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Langsam erwachte Lucas am Morgen des Heiligabend und rieb sich müde den Schlafsand aus seinen rehbraunen Augen. Er richtete sich auf und schaute in seinem Zimmer umher. Es glich einem Kinderspielzeugparadies. Überall funkelten bunte Bausteine, glänzten Spielzeugautos und zahlreiche Comic-Hefte zierten den Boden seines kleinen Reiches. Doch das alles machte auf den siebenjährigen Blondschopf schon lange keinen Eindruck mehr.
Er war nicht undankbar. Aber Spielzeug hatte in seinem Leben einfach eine andere Bedeutung. „Lucas, es tut uns leid, daß wir nicht zu deinem Spiel kommen konnten. Im Büro gab es wieder viel zu tun. Du weißt ja! Aber dafür haben wir dir etwas Feines mitgebracht.“
So oder so ähnlich kamen seine Eltern einmal pro Woche in sein Zimmer und füllten sein Repertoire an Teddys, Autos und Bausteinen in Unermeßliche auf, oft begleitet mit Unschuldsmienen, die derart gekünstelt waren, daß sie doch eher Masken glichen. Masken, die sie aufsetzen, wenn sie sein Zimmer betraten, und die sie abnahmen, wenn sie es wieder verließen. Für Lucas Eltern wurde es zur Routine und für Lucas wurde es zur Routine, jedes dieser neuen Spielzeuge zu hassen.
Er war nicht oft in seinem Zimmer. Im Grunde war er auch selten im Haus. Draußen in der Natur, zwischen all den Bäumen, Sträuchern und Tieren fühlte sich der kleine Junge wohl. Hier konnte er lachen. Hier konnte er ein Kind sein.

Noch etwas benommen vom Traum der letzten Nacht, warf Lucas sein dickes Federbett zurück und wackelte fröhlich mit seien großen Zehen. „Guten Morgen, linker Zeh. Hast du gut geschlafen? - Aber ja, wunderbar! Danke der Nachfrage.“ Ein kleines, verhaltenes Kichern entwich ihm und für einen kurzen Moment konnte er vergessen, daß er zu Hause und zu allem Unglück auch noch Weihnachten war. Lucas mochte diese Festlichkeiten überhaupt nicht. Das war sicherlich ungewöhnlich für so ein kleines Kind. Und doch konnte nichts seine Stimmung heben, weder Geschenke, noch die Plätzchen seiner Mutter, die sie letztendlich sowieso im Supermarkt kauft. Im Haus roch es nie nach duftendem Gebäck, nie erklang von irgendwo her ein Weihnachtslied, Weihnachtsschmuck gab es auch nicht und der Baum wurde - auf-und abklapbar - jedes Jahr wiederverwendet.

Alles in allem sah es trostlos bei Lucas zu Hause aus. Er verbrachte viel Zeit allein, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Doch um den 24. Dezember merkte auch er, wie sehr ihm eigentlich seine Eltern fehlten, wie gerne er einfach nur einmal von einem Kuß seiner Mutter geweckt werden möchte, und wie gerne er seinen Vater einmal bei einem seiner Fußballspiele sehen würde, um seine Applausrufe zu hören.

Vorsichtig krabbelte Lucas aus seinem Bett und schlich zur Zimmertür, um zu horchen, ob er Geräusche oder Stimmen aus der Küche wahrnehmen konnte. Vielleicht waren seine Eltern ja schon wach und tranken gemütlich eine Tasse Kaffee. Vielleicht stand seine Mutter in der Küche, backte Plätzchen oder bereitete das Festtagsessen vor und vielleicht war sein Vater gerade dabei, den Baum zu schmücken und nebenbei Weihnachtslieder zu summen.
Lucas spürte, wie es in seinem Bauch kribbelte. Irgend etwas war anders. Vielleicht würde er dieses Weihnachten ja endlich einmal glücklich erleben, nur mit dem Gedanken, seine Eltern um sich zu haben.
Er vergaß alle Vorsichtsmaßnahmen, leise zu sein und rannte eilig die Stufen der Treppe hinab, schlitterte ungehalten bis in die Küche und stoppte abrupt, als er vor sich nichts weiter als einen leeren Raum fand. Seine Eltern waren nicht da. Er war alleine im Haus - alleine am Heiligabend. Wieso nur wunderte ihn das nicht?
Auf dem Tisch fand er einen Zettel. Die Handschrift des Textes war die seiner Mutter und schon nach dem ersten Satz stiegen Lucas die Tränen in die Augen. „Es tut uns leid, Junge. Aber wir mußten noch einmal in die Firma...“ und so weiter und so weiter. Gegen 17.00 Uhr würden sie zurück sein und dann gebe es Bescherung. Er solle sich doch bis dahin einen schönen Tag machen.

Wütend zerknüllte er den Zettel und wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht. Er wollte nicht mehr weinen. Zu oft schon wurde der Siebenjährige von seinen Eltern enttäuscht. Er wollte, er konnte nicht mehr weinen. Lucas vergaß, daß es Heiligabend war. Er vergaß, daß er noch im Nachthemd war und draußen Minusgrade herrschten. Traurig öffnete er die Haustür und trat in den Garten. Plötzlich verschwand all sein Kummer, denn vor ihm erstreckte sich ein schneeweißes Landschaftsbild. Es hatte über Nacht geschneit, der erste Schnee in diesem Jahr.
Erst langsam, dann immer schneller stapfte Lucas durch die weiße Pracht und begann, sich freudig zu drehen. Er hatte es sich so gewünscht, um einen Schneemann bauen zu können und mit Schneebällen nach seinen Eltern ... Aber daraus würde wohl nichts werden.

Gerade als er kehrt machen wollte, um ins Haus zurück zu gehen, hörte er eine leise Stimme. Sie klang wie kleine Glöckchen und erfüllte den Garten plötzlich mit wundervollen Tönen. Suchend sah sich Lucas um, konnte jedoch niemanden entdecken. Unberührt zuckte er mit den Schultern und ging weiter, als plötzlich ...
„Lucas, warte! Bleib’ noch einen Moment!“
Wer war das? Erschrocken drehte er sich abermals um. Niemand war zu sehen.
„Ich bin hier, genau über dir. Schau’ hoch, dann siehst du mich!“
Vorsichtig blinzelte Lucas in den Himmel und staunte nicht schlecht, als er eine kleine, einzelne Schneeflocke erblickte. Fröhlich tanzte sie im Wind und schien den Boden nie zu erreichen. Sie glänzte ungewöhnlich hell in der Wintersonne und mit etwas Phantasie konnte Lucas kleine funkelnde Augen erkennen.
„Wer bist du? Und wieso kannst du sprechen? Schneeflocken können nicht sprechen, und Augen haben sie auch nicht. Und warum fällst du nicht auf den Boden?“
„Halt! Stop! Nicht so schnell! Ich bin noch neu in dem Job. Gib mir Zeit, mich daran zu gewöhnen,“ fiepste das kleine Flöckchen.
„OK! Aber mach’ schnell! Mir ist kalt.“ Etwas verwundert setzte sich Lucas auf die Eingangsstufen und betrachtete belustigt seine neue Entdeckung.
„Man nennt mich Lilli. Sprechen kann ich schon seit meiner Geburt vor drei Stunden. Meine Geschwister - du hast übrigens gerade einige zertreten - können auch sprechen. Doch hören, können uns nur Kinder, weil sie noch an Magie glauben. Den Boden erreiche ich erst dann, wenn ich meinen Auftrag ausgeführt habe. So! Noch irgendwelche Fragen?“
„Ja! Was für ein Auftrag ist das?“
„Ich soll dafür sorgen, daß du ein unvergeßliches Weihnachtsfest verlebst.“ Etwas außer Atem hechelte das Flöckchen zu Lucas hinunter und blinzelte ihn fröhlich an.
„Also, was wünscht du dir? Geschenke? Süßigkeiten? Ein Pony? Oder...“
„Das was ich mir wünsche...“ unterbrach Lucas Lilli. „Das kannst du mir nicht erfüllen. Niemand kann das, und außerdem glaube ich nicht, daß es dich wirklich gibt. So, und jetzt geh’ ich rein.“ Trotzig erhob sich Lucas und wollte gerade die Treppe hinaufsteigen, als die Schneeflocke ihn abermals zurückhielt. Sie setzte sich mitten auf seine Nase, so daß der Junge schielend zum Flöckchen hinuntersah.
„Aber Lucas, es gibt mich wirklich, genauso wie es den Weihnachtsmann gibt.“
„Nein, das glaube ich nicht.“ Ungewollt begann er wieder zu weinen. Lilli hatte Probleme, nicht mit seinen Tränen hinuntergespült zu werden. „Ich glaube nicht mehr daran. Ich habe aufgehört, als meine Eltern mich das erste Mal am Heiligabend alleine gelassen haben, als sie das erste Mal nicht zu meinem Spiel kamen, als sie das erste Mal eine Schulveranstaltung verpaßten und als sie mir das erste verdammte Spielzeug schenkten. Sag’ mir Lilli, warum ich noch an derartige Wunder glauben sollte!“

Das kleine Flöckchen erhob sich schnaufend von seiner Nase und begann wieder fröhlich im Wind zu tanzen. Lucas schaute ihr dabei ungerührt zu.
„So wie du diese winterliche Kälte auf der Haut spürst, so wahrhaftig tanze ich jetzt vor dir. Es gibt mich und ich werde es dir beweisen.“
Damit tanzte sie ein letztes Mal um Lucas herum und schien ihm sanft die Tränen wegzuküssen. Dann verschwand sie zwischen all den anderen Schneeflocken und war bald nicht mehr zu sehen.

Lucas rieb sich die Augen und ging dann hastig ins Haus. Ihm war derart kalt geworden, daß er wie Espenlaub zitterte. Sich nicht mehr kümmernd um den Rest der Welt oder den heutigen Tag, krabbelte er wieder in sein Bett und schlief überraschend schnell ein. Es gab schließlich nichts, was er heute erleben konnte und wollte. Er schloß traurig seine Augen und dachte an Lilli. Wie gerne würde er glauben, daß es sie gibt. Wie gerne.

Zeit verging, doch Lucas lag noch immer in seinen Träumen, als unten ihm Haus vorsichtig die Tür aufgeschlossen wurde. Erst als der kleine Junge einen kalten, aber sanften Kuß auf seiner Wange spürte, öffnete er müde die Augen. Erschrocken richtete er sich auf. Er rieb sich die Augen, traute ihnen aber nicht. Seine Mutter saß auf der Bettkante und sein Vater stand am Bettende. Beide waren durchfroren, sahen aber glücklich aus und lächelten ihren Sohn liebevoll an.
„Hallo Sportsfreund! Wie wär’s mit einer Runde Fußball im Schnee, während Mutti das Essen vorbereitet?“ Sein Vater setzte sich auf die andere Bettkante und streichelte sanft Lucas Bauch.
„Aber wie ...? Warum ...? Müßt ihr nicht ...?“ Lucas schüttelte verwirrt den Kopf, konnte nicht glauben, was gerade geschah.
„Stell’ keine Fragen, mein Süßer!“ Seine Mutter nahm ihn in den Arm. „Und versuch’ es nicht, zu verstehen. Wir verstehen es selbst nicht. Sagen wir einfach, eine kleine Stimme hat uns daran erinnert, was wirklich wichtig im Leben ist.“
„Aber ...?“
„Frag’ nicht, die Geschichte ist einfach zu seltsam. Nimm deinen Vater und mich einfach nur in den Arm!“ Lucas tat, um was ihn seine Mutter ihn bat, und als sein Blick auf das Fenster fiel, erkannte er Lilli, die ihm fröhlich zu zuwinken schien.
„Lilli!“ rief er und sprang aus dem Bett. Er rannte zum Fenster und sah, wie sich das kleine Flöckchen sanft auf einen Grashalm legte und die Augen schloß.
„Danke!“ flüsterte er und wischte sich glücklich eine Träne fort.

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Texte: copyrights by kellerkind
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2009

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