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Stay

 

 

Er hat sie mit ihrer Liebe getötet, ihrer Liebe füreinander. Und so geschieht es jeden Tag auf der ganzen Welt.

        -  Michael Clarke Duncan, The Green Mile 

 

 

Prolog

  Manchmal wollte ich all meine Gedanken auf leeres Papier schreiben und diese zahllosen Blätter aufheben und verstecken. Irgendwo, wo sie niemand finden würde. Es wäre so ein brillantes Versteck, dass sogar ich eines Tages vergessen würde, wo es ist. 

Dabei wollte ich das gar nicht. Ich wollte, dass die Leute meine aufgeschriebenen Gedanken lesen und das will ich auch jetzt noch. Sie sollen verstehen, wer ich bin. Sie hätten mein Handeln verstehen sollen, wieso ich Dinge tat, die für sie so unerklärlich schienen.

Seit wann ist es in unserer Gesellschaft üblich, sich in andere Leute Leben einzumischen? In deren Köpfe einzudringen und versuchen, bestimmen zu können, was richtig und was falsch ist. War es nicht so vorgesehen, dass jeder Mensch seine eigenen Entscheidungen traf? Hatten die Menschen mit dem großen Selbstbewusstsein und den lauten Stimmen nicht früher dafür gekämpft? Was war daraus geworden?

In der Schule wird dir erzählt, wie viel Glück du eigentlich hast, dass du in einem Land aufgewachsen bist, wo du deine eigenen Rechte hast. Dabei hast du nichts. Sonst würdest du da nämlich nicht sitzen.

 

 

1

 Deshalb saß ich damals auf einer dreckigen, 1-Meter hohen Mauer und zündete mir eine Zigarette an. Ich zog genussvoll daran und sah dem guten Stück beim Glühen zu. Einer meiner Lieblingsbeschäftigungen. Ich atmete den Rauch aus, der dann vor mir verblasste. Das einzige Geräusch, das ich wahrnahm, war ein Vogel, der irgendwo über mir auf einem Baum saß und zwitscherte. Ich saß im Schatten, doch der Wind wehte zurzeit etwas stärker, sodass die Äste mich nicht immer beschützen konnten und kleine Sonnenstrahlen auf mein Gesicht fielen. Genauso wie ich es wollte. Genau so sollte es sein.

Aber kein Moment hält für immer. Und von Erinnerungen wollte ich nichts wissen.

Ich hörte ihn schon fünf Minuten bevor er vor mir stand. Eigentlich hörte ich das laute Geräusch, das sein Motorrad stets von sich gab, und nicht ihn. Aber er wohnte sozusagen schon auf diesem Ding, also war es egal, was man meinte. Ich schwöre, dass ich es unter jedem Motorrad auf der ganzen Welt auseinanderscheiden hätte können.

Ich drückte meine Zigarette auf der harten Mauer aus und ließ sie auf den Boden fallen. Ich wartete, das Brummen kam näher, bis es vor mir abstarb. Er nahm seinen Helm hinunter.

Ich hätte ihn gar nicht anschauen brauchen, sein Grinsen spürte ich trotzdem in jeder Zelle meines Körpers.

„Na?“

„Na?“

„Was machst du hier?“

Ich hob eine Augenbraue. Das fragte er immer noch jedes Mal, nachdem ich ein gefühltes halbes Leben meiner Freizeit hier verbrachte.

Er schmunzelte, weil er wusste, dass er keine Antwort kriegen würde. Mit dem Helm in der einen Hand kam er zu mir.

„Hey.“, murmelte er als zweite Begrüßung und küsste mich. Sein Atem roch nach Zigaretten und… und… nach was noch? Ich leckte kurz unauffällig meine Lippen.

Aber er lachte und fragte: „Was tust du da?“

„Nach was schmeckst du nur?“, fragte ich nachdenklich.

Schon komisch, was? Andere Mädchen wollen herausfinden, mit wem ihr Freund die Zeit ohne ihr verbracht hat. Ich wollte wissen, nach was er schmeckte.

„Zigaretten.“, antwortete er, und wie als wäre das der richtige Zeitpunkt, holte er aus der Hosentasche ein blaues Päckchen heraus. Er nahm sich eine Zigarette und das Feuerzeug aus der anderen Hosentasche. Während er sie anzündete, schloss er die Augen. Das machte er immer. Um den Genuss voll und ganz zu spüren, war seine Erklärung.

Er öffnete die dunkelbraunen Augen wieder und sah mich an. Er schien meine Gedanken zu lesen, denn nachdem er tief an der Zigarette gezogen hatte, nahm er sie raus und gab sie stattdessen zwischen meine Lippen. Eines der Dinge, die ich am Meisten an ihm liebte. Nicht das Zigaretten-Austauschen, (obwohl, das auch), das Gedanken lesen.

Ihn jemals anzulügen, wäre zwecklos gewesen. Er kannte mich zu gut.

Als ich zwei Züge nahm, gab ich sie ihm zurück. Er klemmte sie wieder zwischen seine Lippen und legte seine Hände auf jeweils einen Oberschenkel von mir. Er lehnte sein Gewicht gegen die Wand, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Wäre er noch etwas nahe, würde sich die Zigarette schmerzhaft  in meine Haut bohren und eine Narbe hinterlassen. Er zog, die Augen natürlich geschlossen, die Wangen ein und als er sie wieder öffnete nahm ich ihm vorsichtig den kurzen Stängel aus dem Mund und ließ ihn auf den Boden fallen. Ich sah ihn wieder an. Er blies den Rauch aus, genau in mein Gesicht und ich öffnete den Mund und versuchte ihn einzusaugen, wie ein fast verlorenes Leben. Dann spürte ich seine Lippen auf meinen und seine warme Zunge fuhr in meinen Mund. Eine Weile ließ ich das zu. Aber ich konnte hier nicht ewig mit ihm rummachen. Ich weiß nicht wieso manche Menschen so geil auf sowas waren. Es war schön, aber mein Gott es war nicht die Welt.

Er war meine Welt. Es reichte mir ihn anzusehen, ich musste nicht jede Sekunde seine Lippen spüren. Ich biss leicht auf seine Zunge. Er lachte leise und fuhr zurück.

„Wann werde ich dich nur endlich fürs Zungenküssen begeistern können?“

„Wenn du dich mal wieder rasieren würdest.“

„Pah! Du tust als würde ich aussehen wie Jesus.“

„Nah dran.“

„Sowas nennt man Drei-Tage-Bart.“

„Bist du sicher das es nur drei Tage sind?“

Er schmunzelte, trat zwei Schritte zurück und hob beide Hände. Dann drehte er sich um und ging zu seinem geliebten Motorrad. „Kommst du?“

Ich ging von der Mauer runter und zu ihm. Er gab mir seinen Helm und küsste mich nochmal. Schon wieder dieser seltsame Geschmack. Er setzte sich auf das laute Ding und ich mich hinter ihn. Ich schlang meine Arme um seinen harten Bauch und legte meinen Kopf sanft auf seinen Rücken. Dann stieß das Motorrad einen Schrei aus und er fuhr los.

*

„Die Verkaufszahlen haben sich stark verändert, seit deinem brillanten Angebot, Ed.“

„Im positiven oder negativen Sinne?“

„Positiv! Weitaus positiv!“

„Sehr gut. Sorgt dafür, dass es auch weiterhin so bleibt.“

„Selbstverständlich.“

Dieser Mann sah meinen Dad an wie einen König. Ich wartete nur mehr darauf, dass ihm vom vielen Starren die Sabber aus dem Mund lief.

„Darling? Wir warten auf das Dessert.“ Mein Vater setzte ein falsches Lächeln auf, in die Richtung meiner Mutter. Die machte sich nicht mal die Mühe, freundlich zu sein.

„Sag das dem Personal, Schatz.“ Sie betonte das Wort Schatz so sarkastisch, das der Mann unangenehm hin und her sah und nicht wusste was er tun sollte. Ich hätte ihn gerne ausgelacht.

„Selma? Selma!“, brüllte mein Vater.

Ich hörte hastiges Klappern von Stöckelschuhen und schon stand diese arme Frau, schwarze lange Haare, zu einem Dutt zusammengebunden, ein weißes Hemd und ein knielanger dunkelblauer Rock, in der Tür und wirkte etwas gestresst.

„Ja, Mister Clark, ich entschuldige mich vielmals, das Dessert wird in wenigen Minuten serviert.“, sagte sie schnell in einem lateinamerikanischen Akzent.

Selma war viel zu höflich und nett, für diesen schlecht bezahlten Job bei diesen unausstehlichen Arbeitgebern. Ich wusste nicht viel über ihr Privatleben, Mom hatte nur mal nebenbei erwähnt, dass ihre Kinder in ihrem Heimatland waren und sie sie vor weiß Gott wie vielen Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Ich wartete seit sie bei uns eingestellt war, seit acht Jahren, auf den Moment in dem ihr der Kragen platzt, sie meine Eltern anschreit und ihnen ihre Meinung sagt und schließlich kündigt. Aber Selma scheint gute Nervenzellen zu besitzen, also wird sie mich leider enttäuschen müssen.

„Gut. Gehen Sie.“ Mein Vater würdigte sie keines Blickes und so stöckelte sie wieder hastig zurück in Richtung Küche.

Es folgte ein peinliches Schweigen. Bis es der unsympathische Mann, der wie ich mich zu erinnern versuchte, Mr. Taner hieß, mit einem mühsamen Lächeln, ansprach.

„Und du bist die reizende Tochter, wenn ich mich nicht irre?“

Wie dämlich diese Aussage schon klang. Wenn ich mich nicht irre? Wer sollte ich denn sonst sein? Vaters Geliebte? Sonst saß hier niemand am Essenstisch.

„Gut erkannt.“, antwortete ich deshalb etwas trocken.

Er merkte sofort dass ich nicht auf eine Unterhaltung mit ihm aus war, aber der Alte ließ nicht locker.

„Dein Name ist Arizona nicht wahr? Sehr schön, sehr schön. Warst du schon einmal in Arizona?“ Er sprach mit mir, wie mit einem Kleinkind.

„Ja.“

„Gefiel es dir?“

„Ja.“

„Jaja, mir auch. Schöne Landschaft, nicht wahr?“

„Mhm.“

Er schluckte. Ich glaube, jetzt hatte er es begriffen.

„Arizona ist nicht so gut im Reden.“, sagte Mom zu Mr. Taner, als wäre ich behindert. Und meine Anwesenheit schien ihr wohl auch unklar zu sein. Doch dann sah sie mich mit diesem versteinerten Blick an und sagte: „Siehe doch mal in die Küche, wie es um unser Dessert steht.“ Es war kein Vorschlag, es war eher ein Befehl. Mir sollte es recht sein. Ich stand auf und verschwand aus dem Raum, wo man die peinliche Anspannung förmlich riechen konnte.

Ich ging also in die Küche und da war Selma und ging unruhig hin und her. Ungefähr zehn Leute standen hinter einer Metall-Theke in der riesigen Küche und es sah so aus, als wäre der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Es roch süßlich, nach Vanille und Honig, ein wunderbar angenehmer Duft.

Als ich noch klein war, wollte ich hier immer übernachten. Seit ich auf der Welt war, hatte es hier noch nie, noch nie, schlecht gerochen, kein einziges Mal. Doch meiner Mutter wäre es noch nicht mal in den Sinn gekommen, mich hier auf den Boden zu setzen.

Als Selma mich erblickte, schlug sie ihre Hand auf die Stirn. „Ach Gott, Arizona, sind deine Eltern schon sehr böse? Ich habe es nicht genau durchdacht, ich weiß, die Zeitplanung, aber der Freund deiner Eltern ist zu früh gekommen, das Personal war nicht vorbereitet, zu spät…“

„Selma, Selma, beruhigen Sie sich, alles ist okay. Meine Eltern sollen ruhig mal etwas warten können.“ Ich legte ihr meine Hand behutsam auf die Schulter, bis ich spürte dass sie wieder normal atmete. Dann standen auch schon vier Teller auf der Theke. Ich hätte sie alle essen können, so eine geringe Menge war es. Aber es sah köstlich aus.  

„Vanille-Trüffel Eis mit Goldsplittern und einem Hauch Honig.“, sagte Selma und betrachte das Werk. Dann kamen zwei Frauen hinter der Theke hervor und nahmen jeweils zwei Teller.

„Oh, warte!“Ich nahm einen Teller von der Frau und lächelte ihr zu. Sie verstand und ging mit dem einen Teller in Richtung Esszimmer, der anderen Frau hinterher.

„Gut gemacht Selma. Sie sind viel zu gut, dass meine Eltern böse auf sie sein könnten.“ Das war glatt gelogen. Sie würden sie fertig machen. Aber sie war viel zu gut, um sie zu feuern und dafür war ich froh.

„Danke Arizona. Guten Appetit.“

Ich ging mit dem Teller in mein Zimmer. Während ich aß, las ich Patrick Süskinds Das Parfüm.

Irgendwann als der Teller schon längst leer war, und ich bei der Hälfte des Buches war, läutete mein Handy.

„Ja?“

„Spricht hier Mrs. Clark?“

Ich wusste, dass er es war. Seine Stimme war unersetzlich.

„Nein, tut mir leid, ich glaube sie haben sich verwählt.“, meinte ich.

Ich hörte sein leises Lachen. „Oh, naja, wie auch immer, wollen sie mich vielleicht trotzdem kennenlernen?“

„Sie klingen interessant. Wieso nicht?“

„Ich warte hier vor ihrer Tür auf Sie.“ Er legte auf. Er legte fast immer auf, ohne sich zu verabschieden, deshalb war ich es schon gewohnt.

Ich klappte das Buch zu, ohne ein Lesezeichen rein zugeben. Das so zu tun hatte ich mir nie abgewöhnen können und werde es auch nie tun, schon allein deshalb nicht, weil ich kein Lesezeichen besitze. Und ein Eselsohr zu machen und eine dieser schönen Seiten zu ruinieren, würde niemals für mich in Frage kommen.

Ich stand auf und sah in den Spiegel. Ich sah ganz okay aus. Also ging ich die Treppen hinunter zur Tür. Da ertönte schon die kalte Stimme meiner Mutter von weiß Gott wo.

„Wo willst du hin, junge Dame?“

„Raus.“

„Ach ja?“

„Jap.“

„Wohin, Arizona?“

„Zu Elle.“, log ich.

Bevor sie noch weitere Fragen stellen oder mir eine Uhrzeit nennen konnte, wann ich wieder zuhause sein musste, huschte ich schnell aus dem Haus. Fast wäre ich über ihn gestolpert. Er hockte auf einer Stufe, vor der Tür.

„Oh, schön sie kennenzulernen.“, sagte ich und stellte mich vor ihn. Er blickte auf und lächelte mich an. „Was hat sie zu mir geführt?“

„Ich habe Sie vermisst.“, antworte er und stand auf.

„Ich dachte wir sind uns noch nie begegnet?“

„Irgendwie kommen sie mir bekannt vor.“  Er legte seine Hände auf meine Taille und zog mich näher zu sich um mich zu küssen. „Deshalb muss ich sie jetzt leider entführen.“, flüsterte er daraufhin in mein Ohr. Er nahm meine Hand und führte mich vom Haus weg zum Gartentor. Ich wusste genau dass wir beobachtet wurden. Und als ich auf dem Motorrad saß, kurz bevor er losfuhr, sah ich zum Fenster. Da stand meine Mutter und blickte uns finster an. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und hoffte, dass sie es ja bemerkte.

 Im nächsten Moment waren wir weg. Es war zu lauter Gegenwind und Verkehr, um zu fragen, wo wir hinfuhren. Eigentlich war es uninteressant, ich wäre überall mit ihm hingefahren. Ich umklammerte seinen Bauch mit meinen Armen und ließ ihn nicht wieder los, bevor wir anhielten. Es war eine Seitengasse, die einer Alle ähnelte. Viele große Eichen und Birken auf jeder Seite der Straße. Ein Paar Autos standen schlafend am Rand. Eine Laterne beleuchtete die Gasse in der Dunkelheit. Mir war gar nicht aufgefallen, dass es finster war und die Nacht über uns fiel. Noch so eine mysteriöse Sache an ihm. Ich vergesse alles, wenn ich bei ihm bin. Alles was nichts mit ihm zu tun hat. Es scheint, als wäre alles verschwommen, unsichtbar für mich. Nur er, der haarscharf und unwirklich perfekt vor mir steht. Ich liebe ihn.

„Wo sind wir?“

Er antwortete nicht auf meine Frage. Er sperrte das Motorrad ab, nahm meine Hand in seine, in der anderen trug er den Helm, genauso wie ich. „Komm.“, sagte er und zog mich mit sich mit.

Wir gingen eine Weile, bis der Verkehr plötzlich lauter wurde und uns mehr Menschen entgegenkamen. Ich sah eine Frau, Mitte dreißig, die einen Kinderwagen mit einem schreienden Baby vor sich herschob. Mit einer Hand lenkte sie das riesige Ding, mit der anderen hielt sie ein weiteres kleines Kind, welches die ganze Zeit „Ich will aber nicht, Mama, ich will nicht!“ schrie. Sie trug dazu noch einen Rucksack, ich kannte ihn von vielen Müttern, man bekam ihn bei der Geburt des Kindes im Krankenhaus. Die Frau wirkte mehr als gestresst und sie tat mir leid. Ich fragte mich, ob ich auch einmal so enden würde. Es kam mir so vor, als würde diese Mutter ihre Kinder bereuen. Sie war nicht die Erste, die ich sah, die diesen Blick hatte. Ich wusste nicht, ob ich jemals Kinder haben wollte.

Ich sah ihn an, er ging einen Schritt vor mir, jedoch hielten wir noch immer Händchen.

Ob er wohl Kinder wollte? Er wäre ein wundervoller Vater, aber ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Ich wusste immer noch nicht wo wir waren. Die Straße war mir unbekannt.

„Sind wir bald da?“, fragte ich leise.

„Eine Sekunde.“

Ich zählte fünfundneunzig Sekunden, dann standen wir vor einem kleinen Gebäude. Bei der Eingangstür war ein Schild befestigt. „Hailer Art Museum“, las ich.

„Ein Museum?“, fragte ich etwas erstaunt.

„Ich habe davon in der Zeitung gelesen.“

„Du liest Zeitung?“, fragte ich noch etwas erstaunter.

Er schmunzelte. „Es ist eine Ausstellung über das Thema ‚Jugendliche‘. Es könnte ganz interessant sein, dachte ich.“ Er blickte starr geradeaus auf das Museum.

Eine Weile sah ich ihn nur an. „Wow. Thomas Holmes, sind sie etwa interessiert in Kunst?“

„War ich schon immer.“

„Und wieso hast du mir das nie gesagt?“

„Habe ich doch gerade.“

Wir gingen hinein und eine junge Dame lächelte uns freundlich an. „Guten Abend. Wollen sie sich die Ausstellung ansehen?“

„Ja bitte, zwei Karten.“

Sie reichte uns zwei Tickets und er bezahlte. Dann gingen wir durch eine Tür in einen riesigen Raum mit unzähligen Bildern. Die meisten hingen an den Wänden, doch ein paar standen auch in der Mitte des Raumes auf einem Gestell.

Wir fingen auf der linken Seite an und machten eine Runde. Die Gemälde waren alle sehr interessant. Auf jedem war eine andere Art Jugendlicher zu sehen. Der Streber, der Punker, die Zicke, der Verschlossene, die Traurige, die Depressive, der Sport-Fanatiker, der Kiffer.

Als wir bei einem Bild ankamen, wo uns ein Junge mit einer Zigarette im Mund böse anfunkelte, erinnerte mich das stark an ihn.

„Da bist ja du.“, sagte ich zu ihm, aber er verzog keine Miene.

„So siehst du mich?“

„Du lächelst nicht sehr viel.“, meinte ich.

„Oft habe ich keinen Grund dazu.“, antwortete er karg.

„Wie wäre es mit mir?“

„Als Grund?“

„Ja.“

Da lächelte er.

Als  nächstes kam ein Bild von einem jungen Mädchen in einem scheußlich grün-rosa kariertem Polo-Hemd mit dazu passendem Rock und Ballerinas. Ganz offensichtlich gehörte sie zur reichen Gesellschaft, man sah es an ihrer prunkvollen Umgebung und – meiner Meinung nach – auch an ihrem Blick.

„Und das wärst du.“, sagte er. Ich war heilfroh über das ‚wärst‘.

„Wieso bin ich es nicht?“

„Weil du mich hast.“

„Wir sind wohl beide gut füreinander.“, fiel mir lächelnd auf.

Er zog mich zu sich. „Sieht ganz danach aus.“

Wir küssten uns.

Nach dem wir uns alle Bilder mit reichlich Diskussionen und Bemerkungen angesehen hatten, verließen wir das Museum wieder.

„Kaffee?“, schlug er in exakt der Sekunde vor, wo ich Lust auf das beste Getränk der Welt bekam.

Wir setzten uns in das kleine Cafe gegenüber dem Museum und ein Mädchen in meinem Alter mit wunderschönem, langen blondem Haar brachte mir die Tasse nur eine Minute nach meiner Bestellung.

„Und du willst wirklich nichts?“, fragte sie ihn, ganz offensichtlich interessiert an ihm, aber schüttelte nur den Kopf und wendete den Blick nicht von mir ab. Die Blonde ging wieder.

Ich schloss meine Hände um die Tasse und wärmte mich etwas. Der Winter hatte sich erst vor kurzem verabschiedet und es war noch immer nicht richtig warm in Savannah.

„Wie hat dir die Ausstellung gefallen?“

„Gut. Sehr interessant verschiedene Menschen in ihren Rollen zu betrachten. Und doch glaube ich, hatten viele etwas Gemeinsam.“

„Wie meinst du das?“, hakte er nach.

„Naja. Glaubst du nicht, dass das Mädchen mit dem Marco Polo Hemd nicht genau derselben Beschäftigung nachgehen könnte, wie der Typ mit der Marihuana-Kette um den Hals?“

„Klar. Aber das sieht niemand. Niemand verurteilt sie. Den Kiffer allerdings verurteilt jeder.“

„Ich habe nie gesagt, dass ich ihn verurteile.“, entgegnete ich.

„Tust du es?“ Er hob eine Augenbraue. Mist.

Ich schwieg eine Weile. „Klar.“

„Eben.“ Er lächelte, als hätte er soeben einen Wettkampf gewonnen.

Wenn es um Diskussionen ging, gewann er sowieso fast immer.  

„Ich finde man sollte Menschen nicht nach ihren Vorlieben verurteilen.“, meinte er.

„Also bist du für die Legalisierung von Marihuana?“

Er schmunzelte. „Ich meine im Allgemeinen.“

„Nimmst du es?“, fragte ich leise, hoffte er würde es nicht hören.

„Was?“

„Nimmst du Drogen?“

„Nein.“

„Schwörst du?“

„Arizona.“ Er sah mich nicht an.

„Es ist nur eine Frage.“

Er schwieg. Dann holte er sein Handy aus der Hosentasche und tippte an dem blöden Ding herum.

Als ich ausgetrunken hatte, schlenderten wir zurück zur Seitengasse, wo noch immer das Motorrad ruhte.

„Ich fahre dich nach Hause.“, sagte er.

Zehn Minuten später verabschiedete ich mich von ihm mit einem leichten Kuss auf der Wange. Er machte keinen Anstand seinen Kopf zu drehen um meine Lippen mit seinen zu berühren.

Ich schloss die Haustür auf, knallte sie wieder zu und lief die Treppen hinauf in mein Zimmer, ignorierte wie Mom nach mir rief.

 

Lügen. Er schmeckte nach Lügen.

2

 Ich lernte Thomas David Holmes mit 16 Jahren kennen. Genau genommen war es mein letzter Tag als 15-Jährige, aber wie auch immer:

 

„Diese Muscheln schmecken wie Scheiße.“, flüsterte Elle.

Ich prustete los und ließ meine Gabel fallen. Es machte ein klirrendes Geräusch in dem großen, leisen Raum und die Gäste drehten sich nach uns um. Ich ignorierte es und lachte vor mich hin.

„Nein, mal im Ernst, wie sind wir auf die Idee gekommen, hier her zu gehen?“, fragte Elle und fing auch an zu kichern.

„Haltet die Klappe, wir sind vornehme, noble Damen, die in ein französisches Restaurant gegangen sind, weil sie es können.“, sagte Katie.

Aber es half nichts, denn es brachten Elle und mich nur noch mehr zum Lachen.

„Meine Damen, Verzeihung für die Unterbrechung, aber ich muss Sie leider bitten, etwas leiser zu sein, ein paar Gäste haben sich schon beschwert.“, sagte plötzlich ein Kellner mit französischem Akzent und braun gebrannter Haut zu uns.

„Oh, Verzeihung, Monsieur.“, murmelte Katie peinlich berührt.

Der durchaus gutaussehende Kellner ging wieder, und ich lachte erneut auf.

„Monsieur! Du hast nicht wirklich Monsieur zu ihm gesagt, Katie, hast du?!“   

Elle verschluckte sich an ihrem Champagner und gackerte los. Es sah so witzig aus, dass mein lauter Lacher in dem großen Restaurant widerhallte.

„Könnten wir die Rechnung haben?“, rief Katie dem Kellner laut zu.

Sie sah so unbeholfen aus, dass Elle und ich einfach nicht anders konnten als weiter herum zu albern und uns wie Zwölf-Jährige zu benehmen.

Der Kellner brachte schnell die Rechnung und wollte dass wir verschwanden, er warf uns mehrere finstere Blicke zu.

„Ist schon okay, Süßer, wir sind gleich weg.“, meinte Elle schon leicht angeheitert.

Wir verließen das Restaurant. Wir trugen luftige Kleider und die frische Sommernachtsluft war angenehm kühl.

Bevor Katie ein Taxi rufen konnte, meinte ich: „Kommt, vertreten wir uns noch ein bisschen die Füße.“

Nach zwei Minuten zogen wir alle drei unsere hohen Schuhe aus, die höllisch brannten und uns Blasen brachten. Wir gingen die dunklen Straßen entlang, Arm in Arm und lachten über die verschiedensten Dinge. Langsam lockerte sich auch Katie auf und am Ende hüpfte sie in den Straßen herum und sang laut Lieder, die wohl nur sie zu kennen schien. Irgendwann kamen wir beim Park an, der gleich neben unserer Schule war. Die Schüler, uns mit eingeschlossen, verbrachte hier oft ihre Nachmittage. Hier verabredete man sich. Manche um Hausaufgaben zu machen, andere, das war die Mehrheit, um zu rauchen und zu trinken.

„Setzen wir uns auf unsere Bank.“, rief Katie und ging auf sie zu.

Unsere Bank war deshalb unsere, weil wir jeden Nachmittag da saßen. Das wusste jeder, weshalb sich nie jemand anderes dahin setzte.

Als wir es uns auf der Bank gemütlich gemacht hatten, holte Elle aus ihrer Chanel-Tasche eine Flasche Wodka heraus. Katie und ich machten große Augen und griffen gleichzeitig mit den Händen danach.

Elle zog es uns vor der Nase davon und rief: „Na, na, na, nicht so hastig mit den jungen Pferden!“

Unser Gelächter war wohl in der ganzen Stadt zu hören. Abwechselnd tranken wir ein paar Schlucke aus der Flasche und verzogen dabei jedes Mal das Gesicht. Eigentlich schmeckte mir das Zeug gar nicht. Aber es war Alkohol und ich war jung. Vollkommen in unsere verwirrenden, unsinnigen Gespräche und unser Gelächter vertieft, merkten wir gar nicht, dass wir beobachtet wurden.

„Wusste gar nicht, dass die reichen Mädchen auch saufen.“, hörte ich eine fremde Männerstimme.

Wir zuckten alle gleichzeitig zusammen und beinahe hätte ich die noch halbvolle Flasche fallen lassen. Ein paar Jungs aus unserer Schule standen vor uns, ich erkannte sie alle, jedoch fiel mir kein Name ein.

„Das sind wahrscheinlich die Schlimmsten.“, meinte einer. Sie lachten alle laut auf. Es waren vier, ziemlich große, starke Jungen und ich wusste, dass sie zu denen gehörten, mit denen wir niemals etwas zu tun haben würden. Ich hatte keine Angst vor ihnen, aber sie spielten ein paar Klassen unter uns.  

„Was wollt ihr?“, fragte Elle.

„Naja, wir wollen viel. Aber ein Schluck Wodka wäre ein toller Anfang.“ Die Worte kamen von dem Jungen, der als Erster gesprochen hatte, er schien den obersten Rang in der Truppe zu haben, denn er stand wenige Zentimeter vor den anderen. Und doch schien er es vollkommen gelassen zu meinen, er wirkte nicht böse oder gar aufdringlich auf mich, im Gegenteil, komischerweise freundlich. Ich hielt ihm die Flasche entgegen.

„Arizona!“, zischte Katie neben mir, doch ich ignorierte sie.

Der Junge kam näher und ich konnte ihm in sein Gesicht sehen. Er kam mir sehr bekannt vor und sein Name lag mir auf der Zungenspitze. Er wollte die Flasche schon nehmen, da zog ich sie noch einmal zurück. „Sag mir zuerst wie du heißt.“

„Jackson Bones.“, antworte statt ihm Katie neben mir mit einem bissigen Unterton.

Sie blickte ihn an und als er sie sah, verzog sich sein Mund zu einem hämischen Grinsen.

„Oh, meine wunderschöne Katharina. Wie geht es dir?“

„Bestens, und dir?“

„Warte mal, woher kennt ihr euch?“, fragte Elle verwirrt, bevor ich es tun konnte.

„Lange Geschichte.“, meinte Katie ohne ihren Blick von ihm abzuwenden.

„Eigentlich ist sie gar nicht so lange, oder doch?“ Jackson schmunzelte.

„Halte die Klappe, Jackson und träume weiter von der Vergangenheit.“

Elle und ich starrten sie nach wie vor an und warteten auf eine Antwort.

Jackson wendete seinen Blick von Katie ab und sah zu uns. „Wir hatten mal was miteinander.“

„IHR?“ Elle und ich kreischten beide gleichzeitig auf.

 Katie verzog neben uns das Gesicht. „Ein einziges Mal, mein Gott.“

Das hätten wir nicht von Katie erwartet.

Katharina Elizabeth Walton war schon immer die Bissigste von uns drei gewesen. Sie war das typische Ebenbild, wie man sich ein reiches Schulmädchen vorstellte. Zickig, ernst, arrogant und eingebildet. Und doch kannten nur wenige sie wirklich, so wie ich oder Elle. Katie ist eine der verletzlichsten Personen, die ich je kennenlernen durfte.

„Ein einziges Mal zählt!“, sagte ich und grinste Jackson an.

Der fand das Ganze höchst amüsierend, doch nützte die Situation um mir die Flasche aus der Hand zu reißen und sich einen Schluck zu gönnen.

„Hey!“, maulte ich empört auf, doch er lachte nur und drehte sich um.

„Kommt her, die beißen nicht.“, rief er den anderen zu und die kamen näher.

„Das sind Tom, Chuck und Mason.“, sagte Jackson und zeigte bei jedem Namen den er nannte, jeweils zu einem von den drei.

Sie lächelten uns freundlich an und ich begutachtete sie. Der erste, Tom, gefiel mir am Besten. Er war groß, muskulös und hatte braun-gebrannte Haut, so wie der französische Kellner. Seine kurzen, aufgestellten Haare waren in der Dunkelheit schwarz, doch ich konnte sie mir braun besser vorstellen. Er blickte mich mit seinen dunkeln, großen Augen, die von unzähligen Wimpern umrandeten waren an und seine vollen Lippen umspielten ein leichtes Lächeln.

„Ich bin Katharina, aber das wisst ihr ja schon. Das sind Eleanor und Arizona.“, hörte ich Katie sagen, aber ich wendete meinen Blick nicht von dem schönen Jungen ab.

„Aber mich nennt man Elle und sie Katie. Arizona besteht darauf einfach Arizona genannt zu werden, sie kann Zoe nicht ausstehen.“, meinte Elle amüsiert und blickte zu mir. Ich war nach wie vor von Tom fasziniert, der zum ersten Mal redete.

„Wieso magst du Zoe nicht?“, fragte er mich.

Ich brauchte eine Sekunde um mich auf die Frage und nicht auf sein Gesicht zu konzentrieren. „Ich weiß nicht so recht… Es hat nichts mit meinem richtigen Namen gemeinsam, vom Z mal abgesehen. Außerdem muss ich bei Zoe immer an eine Kuh denken.“

Tom lachte. Es erleichterte mich, denn zum einen Teil fand er mich lustig, und zum anderen hatte er ein wunderschönes Lachen. Das war wichtig für mich.  

 „Dort drüben ist ein Pavillon, da haben wir alle Platz. Kommt ihr mit?“, fragte Jackson.

Eine Minute später saßen wir im Kreis in dem kleinen, weiß gestrichenen Holzpavillon in der Mitte des Parks. Die Farbe blätterte bereits überall herunter, aber ich mochte sowas. Wenn man sah, dass etwas schon seine besten Jahre hinter sich hatte. Das zeigte Sympathie, selbst wenn es sich nur um Holz handelte. Ich hoffte, sie würden es nie renovieren. Oder zumindest solange nicht, bis ich von hier weggezogen war.

„Was machen Mädchen wie ihr um diese Zeit noch draußen?“, fragte Chuck.

„Was meinst du mit Mädchen wie wir?“, wollte Elle wissen.

„Naja ihr kommt nicht gerade aus ärmlichen Verhältnissen. Will euer Daddy nicht, dass ihr spätestens um 9 im Bett liegt?“ Er grinste uns an und seine Freunde lachten.

„Mein Gott, immer diese Klischees.“ Ich seufzte. „Keines davon stimmt auch nur annähernd.“

Es war nicht so,dass ich nicht glücklich darüber war, jeden Tag mein Essen serviert zu bekommen, welches dann auch noch köstlich schmeckte. Es war nicht so, dass ich es nicht genoss, wenn alles blitzblank sauber war und jemand den Kamin angezündet hatte und ich es den ganzen Winter gemütlich warm hatte. Mir war nie kalt in diesem Haus gewesen.

Aber es gibt so viel Besseres im Leben als Geld. Eigentlich ist alles besser als dieses Scheiß Papier, das unsere Welt zu regieren scheint. Ich brauchte diese große Menge nicht, was sollte ich damit anfangen? Und meinen Eltern ging das nicht anders, auch wenn sie es nie zugegeben hätten. Sie hatten keine Ahnung was sie mit dem vielen Geld machen sollten, deshalb warfen sie es zum Fenster raus und kauften Dinge, die sie nie wollten oder brauchten, anstatt es zu spenden.

Wir verbrachten fast die ganze Nacht zu siebt in dem Pavillon und hatten eine Menge Spaß. Es trafen zwei verschiedene Welten aufeinander und das gefiel mir. Irgendwann, gegen drei Uhr in der Früh, waren wir aber dann schon ziemlich müde und verabschiedeten uns von ihnen.

„Wie kommt ihr nachhause?“, fragte Jackson.

„Zu Fuß, es ist nicht weit.“, antwortete Katie.

„Wohnt ihr weit voneinander entfernt?“

„Ich wohne in die Richtung, Elle und Katie in diese.“ Ich zeigte in zwei verschiedene.

„Würde es dir was ausmachen, dich zu begleiten Katharina?“

„Ja.“

Jackson lachte amüsiert und ging trotzdem mit ihr mit.

„Ich bringe dich nach Hause, ok?“, flüsterte Tom mir zu und ich nickte lächelnd.

 „Bis Morgen, Arizona.“

„Bis Morgen.“

Elle und Katie verschwanden mit den Typen in der Nacht und jetzt standen nur noch Tom und ich in dem Park.

„Dann machen wir uns mal auf den Weg.“, meinte ich und drehte mich um.

„Ist es weit?“, fragte er.

„Ja, zehn Kilometer.“

Tom lachte auf. „Ich glaube dir kein Wort.“

Während wir durch die Nacht spazierten, unterhielten wir uns.

„Wie kommt es, dass wir uns in der Schule noch nie begegnet sind?“, fragte ich ihn.

„Ich glaube, dass sind wir. Aber wir waren zu beschäftigt, um uns wahr zu nehmen.“

„Das tut mir leid.“, murmelte ich.

„Mir erst.“

Ich biss mir auf die Lippe um nicht laut los zu jubeln. „Wie alt bist du Tom?“

„17. Und du?“

„Wie spät ist es?“

„3:15 Uhr, wieso?“

„Dann bin ich 16.“

„Warte… hast du heute Geburtstag?“ Er blieb stehen und sah mich erstaunt an.

Ich lachte leise. „Jap.“

„Oh Gott, ich habe jetzt gar nichts für dich.“

„Du wusstest bis vor zehn Sekunden gar nicht, dass ich Geburtstag habe, also kein Problem.“

„Happy Birthday, Arizona.“, er lächelte mich an.

Und da war es. Dieser perfekte Moment, der perfekte Augenblick für das Einzige, an was wir beide dachten, seit wir uns gesehen hatten.

„Küss mich.“, flüsterte ich.                             

*

Es schien mir so perfekt. Der Kuss, der Ort, er. Ja, vor allem er. Noch immer.

Aber wenn ich daran denke, beginnt meine Brust zu schmerzen. Es kommt mir so vor, als wäre dieser Augenblick ewig her, schon beinahe vergessen. Ich glaube, er hatte ihn vergessen. 

3

Der Wecker gab dieses unerträgliche, schrille Klingeln von sich, dass ich mir jedes Mal wünschte, dass a) ich tot wäre, b) das verdammte Ding endlich zu Grunde gehen würde, oder c) ich die Schule endlich hinschmeißen würde.

Da keine der drei Wünsche in Erfüllung gehen würden, schlug ich auf den Wecker und kroch mühsam aus dem Bett. Ich zog meinen Bademantel an und tapste ins Badezimmer. Wie immer waren die Marmorfliesen saukalt, sodass ich von einem Bein aufs andere hüpfte, während ich mir die Zähne putzte. Das Gesicht wusch ich mit eiskaltem Wasser, um endlich munter zu werden. Ich schminkte mich, zog mir eine Jeans, T-Shirt und Chucks an, nahm meine Tasche und ging die Treppen hinunter ins Esszimmer. Am Tisch standen Kaffetassen, Krüge mit Orangensaft und Wasser, Teller mit Croissants, belegten Brötchen, Eierspeis, Speck, Semmeln und anderem Gebäck.  Viel zu viel für eine dreiköpfige Familie… Oh. Sagte ich gerade Familie? Pardon, zwei Erwachsene und eine Jugendliche.

„Guten Morgen, Arizona.“

„Morgen, Dad.“

Er las die Zeitung und sah mich nicht an. Die Uhr, die über der Tür hing gab ein angenehmes, leises Ticken von sich. Es war 7:20. Ich setzte mich auf meinen Stammplatz und holte mein Buch aus der Tasche. Ich war gestern Abend mit Das Parfüm fertig geworden und las jetzt Der Fänger im Roggen von J.D. Salinger. Der Ich-Erzähler in dem Buch gefiel mir unglaublich gut. Ich nahm mir zwei Brötchen, eine Tasse Kaffee und ein Glas Orangensaft.

Um 7:45 verließ ich das Haus, ohne zu wissen wo Mom war. Wann wusste ich das schon.

Als ich bei der Schule ankam, stand Elle davor und winkte mir zu. „Beeil dich!“, rief sie.

Wir hasteten den Flur entlang, und kamen gleichzeitig mit Mrs. Miller bei der Klasse an.

„Guten Morgen, Mrs. Miller.“, begrüßten wir sie.

„Eleanor, Arizona.“, sie nickte uns lächelnd zu.

Ich mochte Mrs. Miller. Sie war um die 50, hatte graublondes Haar und blaue Augen. Sie war sehr freundlich, intelligent und machte den Geschichte-Unterricht erträglich. Außerdem war sie einer der wenigen, die Tom noch ausstehen konnte.

Ich betrat die Klasse, die immer egal zu welcher Jahreszeit, nach Lavendel roch. Ich mochte diesen Raum. Die Wände waren in einem hellen Beige gestrichen worden, eine Wand bestand allerdings nur aus Fenstern, die uns einen Blick auf die wenig befahrene Straße vor der Schule schenkten. Sowohl die Sessel als auch die Tische waren aus Holz, welches leider nicht mehr das Neuste war, aber das machte mir nichts aus. Links neben der Tür hing eine riesige Pinnwand mit Fotos, die Schüler aus dem Fotographie-Kurs gemacht hatten. Darunter die Meisten von Jackson und Elle. Elle schoss die besten Fotos die ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Sie war zwar besser als Jackson, aber Fotografieren war wohl das einzige Hobby von ihm, in dem er gut war. Und in dem das Hobby gut für ihn war. Die meisten Fotos von Elle waren von Landschaften. Atemberaubende Sonnenaufgänge, orange-braune Blätter, die lose an Ästen hingen und bei jedem kleinen Windstoß drohten runterzufallen, Nebel der in der Finsternis in der Luft hängt, Schneeflocken, so unglaublich nah, dass man ihre Zerbrechlichkeit spüren konnte. Oft fotografierte sie auch Jackson, wie er einfach nur still stand, meisten sah er weg. Jackson, wie er lachte, wie er finster in die Kamera blickte, wie er fluchte, wie er rauchte.  Als ich zum ersten Mal die Fotos gesehen hatte, die sie von ihm gemacht hatte, da begriff ich, dass sie ihn wirklich liebte. Und ich musste an Tom denken.

 

Jetzt dachte ich auch an ihn. Sein Sessel war leer. Ich setzte mich auf meinen eigenen und drehte mich zu Jackson um, der hinter mir saß.

„Weißt du, wo er ist?“

Er schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder von mir ab, um Elle einen Kuss zu geben. Es war keine Eifersucht, die in mir hochstieg, es war einfach nur leichte Traurigkeit. Ich wollte, dass Tom in die Klasse hereinspazierte, mit diesem frechen Halblächeln zu mir kam und mich küsste. Ich wollte, dass er stolz darauf war mein Freund zu sein. Das war eines der Dinge, die Tom viel zu selten tat. Zeigen, dass er mich liebte. Und das war der Grund, weshalb ich mir noch nie sicher war, ob er es wirklich tat.

„Ruhe, Kinder, Ruhe bitte!“ Mrs. Miller stellte ihre braune Tasche, die sie besaß seit ich sie kannte, auf den Tisch und sah sich in der Klasse um. „Ich hoffe ihr hattet ein schönes Wochenende. Bevor wir mit dem Programm für die heutige Stunde beginnen, möchte ich noch kurz die Anwesenheitsliste überprüfen.“ Sie holte eine Mappe und einen Stift aus der Tasche und begann jeden Namen eines Schülers der Klasse laut auszurufen.

„Bones?“

„Hier.“, antwortete Jackson hinter mir.

„Clark?“

 „Ja.“, sagte ich.

 „Holmes?“

Stille.

„Holmes?“, wiederholte Mrs. Miller.  „Weiß irgendjemand wo Thomas ist?“

Leises Gemurmel, aber keine richtige Antwort.

Die Tür flog auf. Wenn man vom Teufel spricht…

„Entschuldigen Sie, Mrs. Miller, aber mein Motorrad wollte einfach nicht anspringen.“ Er lächelte sie mit diesem unschuldigem Gesicht an, sodass unsere Geschichtslehrerin nicht anders konnte, als zu seufzen und auf seinen Platz zu zeigen. Da ging er auch hin.

Mrs. Miller zählte die restlichen Schüler auf und begann dann mit dem Unterricht.

Als es zur Pause klingelte stand ich auf, ohne auf ihn, Elle oder wen auch immer zu warten. Ich ging zu meinem Spind um mein Buch für die nächste Stunde zu holen. Als ich die warmen Hände spürte, die meine Taille umarmten, erschrak ich so heftig, dass mir das Buch aus der Hand fiel. Mit einem Knall landete es am Boden und die Hände lösten sich von meinem Körper. Er hob das Buch auf. „Aufpassen, Kleines.“

„Hey, Tom.“ Jackson und Elle tauchten neben uns auf.

Tom wandte seinen Blick von mir ab und begrüßte seinen besten Freund. „Wie geht’s?“

„Bist gestern einfach abgehauen, Mann.“, meinte Jackson, ohne die Frage zu beantworten.

Tom sah mich wieder lächelnd an. „Ich wollte dieses Mädchen hier sehen.“

Ich konnte spüren, wie ich rot anlief. Er nahm meine Hand und wir gingen gemeinsam den Gang hinunter.

„Chuck schmeißt heute Abend eine Party.“, sagte Jackson nach einer Weile.

„Ach ja?“

„Gehen wir hin?“, fragte Elle mich.

„Ich weiß nicht so recht…“, antwortete ich unsicher.

Partys waren noch nie mein Ding gewesen. Viel zu laute Musik die dir das Gehirn aus den Ohren bläst, betrunkene Menschenmengen, die drängeln und nach Alkohol stinken.

Ich saß lieber gemütlich in einer Runde und rauchte eine. Oder mehrere.

„Wir müssen ja nicht lange bleiben. Danach können wir zu Jackson gehen und uns einen Film reinziehen?“, schlug Tom vor, seine Finger in meinen verschränkt.

„Okay.“, sagte ich.

Ihr denkt jetzt vielleicht, ich würde viel zu schnell nachgeben. Ich hätte keine eigene Meinung. Ich würde immer das tun was die anderen machen. Oder was auch immer. Aber wisst ihr warum ich mitgegangen bin? Weil ich weiß, dass Tom auch ohne mir gegangen wäre. Und weil ich nicht wissen will, was er in dieser Nacht ohne mich angestellt hätte.

Es klingelte. Tom gab mir einen Abschiedskuss und verschwand im nächsten Klassenzimmer. Ich verabschiedete mich von den anderen und ging in Richtung Raum 244.

„Clark!“

Ich drehte mich um und James Green kam mit einem Lächeln auf mich zugerannt. „Amerikanische?“

„Richtig.“

Ich teilte mir mit James so ziemlich alle Kurse, die ich dieses Jahr belegt hatte. Das wusste ich schon, als ich das Anmeldeformular ausgefüllt hatte. Wir hatten einfach dieselben Interessen. Ich konnte mich stundenlang mit ihm über Weltliteratur unterhalten. Bei anderen Menschen war die erste Frage ‚Wie geht’s? ‘, bei uns war sie ‚Welches Buch? ‘.

Ich belegte mit James die Kurse ‚Journalismus‘, ‚Amerikanische Literatur‘, sowie ‚Britische & Weltliteratur‘, ‚Kreatives Schreiben‘ und ‚Psychologie‘. Unser zweitliebstes Thema.

Schon als ich klein war, wollte ich immer alles über einen Menschen wissen. Seine Gedanken, sein Vorgehen, sein Verhalten, warum er sich so verhält.

Wenn ich meine Mom wieder mal bei einer ihrer Shoppingtouren begleiten musste, war meine Lieblingsbeschäftigung andere Menschen zu beobachten. Nicht in irgendeiner komischen, kranken Art oder sowas. Ich wollte einfach herausfinden, wer sie sind.

Hat dieser Mann zwei Kinder und eine Ehefrau, die zuhause auf ihn warten, oder ist diese junge Dame wirklich seine Einzige? Ist diese Frau glücklich oder ist es ein falsches Lächeln, welches sie ihrem Freund zeigt? Mag diese Verkäuferin ihren Job überhaupt?

Solche Dinge. Es war meine einzige Rettung nicht in der Gegenwart meiner Mutter in Tränen auszubrechen. Denn das ist das Einzige, was ich niemals tun würde.

„Der Fänger im Roggen.“, sagte ich, ohne auf die Frage zu warten.

„Gut. Sehr gut.“

„Ja. Der Erzähler ist großartig.“

„Wie war dein Wochenende?“, fragte er mich, als wir in den Raum spazierten und uns auf unseren Stammtisch setzten. Fast alle Schüler waren schon da, beachteten uns aber nicht weiter.

„Schön. Denke ich. Eigentlich nichts Besonderes. Ziemlich langweilig. Deines?“

Er lächelte mich an und schüttelte den Kopf.

„Was denn?“

„Das mag ich sehr an dir.“, bemerkte er.

Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht schoss wie Lava. „Was meinst du?“

„Du bist immer so ehrlich. Anfangs sagt du vielleicht die Standardantwort, aber dann fällt dir auf wie dumm das klingt und du sagst die Wahrheit, wie es wirklich war.“

„Es ging nur um mein Wochenende.“, meinte ich, und doch gab ich ihm voll und ganz Recht. Deshalb konnte ich die Frage ‚Wie geht’s? ‘ nicht ausstehen. Jeder, und wirklich jeder, antwortet dasselbe. ‚Gut‘. Und nicht mal die Hälfte spricht die Wahrheit.

„Guten Morgen, meine Lieben.“ Mr. Folks kam in die Klasse spaziert. Der gute Mann war Mitte 60, hatte eine Glatze, trug immer denselben grauen Anzug, selbst im Sommer bei größter Hitze, und seinen schwarzen Aktenkoffer. Er war streng, aber nicht zu streng. Was ich an ihm schätzte, waren seine Erzählungen. Er unterhielt uns und schenkte uns trotzdem viel Wissen. „Heute beschäftigen wir uns mit dem Thema ‚Drama‘ in der amerikanischen Literatur.“, teilte er uns mit und ließ seinen Koffer behutsam auf dem Boden nieder. 

„Drama Baby Drama!“, grölte Rob Lyons, ein Vollidiot aus dem Footballteam (keine Ahnung was der hier suchte), durch die Klasse und lautes Gelächter brach aus.

„Genau das meine ich, Robert! Also weiß jemand wie das Drama nach Amerika kam?“

Stille. Aus den Augenwinkeln sah ich wie James mich beobachte.

„Theater.“, sagte er laut, ohne den Blick von mir abzuwenden.

„Richtig, Green.“

„Gehst du heute zu Chuck Preston‘s Party?“, fragte er mich unbekümmert von Mr. Folks.

„Ich denke schon. Du?“

„Mal sehen.“

Mr. Folks redete weiter vom Drama in den USA, doch ich konzentrierte mich mehr darauf, dem Drang zu widerstehen, James Blick zu erwidern, der nicht aufhörte mich anzusehen.

Für Tom stand bereits fest, dass wir hingingen, obwohl er wusste, dass ich nicht wollte.

‚Ich hol‘ dich um Mitternacht ab. X‘, schrieb er mir, als es zur Pause läutete.

„Na dann vielleicht bis heute Abend.“, verabschiedete sich James von mir.

„Ja, vielleicht.“

Er verschwand aus dem Zimmer und ich blieb noch eine Weile sitzen und starrte auf mein Handy. Kurz kam mir der Gedanke, Tom zu fragen, ob wir nicht zuhause bleiben konnten, aber ich vergaß ihn schnell wieder.

„Okay. X‘, antwortete ich.

Ich stand auf und wollte schon gehen, als mich Mr. Folks‘ Stimme zurückhielt.

„Clark, könnte ich sie noch einen Moment sprechen?“

Mir war gar nicht aufgefallen, dass er die ganze Zeit an seinem Tisch saß, während ich auf mein Handy glotzte. Hoffentlich hatte ich nicht Selbstgespräche geführt oder sowas.

„Ja?“ Ich ging zu seinem Tisch nach vor.

„Du kennst doch bestimmt Mrs. Mayer?“

„Ja, klar. Sie ist meine Englischlehrerin.“

„Dann vermute ich, dass sie auch die Englischlehrerin von Mr. Holmes ist?“ Er hob seine Augenbraue und blickte mich ohne irgendeinen Ausdruck an. Für einen kurzen Moment setzte mein Herz aus. Ich hatte keine Ahnung auf was er herauswollte.

„Äh, ja. Wieso?“

„Mrs. Mayer hat euch vor kurzem den Auftrag gegeben einen Aufsatz zu schreiben, richtig?“

Das tat sie dauernd. „Ja. Welches Thema meinen sie?“

„Über das Buch Der scharlachrote Buchstabe.“

Ja, ich erinnerte mich. Das Buch hatte ich aber schon vor dem Englischunterricht gelesen.

„Mr. Folks, ich verstehe nicht…“

Er öffnete seine Aktentasche und holte ein beschriebenes Blatt in einer Klarsichthülle heraus. Er holte es aus der Hülle und es stellte sich heraus das es zwei Blätter waren, jeweils auf beiden Seiten mit einer krakeligen Schrift geschrieben, als hätte der Schreiber es eilig gehabt.

„Dieser Aufsatz ist von Thomas. Mr. Mayer hat ihn mir in mein Fach gelegt mit einer kleinen Notiz.“ Er reichte mir ein kleines, weißes Zettelchen aus der Innentasche seines Anzugs.

‚Die größten Talente sind die Versteckten. Lies es und sag mir danach deine Meinung. Anne.‘

Ich brauchte ein paar Sekunden um zu realisieren, was das hier alles bedeutete.

„Der Aufsatz ist großartig. Das wird Thomas auch von Mrs. Mayer zu hören bekommen. Allerdings bezweifle ich, dass er sich von ihr überreden lässt, meinen Kurs zu besuchen.“, sagte Mr. Folks nach einer Weile, lehnte sich an seinen Stuhl zurück und lächelte mich an.

Ich begriff es nicht. Thomas schrieb gute Aufsätze? Thomas schrieb Aufsätze?

„Ich weiß nicht… Ich weiß nicht, ob ich ihn überreden kann.“, murmelte ich.

Falsch. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt mit ihm über sowas reden konnte.

„Versuch’s. Ich bitte dich darum, Arizona. Ich glaube, dass könnte Thomas wirklich helfen…“

Ah. Das war’s. Thomas Zukunft stand am seiden Faden. Er würde den Abschluss nicht schaffen, wenn er so weiter machen würde wie jetzt. Ich wollte nie daran denken, aber es war offensichtlich. Tom hatte nicht vor, sich irgendwie zu ändern.

Mr. Folks räusperte sich. „Das wäre vielleicht seine letzte Chance alles nochmal auszugleichen. Natürlich, müsste er sich wirklich anstrengen. Aber ich glaube, er könnte das schaffen.“

Seht ihr, deshalb mochte ich Mr. Folks. Er wusste, was Hoffnung war. Er hatte das Rezept, wie man sie nie verlieren konnte. 

4

Chuck Preston’s Eltern hatten eine Firma die sie zusammen mit irgendwelchen Europäern leiteten. Das war das einzige was ich wusste. Daraus konnte man schlussfolgern, dass sie nicht oft zuhause waren und dass das Chuck allen Grund gibt Partys zu schmeißen, wann und so oft er will.

Er wohnte in einem Haus, das ziemlich groß war, allerdings nicht annähernd so wie meines, aber darauf bin ich nicht stolz. Chuck beteuerte jedes Mal darauf nicht reich zu sein (das wäre ja das schrecklichste auf der Welt für ihn), seine Familie hatte einfach nur Glück bei dem Preis des Hauses. Naja, wie auch immer.

Elle kam zu mir nach Hause und wir machten uns zusammen fertig. Meine Eltern waren auf irgendeiner Benefiz-Veranstaltung, was mir sehr gelegen kam, so brauchte ich nicht irgendeine Ausrede erfinden. Ich wusste, dass meine Eltern mir die Ausreden nie abkauften, obwohl sie so taten. Ich verstehe nicht, warum sie das taten, aber es war gut für mich in dem Moment.

Doch manchmal wünsche ich mir, sie hätten das nicht getan. Manchmal wünsche ich mir, sie hätten mir das alles von Anfang an verboten.

„Was ziehst du an?“, fragte Elle mich, während ich mir einen Eyeliner-Strich zog. Wir saßen auf zwei Sesseln vor meiner Kommode, über der ein großer Spiegel hing. Kings of Leon dröhnte aus meinen Stereoboxen.

„Keine Ahnung, irgendwas Schlichtes. Du?“

„Wollen wir nicht mal sexy sein?“

Ich lachte laut auf. „Wofür?“

„Für unsere wundervollen Freunde!“, schmachtete sie und betonte das Wort ‚wundervoll‘.

„Mein Freund kennt mich schon, ich brauch mich nicht für ihn aufzutakeln.“, meinte ich.

„Ja, das weiß ich schon. Ich will Jackson nur nicht langweiligen.“, antworte sie und zog ihre Lippen mit einem roten Lippenstift nach. Es stand ihr wie immer wunderbar.

Sie gab den Stöpsel auf den Stift und machte in einem leisen Klicken zu, während sie mich durch den Spiegel betrachtete. Ihr Blick wirkte auf einmal ernster, irgendwie traurig.

Ich beendete kurzfristig mein Augenkunstwerk und sah sie an. „Was ist?“

„Hast du manchmal Angst ihn zu verlieren?“

Ich wusste, wen sie meinte. Und ich wusste auch meine Antwort. Ich war nur einfach etwas perplex über diese Frage. „Habt ihr gestritten?“

Sie schüttelte sofort den Kopf. „Nein! Nein, Gott sei Dank nicht.“ Sie blickte zu Boden.

Eine Weile blieb es still, bis auf die Musik im Hintergrund.

„Jeden Tag.“, flüsterte ich irgendwann.

„Ich auch.“, antwortete sie leise.

Damit war das Thema beendet. Denn weder ich noch sie wollten noch weiter darüber reden. Wir konnten auch nicht. Was gäbe es da auch zu reden? Wir hatten uns entschieden, eine Beziehung zu führen, so kompliziert sie auch sein würde, da dachten wir auch, wir konnten uns nicht darüber beschweren. Noch so eine Sache, wo ich wünschte, sie wäre anders abgelaufen.

 

Um Punkt 24 Uhr stand Jacksons Auto vor meiner Einfahrt. Wir gingen meistens erst so spät, weil wir wussten, dass es um diese Zeit am besten war. Wenn wir zu einer Party gingen, fuhren wir meistens mit seinem Auto mit und nicht mit Toms Motorrad. Erstens konnten wir so alle zusammen fahren und zweitens musste ich mir keine Gedanken über meine Kleiderauswahl machen. 

Elle und ich eilten kichernd aus dem Haus. Selma war immer da, weshalb ich nie absperren brauchte. Sie tat immer so, als würde sie keinen von meinen nächtlichen Ausgängen mitkriegen, wofür ich ihr dankbar war.

Wir quetschten uns auf die Hintersitze, weil Jacksons Auto so flach war. Und unbequem.

Tom saß am Beifahrersitz, drehte sich zu mir und lächelte mich an. Gute Laune. Pluspunkt.

„Bereit für Party, meine hübschen Mädels?“, rief Jackson über die laute Musik, die aus seinem Radio dröhnte und trat aufs Gas.

10 Minuten später standen wir vor einem Haus, das, meiner Meinung nach, drohte einzustürzen. Ich könnte schwören, dass es vibrierte. Die laute Musik dröhnte aus allen Fenstern, aus denen man tanzende Schatten und kleine, bunte Lichtstrahlen sah. Mir taten Chucks Nachbarn echt leid, man hörte den Bass bis nach Kanada.

Tom nahm meine Hand und das warme Gefühl machte sich in meinem Körper breit. Obwohl ich ihn schon so oft berührt hatte, schon jede Zelle seines Körpers kannte, schien mir doch jede neue Berührung neu und noch schöner.

Am Rasen vor Chucks Haus standen ein paar Leute, mit Bierflaschen in der Hand oder einer Zigarette und unterhielten sich.

„Holmes!“, rief einer von ihnen, als wir am Weg nach vor zum Haus gingen.

„Hey, Mann.“ Tom begrüßte den Jungen mit seiner freien Hand. Ich kannte ihn nicht.

Dann gingen wir rein und ich spürte schon am Eingang, wie sich meine Kopfschmerzen bereit machten. Wir steuerten direkt auf die Küche zu, wir waren schon mal hier gewesen, deshalb kannten wir den Weg. Jackson und Elle gingen hinter uns.

Tom ließ meine Hand los und öffnete einen Schrank über der Spüle. Er schnappte sich eine Tequilaflasche und Jackson nach eine von Jack Daniels.

„Was wollt ihr?“, fragte Jackson.

„Zwei Tequila-Shots.“, antwortete Elle, statt mir. Ich lächelte ihr zu. Sie kannte mich.

Ich schluckte das Zeug mit einem Ruck meinen Hals hinunter. Es brannte leicht, aber es war ein angenehmes Brennen. Ich wollte gegen meine Kopfschmerzen ankämpfen und das war jedes Mal meine Taktik. Sie funktionierte zwar nicht immer, aber was soll’s. So hielt ich es in dieser Hütte wenigstens für eine Zeit aus. Gott, überall waren Menschen. Betrunken und zugeraucht und widerlich. Es war nicht so, dass ich noch nie betrunken war, aber es ist beschissen, wenn du es nicht bist und alle anderen schon.

Tom hatte schon drei Gläser intus, als ich mich wieder im zuwandte. Er war wie ein kleines Kind, du brauchtest ihm nur Sekunden nicht deine Aufmerksamkeit schenken und er stellte irgendwas an.

„Tu‘s!“, brüllte er Jackson an, der ein normales Glas, voll mir Wasser in der Hand hielt und es grinsend anstarrte. Nein warte, kein Wasser.

„Gott, Jackson, bitte nicht.“, murmelte Elle, aber zu spät.

Er kniff die Augen zusammen und schluckte bis das Glas leer war. Er schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Scheiße.“, fluchte er wieder und wieder.

„Vollidiot.“, hörte ich Elle sagen und lachte.

„Komm, sehen wir uns mal hier um.“ Ich nahm ihre Hand und führte sie von den Vollidioten weg. Wir zwängten uns durch die Menge durch, die gerade einem Mädchen in meinem Alter zujubelte, die oben ohne am Tisch tanzte. Ich kannte sie aus Chemie. Sie war eigentlich ein ziemlicher Streber und redete nicht viel. Und mit anderen Menschen hatte ich sie auch noch nie gesehen. Was der Alkohol aus Menschen machte überraschte mich immer wieder.

„Stacey Keiler, was ist nur aus dir geworden.“, sagte Elle, sah zu ihr und schüttelte den Kopf.

„Ein normaler Teenager heutzutage.“, antwortete ich.

Wir gingen die Treppen hinauf. Als wir in das erste Zimmer wollten, schmiss jemand ein Kissen nach uns. Zwei Gestalten lagen am Bett und taten weiß Gott was, ich war froh, dass es zu dunkel war, um es zu erkennen.

Erst das vierte Zimmer in langen Flur war frei und es stellte sich als Chucks Zimmer heraus. Eigentlich galt die Regel ‚Betreten verboten‘, aber was kümmerte uns das. Ich hatte Chuck noch nicht mal gesehen an diesem Abend.

Ich drehte das Licht auf und schloss die Tür ab. Ich hatte keine Lust auf ein sexgeiles, knutschendes Paar, das in das Zimmer stürmte.

„Sieh mal einer an, Chuck mag’s ordentlich.“, hörte ich Elle sagen und sie hatte Recht. Das Zimmer war schön und sauber, aufgeräumt und geputzt. Wahrscheinlich nicht von ihm selber, aber hey, wenigstens lässt er eine Putzfrau in sein Zimmer.

Ich ging zu seinem kleinen Bücherregal, aber es stellte sich heraus, dass Chuck ein Science-Fiction-Liebhaber war, was so ziemlich das Letzte war, was ich jemals lesen würde.

Daneben stand ein kleines Regal mit lauter Pornofilmen und Heften. Offensichtlich betraten seine Eltern das Zimmer nie oder es war Chuck egal. Ich vermutete das Zweite, Chuck war schon immer ein kleiner Perversling gewesen. Zwar stritt kein Typ heutzutage mehr seine Vorliebe für das Masturbieren ab, aber Chuck schrie es förmlich  jeden Tag in die Welt hinaus.

Elle kreischte laut auf und lachte hysterisch. Ich drehte mich zu ihr um und sie sah auf Chucks Wand. Da hing ein Schild mit der Aufschrift ‚I LOVE VAGINAS‘. Ich schloss mich Elles Lachen an. Irgendwie hatte ich so etwas erwartet.

Wir verschwanden wieder aus seinem Zimmer und machten uns auf die Suche nach Tom und Jackson. Wir durchsuchten das ganze Haus, fanden sie aber nicht. Erst als ich aus der Glastür im hinteren Teil des Hauses blickte, sah ich die beiden. Sie standen mit dem Typen, der Tom vor dem Haus begrüßt hatte, auf der Terrasse und redeten.

Ich zeigte es Elle und wir gingen zu ihnen. Sie schauten uns etwas nervös an, als wir uns zu ihnen gesellten.

„Was ist los?“, fragte Elle, bevor ich es tun konnte.

Ich stellte mich neben Tom und fuhr mit der Hand langsam seinen Arm hinab und schloss meine Finger um seine. Er drückte sie leicht.

„Nichts, Babe.“, murmelte Jackson und starrte wieder den komischen Jungen an, der ihn und Tom fragend anblickte.

„Also nein?“, fragte er.

Tom schüttelte kaum merkbar den Kopf, aber natürlich fiel es mir auf. „Nein Mann. Wir gehen jetzt.“, sagte er leise und zog mich von ihm weg. Auch Jackson nahm Elle an der Hand und wir gingen wieder ins Haus. Ich konnte an Elles Blick sehen, dass sie genauso verwirrt war wie ich. Aber die Musik war viel zu laut und ich viel zu ängstlich, um Tom zu fragen was das sollte.

Tom steuerte die Eingangstür zu und im nächsten Moment saßen wir in Jacksons Auto. Ich dachte eigentlich, dass ich Tom überreden müsste, wieder nach Hause zu fahren, aber das war wohl nicht der Fall. 

„Was war das?“, flüsterte Elle mir hastig zu, bevor Tom und Jackson einstiegen.

Ich zuckte mit den Schultern und biss mir nachdenklich auf die Lippe. Ich hatte eine Ahnung was das war.

Jackson fuhr los. Ich räusperte mich irgendwann, aber es blieb still. Die ganze Fahrt über, bis zu meinem Haus. Ich stieg aus, Tom auch und ich verabschiedete mich und bedankte mich für die Fahrt.

„Ich begleite sie noch zur Tür.“, sagte Tom, dabei tat er das immer, Jackson wusste das.

Wir gingen wortlos den kleinen Weg bis zu meiner Eingangstür. Als wir davor standen, nahm er meine Hände in seine und küsste mich. Er schmeckte nach Tequila, Bier und Zigaretten. Interessante Mischung, aber es gab mir unheimlich Lust auf eine Kippe.

„Gute Nacht Arizona.“, hauchte er mir ins Ohr.

Ich wollte ihn fragen, was der Typ bei der Party sollte, aber ich war zu schwach. „Gute Nacht, Tom.“, flüsterte ich deshalb nur. Er ging wieder und ich klopfte an die Tür.

Nach einer Weile öffnete Selma mit einem etwas verschlafendem Blick.

„Tut mir leid, Selma, ich habe meinen Schlüssel vergessen.“, sagte ich mit schlechtem Gewissen und betrat das Haus.

„Das macht nichts, Arizona. Ich dachte, es wären deine Eltern, das wäre peinlich gewesen. Ich bin unabsichtlich eingeschlafen.“

Ich wollte schon in mein Zimmer gehen, da blieb ich stehen und sah sie an. „Wie meinen Sie das?“

„Es ist gut, dass du mich geweckt hast, ich muss auf sie warten.“

„Sie warten jedes Mal, bis meine Eltern nach Hause kommen?“, fragte ich entgeistert.

„Ja.“

„Nur um diesen Monstern die Türe zu öffnen?!“

„Arizona.“ Ihre Stimme klang sanft. Ich weiß nicht, wie diese Frau das aushielt.

„Als wäre es schlimm, den Hausschlüssel mitzunehmen, wie jeder andere normale Mensch.“, zischte ich. Ich wusste, dass meine Eltern immer erst spät nach Hause kamen und dann von Selma zu verlangen, ihnen die Türe zu öffnen, war das Letzte. Nur wenige Stunden später sollte das Frühstück dann auf dem Tisch stehen, und es war selbstverständlich für sie, dass Selma da wieder putzmunter war.

„Es tut mir sehr leid, Selma. Wirklich. Sowas haben Sie nicht verdient.“

Sie lächelte nur schwach und nickte.

Ich ging in mein Zimmer und kochte vor Wut. Hass stieg in mir auf. Ich konnte nicht fassen, was für Eltern ich hatte. Ich riss die Nachtschublade neben meinem Bett auf und holte das Zigarettenpäckchen heraus. Damit ging ich auf meinen Balkon, von dem aus ich auf die Straße schauen konnte. Mein Zimmer plus den Balkon mit der Aussicht war das Einzige, wirklich das Einzige, wofür ich meinen Eltern dankbar war.

Ich zündete den Sargnagel an, sowie Jackson ihn immer nannte. Das Wort gefiel mir.

Ich hatte nie mit dem Rauchen begonnen, weil es „in“ war oder „cool“, wie ungefähr 80% der Menschheit. Mir gefiel das Gefühl etwas Böses zu tun. Zu wissen, dass ich früher sterbe, wisst ihr. Es klingt bescheuert, aber so war das damals für mich. Das Leben war sowieso scheißkurz, da machten Zigaretten es wenigstens genießbar.

Es war regelrecht meine Leidenschaft, Dinge zu tun die schlecht für mich waren und zu dieser Zeit war das noch nicht mal schlimm, das war noch gar nichts, das Rauchen. 

Das Problem war, dass Tom dieselbe Wirkung für mich hatte, wie eine Zigarette.

Thomas war ein Sargnagel.

5

 

„Wieso habt ihr keinen Hausschlüssel?“

Dad sah von seiner Zeitung auf und blickte mich verwirrt an. „Haben wir.“

„Und wieso benutzt ihr ihn nicht?“

„Was willst du, Arizona?“ Er wirkte genervt. Genervt wegen zwei Fragen. Das nenn ich mal einen liebevollen Vater.

„Ihr lässt Selma die ganze Nacht aufbleiben, während ihr euren Spaß habt, nur damit sie euch dann die Tür aufmacht und ihr sie einen Scheißdreck beachtet?“ Meine Stimme blieb ruhig, aber im Inneren tobte ich.

„Achte auf deine Wortwahl.“ Meine Mutter stöckelte in das Zimmer und setzte sich auf ihren Stammplatz, weit weg von mir. Sie trug eine weiße, lockere Bluse, einen schwarzen Bleistiftrock und dunkle Lederpumps. Sie wäre schön, wäre sie nicht von innen aus hässlich.

Mit ihrer knochigen Hand nahm sie ihre Tasse Kaffee, trank einen Schluck und stellte sie mit einen leisen Klirren wieder auf die Untertasse. Das war ihr Frühstück. Sie aß so gut wie nichts den ganzen Tag, außer am Abend und selbst da viel zu wenig. Man könnte sagen, sie lebte von Luft und Liebe aber das wäre glatt gelogen.

„Ich verstehe dein Problem nicht.“, sagte sie.

 Mein Vater war wieder in seine Zeitung vertieft.

„Ich habe kein Problem. Mir tut Selma einfach nur leid.“, antwortete ich karg und schaute sie starr an.

Im Gegensatz zu ihr, die mich keine drei Sekunden ansehen konnte ohne sofort woanders hinzusehen. „Das ist ihr Job, Arizona. Sie kann gerne gehen, wenn ihr etwas nicht passt.“

Ich wünschte das würden sie zu mir sagen. Ich würde sofort verschwinden. Aber ich wüsste nicht mal wohin ich gehen sollte.

„Ich wünsche mir für sie, dass sie das bald tut.“, sagte ich, stand auf und verließ das Zimmer.

Wenn ihr jetzt glaubt, dass meine Eltern das getroffen hat, dass sie sauer sind oder was weiß ich was, dann liegt ihr falsch. Ich hätte gar nicht mit dem Thema anfangen brauchen und sie würden sich genauso verhalten wie jetzt auch.

 

Mein Weg zur Schule war nicht weit und ich liebte ihn. Ich ging jeden Tag durch eine Alle, auf einem schmalem, sauberem Steinweg. Gleich daneben befand sich ein riesiger, grüner Park, der mich an Sommer erinnerte. Von den Bäumen hing das typische Louisianamoos. Sowohl für die Parks, als auch das Moos ist Savannah bekannt. Ich war froh, in diesem Südstaat aufgewachsen zu sein. Ich fand die vielen älteren und vor allem charakterstarken Bauten jedes Mal aufs Neue erstaunend schön, obwohl ich die Meisten schon tausende Mal gesehen hatte. Außerdem stand die berühmte Bank auf der Tom Hanks alias Forrest Gump Platz nahm in Savannah. Mittlerweile im Savannah History Museum, denn irgendwelche Idioten versuchten die ganze Zeit sie zu stehlen.

Ich ging ungefähr 15 Minuten bis zur Schule und immer alleine. Das brauchte ich, wenn ich den restlichen Tag von Menschen umgeben war, die ich zum größten Teil nicht leiden konnte. Ganz ehrlich, wer mag schon die Leute aus seiner Schule? Ich war zumindest froh, als ich aus dieser Psychiatrie raus war, auch wenn ich manche Lehrer vermisste.

Eleanor stand am Ende des Parks, eine Ecke entfernt lag die Schule. Sie stand oft da, und wartete auf mich. Manchmal aber auch nicht, meistens waren dass die Tage, dessen Nächte sie bei Jackson verbrachte. Dann kamen die beiden meistens zu spät. Tom hatte irgendwann mal gesagt, dass Jackson total auf Morgensex abfuhr, weshalb ich nun jedes Mal, wenn Elle nicht am Ende des Parks stand und auf ihr Handy blickte, eine Zigarette zwischen den rot geschminkten Lippen, an Morgensex denken musste. Danke, Tom.

Elle blickte von ihrem Handy auf und winkte mir zu.

Dieses Mädchen ist bis heute das einzige Mädchen, welches ich wirklich und wahrhaftig liebe. Nicht auf die Art wie ich Tom liebte, ihr wisst schon. Aber Elle war schon immer meine beste Freundin gewesen. Das hatte sich nicht geändert, als sie mir in der Grundschule eine Puppe geklaut hatte und das hatte sich auch nicht geändert,  als Katie Elle vor allen anderen Schülern eine verpasst hatte. Ich nahm damals Elles Hand, brachte sie aus der Cafeteria und wischte ihre Tränen weg. Ich ging mit ihr zum Supermarkt und kaufte eine Packung Erbsen aus der Tiefkühlabteilung und hielt ihr das eiskalte Ding eine halbe Stunde auf ihre rote Wange, denn sie hörte nicht auf zu schluchzen. Sie hatte so ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass irgendwann rauskommen würde, dass sie mit Jackson geschlafen hatte. Noch während er mit Katharina zusammen war.

Aber wisst ihr was? Ich habe keine einzige Sekunde gedacht, dass Elles Verhalten falsch war. Ich dachte nicht einmal an die Wörter, die andere Biester auf dem Schulgang zischten, wenn sie an ihr vorbeigingen.

Wenn ein Mensch an jemand anders einen Fehler findet, dann freut er sich, weil es nicht sein eigenes Problem ist. Aber kaum macht er selbst einen Fehler, erwartet er von allen Mitleid.

Ich verstehe, dass Katie verletzt war. Ich weiß, dass sie Jackson geliebt hat. Aber ich glaube, hätte sie davor anders gehandelt, hätte sie ihn anders behandelt…Dann wäre es auch anders gekommen.

Elle rauchte jeden Morgen eine Zigarette und das war’s. Den restlichen Tag rührt sie keine mehr an, dass findet sie „geschmacksverirrend“. Keine Ahnung wieso, aber besser eine am Morgen, als zwanzig über den Tag verteilt. Sie hat mir einmal erzählt, dass ihr Jacksons Atem genug Rauch abgibt.

„Arizona! Kannst du dich noch an Chucks Party erinnern?“, rief sie mir zu, als ich zehn Meter von ihr entfernt war.

„Ist ja nicht so, als wäre ich betrunken gewesen.“

„Das war doch dieses Mädchen aus einem Kurs von dir, dieser Streber, äh…“

„Stacey Keiler?“, half ich ihr auf die Sprünge. Ich kam bei ihr an und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Wir gingen nebeneinander in Richtung Schule weiter.

„Genau! Die Gute hat ja ´ne Stripshow auf dem Tisch hingelegt, und dreimal darfst du raten, wer sie flachgelegt hat.“

„Mr. Preston höchstpersönlich.“

„Richtig. Und weißt du was? Chuck hat es aufgenommen! Ihr Stöhnen war die ganze Nacht auf Facebook abzuhören.“, erzählte sie aufgebracht.

Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Das ist echt widerlich. Chuck ist ein Arschloch.“

„Und wie. Die Arme traut sich heute bestimmt nicht in die Schule.“

Wie aufs Stichwort fuhr ein Mercedes in die Gasse ein, parkte vor einer Einfahrt und Chuck hüpfte aus dem Auto. Er trug eine Sonnenbrille, obwohl die Sonne nirgends zu sehen war, geschweige denn davon, dass es kalt war.

„Hey, ihr Wichser, gebt euch mal dieses scharfe Teil hier, besser als jede Schlampe an dieser Schule!“, brüllte er in Richtung Schule. Ich folgte seinem Blick und sah Tom, Jackson und Mason, ein netter Freund von den beiden, am Schulgelände lehnen.

Tom trug dieses graue, ausgewaschene Shirt mit leichtem V-Ausschnitt, was ich so sehr liebte, Jeans und eine schwarze Lederjacke. Eins musste man ihm lassen, er hatte guten Geschmack was Mode betraf. Wobei er immer der Meinung war, nackt sein wäre am Besten.

Er lehnte sich nach vorn und schaute zu Chuck. „Alter, wen interessiert das?“, schrie er zurück. Lachend wendete er seinen Blick wieder von ihm ab und entdeckte mich. Elle und ich hatten das Ganze mit langsamen Schritten beobachtet und waren schließlich bei der Schule angekommen. Ich ging auf Tom zu und als ich vor ihm stand legte er sanft seine Hände um meine Taille und küsste mich. Das tat so gut.

Je weniger Schokolade du bekommst, desto mehr lernst du jeden einzelnen Bissen wertzuschätzen.

„Gut geschlafen?“, fragte ich.

„Nicht wirklich. Du fehlst in meinem Bett.“

Ich spürte wie Wärme mein Herz umschloss. Ich versuchte mir, nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich über seine gute Laune freute. „Ich kenne dein Bett doch gar nicht.“

„Bald lernst du es kennen.“, sagte er. „Bis später.“ Er nahm seine Hände von meiner Hüfte und ging an mir vorbei in die Schule.

Ich war noch nie bei Tom zuhause gewesen. Er wollte das nicht. Jedes Mal, wenn ich ihn fragte, ob wir zu ihm gehen konnten, schüttelte er nur den Kopf und sagte: „Ein anderes Mal.“ Oft hatte ich den Gedanken, er hätte gar kein Zuhause. Aber das wäre komplett unlogisch, wo sollte er sonst seine Kleidung und das ganze Zeug herhaben? Bei Jackson wohnte er auch bestimmt nicht, das hatte mir Elle versichert.

Irgendwann hatte ich aufgehört ihn zu fragen und mich damit abgefunden. Es war ja eigentlich sowieso nicht wichtig, aber Tom machte aus allem etwas Geheimnisvolles, weshalb jedes Mal die Neugier in mir hochstieg.

Elle stand Hand in Hand mit Jackson bei den Stiegen und rief nach mir. „Arizona, kommst du?“

Ich ging hastig zu ihr.

„Arizona versinkt schon wieder in erotische Gedanken mit Mr. Holmes.“, meinte Jackson und grinste mich an.

„Halt‘ die Klappe, Jackson.“, sagten Elle und ich gleichzeitig und er lachte.

Wir betraten das Schulgebäude und im selben Moment klingelte es zur ersten Stunde.

„Was hast du jetzt?“, fragte Elle mich.

„Kreatives Schreiben. Und du?“

„Mathe. Jackson?“

„Freistunde.“, murmelte er in Elles Haar hinein.

„Schwachsinn. Geh jetzt in den Unterricht.“, sagte Elle und schob ihn von sich weg.

„Können wir nicht gemeinsam in Richtung Klo gehen?“ Er zwinkerte ihr zu.

„Oh Gott, ich bin auch noch hier, du Perversling!“, quiekte ich. „Bis dann!“ Ich verschwand schnell in Raum 179. Ich sah mich in dem vollen Raum um und entdeckte James ganz hinten, er war in ein Buch vertieft. Ich musste lächeln. Er war die männliche Version von mir.

„Wie heißt es?“, fragte ich, bei ihm angekommen und ließ mich in den Stuhl sinken.

Er blickte kurz auf. „Wer die Nachtigall stört.“

„Das steht auch noch auf meiner Liste.“

Miss Kings, eine ungefähr 30-jährige, nette Lehrerin mit braunen Locken, betrat das Zimmer und begrüßte uns alle mit einem leisen Murmeln. Sie zeigte stumm auf ihren Hals, was  bedeute, ihr ging es nicht gut. Sie flüsterte: „Macht bitte leise die Aufgaben auf Seite 16.“

Ich sah zu James, dessen Buch mittlerweile auf dem Tisch ruhte. Er sah zu mir.

„Hast du ein Buch mit?“, fragten wir fast gleichzeitig und lachten. Miss Kings gab ein Krächzen von sich und starrte uns böse an.

„Ich hab meines im Spind.“, flüsterte ich ihm zu.

„Egal. Wie war Chucks Party?“, fragte er.

Da fiel mir ein, dass ich ihn gar nicht gesehen hatte. Hatte er nicht gesagt, er würde kommen?

„Hab’s mir anders überlegt.“, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Oh. Naja, du hast nichts verpasst.“ Ich musste wieder an die komische Situation zwischen Tom, Jackson und diesem fremden Jungen denken, verdrängte sie aber wieder schnell.

„Ich hab nur gehört, dass Stacey Keiler auf den Gastgeber reingefallen ist?“

„Ja, das hab ich auch erfahren.“

„Ich kann den Typen echt nicht ausstehen.“, murmelte er.

„Das war echt scheiße von Chuck, du hast Recht.“, stimmte ich ihm zu.

Wir unterhielten uns noch über James Buch und als es läutete gingen wir gemeinsam den Flur entlang.

„Hey, wir haben doch bis nächste Woche eine Rezension von der Geschichte über dieses junge Mädchen, oder?“, fragte er.

Ich erinnerte mich. „Ja, wieso?“

„Naja, ich dachte wir könnten vielleicht gemeinsam darüber reden? Die Geschichte durchgehen und so… Also nur wenn du willst, vielleicht hast du auch keine Zeit, aber ich dachte, es wäre eine gute Idee und…“

Ich lachte und unterbrach ihn. „Schon okay, James. Ja, sehr gerne. Komm doch einfach morgen nachmittags bei mir vorbei.“

Er blieb stehen, weil seine nächste Stunde in der Klasse hinter ihm war. „Okay.“, er lächelte mich an.

 „Okay.“, sagte auch ich und sah in seine schönen, grünen Augen, die sich perfekt an seinen Nachnamen angepasst hatten.

„Hey Babe.“, hörte ich plötzlich eine Stimme sagen und schon schloss sich Toms Hand um meine. Die andere steckte in seiner Hosentasche und so stand er neben mir und schaute James ernst an. „Green.“

James nickte Tom zu und verschwand dann in der Klasse.

Ich sah zu Tom, der mich bereits anfunkelte. „Ich kann diesen Green nicht leiden.“

„James. Sein Name ist James. Und er ist vollkommen ok.“

„Ist mir egal wie er heißt, er braucht dich nicht so anzuhimmeln.“, knurrte er.

„Er hat mich nicht… Wie auch immer. Wir haben jetzt Englisch, oder?“, versuchte ich vom Thema abzulenken. Ich zog ihn mit mir zu meinem Spind und holte mein Englischbuch.

Ein Schritt vom Klassenzimmer entfernt, ließ Tom meine Hand los und ein kleines Stück Enttäuschung machte sich wieder in meinem Körper breit. Wie ich es hasste. Meine Stimmung war nur von ihm abhängig.

Miss Mayer stand bereit am Lehrerpult und bat mich die Tür zu schließen.

„Ich werde euch jetzt eure Aufsätze zurückzugeben, die ich letzte Woche eingesammelt habe. Ich war größten Teils zufrieden, ein paar müssen sich dringend verbessern! Eine Person hat mich allerdings sehr überrascht. Im positiven Sinne.“

Tom. Ich beobachtete jeden Schritt von Miss Mayer, wie sie jeden einzelnen Zettel einem Schüler zurückgab. Sie gab auch mir einen und lächelte. Sie war wie immer zufrieden mit mir.

Erst als sie die letzten zwei Zettel in der Hand hielt ging sie zu Tom. Der sah gelangweilt aus dem Fenster und bemerkte Miss Mayer erst als sie sich vor seinem Tisch räusperte. Das veränderte seinen Ausdruck allerdings nicht, er schaute sie nur mienenlos an.

„Thomas, könntest du bitte nach der Stunde noch hier bleiben? Ich möchte über deinen Aufsatz reden.“

Er nickte nur. Sie legte ihm den Aufsatz auf den Tisch, ging wieder zu ihrem Pult und begann mit dem Unterricht.

Tom machte sich nicht einmal die Mühe das Feedback von Miss Mayer auf dem Aufsatz, was sie jedem Schüler gab, zu lesen. Er ließ die Zettel liegen und starrte weiter aus dem Fenster.

Dieser Junge machte mich manchmal unglaublich wütend.

Als es zur Pause läutete, versuchte ich mir extra viel Zeit zu lassen, meine Sachen einzupacken. Es nützte nichts, Miss Mayer wartete solange bis auch ich die Klasse verließ.

Als Tom 5 Minuten später herauskam, wirkte er nicht verändert. Eher genervter.

„Was wollte sie von dir?“, fragte ich, obwohl ich es wusste.

„Nichts Wichtiges. Bis später.“ Und weg war er.

Wenn Tom über etwas Bestimmtes nicht reden wollte, war es unnötig es auch nur zu versuchen. Ich musste es für eine Zeit darauf beruhen lassen. 

6

Am nächsten Tag machte ich mir mit James aus, dass wir uns nach Unterrichtschluss vor der Schule trafen. Wir hatten beide um 15 Uhr aus.

Als es klingelte, packte ich meine Sachen, ging zum Spind und holte mir den Zettel mit der Geschichte für die Rezension, die ich und James schreiben würden. Natürlich nicht beide dieselbe, aber jedes Mal wenn wir zusammen schrieben, halfen wir uns gegenseitig und brachten so die besten Ideen hervor, wodurch ausgezeichnete Aufsätze entstanden.

Ich ging zum Hauptausgang und sah James schon durch die Glastür auf der Stiege am Rand sitzen. Ich ging durch die Tür und wollte ihn gerade erschrecken, als Tom vor mir auftauchte.

„Arizona.“ Er sagte einfach meinen Namen und blickte mich ausdrucklos an.

Ich wartete auf mehr, aber sein Mund blieb geschlossen. „Ja?“

„Ich nehme dich heute mit zu mir.“

Ich starrte ihn an, um zu begreifen, was er gerade gesagt hatte.

Ich hätte mir, entschuldigt meine Ausdrucksweise, in den Arsch beißen können.

Jetzt?! Genau jetzt? Wieso nicht gestern, oder morgen oder schon vor einem Jahr?

„W…Wieso?“

Er schaute mich an, als wäre das die dümmste Frage, die ich stellen könnte. „Wieso nicht?“

„Nein, ich meine… warte, hast du nicht noch Unterricht?“ Ich wusste, dass er noch Unterricht hatte.

„Na und?“ Seine Stimme hatte bereits einen bissigen Unterton.

„Ich will nicht, dass du wegen mir die Schule schwänzt.“ Er hätte zu hundert Prozent auch ohne mir Schule geschwänzt.

„Ich würde jetzt auch ohne dich die letzten Stunden schwänzen. Sie sind unnötig.“

„Für dich ist alles unnötig.“ Auch ich wurde langsam unruhig.

„Oh Gott, jetzt geht das wieder los.“

„Naja, wenn du dich mal ändern würdest, müsste ich nicht die ganze Zeit mit dir reden, als wäre ich deine Mutter!“ Die war nämlich nicht da, um ihm das zu sagen. Aber bevor ich diesen Gedanken aussprechen würde… ich würde ihn lieber für den Rest meines Lebens behandeln wie meinen Sohn.

„Wieso lässt du es nicht einfach darauf beruhen, dass mich die Schule einen Scheißdreck interessiert?! Was geht dich das überhaupt an?“

Er brachte immer diese Aussagen, gegen die ich nicht ankam. „Ich… ich will nicht, dass du…“

„Arizona?“

Bevor Tom vor meinem erbärmlichen Stottern davonrennen konnte, tauchte James hinter ihm auf. „Alles in Ordnung?“

Die beiden schauten mich gleichzeitig an. Tom hatte seine Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich dazwischen eine kleine Falte bildete. James fühlte sich unbehaglich, das wusste ich, aber er blickte mich trotzdem sorgenvoll an.

„Ja. Alles ok. Du kannst einstweilen vorgehen, ich hol dich bestimmt ein.“ Ich gab ihm zu verstehen, dass es kein guter Zeitpunkt war.

Er nickte leicht, aber bevor er sich umdrehen konnte, fing Tom wieder an.

„Du gehst zu ihm? Deshalb kommst du nicht mit zu mir? Wegen ihm?!“

„Tom, erstens kommt er zu mir und zwei…“

Er schnaubte laut und unterbrach meine zittrige Stimme. „Ja klar, das macht es natürlich besser.“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter.

Erst da fiel mir auf, dass wir beobachtetet wurden. Überall um uns herum waren Schüler, die schon immer jämmerlich in der Kunst waren, unauffällig hinzusehen. So starrten unzählige Gesichter auf mich und warteten gespannt auf meine Antwort. Ich schloss für eine Sekunde die Augen. In dieser Sekunde hoffte ich, dass Toms Gesichtsausdruck sich verändern würde. Dass er von wütend zu traurig umsteigen würde, um mich einfach nur zu umarmen.  Das war alles, was ich brauchte. Ich wollte nur ihn.

Ich machte die Augen wieder auf und da stand er, und er war so schön. Aber er sah mich an, als würde er mich hassen.

„Es tut mir leid Tom, aber wie du siehst, habe ich heute mal keine Zeit für dich.“ Meine Stimme brach am Ende ab, aber das war egal.

Es war eine große Überwindung einfach an ihm vorbei zugehen und James mitzuziehen. Ich stellte mir, als ich den Weg entlang ging, ohne mich noch einmal  umzudrehen, die ganze Zeit sein Gesicht vor, seine Mimik, was er sich wohl jetzt dachte. Und wie der Vollidiot, der ich nun mal war, wartete ich, dass er meinen Namen rief. Oder das er mir hinterherrannte. Aber das tat er nicht, natürlich nicht. Ich erwartete nämlich immer genau das von ihm, was er nie tun würde.

James blieb am Nachhauseweg ruhig, wofür ich ihm unglaublich dankbar war.

Als ich die Haustür aufsperrte, ging Selma gerade die Marmorstiegen hinunter.

„Guten Tag, Arizona!“ Sie lächelte und als sie James sah, wurde ihr Lächeln noch breiter. „James!“ Sie mochte ihn sehr.

„Guten Tag, Selma.“, James erwiderte das Lächeln.

Die beiden kannten sich, weil James schon mal bei mir war, allerdings wusste Tom damals nichts davon und ich wünschte es wäre auch dieses Mal so gewesen.

„Was wollt ihr essen, meine Lieben?“

Mir fiel nichts ein, wie sooft. Ich schaute zu James.

„Hm, wir könnten uns doch selber etwas kochen?“

„Gute Idee!“ Ich fand den Gedanken mit James zu kochen wirklich toll, so konnte ich mich ablenken und nebenbei Spaß haben.

„Ich weiß nicht so recht, soll ich euch wirklich nichts kochen? Ich könnte auch Martha anrufen, sie würde euch noch bessere Dinge zubereiten!“ Selma ließ nie locker. Bei anderen Leuten war das meist nervig, aber bei ihr war das unglaublich süß.

Martha war die Chefköchin unserer Küche.

„Schon okay, ich hab nie die Gelegenheit zu kochen! Martha will auch mal ihre Ruhe haben und du brauchst die sowieso! Also leg dich schlafen, du könntest auch ein Buch lesen. Du kannst gerne eines aus meiner Bücherei nehmen.“

„Okay,  Arizona. Danke. Aber wenn du was brauchst,…“

„Wenn ich was brauche, rufe ich dich. Sofort.“ Ich lächelte sie an und sie ging die Treppen wieder rauf.

„Sie ist eine unglaublich liebevolle Frau.“

„Ja. Das ist sie. Komm mit.“ Er folgte mir in die Küche. Das Problem war nur, dass ich mich da überhaupt nicht auskannte. Ich wusste weder, wo die Töpfe waren, noch wo sich die Teller befanden.

„Was kochen wir überhaupt?“, fragte James, ging staunend in der Küche herum.

„Irgendwas Einfaches. Spaghetti mit Tomatensauce vielleicht.“

„Habt ihr alle Zutaten dafür hier?“

Ich lachte. „Ja, ich denke schon.“ Ich ging zum riesigen Edelstahlkühlschrank und machte die beiden Türen auf. Wie ich vermutet hatte, war viel zu viel Essen in ihm.

Während James die Kästen nach Pasta suchte, hatte ich alle Zutaten für die Sauce beinander und versuchte die Töpfe zu finden. Als alles was wir brauchten auf der Theke stand, drehte ich den Herd auf und erhitze Wasser in einem Topf, während James neben mir Knoblauch schnippelte und sie in den anderen Topf, auf dem Herd, für die Soße schmiss.

„Geht’s dir wieder besser?“, fragte er nach einer Weile.

„Mir ging es eigentlich nicht schlecht.“, fiel mir auf.

„Oh. Okay.“ Er glaubte mir nicht.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weshalb ich erst einmal nur die Nudeln in den köchelnden Topf gab. Ich starrte auf das blubbernde Wasser und dann wurde mir klar, wieso mir dieser Streit mit Tom so normal vorkam.

„Ich bin daran gewöhnt.“, sagte ich leise.

Er hörte auf zu schneiden und schaute mich an. „Passiert das so oft?“

„Ja. Es kommt mir beinahe alltäglich vor mit ihm zu streiten. Als würde es dazu gehören.“

„Das ist…“

„Traurig.“, beendete ich seinen Satz. „Ich weiß.“

„Nein. Es ist okay. In einer Beziehung streitet man sich nun mal.“

„Wir streiten nicht, wir fetzen uns Wörter ins Gesicht, bis irgendwer aufgibt und geht.“

„Soweit ich weiß, nennt man sowas Streit.“

Ja, er hatte Recht, aber was brachte mir das?

„Weißt du was Chuck mal zu mir gesagt hat? Er sagte, wenn Tom und ich streiten, dann wirkt es so als würden wir uns hassen. Er sagte, klar, dass würde bei jedem so rüberkommen, aber bei uns merkte man das trotzdem ganz stark. Und dann hat er gelacht und gemeint, dass das komisch sei, weil das bei uns ja gar nicht so ist. Verstehst du? Wir würden uns ja gar nicht hassen. Das war vor der Schule, irgendwann vor einem Monat. Ich bin dann aufs Klo gerannt, hab geheult und die nächste Stunde geschwänzt.“

„Die Stunde wo du in ‚Kreatives Schreiben‘ gefehlt hast.“ James starrte auf den Boden.

„Ja.“

„Du hast mir damals keine Antwort gegeben, als ich dich fragte, wo du warst.“

„Ja.“

Im nächsten Moment fand ich mich in James Armen wieder. Ich drückte mein Gesicht an seine Brust und schluchzte. Sein Körper war heiß, aber es fühlte sich an als würde er mich schützen, als könnte ich mich auf ihn verlassen. Ich konnte ihm vertrauen. Ich weiß nicht, wieso ich genau das dachte, aber so war es. James war ein wundervoller Junge.

Aber er war nicht Tom.

Deshalb riss ich mich wieder von ihm los und wischte mir mein nasses Gesicht ab. Ich versuchte alles, um ihm nicht in die Augen zu sehen. Seine schönen, grünen Augen…

Ich drehte den Herd ab und nahm den heißen Topf von der Platte. Ich legte ein Sieb in den Abfluss, sodass die Nudeln im Sieb landeten, als ich das heiße Wasser ausschüttete.

Ich machte vier verschieden Kästen auf, bevor ich eine geeignete Schüssel für die Spaghetti fand. Ich gab die dampfenden Nudeln aus dem Sieb in die Schüssel.

Erst da drehte ich mich um und sah ihn an. „Es tut mir leid.“

„Nein, dir braucht nichts leid zu tun, Arizona. Du hast nichts falsch gemacht.“

Ich wusste, dass er nicht über diese stürmische Umarmung redete.

Als wir unsere Kochkünste endlich beendet und schließlich die Spaghetti gegessen hatten, die wirklich gut waren, setzten wir uns ins Wohnzimmer an den Kamin.

Wir begannen die Geschichte nochmal durchzugehen, die wir letzte Woche in  ‚Kreatives Schreiben‘ gelesen hatten. Wir sollten eine Rezension darüber schreiben.

Die Geschichte drehte sich um die Gedanken eines Mädchens, das etwas jünger als wir zu sein schien, ungefähr 15 Jahre alt.

Anfangs erzählt sie wie sie durch die Gänge schlendert, mit schweren Beinen, die immer wieder versuchen am Boden kleben zu bleiben. Sie sagt, sie fühle sich genauso, wie die Gänge aussehen. Leer. Dann versucht sie krampfhaft zu weinen, sie meint, dass versuche sie schon seit Monaten, aber da käme einfach nichts aus ihren kleinen, grauen Augen raus. Sie hofft deshalb, sie hat eine Krankheit, eine unheilbare Krankheit, die sie irgendwann, am besten so bald wie möglich umbringen würde. Sie schämt sich für den Gedanken, aber sie kann ihn nicht verdrängen.

Die Geschichte geht genauso deprimierend weiter, wie sie sich anhört. Ich kann mich nicht mehr genau an das Ende erinnern, und ehrlich gesagt, will ich das auch nicht. Ich weiß nur noch, dass mir jedes Mal furchtbar schlecht wurde, wenn ich sie lesen musste.

Auch als James neben mir saß und sie laut vorließ, seine angenehme ruhige Stimme in meinen Ohren, wurde mein Hals ganz trocken und ich bekam Schmerzen in der Brust.

„Hässliche Geschichte. Gut geschrieben, aber hässlich.“, murmelte James, als er fertig war.

„Hast du im Internet herausgefunden, von wem sie ist?“

Er schüttelte den Kopf.

Es war zwar nicht die Aufgabe gewesen, aber es hätte mich furchtbar interessiert, wer diese Kurzgeschichte geschrieben hat.

„Na gut. Beginnen wir?“ Er nahm seinen Laptop vom kleinen Tischchen neben der Couch und legte ihn auf seinen Schoß. Mein Laptop war bereits vor mir, ein leeres Word-Dokument bereit vollgeschrieben zu werden.

Ich hatte gerade mal das erste Wort, meinen Namen, geschrieben, als ich sie hörte. Ich hätte ihre Schritte unter zwei Millionen anderen  Füßen trotzdem hören können, so unverwechselbar waren sie. Selma, zum Beispiel, tänzelte regelrecht mit ihren Stöckelschuhen durchs Haus, immer in Eile und schnell wie der Wind.

Meine Mutter hingegen stolzierte elegant von Zimmer zu Zimmer, egal ob sie jemand beobachtete oder nicht. Ich wette, dass tat sie auch, wenn sie nachts auf die Toilette ging, das ganze Haus schlief und es war stockdunkel, und geschweige denn, dass es niemand sah, es interessierte sich auf keiner dafür, wie meine Mutter aussah. Aber Meredith Diana Clark ging nun mal nicht einfach so durch die Gegend. Sie schwebte dahin, als wäre sie ein Engel, dabei wäre das das Letzte, als was ich sie bezeichnet hätte, denn Engel können lieben.

„Du hast heute früh gar nicht erwähnt, dass du Besuch bekommst.“, sagte sie, als sie im Zimmer erschien, und ich sah in den Augenwinkeln, wie James kurz zusammenzuckte.

„Soweit ich mich erinnern kann, bin ich dir heute früh gar nicht begegnet.“, antwortete ich, doch sie hörte mir gar nicht weiter zu.

Sie ging zu James, der seinen Laptop auf die Seite legte, aufstand und ihr höflich die Hand schüttelte. Es war jahrelange Übung, das Gesicht meiner Mutter lesen zu können, aber ich konnte sehen, wie ihre Mundwickel leicht zuckten, sie versuchte ihr falsches Lächeln zu behalten, obwohl dieser Fremde sie gerade berührt hatte, der weiß Gott was alles schon in der Hand hatte, seit er sich das letzte Mal die Hände gewaschen hatte. Ich konnte mir ein Grinsen nur schwer verkneifen.

„Kenne ich Sie?“, fragte sie und ihre Hände verschwanden hinter ihrem Rücken.

„James Green. Ich besuche ein paar Kurse mit ihrer Tochter.“, er lächelte, aber ich merkte wie nervös er war. Das war nichts Neues für mich, jeder hatte Angst vor meinen Eltern.

„Er war schon mal hier, Mom. Aber wer weiß schon, wo du da warst.“

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, ihr Lächeln schlug mir ins Gesicht, dann wendete sie sich wieder James zu. „Sie kommen mir bekannt vor, James. Ihre grünen Augen sind beeindruckend.“

Seine Wangen färbten sich rosa. „Vielen Dank, Miss Clark.“

„Macht ihre Hausaufgaben?“

„Nein, wir schicken uns gegenseitig kleine Nachrichten, weil wir uns nicht trauen, miteinander zu reden.“

„Arizona.“, murmelte James verlegen. Ich schwöre, er war kurz davor, sich bei meiner Mutter für mich zu entschuldigen.

„Keine Sorge, James, ich kenne meine Tochter nicht mehr ohne ihre wundervolle, berühmte Ironie.“ Sie lächelte ihn an und ohne mich noch einmal anzusehen stöckelte sie wieder davon.

James ging erst sicher, dass sie 100 Meter entfernt war, bevor er mich schockiert anschaute. Ich reagierte nicht, wartete darauf, dass er mir vorwarf, was für eine schlechte Tochter ich doch sei.

„Was war das denn?!“

„Was soll das denn gewesen sein?“

„Wieso bist du so gemein zu deiner Mutter?“, fragte er entsetzt, als hätte ich sie gerade beschimpft.

Ich seufzte. „James, bitte.“

Er blieb kurz still, bevor er murmelte: „Sie scheint wirklich nett zu sein, Arizona.“

„Die Betonung liegt auf ‚scheint‘, James. Du hast keine Ahnung.“ Ich schaute ihm kurz in die Augen und da musste ich meiner Mutter ausnahmsweise Recht geben. Sie waren wunderschön.

Er ließ es darauf beruhen und wir schrieben den Aufsatz. Irgendwann kam Selma und fragte, ob wir es warm hatten. Sie zündete den Kamin an, ohne auf unsere Verneinung zu achten. Dann drehte ich leise Musik auf, Kings of Leon, denn diese Band war einer der wenigen die ich immer hören konnte, egal was ich tat, und ihm schien es auch nichts auszumachen.

Nach einer Stunde war ich fertig. James schrieb noch, er schrieb meistens länger als ich, weshalb ich auch der Meinung war, dass seine Aufsätze um einiges besser waren als meine, aber er stritt es jedes Mal ab.

Ich stellte den Laptop weg, nahm die Felldecke die unter mir lag, deckte mich damit zu und lehnte mich an James Schulter an. Es war nicht Schlimmes, aber doch war es komisch, wenn ich daran denke. Aber in diesem Moment war ich unglaublich müde gewesen, um darüber nachzudenken, an wessen Schulter ich lehnte, oder an wen ich eigentlich denken sollte. Und das leise, schnelle Tippen machte mich nur noch schläfriger.

 *

Ich war eingeschlafen. Als ich aufwachte, lag ich in meinem Bett. Draußen war es längst dunkel, aber ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl, weshalb ich auf mein Handy schaute, dass auf meinem Nachtkästchen ruhte. 23:36 Uhr. So lange hatte ich geschlafen? Ich bemerkte den kleinen Zettel neben mir erst nach ein paar Minuten.

‚Tolle Rezension. Bis Morgen. J. X‘

Seine Schrift war perfekt und das X am Ende brachte mich zum Lächeln, obwohl ich das gar nicht wollte. Er musste mich ins Bett gebracht haben, wer sonst?

Ich schaute nochmal auf mein Handy, denn ich bildete mir ein, vorher eine Nachricht gesehen zu haben. Und tatsächlich. Tom. ‚Können wir reden? ‘, schrieb er mir vor zwei Stunden. Zu spät.

Schuldgefühle breiteten sich in meinem Körper aus und ich wusste nicht warum, ich hatte nichts Falsches getan. Es war James. Es war nur James.

7

Am nächsten Morgen saß ich die ersten zehn Minuten alleine am Frühstückstisch. Es war wieder für gefühlte zehn Personen Essen hergerichtet worden. Ich nahm mir vor, Selma zu bitten, damit aufzuhören. Es aß sowieso niemand.

Dann kam der Teufel ins Zimmer und setzte sich auf seinen Stammplatz. Ich hatte das Buch ‚Der Teufel trägt Prada‘ nie gelesen und doch hätte es eine Biografie meiner Mutter sein können, da war ich mir sicher. „Dein Besuch gestern war äußerst höflich.“

„Hat es sehr weh getan, als er dir die Hand geschüttelt hat?“ Ich lächelte sie scharf an, allerdings richtete sich ihr Blick nur auf ihre Kaffetasse.

„Oh bitte, hör auf dich so kindisch zu benehmen. Du hast Recht, ich bevorzuge ein mattes Lächeln als Begrüßung, wenn es um deine Bekanntschaften geht, allerdings war mir dein Freund sehr sympathisch.“ Das war glatt gelogen. James war zwar höflich, aber total nervös, das hatte nichts mit Sympathie zu tun.

„Er ist nicht mein Freund.“, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

„Er wäre perfekt für dich.“, meinte sie und nahm einen Schluck ihres Kaffees. Frühstück beendet.

„Er ist nicht mein Freund, Mutter.“

„Wie du meinst. Allerdings solltest du wissen, dass ich ihn diesem anderen Jungen vorziehe.“ Sie stand auf und war bereit zu gehen, doch ich hielt sie auf.

„Und du solltest wissen, dass ich es vorziehe wenn du mich ignorierst, anstatt zu versuchen ein Gespräch mit mir zu führen.“

Ich bereute meine Aussage nicht wirklich, aber ich hätte sie mir auch sparen können. Ich sah ihr Gesicht nicht, wofür ich mich selbst hätte ohrfeigen können.

Doch keine zwei Sekunden später drehte sie sich zu mir um und sagte: „In Ordnung.“

Wenig später verließ sie das Haus.

Ich war unglaublich wütend. Deshalb rief ich Tom an. Und er hob Gott sei Dank ab, was er nur selten tat.

„Ja?“

„Tom? Hey, ich… ich… willst du heute in die Schule? Ich meine, es wäre wirklich nicht schlecht, aber ich kann das heute nicht… Ich…Ach egal, am besten du gehst, denn…“

„Ich bin in zehn Minuten bei dir.“ Er legte auf, ohne mir einen Atemzug Zeit zu lassen, darüber nachzudenken, ob das wirklich eine kluge Idee war.

Tom brauchte die Schulstunden, er hatte sowieso schon viel zu wenige. Aber alleine schwänzen? Nein. Und mit Elle? Ich wollte sie nicht nerven, obwohl ich wusste, dass das nicht der Fall gewesen wäre. Aber sie hätte mir jetzt nicht helfen können. Ich brauchte Tom.

Wenn ihm etwas wichtig war, kam Tom pünktlich, sonst niemals. Er kam nach zehn Minuten, ich sah ihn aus meinem Fenster die Straße entlang gehen und ich lief aus dem Haus, bis ich mich wieder in seinen Armen fand. Er sagte nichts, er drückte mich nur fest, bis ich sicher war, dass alles okay war. Alles war okay. Tom war hier. Er war bei mir.

Ich löste mich aus der Umarmung und sah ihn an. Seine Gesichtszüge entspannten sich, aber er blickte mich besorgt an. „Was ist los?“

„Ich hasse meine Mutter.“

„Sag sowas nicht.“

Ich sollte sowas wirklich nicht sagen. Nicht, weil man seine Mutter nicht hasse sollte, das war mir im Moment egal, sondern weil andere Menschen gar keine Mutter hatten. Menschen wie Tom.

„Es tut mir leid.“

„Schon okay. Wollen wir nicht ins Haus gehen? Es ist arschkalt.“

Es war wirklich ziemlich kühl gewesen an diesem Tag und ich trug bloß eine Jeans und ein luftiges, graues T-Shirt. Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut.

Ich nahm seine Hand und führte ihn ins Haus. Er war erst einmal hier gewesen, am Beginn unserer Beziehung. Es war ein Samstag und meine Eltern waren in New York gewesen, aus welchem Grund auch immer. Ich bat Selma, das Haus zu verlassen, in dem ich ihr ein Essen in einem teuren Restaurant reservierte und schon vorbezahlt hatte. Sie nahm die Einladung erst an, als ich ihr von Tom erzählte. Ihre Wangen wurden damals ganz rot und sie grinste wie der Weihnachtsmann, freute sich fast mehr als ich, dass er zu mir kommen würde.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte er, zog sich die Jacke aus und legte sie auf die Kommode im Vorzimmer, anstatt sie aufzuhängen. Immer das tun, was man eigentlich nicht tun sollte, nicht wahr? Darin warst du Meister Tom, das fiel mir sogar bei mickrigen, unwichtigen Dingen wie dem auf.

„Nicht hier. Komm, wir gehen in mein Zimmer.“ Wir begegneten Selma nicht, ich hätte ihr einfach einen Blick zugeworfen, der bedeutete, dass das in Ordnung ginge. Selma hätte mich bei meinen Eltern nie deshalb verraten. Und selbst wenn, was hätte meine Eltern gekümmert, wenn ich Schule schwänze? Hat sie denn sonst irgendwas gekümmert, was ich tat?

Ich setzte mich sofort auf mein Bett als ich mein Zimmer betrat und sah wie Tom noch immer am Türrahmen stand und sich umschaute.

„Was ist?“

„Du hast dein Zimmer umgeräumt.“, stellte er fest.

„Ja. Aber das ist ewig her.“, meinte ich.

„Ich war auch ewig nicht mehr hier.“

„Du hättest öfter kommen können.“ Er hätte immer kommen können. Jeden verdammten Tag und es hätte mich nicht gestört.

Mein Zimmer war groß, nicht riesig, aber groß. Ich bestand auf eine Lichterkette, egal zu welcher Jahreszeit, die an der Wand entlang hing und als einziges Licht den Raum schwach beleuchtete. Meine Wände waren lavendellila gestrichen, nicht zu mädchenhaft und nicht zu neutral. Die weiße Flanell Bettwäsche auf meinem Himmelbett hatte bestickte lila Verzierungen und ich brauchte abends keine 5 Minuten um darin eingewickelt einzuschlafen.

Tom ging zu der Pinnwand die über einer Holzkommode gegenüber dem Bett stand. Er sah sich jedes Foto genau an und murmelte: „Da bin ja ich.“

Es war nie so, dass es mich richtig verletzt hatte, aber oft kam es mir so vor, als wüsste Tom gar nicht, dass wir zusammen waren. Als wäre das für ihn nichts Ernstes und er könnte jederzeit mit einem anderen Mädchen ins Bett hüpfen.

„Natürlich. Elle macht ständig Fotos von uns, ist dir das noch nie aufgefallen?“

Er drehte sich zu mir und sagte: „Weißt du, wenn ich dich ansehe, dann sehe ich dich an. Dann achte ich nicht darauf, was alle anderen machen. Mir ist noch nie aufgefallen, dass Elle Fotos von uns macht.“

Mein Herz sprang förmlich aus meiner Brust. Tom war nicht oft so ehrlich, aber wenn, dann kam es vollkommen unerwartet.

„Setzt du dich zu mir?“

Er kam zum Bett und setzte sich neben mich. „Also. Was treibt jemanden wie dich dazu, Schule zu schwänzen?“

„Du tust so, als wäre ich ein Streber.“

„Bist du ja auch.“, er grinste.

„Ich will ausziehen.“

Sein Grinsen erstarb.

„Ich will weg von hier.“

Er starrte mich nur an, er sagte nichts, er wartete darauf, dass ich weiterredete.

„Ich… Ich halte das nicht mehr aus, weißt du? Meine Eltern. Sie sind… Monster.“ Obwohl es glasklar für mich war, wie Recht ich mit meiner Aussage hatte, war es unglaublich schwer die Worte aus meinem Mund zu bekommen. Deine Eltern sind Monster. Gratulation, Arizona.

„Nein.“, sagte er.

„Was?“, war alles, was ich rausbrachte.

„Nein. Du wirst nicht ausziehen.“

„Wieso nicht?!“

Ich dachte, er würde sagen, dass meine Eltern mir alles geben konnten und ich glücklich darüber sein sollte, aber er meinte: „Ohne diese Mexikanerin die dir täglich hinterherläuft, deine fünfzehn Köche und deine Eltern, die dir das Geld wortwörtlich hinterherschmeißen, schaffst du das nicht.“

20 Wörter. 20 Wörter hatte er nach diesem schönen Kompliment aus seinem Mund befördert und das waren eindeutig zu viele, es war Zeit mir wieder eine ins Gesicht zu klatschen mit Sätzen wie ‚das schaffst du nicht‘.

Ich funkelte ihn an und sagte trocken: „Wenn du nichts besseres zu sagen hast, dann geh.“

Er seufzte. „Ich will dir nur die Wahrheit sagen.“

„Du hast keine Ahnung. Denkst du ernsthaft mir macht das Spaß hier? Denkst du mir gefällt, wie ich hier behandelt werde? Nein! Nein, Tom, so ist es nicht, ich muss dich enttäuschen.“ Tränen stiegen mir wieder in die Augen. Nein, bitte, nicht vor ihm.

„Hey, hör auf.“ Ich spürte eine warme Hand, er zog mich zu sich und ich sank in seine Arme wie ein elendes Wrack. „Ich hasse es, wenn du weinst.“

„Ich hasse es vor dir zu weinen.“, gab ich zu.

 „Wieso?“

„Sieh mich an.“

Er hob mein Kinn und sah mir in die Augen. „Du weißt gar nicht, wie wunderschön du bist, Arizona. Ich hasse es, wenn du weinst, aber selbst dann bist du wunderschön.“

Ich wusste damals noch nicht, dass er solche schönen Worte immer seltener in den Mund nehmen würde.

Ich realisierte nicht, dass er selbst da schon aufhörte, mir zu zeigen, dass er mich liebte.

Ich hätte gehen sollen.

Ich hätte gehen sollen, bevor ich nicht mehr konnte.

Ich hätte nie damit anfangen sollen, Thomas zu lieben.

*

Ich blieb die ganze Woche zuhause. Ich hatte weder die Kraft noch die Lust in die Schule zu gehen. Und es war wirklich nicht schlimm, dass ich schwänzte, meine Noten waren ausgezeichnet.

Mein Vater bemerkte es erst nach drei Tagen mit den Worten: „Bist du krank?“ –„Ja.“ – „Oh. Am besten du fragst Selma nach Tee und so Zeugs…“

Schon okay, Dad. Dachte zwar nicht, dass du mir Tee kochen nicht zutraust, aber schon okay.

Ich redete mir eine leichte Erkältung ein, weshalb mich eine kleine Stimme in meinem Kopf als „Feigling“ beschimpfte. Ich hatte nicht sonderlich Angst davor, James wieder zu begegnen, aber ich wollte es ehrlich gesagt einfach nicht.

Als ich nachmittags gerade Alice im Wunderland las, klingelte es an der Tür. Es war Elle. Sie begrüßte mich mit mitgebrachtem Sushi und irgendeiner Schnulzen-DVD. Elle war regelrecht besessen von romantischen Filmen und nervte mich mindestens 3-mal im Monat mit irgendeiner neuen.

Ich hasste Romantik-Filme. Warum? Du weißt nach den exakt ersten 60 Sekunden des Films, wie es ausgeht. Wer mit wem zusammen kommt, wer mit wem schläft, wer alleine nach Hause geht, oder wer stirbt. Wobei man sagen muss, dass das letzte doch eher selten zutrifft, da man bei einem romantischen Film auf so reale Dinge wie den Tod verzichten möchte, es muss ja schließlich ein Happy End geben.

„Wir MÜSSEN uns diesem Film ansehen!“

„Kommt drauf an, was du mir für Sushi mitgebracht hast.“ Ich hob eine Augenbraue.

„Gurken-, Lachs- und Avocado-Maki. Und natürlich Sojasauce!“ Sie grinste zufrieden.

„Hereinspaziert.“

Wir gingen in mein Zimmer, da ich keine Lust auf einen erneuten Überraschungsbesuch meiner Mutter hatte. Auch wenn sie Elle sehr gut kannte.

Ich kann nicht genau sagen, was sie voneinander hielten. Elle begrüßte sie immer höflich und Mom hatte schon mal nebenbei erwähnt, dass Elle ein vorzügliches und nettes Mädchen wäre. Aber ich wusste, dass Elle keine Angst vor meiner Mutter hatte, die hatte sie schon vor Jahren abgelegt. Und da Mom nun mal alles mitbekam, wusste sie das auch. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass sie Elle nicht leiden konnte. Was, sowohl mir als auch Elle, egal war.

Wir legten die DVD ein und aßen auf meinem Bett die Maki, die vorzüglich schmeckten.

Der Film war, welch eine Überraschung, totlangweilig, was Elle scheinbar auch so sah, denn wir unterhielten uns die meiste Zeit. Ich fragte sie, wie die Schule war.

„Die Stunden scheinen jeden Tag langsamer zu vergehen. Ich brauche dringend wieder Ferien!“, beklagte sie sich.

„Kommt Tom jeden Tag?“

„Ja.“ Sie machte eine kurze Pause und stopfte sich ein Maki in den Mund. „Außer heute.“

Ich fragte mich, ob er jemals eine ganze Woche zur Schule ging. „Wieso nicht?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Aber Jackson war heute auch nicht.“

„Hat er dir…“

„Nein. Ich habe keine Ahnung wo er ist.“

Manchmal tat es gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige war, auch wenn das vielleicht gemein klang. Aber Elle verstand mich, selbst wenn wir nie richtig darüber sprachen.

Ich starrte auf den Bildschirm und überlegte, ob ich ihm eine SMS schicken sollte.

„OH!“ Elle schrie auf und mir fiel das Maki aus dem Essstäbchen, das gerade auf dem Weg zu meinem Mund war. Es landete lautlos auf der Bettdecke, ich nahm es mit den Fingern und steckte es mir in den Mund.

„James hat mich angesprochen!“, sagte sie und beinahe blieb mir der Reis im Hals stecken.

„Er fragte mich nach dir und ob ich wüsste, wann du wieder kommen würdest. Oh, und gute Besserung!“

Ich kaute, schluckte und murmelte ein „Danke“.

„Ja, das war allerdings schon gestern. Tom ist daraufhin zu mir gekommen und fragte, was ‚der Spasti‘ wollte.“ Sie kicherte kurz. „Da ist wohl jemand eifersüchtig.“

„Ach was, das war Tom doch schon immer.“ Ich versuchte nicht nur Elle, sondern auch mich davon zu überzeugen, aber ich glaubte mir noch weniger als sie es tat.

„Das ist was anderes. Du bist mit James schon ewig befreundet und du weißt, dass Tom ihn nicht leiden kann.“

„Ja und? Soll ich James deshalb aus dem Weg gehen?“ Das tat ich bereits.

„Nein! Aber du solltest Tom zeigen, dass seine Sorgen unnötig sind.“, meinte sie.

„Tom macht sich keine Sorgen. Er will ihm nur endlich eins in die Fresse hauen und sucht dafür jederzeit nach einer Gelegenheit.“

Sie lachte. „Ja, wahrscheinlich. Aber sag mal, sollte Tom sich Sorgen machen?“

Wir sahen uns an. Ich konnte sie nicht anlügen. „Ich glaube nicht.“

„Du glaubst?“

„James ist ganz anders als Tom, weißt du. Und ich bin mir einfach noch nicht sicher, wie ich das finden soll.“, sagte ich ehrlich.

„Okay.“ Sie lächelte mich an und ließ es darauf beruhen, wofür ich sie hätte küssen können.

Es war schon dunkel, als Elle nach Hause ging. Sie vergaß die DVD, die sofort in der hintersten Ecke meines Schrankes verschwand.

Ich war gerade dabei, einzuschlafen, als mein Handy läutete. Noch bevor, ich auf den Bildschirm blickte, wusste ich, dass es Tom war.

„Arizona?“

„Ja?“

„Arizona?!“ Er klang besorgt. Das machte mir Angst.

„Was ist denn?“

„Arizona, ich brauche dich. Jetzt. Ich kann nicht… ich…“ Er war betrunken. Oder? Ich war mir nicht sicher. Sollte ich auflegen?

„Arizona? Arizona, bitte!“ Seine flehende Stimme ließ mich aus dem Bett steigen.

„Wo bist du?“

8

In der Nacht, nachdem ich Tom kennengelernt hatte, träumte ich von ihm.

Ich träumte, dass wir auf einer Wiese lagen und in den strahlend blauen Himmel sahen, der keine einzige Wolke zeigte. Die vielen Gänseblümchen kitzelten meine nackten Arme und Beine. Ich hörte nur das leise Grillenzirpen und Toms Atem und die Luft roch nach süßem Honig. Ich trug ein weißes Kleid, das bis zu meinen Knien reichte und mit wunderschönen Verzierungen bestickt war. Es war warm, ich spürte die leichte Hitze auf meiner Haut, die die Sonne mir schenkte. Rundherum war kein Ende der Wiese zu sehen, nur das viele Grün und die roten, gelben und blauen Farben der Blumen, auf denen die Bienen ruhten.

Es wäre ein perfekter Traum gewesen. Er fühlte sich perfekt an.  

 Doch Tom lag neben mir. Und wir berührten uns nicht, kein einziges Mal. Zuerst dachte ich, nein, ich hoffte, er würde näher kommen und ich könnte meine Arme um ihn schlingen und ihn küssen, seinen Duft riechen und ihn nie wieder loslassen. Aber er machte keine Anzeichen, er redete nicht, er bewegte sich nicht, er starrte nur in den Himmel.

Dann wollte ich mich überwinden und näher zu ihm rücken. Aber… ich konnte nicht. Ich wollte, aber mein Arm schreckte jedes Mal zurück. Ich stand auf und ging auf der Wiese problemlos herum, aber immer, wenn ich auf ihn zuging, wurden meine Beine schwerer und wenn ich versuchte mich neben ihn hinzusetzen um ihn zu berühren, musste ich sofort weggehen, weil es unerträglich für meinen Körper schien, in seiner Nähe zu sein.

Als wären wir zwei negativ geladene Magnete, die sich voneinander abstoßen. Die nicht gut füreinander wären, die keine Chance hätten, zusammenzuhalten.

 

Dieser Traum machte mir unglaublich Angst. Um ehrlich zu sein, tut er das immer noch.

Ich versuchte die ganze Woche nicht an ihn zu denken. Ich lenkte mich mit Büchern, Filmen und langen Spaziergängen durch Savannah ab. Aber ich konnte mein Gehirn, pardon, mein Herz, nicht unter Kontrolle halten. Einerseits wollte ich ihn sehen, andererseits musste ich die ganze Zeit an diesen Traum denken und diesen beschissenen Aberglauben, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte.

Am Freitag erfuhr ich von Katie, dass Jackson Samstag eine Homeparty schmiss, und es war klar, dass auch Tom kommen würde. Ich war mir nicht sicher, ob ich gehen sollte, bis ich Freitag abends, als ich im Bett lag und den letzten Teil von Harry Potter las, eine SMS bekam.

 

‚Hey. Ich bin‘s Tom. Kommst du morgen zu Jacksons Party? ‘

 

Ich wäre fast vom Bett gefallen. Stattdessen rutschte mir dieses fette riesige Buch aus der Hand und fiel auf meine Brust. Mir fiel es schwer zu atmen, ob es jetzt wegen dem Buch oder Tom war, wusste ich nicht. Naja eigentlich schon, es war wegen Tom, aber wie auch immer, meine Brust schmerzte trotzdem wie die Hölle.

Obwohl ich Tom vergessen wollte, war natürlich schon längst klar, dass ich zu dieser Party gehen würde. Traum hin oder her, ich konnte meine Gefühle vor ihm nicht leugnen.

 Ich glaube, ich war schon zu diesem Zeitpunkt in ihn verliebt.

Ich war schon die ganze Woche in ihn verliebt gewesen.

Ich war auch nach dem Traum aufgewacht und wusste, dass ich ihn in verliebt war.

Ich wäre immer noch ihn in verliebt.

 

‚Ja und du?‘

 

Er brauchte zwei Minuten und 13 Sekunden um zu antworten, das weiß ich noch ganz genau.

 

‚Klar. Dann bis morgen.‘

 

Natürlich kam ich in dieser Nacht zu nur 2 Stunden Schlaf, weil tausende Gedanken in meinem Kopf herumschwirrten. Und dann, um ungefähr 3 Uhr früh rief ich Katie an, die beim vierten Mal verschlafen ran ging. Im Hintergrund konnte ich Jacksons Schnarchen hören.

„Was zum Teufel willst du, Arizona?!“, zischte sie.

„KATIE WAS SOLL ICH MORGEN ANZIEHEN?“ Ich merke erst jetzt, wie idiotisch diese Frage klang.

„WAS?“

„Morgen zu der Party. Tom wird da sein.“

„Ach, was für eine Überraschung.“, meinte sie sarkastisch.

„Können wir morgen einkaufen gehen? Bitte.“

„Du meinst wohl heute. Es ist 3 Uhr, du Kuh.“

„Ja, tut mir leid.“

„Okay. Ich ruf dich morgen an.“

„Danke. Du bist die Beste.“, sagte ich.

Sie legte auf, aber ich wusste, dass sie lächelte.

 

Ich wachte erst mittags auf. Als ich ins Esszimmer ging und den leeren Tisch vorfand, fiel mir ein, dass meine Eltern in New York waren. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern wieso, irgendwas Geschäftliches.

Vor der Abfahrt meiner Eltern, bat ich das gesamte Küchenteam einschließlich Selma, kein verdammtes Riesenfrühstück für mich vorzubereiten, es sollte lediglich Toast und Orangensaft in der Küche stehen. Ich schickte die Angestellten nachhause, sie sollten erst wieder nächsten Mittwoch kommen, da planten meine Eltern ihre Rückkehr, wie sie mir mitgeteilt hatten. Allerdings kamen sie meist nie geplant zurück, erst ein oder zwei Tage später.

Ich machte mir mein Frühstück und aß gleich in der Küche. Als ich wieder in mein Zimmer ging, läutete mein Handy. Es war Katie, wie versprochen.

„Also Süße. Du musst heute Abend sexy aussehen.“, meinte sie sofort.

„Katie, ich will ja nicht mit ihm schlafen! Ich will einfach nur…“ Ich stutzte. Was wollte ich überhaupt?

„Seine Aufmerksamkeit.“, beendete Katie meinen Satz. „Deshalb musste du sexy aussehen. Ich bin in 15 Minuten bei dir, dann bist du fertig, klar?“

Ich rannte ins Bad, sprang schnell unter die Dusche, putzte mir die Zähne und schminkte mich etwas. Ich zog mir ein graues, lockeres T-Shirt, ein Paar Jeans und Chucks an und band meine Haare zu einem Zopf. Gerade als ich Zeug in meine Tasche räumte, welches ich wahrscheinlich sowieso nicht brauchen würde, hörte ich Autohupen.

Ich eilte die Treppe hinunter, schnappte mir meine Jacke und ging aus dem Haus.

Katie stand mir ihrem schwarzen Porsche vor der Einfahrt und winkte mir zu.

Ich stieg in das blitzblanke, glänzende Auto, das Katie vor einem Monat von ihre Eltern geschenkt bekommen hatte. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Willst du vorher noch was essen gehen?“, fragte ich sie, obwohl ich keinen Hunger hatte, ich hatte gerade erst zwei ScheibenToast verdrückt.

„Nein, danke.“, sagte sie.

„Hast du schon gegessen?“

„Nein.“ Sie blickte starr geradeaus.

Ich hätte sie überreden können. Ich hätte sie zu jedem x-beliebigen Restaurant schleppen sollen, um alles Mögliche zu bestellen und es ihr vor die Nase zu halten, bis sie endlich etwas gegessen hätte. Ich hätte ihr jeden Tag sagen sollen, wie schön sie ist, wie perfekt. Denn das war Katharina, das war keine Lüge. Ich verstehe bis heute nicht, wie sie das nicht sehen konnte. Ihre knochigen Finger umklammerten das Lenkrad. Ich wusste schon da, dass sie krank war. Und ich könnte mich selbst schlagen, wenn ich daran denke, dass ich nichts unternommen habe, um ihr zu helfen.

„Hast du deine Kreditkarte dabei?“, fragte sie.

„Ja, wieso?“

„Gut. Zuerst Chanel oder Burberry?“

Ich lachte. „Katie, fahr zu Forever 21 und halt die Klappe.“

„Bist du bescheuert? Reiche Mädchen wie wir…“

„Ich bin nicht reich!“, unterbrach ich sie. „Meine Eltern sind reich. Und da ich rein gar nichts mit meinen Eltern gemeinsam habe, werde ich auch nicht, sowie wie sie, unnötig Geld aus dem Fenster werfen.“

„Du wirfst das Geld nicht aus dem Fenster, du wirfst es in den Himmel, in die Arme von Coco Chanel.“

Wieder einmal hatte sie es geschafft mich zu überreden.

Allerdings mussten wir Coco Chanel enttäuschen, ihre Designs waren nicht so mein Ding. Auch bei Burberry fand ich nichts, aber Katie kaufte sich einen neuen Mantel für ihre Sammlung. Sie trug fast ausschließlich Mäntel. Heute war es ein marineblauer Trenchcoat, der knapp bis zu den Knien ging und ihre Taille eng umschnürte. Ihr blondes, schulterlanges Haar roch nach Kirschen und Jackson. Sie trug dasselbe Parfüm, seit sie anfing Parfüm zu tragen, und das war Chanel N°5. Es passte perfekt zu ihr. Katie benahm sich selten wie eine 17-Jährige und so sah sie auch nicht aus. Für manche scheint das bewundernswert zu sein, für mich war das eher traurig. Ich finde, sie hat ihre Jugend nie genossen. Das hatte sie von ihren Eltern. Susanna Walton und John Walton gingen auf dasselbe College wie meine Eltern und aus ihnen ist das gleiche geworden, wie aus meinen. Ein reiches, mächtiges und unsympathisches Ehepaar. Ich erinnere mich nicht daran, die beiden jemals lächeln gesehen zu haben. Die beiden erzogen Katie ziemlich streng, und hätten meine Eltern nicht ewig auf sie eingeredet, wäre Katie niemals auf unsere Schule gegangen, sondern in ein Mädcheninternat. Dann hätte sie Jackson nie kennengelernt, was vielleicht gar nicht so schlecht für sie gewesen wäre.

Obwohl es ziemlich witzig war, Katie und Jackson zusammen zu sehen. Sie, mit Burberry Mantel, Hermes Tasche und Hilfiger Stiefeletten, und er mit Lederjacke, einfachem weißen T-Shirt, Jeans und seinen alten grauen Stiefel. Sie waren so unterschiedlich und passten doch so perfekt zusammen. Aber sie trennten sich.

Wegen Elle, wie man vielleicht schon denken konnte. Ich will darüber jetzt noch nicht reden.

Ich kaufte mir schließlich ein goldenes Top von Gucci und schwarze Jeans von DKNY. Beides war teuer, aber es sah wirklich gut aus. Katie wollte noch zu Christian Louboutin für ein Paar Schuhe mit roter Sohle, aber ich redete solange auf sie ein, bis sie zu einem Laden fuhr, bei dem ich manchmal einkaufte und der auf jedem Kleidungsstück Preisschilder hatte, im Gegensatz zu all den teuren Markengeschäften, wo man nach dem Preis fragen musste. Und, wie Katie sagte, wenn du fragst, musst du’s auch kaufen.

Nach unserer Shoppingausbeute fuhren wir zu mir. Es war schon später Nachmittag, weshalb ich mich schnell unter die Dusche warf, während Katie nachhause fuhr und ihre Kleidung für die Party holte.

Als Katie wiederkam, brachte sie Elle mit ihr und wir machten uns zu dritt in meinem Zimmer fertig, während im ganzen Haus Stille herrschte. Wie angenehm es war, niemanden sonst im Haus zu haben.

Am Ende sahen wir wirklich klasse aus, aber ich fühlte mich schon vor der Party unwohl in den teuren Sachen. Ich trug schwarze High-Heels und meine Augen waren zu stark geschminkt. Ich mochte zwar schön sein, aber das war nicht ich, die ich da im Spiegel sah.

Wir fuhren um 22 Uhr in Katies Porsche zu Jacksons Haus. Katie erzählte uns, dass Jacksons Eltern auf Urlaub waren, was auch immer das bedeuten sollte. Als wir dort ankamen, schien die Party bereits im vollen Gange zu sein, man hörte die laute Musik  und aus den Fenstern tanzten bunter Lichter und Schatten waren zu erkennen.

„Ich will da nicht rein.“, stellte ich in dem Moment fest, als das Auto zum Stillstand kam und aufhörte zu „schnurren“, wie Katie es nannte.  

„Zu spät, Kleine.“, meinte sie und stieg aus. Sie war noch nie wirklich mitfühlend gewesen oder sowas.

„Was ist denn los?“, fragte Elle von hinten.

„Schau mich an!“

„Du siehst umwerfend aus.“ Sie lächelte mich an, allerdings half das nichts.

„Ich bin viel zu aufgetakelt, Tom wird mich nicht mal widererkennen!“

„Oh bitte, er wird sprachlos sein, wenn er dich sieht! Und dann werde ich zu ihm gehen und sagen ‚Oh ja, Baby, das hast du nur mir zu verdanken! ‘“ Katie grinste verträumt.

Ich wusste, dass sie das nicht tun würde, aber ich drohte ihr trotzdem, sie sollte das ja nicht machen. Sie lachte nur, drückte auf ihren Autoschlüssel und weil der Porsche daraufhin so ein komisches Geräusch von sich gab, schien es so, als würde er mit ihr lachen.

Die Tür zu Jacksons kleinem Häuschen war offen und darin befand sich eine laute, stinkende Masse an Menschen, die tanzten und rote Pappbecher in die Luft hielten, als wäre es das Letzte was sie in ihrem Leben tun würden. Amerikanische Teenager eben.

Katie schrie uns irgendwas zu und verschwand dann in der Menge, sie suchte wohl Jackson. Elle und ich gingen in die andere Richtung, drängten uns bei Leuten vorbei und versuchten die musternden Blicke, die sie uns zuwarfen, zu ignorieren. Wir fanden das Badezimmer, das wie durch ein Wunder nicht besetzt war und quetschten uns hinein. Elle schloss die Tür und drückte gleichzeitig dagegen, als würde sie gleich einbrechen und eine Horde Höllenmenschen/amerikanischer Teenager würde auf sie fallen.

Elle sah mich an und wir prusteten los. Ich denke, wir hatten genau denselben Gedanken.

„Wieso sind wir nochmal hergekommen?“, fragte ich, klappte den Klodeckel runter und setzte mich darauf.

„Um der Liebe deines Lebens heiße Blicke zuzuwerfen!“, sagte Elle theatralisch und versuchte Katie nachzuahmen, woraufhin wir wieder loslachten.

 

Wenn ich damals gewusst hätte… Wenn ich gewusst hätte, dass er für mich wirklich die Liebe meines Lebens werden würde…

 

Elle lehnte sich an den Badewannenrand und sah mich an. „Magst du ihn?“

Ich tat so als würde ich überlegen, sah zu Boden, dann wieder zu ihr, dabei wusste ich es genau. „Ich denke schon.“

Sie lächelte. „Na dann.“

„Was heißt ‚Na dann‘?“

„Es heißt, dass euch nichts mehr im Weg steht. Es heißt, dass du jetzt in diesem Moment sofort zu ihm gehen könntest, falls du ihn hier überhaupt jemals findest“ - sie hielt kurz inne, beugte sich vor und strich mir meine Haare hinters Ohr – „und du könntest ihn küssen und er würde deinen Kuss leidenschaftlich erwidern, weil er zu 110% genau dasselbe für dich empfindet, wer würde das schließlich nicht tun?“

Deshalb liebe ich Elle. Sie war immer für mich da. Sie fand immer die richtigen Worte.

Plötzlich hämmerte jemand gegen die Tür, ich denke schon länger, aber durch die laute Musik hatten wir es nicht richtig mitbekommen.

„Hey, kannst du mal die beschissene Tür aufmachen?!“, hörte ich jemanden brüllen.

Ich drehte das Schloss und da fiel mir auf, dass ich die Stimme kannte.

„Oh mein Gott, es ist…“ Ich wurde von einem großen Stück Holz unterbrochen, das gegen mein Gesicht schlug und mich zu Boden warf. Die Tür stand sperrangelweit offen, nach dem sie mich so wundervoll begrüßt hatte und kein anderer als Tom stand dahinter.

Er starrte mich eine Weile an, bevor sich sein Gesichtsausdruck veränderte und sich sein Mund öffnete. „Arizona?“

„Oh mein Gott Arizona!“ Das war Elles Stimme, sie kniete neben mir nieder, woraufhin mir auffiel, dass ich am Boden lag, und nahm meine Hand. „Alles in Ordnung?“

„Oh Scheiße, ich wusste nicht…“, hörte ich Tom fluchen, aber Elle unterbrach ihn.

„Bist du vollkommen bescheuert?! Machst du jede Tür so auf? Einfach mal draufschlagen, der was dahinter steht, hat nun mal Pech gehabt, was?!“, schrie sie ihn an. Wenn ich daran denke, muss ich zugegebenermaßen leicht schmunzeln. Wie schnell Elle ihre Stimmung wechseln konnte!

Ich versuchte die ganze Zeit, etwas zu sagen, aber meine Kehle war unglaublich trocken und ich sah Elle nur ganz verschwommen. Mein Schädel tat höllisch weh. Ich spürte den widerlichen, metallischen Geschmack von Blut in meinem Mund.

„Mist, Arizona, deine Lippe ist aufgeplatzt! Du blutest!“

Danke für den Hinweis, Elle.

„Bring ihr ein Handtuch und mach es nass!“, fauchte sie Tom an und keine Sekunde später drückte mir Elle ein kaltes Tuch auf die Lippe.

„Soll ich Eis holen?“, hörte ich Tom fragen.

Dann nahm ich andere Stimmen wahr. Was ist los? Gab es eine Schlägerei? Wer war das?

Aber die Stimmen wurden leiser, die Musik auch und ich spürte das Kalte auf meinen Lippen nicht mehr. Alles wurde wieder schwarz, sowie kurz nachdem mir die Tür ins Gesicht schlug und ich auf den kalten, harten Boden fiel.

 

Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Bett. Als erstes nahm ich wahr, dass ich meine hohen Schuhe nicht mehr trug und mein Füße sich deshalb wieder entspannt hatten. Ich trug aber noch Gucci und DKNY, war allerdings mit einer Decke zugedeckt worden.

„Hey.“

Ich zuckte zusammen.

„Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht schrecken.“ Es war er. Ich wusste es.

Ich versuchte meinen Kopf zu drehen, ich wollte ihn sehen, aber bei der kleinsten Bewegung spürte ich tausend kleine Stiche, die sich in meinen Schädel bohrten.

Schon wieder wollte ich etwas sagen, aber meine Stimme erstarb, meine Kehle war immer noch staubtrocken. Ich ächzte nach Luft und da tauchte er vor mir auf, sein Gesichtsausdruck war besorgt, und obwohl ich kaum Luft bekam, unglaublich Durst hatte und meine Kopf dermaßen weh tat, musste ich nur daran denken, wie süß er war.

„Willst du was trinken? Ich bringe dir Wasser, okay?“

Ich brachte ein kleines Nicken zustande und er verschwand wieder. Mir fiel auf, dass ich keine Musik mehr hörte und auch keine Stimmen von Leuten. Es war vollkommen still. Wie angenehm.

Tom kam wieder mit einem Glas Wasser. Er stellte es auf das Nachtkästchen neben mir.

Er sah mich etwas verunsichert an. „Kann ich dir helfen?“

Ich nickte wieder. Er schob sanft seine Hand zwischen meinen Kopf und das Kissen und hob meinen Nacken leicht an. Seine Berührung brannte auf meiner Haut, ich wollte, dass er nie wieder damit aufhörte. Mit der anderen Hand nahm er das Glas und brachte es zu meinem Mund. Ich trank gierig davon, bis es leer war, seine Hand wurde lockerer, bis ich wieder auf dem Kissen lag und er sie wegzog.

„Besser?“

„Ja.“ Endlich konnte ich wieder reden. „Danke.“

Er blieb kurz still, fuhr sich durch die zerzausten, dunklen Haare. Ich konnte ihn kaum erkennen, weil es so dunkel im Zimmer war.

„Es tut mir unglaublich leid, Arizona. Ich wusste nicht, dass du in dem Badezimmer bist, was es natürlich nicht entschuldigt. Ich wollte dich nicht verletzen und ich kann verstehen, wenn du jetzt nie wieder mit mir reden willst.“

Ich weiß nicht, ich denke nicht, dass er es gesehen hat, aber ich lächelte. „Tom, es ist okay. Es war nicht deine Absicht.“

„Trotzdem. Welcher Idiot schlägt so gegen eine Tür?!“ Er schien wirklich ein schlechtes Gewissen zu haben, was meine Schmerzen wieder wett machte, weil er sich um mich sorgte.

„Es ist okay.“, sagte ich wieder. „Aber Tom?“

Er sah mich an. „Ja?“

Ich lauschte kurz seinem Atem, sah seine dunkle Statur an, ich konnte es in vollen Zügen genießen, ihn anzuschauen, weil er es sowieso nicht merkte. „Ich will nicht aufhören mit dir zu reden.“

„Wirklich?“

„Ja. Im Gegenteil. Ich will…“ – ich hörte kurz auf zu reden, weil er sich an den Rand des Bettes setzte und ich seine Hand an meiner spüren konnte – „ich will dich kennenlernen, Tom.“

9

Er schlief friedlich und leise in meinem Bett. Es war so still im ganzen Haus, dass ich seinen Atem hören konnte. Ich saß im Schneidersitz neben ihm, ein Buch in meinem Schoß. Doch jedes Mal, wenn ich ‚The Great Gatsby‘ wieder in die Hand nahm und lesen wollte, sah ich sein Gesicht im Hintergrund und meine Hände hörten von selbst auf das Buch zu umklammern. Mein Gehirn fühlte sich von seinem Anblick an wie benebelt und ich konnte nicht aufhören ihn anzustarren. Ich hatte irgendwo mal gehört, dass man schlafende Menschen nicht zu lange anschauen sollte, weil sie das beim Schlafen störte. Wahrscheinlich kompletter Schwachsinn, aber ich hoffte trotzdem, er wachte nicht auf.

Er war wunderschön. Seine geschlossenen Augen waren von zahlreichen dichten Wimpern umrandet, die einen kleinen Schatten auf seine Wangenknochen warfen. Seine Haut war makellos. Seine Lippen waren dünn, aber nicht zu dünn, perfekt beim Küssen. Wenn er mich küsste, verschmolzen seine weichen Lippen mit meinen. Das gefiel mir. Dieses Küssen war hundertmal besser, als sich die Zunge in den Hals zu stecken.

Wie konnte ein Mensch so schön sein? Das absurde war, dass ich diesen Gedanken nie verlor. Egal in welcher Situation wir uns befanden, egal wie er sich verhielt, egal wie er mich behandelte, er war und ist noch immer der schönste Mensch der Welt für mich.

Er war im Park gewesen. Ich hatte das Handy nicht aus der Hand gelegt, hatte nicht aufgehört zu versuchen ihn zu beruhigen, egal wie zittrig meine Stimme klang, bevor ich ihn nicht sah. Er saß am Boden im Pavillon und sah komplett fertig aus. Seine Stimme bebte und er faselte wirres Zeug, als würde er gleich losheulen, aber das würde er niemals vor mir tun, nicht einmal in diesem Zustand. Jackson war auch da, er hockte neben ihm und lachte wie ein Irrer. Ich entdeckte zwei Vodkaflaschen, eine lag am Rand und war leer, und eine war zerbrochen. Es stank nach Gras. Ich wusste das, weil es auf jeder Homeparty, auf der ich bis jetzt war, genau so roch.

Ich rief Elle an und sie holte Jackson ab. Sie hatte geschwollene Augen und versuchte Jackson eine halbe Stunde zu überreden, mit ihr mitzugehen, bis er schließlich einwilligte. Sie brachte ihn zu ihm nach Hause und schrieb mir eine SMS, dass er schlief. Sie hatte Glück, sie wusste wo er wohnte.

Wir brauchten über eine Stunde vom Park bis zu mir. Normalerweise braucht man 15 Minuten, wenn man schnell geht nur 10.

Ich zerrte ihn am Arm, aber er blieb immer wieder stehen, setzte sich auf die Straße oder wollte ‚eine Pause machen‘. Er hörte nicht auf zu reden, ununterbrochen kam Scheiße aus seinem Mund, die ich nicht identifizieren konnte.

„Wo gehen wir hin? Arizona?! ARIZONA!“ Er schrie, dann klang er wieder verzweifelt und schluchzte.

„Zu mir. Aber du musst leise sein, bitte, Tom.“ Ich sagte ihm den ganzen Nachhauseweg, er müsste leise sein, aber er schien es nicht ganz zu kapieren.

Erst vor meiner Haustür, als ich sagte, wenn er nicht still sein würde, müsste er draußen schlafen, hielt er endlich den Mund. An seinen Armen konnte ich die Gänsehaut sehen, er fror, beteuerte aber immer wieder, ihm sei unglaublich heiß.

Ich schaffte es ihn die Treppe rauf in mein Zimmer zu befördern. Ich legte ihn in mein Bett und er zog sich sein T-Shirt aus. Ich konnte nicht anders, ich musste seinen muskulösen Oberkörper anstarren. Seit wann trainierte er so viel?

Als ich sah, dass er mein Starren bemerkte, drehte ich mich schnell um und ging vom Bett weg.

„Wo gehst du hin?“

„Ins Bad.“

„Kommst du wieder?“, er klang wie ein verlorenes Kind.

„Ja. Natürlich.“

„Bitte verlasse mich nicht.“

Ich konnte nicht antworten, mein Hals war trocken und ich spürte, wie ich meine Beherrschung verlor. Ich hastete aus dem Zimmer, ein Wunder, dass ich nicht hinfiel, und hielt mir den Mund zu. Tränen kullerten über meine Wange, ich wischte sie mit meinem Ärmel weg, aber es kamen immer mehr. Ich biss mir in die Lippe, um nicht so laut zu schluchzen. Sofort schmeckte ich den metallischen Geschmack von Blut. Wenn mich meine Mutter jetzt so sehen würde, ich würde mich in Grund und Boden schämen.

Ich schlich in die Küche und holte eine Flasche Wasser. Am Rückweg begegnete ich Selma. Sie sah verschlafen aus, wickelte ihren Bademantel eng um ihren Körper und blickte mich besorgt an. „Es ist jemand hier, oder?“

„Ja.“

„Okay. Wenn du etwas brauchst, klopf einfach an meine Tür. Ist alles in Ordnung mit dir?“

Ich nickte nur und sah zu Boden. Sie wünschte mir eine Gute Nacht, behielt aber ihren besorgten Blick, als sie wieder in ihr Zimmer ging.

Ich tapste wieder die Stiegen rauf in mein Zimmer und Toms Augen waren bereits geschlossen. Ich stellte die Flasche aufs Nachtkästchen und nahm das Buch.

Irgendwann sank  ich neben ihn in mein Bett und legte meine Hand behutsam auf seine Brust. Ich schloss meine Augen und versuchte zu schlafen, aber es fiel mir schwer. Mein Herz pochte so laut und ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.

Er schien mich diesen Abend vielleicht mehr zu brauchen als ich ihn.

Aber das blieb nicht lange so.

 

Natürlich wachte ich am nächsten Tag in einem leeren Bett auf. Er war weg. Ich konnte die Scham noch riechen, die er spürte, als er aufwachte, und hinterließ, als er daraufhin bestimmt sofort ging.

Ich machte mir keine Mühe ihn anzurufen. Ich hätte jetzt darüber nachdenken können, ob ich froh war, dass er gegangen war, oder mit ihm hätte reden sollen. Ob wir zu dem Entschluss gekommen wären, dass wir uns besser trennen sollten, oder ob ihm endlich bewusst geworden wäre, dass es so nicht weiter gehen könnte.

Ich hätte über so viel nachdenken können. Den ganzen Tag und die ganze darauffolgende Nacht. Aber ich wollte nicht, ich hatte genug vom Denken, mein Kopf war schwer und pochte vor Schmerzen. Ich verließ das Bett nur, um mir ein Aspirin zu holen, dann kroch ich wieder unter die Decke und schlief weiter. Gott sei Dank war Samstag.

Als ich wieder aufwachte war es schon nach Mittag. Mühsam schaffte ich es aufzustehen und tapste ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Dann zog ich mir einen Pulli über, weil mir kalt war. Ich ging runter ins Wohnzimmer und hockte mich vor den Fernseher. Ich schaute mir 4 Stunden lang den größten Schwachsinn an, aber es lenkte komischerweise von meinen Kopfschmerzen ab.

„Wieso lungerst du den ganzen Tag hier herum? Hast du keine Hausaufgaben?“

Meine Eltern sind wie eine Erkältung. Immer dann anwesend, wenn man sie am wenigstens braucht.

Meine Mutter setzte sich auf den Couchsessel neben der Couch, auf der ich lag und starrte auf den Bildschirm, als hätte sie so etwas noch nie gesehen.

„Nein. Was machst du hier?“

Sie wendete ihren Blick zu mir und sah mich an, als wäre ich geistesbehindert. „Ich wohne hier.“

Ich verdrehte die Augen. „Aber du bist nie da.“

„Das stimmt nicht. Unterstelle mir nicht Dinge, die du nicht beweisen kannst. Ich bin oft hier, nur in anderen Räumen als du, und die Villa ist groß.“

Villa. Sie sagt bestimmt jedem, dass sie in einer Villa wohnt. „Mein Name ist Meredith Clark. Ich habe Geld, Macht und wohne in einer Villa. Was ist mit Ihnen? Geld? Macht? Eine Villa? Nein? Dann kann ich meine Zeit leider nicht weiter mit Ihnen vergeuden.“

„Wieso starrst du mich so an? Habe ich etwas im Gesicht?“

Ich wandte meinen Blick von ihr ab. „Wo ist Dad?“

„In Malibu. Geschäftliches.“

Ich schämte mich ehrlich gesagt für den Gedanken, aber ich fragte mich, ob mein Vater meine Mutter betrog.

„Er will seinen Firmensitz vergrößern.“, sagte Mom, als hätte sie meinen Gedanken gehört. „Ich denke, er wird übermorgen zurück sein.“

„Okay.“

Peinliche Stille. Mom sah auf den Bildschirm, aber ich wusste, dass sie sich rein gar nicht fürs Fernsehen interessierte. Als ich noch klein war, durfte ich vielleicht zwei Stunden in der Woche fernsehen, Mom prägte mir immer ein, dass nur dumme Kinder fernsahen.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie mit dummen Kindern, diejenigen meinte, die nicht wohlhabend waren.

„Was ist eigentlich mit diesem Jungen?“

„Mit welchem?“

„James Green. Ist das dein Freund?“

 „Nein.“

Sie kannte die Antwort schon vorher und versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. „Er war sehr höflich, etwas nervös vielleicht. Ein netter Junge.“

Ein netter Junge.

„Ich liebe ihn aber nicht.“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, bereute ich sie schon.

Mom schien ebenso verdutzt wie ich über diese Aussage und schwieg eine Weile. Ich biss mir auf die Zunge.

„Du musst ihn ja auch nicht lieben.“, meinte sie dann, ihre Stimme war etwas heiser, aber sie versuchte wieder einen kühlen Unterton zu bekommen. „Ich weiß, dass du jemand anders hast. Und ich will nicht, dass dieser junge Mann noch einmal hier schläft. Ich kenne ihn nicht.“

Woher wusste sie von letzter Nacht? Selma hatte bestimmt nichts verraten.

„Natürlich kennst du ihn nicht. Es interessiert dich auch nicht.“

„Sehr wohl interessieren mich deine Liebschaften! Es ist schließlich mein Haus, in welches du sie hineinschleppst!“

Noch während sie das sagte, stand ich auf, drehte den Bildschirm ab und schmiss die Fernbedienung auf den Tisch. „Meine Liebschaften? Da sieht man ja wie oft du hier bist, anscheinend hältst du deine Tochter für eine Hure, die jeden Tag jemand anders in ihrem 3000 $ Bett vögelt. Leider muss ich dich enttäuschen, der einzige Junge, der bis jetzt hier geschlafen hat, ist Tom, mein Freund, den du wegen deinem vollen Terminplaner, oh nein pardon, deinem Desinteresse noch nicht kennenlernen konntest! Und jetzt entschuldige mich, ich habe zu tun.“

Ich hätte zu gern ihren Gesichtsausdruck gesehen, aber ich stampfte schon aus dem Zimmer und rannte die Treppen hinauf. In 15 Minuten war ich geduscht, angezogen und geschminkt. Ich nahm mein Handy und rief ihn an. Es klingelte und kurz bevor ich dachte, er würde nicht abheben, tat er es. „Ja?“

„Wo bist du?“

„Wieso?“

„Kannst du mir auch mal eine Antwort geben?!“ Ich war erstaunt über meine schroffe Art. Er anscheinend auch, denn er sagte kurz nichts.

„Ich steh in 5 Minuten vor deiner Haustür.“

Ich legte auf. Sah mich nochmal im Spiegel an. Und dann beschloss ich, in diesen 5 Minuten das Beste aus mir herauszuholen.

Ich zog mir meine Leggings und meinen Pulli wieder aus. Ich kramte im Schrank nach meiner engsten Jeans, die hellblaue, die bis über meinen Nabel ging. Ich zog diese mit einem Crop-Top an, dass nur über meine Brust ging, sodass man einen schmalen Teil meines Bauch sehen konnte. Noch dazu hatte das Top einen leichten Ausschnitt, der mein Outfit noch etwas aufreizender wirken ließ. Ich beschloss mir einen Cardigan überzuwerfen, da es doch noch etwas frisch in Savannah war. Ich umrandete meine Augen mit dunklem Kajal, öffnete meine Haare und ließ sie in ihrem welligen, etwas unordentlichen Zustand. Das sah… irgendwie gut aus. Katharina wäre stolz auf mich gewesen. Ich vermisste sie.

Mein Handy vibrierte und ich betrachtete mich ein letztes Mal im Spiegel. Dann rannte ich hinunter, zog mir meine Stiefel an und öffnete die Haustür. Gerade als ich sie wieder zu schmiss, hörte ich meine Mutter nach mir rufen.

Ich sah ihn zuerst nicht, erst als ich beim Gartentor ankam, erblickte ich ihn am Randstein sitzend, neben ihm stand sein Motorrad.

Ich schloss das Tor und er drehte sich zu mir um. Er starrte mich an, ohne irgendwas zu sagen. Ich bereute schon mich so hergerichtet zu haben.

„Hey.“, sagte ich und setzte mich neben ihn. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Er glotzte mich weiterhin an, als wäre ich eine Fremde. „Was ist denn?“, fragte ich.

Er sah weg, als wäre ihm erst jetzt klar, wie er mich angestarrt hatte. „Nichts. Was wolltest du?“

„Brauche ich immer einen bestimmten Grund dich zu sehen?“

Er ging nicht auf die Frage ein. „Wo fahren wir hin?“

„Können wir nicht… spazieren gehen?“

Er sah mich an. „Okay. Klar.“

Wir standen beide auf und er lag seinen Helm hinter meinen Zaun. Wir gingen die Straße entlang, ohne zu reden, es blieb solange still zwischen uns bis ich die lange Allee sah, an der ich jeden Morgen entlang ging. Das von den Bäumen hängende Louisiana Moos fing wieder an zu blühen.

„Kennst du die Legende des Louisiana Moos?“, fragte er plötzlich.

„Nein.“, log ich. Natürlich kannte ich sie. Aber ich wollte sie ihn erzählen hören, ich wollte einfach seine Stimme hören, die ganze Nacht von mir aus.

„Einer indianischen Legende zufolge ist Louisiana Moos das Haar einer Prinzessin, welche an ihrem Hochzeittag getötet wurde. Der trauernde Bräutigam soll es abgeschnitten und an einen Baum gehängt haben. Der Wind trug das Haar fort und verteilte es so über das ganze Land.“

„Das ist eine sehr schöne Legende.“

„Ja.“

Ich nahm seine Hand. Es war schwierig und ich hatte Angst er würde zurückweichen, aber er drückte sie und ließ sie nicht mehr los.

„Wollen wir uns da hinsetzen?“, ich zeigte auf eine Bank.

Wir ließen uns auf der alten Holzbank nieder. Es war schon dunkel geworden.

„Du siehst wunderschön aus.“, sagte er.

Ich schmiegte mich an seine Schulter. 

Er holte tief Luft,als würde er gleich mit einer großen Rede beginnen. „Es…ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Du musst nichts sagen.“, meinte ich, aber ich wollte, dass er sich entschuldigte.

„Gestern… Ich hätte dich nicht anrufen sollen.“

„Doch, das war gut so. Dein Zustand war…“

„Der war nicht so schlimm. Ich weiß nur nicht, wie ich so außer Kontrolle geraten konnte, dass ich dich anrufe.“

Ich richtete mich auf und sah ihn an. „Dafür schämst du dich, nicht wahr? Das du dich mir so jämmerlich gezeigt hast.“

„Das stimmt nicht.“

„Und ob das stimmt. Es ist dir scheißegal, wie betrunken und zugedröhnt du warst!“

„Hör auf.“, sagte er leise, aber ich hörte nicht auf.

„Du schämst dich nur dafür, wie erbärmlich du dich benommen hast.“ Meine Stimme bebte.

„Du sollst aufhören, habe ich gesagt.“

„Du hast mir gar nichts zu sagen! Du bist kein Stück besser als ich, deine Würde hast du gestern endgültig verloren!“

„HÖR AUF!“ Er packte mich am Arm und zerrte mich zu ihm, sodass ich auf ihn flog. Ich versuchte mich aufzurichten, aber er ließ mich nicht los. Ich wehrte mich mit aller Kraft, aber Tom war schlicht und ergreifend viel stärker als ich, also hatte ich keine andere Chance, als mich schließlich gerade auf ihn zu setzen und ihn wütend anzustarren.

„Lass mich los!“, schrie ich.

„Schrei nicht so, bist du bescheuert?! Willst du, dass alle denken ich vergewaltige dich hier?!“

„Hier ist doch niemand! Und keine Sorge dein Ruf ist sowieso schon ruiniert.“

„Du bist so ein Biest.“

„NENNST DU MICH ETWA BIEST?“ Ich kreischte auf, extra laut, damit mich ja ‚jeder‘ hörte. Dabei war weit und breit niemand zu sehen. Tom war so ein Idiot, dass ich nicht anders konnte als über ihn zu lachen.

Ich lachte drei Sekunden, dann wurde mir plötzlich der Mund zugehalten. Tom presste seine Hand auf meine Lippen. Ich versuchte zu schreien, aber man hörte natürlich nichts. Ich schleckte seine Hand mit meiner Zunge ab, aber er lachte nur laut.

„Deine Zunge war schon an ganz anderen Stellen meines Körpers, glaubst du ein bisschen Sabber von dir auf meiner Handfläche macht mir was aus?“

Ich schaffte es, seine Hand mit meiner aus meinem Gesicht zu schieben. „Du bist widerlich.“, sagte ich und wollte mich von der Bank aufrichten, um zu gehen.

Aber er hielt mich erneut zurück, indem er seine Arme um meinen Rücken schlang und mich an ihn drückte. Ich wollte schon protestieren, doch sein Blick ließ mich verstummen. Ich merkte, wie seine Lippen sich langsam öffneten, unsere Gesichter waren uns so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spürte. „Du machst mich wahnsinnig.“, flüsterte er.

Und dann küsste er mich und seine Lippen verschmolzen mit meinen. Er widerstand der Versuchung seine Zunge in meinen Mund zu stecken, stattdessen fuhr er mit der Spitze nur meine Lippe entlang.   Es fühlte sich so unglaublich gut an, ich hätte ihn so für den Rest meines Lebens weiterküssen können.

Aber er hörte auf. „Wenn ich jetzt hier weitermache, dann…“

„Wollen wir zu mir?“, unterbrach ich ihn.

„Ja, mein Gott, bitte.“

Wir standen auf, ich richtete mein ohnehin schon kurzes Top wieder gerade, mein halber BH war sichtbar gewesen, und schob meinen Cardigan wieder über meine Schulter. Tom legte die Hand auf meinen Rücken und schob mich behutsam aber bestimmt nach vorne. „Komm.“

Ich konnte nicht anders, ich schaute weiter abwärts zu seiner Hose. Oh…

Keine 10 Minuten später standen wir vor meiner Haustür und mir fiel auf, dass ich keinen Schlüssel mit hatte. Während ich gegen die Tür hämmerte, küsste Tom meinen Hals und versuchte die ganze Zeit seine Hand unter mein Top zu schieben. Ich versuchte ihn wegzustoßen und kicherte, weil die Küsse am Hals mich kitzelten. So ging das hin und her, die ganze Nachbarschaft musste uns gehört haben, bis schließlich die Tür aufflog. Mein Mutter höchstpersönlich.

„Huch!“, rief ich. Tom hörte auf mich zu küssen und stand still da. „Wann hast du denn das letzte Mal die Tür selbst aufgemacht?“

Sie starrte mich an, sie sah richtig angewidert von mir aus, und das gefiel mir. Sie sollte mich ruhig verabscheuen.

„Naja wie auch immer, lässt du uns bitte durch, ich muss jetzt einem meiner Liebschaften mein Zimmer zeigen.“ Ich packte Tom beim Arm und zog ihn hinter mir her. Ich musste über meine eigenen starken Worte kichern, ich war in diesem Moment so stolz auf mich, dass ich gar nicht daran dachte, dass mir das später peinlich sein könnte.

Ich knallte die Tür meines Zimmers hinter mir zu und schob Tom zum Bett. Gerade als ich mich auf ihn setzen wollte um bei dem weiterzumachen, wobei wir vorher aufgehört hatten, hielt er inne.

„Du solltest nicht so mit deiner Mutter reden.“

„Halt‘ die Klappe.“

Ich küsste ihn, aber ich konnte spüren, dass er nicht mehr ganz bei der Sache war. Ich zog mein Top aus, öffnete seine Hose und versuchte ihn irgendwie wieder zu dem Zustand zurückzubringen, in dem er sich im Park befand.

Ich weiß, warum ich das tat.

Weil ich wusste, dass es sowas nicht mehr oft geben würde. Dieses Gefühl, in einer richtigen Beziehung zu sein. Dieses Gefühl von Tom begehrt zu werden und sich zu trauen ihn dazu zubringen mich zu begehren. Ich wollte die letzten Stunden Liebe, die er noch für mich übrig hatte, genießen, bevor er wieder so tat, als würde er mich hassen.

Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, stand Tom auf. Er wollte gehen.

„Bleib hier.“, ich krächzte die Worte, es fiel mir schwer sie auszusprechen.

„Nein.“

„Wieso nicht?“

Er sah mich an. „Wieso schon?“

Ich sagte nichts mehr. Er zog sich sein T-Shirt über, schlüpfte in seine Schuhe und hob seine Lederjacke vom Boden auf. „Gute Nacht, Arizona.“ Er ging die Tür hinaus.

„Ich habe dich auch nicht verlassen.“

Er wollte gerade die Tür schließen, doch er hielt inne und sah nochmal zu mir. „Was?“

Ich holte tief Luft. Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen. „Gestern.“

Er kam wieder ins Zimmer und schloss die Tür, blieb aber dort stehen, als hätte er Angst, wenn er näher zu mir kommen würde, könnte er nie wieder weg. „Ich verstehe nicht…“

„Du hast mich gebeten, dich nicht zu verlassen. Und ich habe es nicht getan. Ich habe mich neben dich gelegt und habe auf dich aufgepasst. Ich habe dich nicht verlassen, Tom.“ Meine Stimme zitterte, ich zitterte.

Tom sah mich eine halbe Ewigkeit an. Dann schmiss er die Lederjacke auf den Boden, zog die Schuhe, die Hose und das T-Shirt aus und kroch unter die Bettdecke. Ich schmiegte mich an seine Brust und versuchte nicht zu schluchzen, aber es ist so ziemlich das Schwerste auf der Welt, Weinen zu unterdrücken. Damals wusste ich noch nicht, wie gut ich in dieser Fähigkeit werden würde.

„Nur weil ich nach Hause gehe, heißt das nicht, dass ich dich verlasse.“, sagte er leise.

„Ich weiß. Aber wieso willst du gehen?“

„Ich kann nicht die ganze Zeit bei dir sein, Arizona.“

„Warum nicht?“ Ich wusste, dass ich wie ein kleines Kind klang, aber ich musste die Chance nutzen, mit ihm normal reden zu können.

„Das… Das mach ich einfach nicht, okay?“ Er streichelte meine Wange und lächelte. „Dein schwarzes Zeug am Auge ist jetzt etwas verwischt worden.“

„Oh Gott.“Ich wollte schon aufspringen um mich abzuschminken, aber er hielt mich zurück.

„Nein, bitte, lass es. Es sieht gut aus. Du siehst aus, als hättest du gerade guten Sex gehabt.“ Er grinste. „Können wir jetzt schlafen? Oder reden wir jetzt noch die ganze Nacht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Keine Sorge. Wir können jetzt schlafen, wenn du willst.“

Er gähnte herzhaft. „Gott sei Dank. Gute Nacht, Arizona.“  

Wie ich es liebte, wenn er meinen Namen sagte.

„Gute Nacht, Tom.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013

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