch keineswegs unheilvoll oder düster aus. Ihrer Meinung nach unterstrich es nur die zarte, helle Haut des Mannes und das blonde Haar, das im Halbdunkel fast golden wirkte. Leicht gelockt entsprach es ebenfalls dem klassischen Schönheitsideal. Bei dem Aussehen handelte es sich sicher um ein Modell für eine Modezeitung. Welcher andere Mann würde in diesen Klamotten sonst so gut aussehen.
Etwas überrascht von diesen Überlegungen hatte sie sich wieder dem Film zugewandt. Am Ende des Films hatte es ihr Nachbar ziemlich eilig. Schon beim ersten Ton des Abspanns verließ er den Saal. Eigentlich war das Thema damit für sie abgehakt gewesen. Alicia wunderte sich, warum sich ihre Gedanken jetzt in diese Richtung bewegt hatten. War dies vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie langsam über den Tod von Greg hinwegkam?
Nun nahm Alicia ihre Umgebung wieder etwas bewusster wahr und sah eben jenen Mann durch das Lokal laufen. Er blickte sich um, als ob er jemanden suchen würde. Dabei schossen ihr zwei Gedanken durch den Kopf. Erstens: Er sah wirklich so gut aus, wie sie schon im Kino vermutet hatte. Zweitens: Sein Verhalten wirkte etwas seltsam. Sie wusste wirklich nicht, wie sie auf solche merkwürdigen Überlegungen kam. Das Bier hatte Alicia jedoch schon genügend entspannt, so zerbrach sie sich nicht weiter den Kopf über diese Dinge.
Das Bier zeigte aber auch noch eine andere Wirkung bei ihr. Wenig begeistert merkte Alicia, dass sie wohl die Örtlichkeiten hier aufsuchen sollte. Sie bat Katie auf ihren Blazer aufzupassen, während sie zur Toilette ging. Der Alkohol schien ihr Temperaturempfinden in die Höhe zu treiben, zumindest war ihr plötzlich ganz heiß. Mit diesen Gedanken machte sich auf die Suche nach der Damentoilette.
Erst wollte sie eine Bedienung ansprechen, sah dann jedoch eine andere Dame nach hinten durchs Lokal laufen und folgte ihr einfach. Bingo, die Toiletten lagen ganz hinten versteckt. Bingo hätte man auch zu der Schlange davor sagen können. Alicia grollte innerlich. Es gab vermutlich keine Frauentoilette auf dieser Welt, vor der es keine Schlange gab. Da ihr ohnehin nichts anderes übrig blieb, stellte sie sich also brav an.
Das Bier hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Sie hoffte inständig, dass die anderen Damen sich beeilen würden.
Während sie in der Schlange stand, blieb ihr etwas Zeit ihre Umgebung von dieser Seite des Lokals zu betrachten. Es interessierte sie nicht sonderlich, wer sich sonst noch hier aufhielt, aber es lenkte sie ein wenig vom Warten ab. Wieder fiel ihr auf, wie viele Paare da waren. Natürlich fiel ihr Blick noch einmal auf den hübschen Mann aus dem Kino. Dieser hatte sich im hinteren Teil des Lokals an einen Tisch gesetzt und sah in ihre Richtung. Alicia wollte gerade, peinlich berührt wegschauen, doch der Mann schaute sie gar nicht an. Sein Blick schien eher unfokussiert, als ob er nachdachte und auf nichts Bestimmtes schaute. Das gab ihr die Möglichkeit, sich das Gesicht des Unbekannten noch einmal genauer anzusehen. Die Haut war wirklich ungewöhnlich zart und hell. Doch diese Blässe wirkte nicht kränklich, im Gegenteil. Die Wangen waren zart rosé. Insgesamt machte der Mann einen unglaublich gesunden Eindruck – das blühende Leben, wie man so schön sagte. Auch seine Augen schienen hier, im Licht des Lokals, völlig normal zu sein. Zumindest fiel ihr nichts Ungewöhnliches aus dieser Entfernung auf. Sie wurde von ihrer Hinterfrau, durch ein leichtes Tippen auf die Schulter, aus ihren Gedanken geholt. Die Schlange vor ihr hatte sich aufgelöst. Sie würde als Nächste dran sein.
Wieder öffnete sich die Toilettentür. Endlich war sie an der Reihe. Erleichtert schloss sie die Tür hinter sich. Aus Rücksicht auf die anderen Wartenden verrichtete ihren Gang so schnell wie möglich. Wieder grollte sie. Natürlich gab es, wie vermutet, nur eine Toilette. Kein Wunder, da musste sich ja zwangsläufig eine Schlange bilden.
Sie nahm sich gerade ein Handtuch aus dem Spender, als ihre Gedanken wieder zu dem Unbekannten drifteten. Er war wirklich eine ungewöhnliche Erscheinung. Warum war ein so gut aussehender Mann am Freitagabend alleine unterwegs? Verwundert schüttelte Alicia den Kopf. Was machte sie sich eigentlich darüber Gedanken? Das ging sie nun wirklich überhaupt nichts an.
Beim Verlassen der Toilette fiel ihr auf, dass der Mann nichts bestellt hatte und schon wieder zu gehen schien. Ein wirklich ungewöhnliches Verhalten, aber auch das ging sie nichts an.
Die Warterei in der Schlange hatte eine ganze Weile in Anspruch genommen. Alicia warf einen Blick auf die Uhr. Sie war jetzt wirklich bettreif. Auf dem Weg zurück zu ihrem Platz überlegte sie, wie sie dies Katie schonend beibringen konnte. Der Film hatte Überlänge gehabt, daher hatten sie erst um 22:30 Uhr das Kino verlassen. Mittlerweile war es schon nach 23:00 Uhr. Nach einer langen und selbst verschuldet arbeitsreichen Woche war Alicia echt müde. Das ungewohnte Bier tat ein Übriges, um ihr die nötige Bettschwere zu geben. Als sie zurück an ihren Platz kam, stellte sie erleichtert fest, dass Katie bereits bezahlte. So konnten sie gleich gehen. Zum Glück stand das Auto nur einen Block vom ‚Horton Plaza’ entfernt. Es würde also nicht allzu lange dauern, bis sie zu Hause war.
Als Alicia zur Toilette verschwand, warf Katie mal einen Blick auf die Uhr. Schon kurz nach 23:00 Uhr, für Alicia sicher eine ungewohnt späte Uhrzeit. Gut, morgen konnte es eventuell noch etwas später werden. Das wollte sie jedoch ganz von ihrer Freundin abhängig machen. Sie wollte sie zwar wieder zurück ins Leben und auf die Piste bringen, aber nicht mit aller Gewalt. Solange sich Alicia kooperativ verhielt und bereit war, sich ein wenig zu amüsieren oder zumindest ein wenig ablenken zu lassen, war es Katies Ansicht nach für dieses Wochenende genug. Sie wollte ihre Freundin nicht auf Biegen oder Brechen bis in die frühen Morgenstunden durch die Clubszene von San Diego zerren. Wenn sie heute bereits so lange ohne zu murren durchhielt, würde sie es morgen wohl sicher bis Mitternacht schaffen. Das sollte für ihre Planungen genügen. Also beschloss Katie schon mal zu bezahlen.
Katie gab der Bedienung gerade das Geld, als Alicia wieder an ihren Platz kam. Sie sah müde aus. Kein Wunder nach den vielen Überstunden, die sie immer machte. Sie schien auch einen recht nachdenklich zu sein. Dies wunderte Katie zwar, andererseits war es nicht ungewöhnlich für ihre Freundin über etwas nachzugrübeln.
„Da bist du ja wieder“, begrüßte Katie ihre Freundin. „Na, mal wieder ’ne lange Schlange vor dem Klo?“ Bei dieser Bemerkung konnte sich Katie ein Grinsen nicht verkneifen. Die Schlange vor der Damentoilette war so etwas wie eine universelle Gesetzmäßigkeit. „Ich hab schon mal gezahlt, da es schon spät ist. Magst du noch austrinken oder sollen wir gleich gehen?“
„Danke fürs Bezahlen und gleich gehen hört sich wirklich gut an“, antwortete Alicia. „Ich hatte auch schon darüber nachgedacht zu gehen, aber befürchtet, dass es dir noch zu früh ist.“
Ob das alles war, worüber sie gegrübelt hatte, wunderte sich Katie beiläufig, sagte jedoch nichts dazu. „Also dann. Du weißt, ich fahr dich heim.“ Sie sah, wie Alicia Luft holte, um zu einer Antwort ansetzen, also schob sie noch schnell ein „und versuch erst gar nicht mir das auszureden“ hinterher.
„Keine Sorge ich wollte nur sagen, dass ich echt froh bin, jetzt nicht mehr auf den Bus warten zu müssen“, antwortete sie schnell, bevor ihre Freundin noch andere Vermutungen anstellen konnte. Normalerweise fuhr sie gerne mit dem Bus, aber um diese Uhrzeit war ein Auto wirklich nicht übel. Die einzige Alternative wäre ein Taxi gewesen, doch das hätte ihre Freundin sicher vor den Kopf gestoßen. Sie war ehrlich froh über die Mitfahrgelegenheit. Sie wohnte nicht wirklich weit von Down Town entfernt. Prinzipiell hätte man die Strecke sogar zu Fuß zurücklegen können. Vom ‚Horton Plaza’ zu ihrem Haus, das etwas versteckt, hinter der West Palm Street lag, waren es weniger als zwei Kilometer. Zu Fuß und mit einem ordentlichen Schritt konnte man das in einer halben Stunde schaffen.
„Komm, gehen wir, mir fallen langsam wirklich die Augen zu“, munterte sie Ihre Freundin auf und ging zur Tür.
Katie folgte ihr, zog jedoch eine Augenbraue hoch. Sie erwartete einen weiteren Kommentar von Alicia. Als Alicia nichts weiter sagte und vor dem Lokal den Weg zum Wagen einschlug, zuckte Katie mit den Schultern. Sie beschleunigte ihren Schritt, um neben Alicia zu laufen.
Das Bett schien wirklich eine sehr einladende Idee zu sein, stellte Alicia mit leichtem Amüsement fest. Sie schlug unbewusst ein ziemlich zügiges Tempo an. Obwohl sie mit 162cm eher klein war, hatte sie sich einen forschen Schritt angewöhnt. Sie konnte mühelos Leuten folgen, die einen Kopf größer waren, als sie selbst. ‚Der Stall ruft’ hatte ihre Mutter das genannt, wenn sie so offensichtlich nach Hause wollte. In diesem Fall rief wohl eher das Bett, schmunzelte Alicia. Kurz darauf kamen sie am Auto an und stiegen ein.
Katie ließ den Wagen an, kurbelte das Fenster auf, um die Wärme vom Tag nach draußen zu lassen und reihte sich in den Verkehr ein.
Nur sieben Minuten später bogen sie in den kleinen Zufahrtsweg ein, der zu Alicias Haus führte. San Diego war mit mehr als 1,3 Millionen Einwohner nicht eben eine Kleinstadt. Im gesamten Einzugsgebiet lebten sogar drei Millionen Menschen, dennoch gab es etliche Ecken mit fast ländlichem oder zumindest kleinstädtischem Flair. Ihren Stadtteil ‚Park West’ fand Alicia auf jeden Fall sehr schön. Hier hatten sich einige der alten Häuser aus dem 19. Jahrhundert erhalten, die harmonisch zwischen den neueren Bauten lagen. Mit einem schönen Blick auf die San Diego Bay gab es hier alles, was Alicia brauchte. Nur wenige Straßen entfernt lag der Balboa Park, einer der schönsten Stadtparks in den USA. Ihr Häuschen lag ein wenig abseits der Straße. Diese war eine Sackgasse und damit nur wenig befahren. So hatte sie es wirklich recht ruhig bei sich. Ihr kleiner Garten machte die Lage sehr idyllisch. Zwar lag die Einflugschneise des Flughafens nur etwa sechs Blocks von ihrem Haus entfernt, allerdings flogen die Flugzeuge geradezu aberwitzig tief. Die Bäume, die ihr Haus umgaben, schützten es so vor dem Lärm. Sie liebte dieses Haus, wie es sich so hinter den Bäumen versteckte. Schon bei der ersten Besichtigung, zusammen mit Greg, hatte sie sich spontan in das Haus verliebt. Es war nicht übermäßig groß, aber auch nicht gerade klein. Eine ordentliche Kinderschar hätte in dem Haus schon Platz gefunden, doch leider waren Greg und ihr keine Kinder vergönnt gewesen. Manchmal überlegte sie, was Kinder geändert hätten. Mit ihnen wäre sie nicht so einsam gewesen. Sie hätte eine Aufgabe, ein Ziel gehabt, wenn sie nach Hause kam. Für die Kinder wäre es jedoch schrecklich gewesen den Vater zu verlieren. Vielleicht war es daher besser, so wie es jetzt war, ohne Kinder.
Als Alicia ausstieg, bedankte sie sich noch einmal bei Katie. „Ich fand den Abend heute gar nicht so schlecht. Ich glaube ich hatte nur Angst auszugehen, weil sich das ohne Greg so komisch anfühlt. Danke, dass du an mich gedacht hast und mich nicht abgeschrieben hast, wie alle anderen.“
„Schön, dass es dir gefallen hat“, antwortete Katie erleichtert. Vielleicht war Alicia endlich bereit etwas zu ändern. Also beschloss sie ihren Plan für den Samstag schon heute Abend bekannt zu geben. „Ich dachte grad, wir könnten morgen zusammen frühstücken und danach ein wenig shoppen gehen. Was hältst du davon? Im ‚Horton Plaza’? Da können wir uns auch einen kleinen Snack zu Mittag holen.“
Das Abendprogramm sollte sie wohl besser zu einem späteren Zeitpunkt verkünden. Weniger war manchmal mehr.
Alicia dachte kurz über diesen Vorschlag nach. Einkaufsbummel – Kleider, Schuhe oder Accessoires kaufen. Ihr Kleiderschrank war voll, ein bisschen zu voll sogar, sie brauchte eigentlich nichts Neues. Andererseits wäre es wirklich schön, mit Katie ganz entspannt bummeln zu gehen. Das war es eine willkommene Ablenkung. Daheim fiel ihr am Wochenende meist die Decke auf den Kopf. Unwillkommene Erinnerungen drängten sich dann an die Oberfläche. Shoppen wäre zumindest vernünftiger, als zu Hause die eigenen Depressionen zu hätscheln. Gleichzeitig wurde Alicia klar, dass Katie nun so langsam mit ihren Plänen rausrückte. Aha, Salamitaktik. Na ja, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Also beschloss sie ihrer Freundin zu vertrauen und sich zur Abwechslung einfach mal treiben zu lassen. Wie sie schon früher am Abend überlegt hatte: Wenn schon Abwechslung, dann richtig.
„Ich habe schon geahnt, dass es einen Grund hat, warum du so darauf bestanden hast heute Abend ins Kino gehen. Lass mich raten, du hast noch ein paar Pläne für dieses Wochenende.“ Alicia sah Katie streng an. Sie konnte sich ein Grinsen gerade noch verkneifen. Ihre Freundin sollte ruhig noch ein wenig zappeln.
Katies Miene wurde sofort ganz schuldbewusst. Sie zog die Mundwinkel zu einem leicht gequälten, schiefen Lächeln hoch.
„Ertappt“, rang sie sich ab. Katie rechnete nach den deutlichen Worten eigentlich mit einer Abfuhr, aber Alicia begann zu grinsen. Das überraschte sie ziemlich. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Völlig verwirrt sah sie Alicia an. Diese lachte jetzt sichtlich erheitert.
„Du müsstest dein Gesicht jetzt sehen. Du siehst aus, als ob du E.T. gesehen hättest“, kicherte Alicia. „Also gut ich erlöse dich. Ich habe gerade beschlossen, mich für dieses Wochenende in deine treu sorgenden Hände zu begeben. Es ist mir ernst. Ich bin froh, dass du mich nicht aufgegeben hast und dich um mich kümmerst. Ich weiß zwar, dass du zuweilen auch über das Ziel herausschießt, aber ich kann dich ja immer noch bremsen, wenn es mir zuviel wird. Also, dann sehe ich dich morgen. Wie viel Uhr?“
Katie war gerade von einer Dampfwalze überrollt worden, zumindest fühlte sie sich so. Sie hatte ja gehofft, ihrer Freundin helfen zu können, doch diese Reaktion übertraf all ihre Erwartungen. Sie war einfach zu platt, um irgendetwas Eloquentes von sich zu geben, also hauchte sie nur „9:00 Uhr, ist das Okay?“
„Ich bin morgens meistens sowieso früh wach. 9:00 Uhr passt wunderbar“, stimmte Alicia zu. „Dann also gute Nacht und bis morgen.“
Damit ging zur Haustür, um diese aufzuschließen. Auf der Türschwelle drehte sie sich noch einmal um. Sie sah gerade noch, wie Katie kopfschüttelnd davonfuhr. Tja, da hatte sie ihrer Freundin wohl ziemlich was zu denken gegeben.
Im Flur zog sie die Schuhe aus, legte ihre Handtasche auf die kleine Kommode im Eingangsbereich und ihre Hausschlüssel gleich daneben. Ihren Blazer hängte sie zum Lüften an die Garderobe. Den würde sie wohl noch einmal anziehen, bevor sie ihn in die Reinigung geben musste.
Müde stieg sie die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer schnappte sie sich ihr Nachthemd, bevor sie zum Bad schlurfte. Nur kurz abduschen. Nichts Aufwendiges, vor allem keine Haare waschen, das konnte sie morgen machen. Jetzt wollte sie einfach nur ins Bett. Bevor sie sich auszog, drehte sie schon mal das Wasser an. Ihre Kleider warf sie gleich in den Wäschekorb, dann stellte sie sich unter den warmen Wasserstrahl.
Nur zehn Minuten später stieg sie abgetrocknet, sowie seit langer Zeit wieder unverkrampft ins Bett. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie heute Nacht wohl besser schlafen würde, als die letzten Monate. Sie dachte an das ziemlich verdutzte Gesicht ihrer Freundin und musste lächeln. Nur wenige Momente später schlief sie mit diesem Lächeln im Gesicht ein …
Am nächsten Morgen wachte Alicia erstaunlich gut erholt auf. Sie rekelte sich in ihrem Bett und dachte über die vergangene Nacht nach.
Irgendwann, so um ca. 4:00 Uhr, wurde sie mal wach und ging zur Toilette. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wovon sie genau aufgewacht war. Sie hatte zwar etwas geträumt, jedoch nicht ihren üblichen Albtraum. Zumindest nicht so wie sonst. Sie fühlte sich zwar leicht unwohl, spürte aber beim Aufwachen nicht die übliche, panische Angst. Außerdem war sie nur leicht verschwitzt. Nicht ungewöhnlich bei den sommerlichen Temperaturen, die seit einigen Tagen herrschten. Nachdem sie sich wieder hingelegt hatte, konnte sie wenig später wieder eingeschlafen. Das war ihr zuvor nie gelungen.
Heute Nacht hatte sie wirklich deutlich besser geschlafen. Das sah sie als gutes Zeichen und beschloss sich heute ganz Katie anzuvertrauen. Sie wollte den Tag so gut wie möglich genießen.
Mit diesem Vorsatz sprang sie aus dem Bett. Erst jetzt warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war schon 8:23 Uhr. Du liebe Zeit, jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Um Neun wollte Katie kommen. Normalerweise blieb sie nie länger als bis ca. 5:30 Uhr im Bett.
Daher hatte sie sich gestern Abend, auch keine Gedanken gemacht über Katies Vorschlag gemacht. Sie hätte im Traum nicht daran gedacht, dass sie verschlafen könnte. Jetzt musste sie sich sogar ein wenig beeilen. Sie war zwar nicht so schlimm verschwitzt wie sonst, doch eine Dusche war trotzdem absolut notwendig. Auch Haare waschen war dringend angesagt, da ihre schulterlangen kastanienbraunen Locken wild in alle Richtungen standen. Also schnappte sie sich frische Unterwäsche und ging ins Bad. Toilette, Zähne putzen, dann fix unter die Dusche. Eilig wusch sie ihre Haare.
Als sie aus der Dusche kam, war es bereits 8:45 Uhr. Sie rubbelte ihre Haare nur etwas trocken, bürstete die kastanienbraune Mähne einmal kurz durch und eilte zum Schlafzimmer, um sich etwas zum Anziehen zu holen.
Nun stand sie unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank. Was sollte sie anziehen? Früher hatte sie am Wochenende meist Jeans und T-Shirt getragen. Nach Gregs Tod musste sie diese weggegeben – zu viele Erinnerungen. Jetzt trug sie am Wochenende ihre Lieblingsjogginghose sowie ein XL-Shirt. Das konnte sie zum Bummeln jedoch unmöglich anziehen. Außerdem vermutete sie, dass Katies ein Frühstück außer Hause geplant hatte.
Nur ein paar Blocks die Straße runter, lag das ‚Hob Nob Hill’, ein gemütliches Lokal, welches in einer angeschlossenen Bäckerei sogar eigenen Backwaren herstellte. Früher war das ihr Stammlokal gewesen. Alicia und Greg waren gerne mit Katie oder anderen Freunden dorthin gegangen. Das ‚Hob Nob Hill’ servierte nicht nur ein ausgezeichnetes Frühstück, sondern bot auch Mittags- und Abendessen an. So war es eigentlich zu jeder Tageszeit eine geeignete Anlaufstelle. Das Ambiente ein wenig altmodisch, aber sehr gemütlich, das Personal freundlich, aufmerksam und schnell, das Essen immer frisch, lecker und hausgemacht.
Sicher wollte Katie dort frühstücken. Nach kurzer Überlegung entschied sich Alicia für eine Leinenhose sowie eine zart rosa Bluse, die ihrem Teint ein wenig mehr Farbe verlieh. Allerdings nicht genug, um auf Rouge, Lidschatten und Lippenstift zu verzichten.
Also eilte sie noch einmal kurz ins Bad, um etwas Farbe aufzulegen. Vielleicht sollte sie mal wieder ein wenig Sonne an sich heranlassen, damit ihr Teint wieder eine gesündere Farbe bekam …
Sie steckte gerade den Deckel wieder auf ihren Lippenstift, als es klingelte. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte Alicia, dass ihre Haare schon fast trocken waren. Ihre Locken fielen am besten, wenn sie an der Luft trockneten. Zum Glück habe ich die Zeit nicht mit föhnen verschwendet, dachte sie, als sie die Treppe nach unten lief, um Katie die Tür zu öffnen.
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Tag der Veröffentlichung: 10.06.2012
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