Erzulie Freda
Eine Mystery – Kurzgeschichte
Von Samuel Sommer
Text Copyright © 2018
Samuel Sommer
Alle Rechte vorbehalten
ERZULIE FREDA
Kai starrte auf den schönsten Strand, den er jemals gesehen hatte, während er nie unglücklicher gewesen war. All der Sonnenschein, der weiße Sand, das azurblaue Wasser und die friedliche Atmosphäre um ihn herum schienen geradewegs die Kehrseite seiner Seele zu sein. Eine Träne lief seine Wange herunter, aber es war nicht nur Trauer, es war auch tiefe Wut und großer Zorn darin.
„Mensch, jetzt lass dich nicht so hängen“, versuchte sein Kumpel Thomas ihn erneut ein wenig aufzumuntern. „Sie tickt nicht ganz richtig. Sowas macht man einfach nicht.“
Kai antwortete nicht. Was sollte er auch sagen? Thomas wusste, dass er so verliebt gewesen war, wie in seinem ganzen Leben zuvor noch nicht. Er hatte sich völlig auf Victoria eingeschossen und er hatte sich niemals zuvor in seinem Leben so gut gefühlt. Was gab ihr das Recht, ihn einfach sitzen zu lassen?
Er starrte auf das Meer, das glatt wie ein Seidenteppich bis zum Horizont reichte, und rückte ein wenig nach rechts, damit er wieder im Schatten der Palme liegen konnte. Ein durchschnittlicher Europäer holte sich hier schnell einen Sonnenbrand, auch wenn er sich eingecremt hatte.
„Du hast sie zu diesem Urlaub eingeladen“, versuchte Thomas es noch einmal. „Du hast ihr den Flug bezahlt, obwohl sie mehr als genug Geld hat. Du hast ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Und was ist der Dank dafür? Sie nimmt sich den erstbesten Kerl, betrügt dich und haut ab.“
Victoria hatte ihn nicht nur betrogen. Sie hatte ihn abserviert. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht. Einfach so und ohne große Worte.
„Wir beide wissen, dass das nicht funktioniert“, hatte sie noch gesagt. „Ich glaube, wir beenden es jetzt besser sofort.“
Welches Mädchen machte denn während eines Traumurlaubes auf Haiti Schluss mit ihrem Freund? Seine Hand ballte sich zu einer Faust.
Ein Pärchen kam über den Strand angelaufen und hielt zielgerichtet auf die beiden Freunde zu.
„Hey, wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten!“ begrüßte Tim seine Freunde und umarmte Kai. „Das ist ja einfach unglaublich.“
„Ja“, knurrte Kai.
„Es tut mir so leid“, meinte auch Michaëlle und drückte ihn. Die schwarzhaarige Haitianerin war eine exotische Schönheit und ihre schlanke Figur wurde in ihren neongelben Bikini noch einmal betont.
„Das schreit nach einem Besäufnis!“ meinte Tim. „Ich hole uns ein Bier!“ Er wartete erst gar keine Antwort ab und lief direkt los.
„Bei der Hitze werde ich ja direkt betrunken“, sagte Thomas und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Klima auf Haiti war auch kurz vor Ostern tropisch. Die Temperaturen kletterten über dreißig Grad, die Luftfeuchtigkeit war jenseits von allem, was die drei Freunde kannten, und die Wassertemperatur des Meeres bei unglaublichen 25°. Das schwül-warme Wetter setzte ihnen manchmal derart zu, dass sie den Strand gar nicht recht genießen konnten.
„Ihr seid es nicht gewöhnt“, nickte Michaëlle mit einem schelmischen Lächeln. Sie stammte von der Insel, war eigentlich nur zum Studieren nach Deutschland gekommen und schließlich der Liebe wegen dortgeblieben. Jetzt war sie seit anderthalb Jahren mit Tim zusammen und da beide spürten, dass es etwas Ernstes war, schien es an der Zeit ihre Eltern kennenzulernen. Und dies bedeutete eine Reise nach Haiti. Kurzerhand hatte Tim seine beiden besten Kumpels einfach mit eingepackt und aus dem Vierergespann war kurzentschlossen eine volle Hand geworden, als Victoria noch dazu gestoßen war. Tja, wie sich nun herausstellte, würden sie wohl wieder zu viert zurückreisen. Und Kai konnte jetzt schon die Gesichter seiner Eltern sehen und ihre schlauen Sprüche hinsichtlich der Zukunft dieser Beziehung. Und er hatte wirklich gedacht, dass er einmal das große Los gezogen hatte. Sie hatte ihn doch auch geliebt. Oder etwa nicht?
„Ich werde wohl nichts trinken“, meinte Kai leise und finster. „Mir ist nicht danach.“
Thomas setzte zu einer Erwiderung an, aber dann zog er nur hilflos die Schultern nach oben und schaute Michaëlle an. Konnte sie nicht etwas tun?
„Du liebst sie wirklich sehr, oder?“
Er konnte nur nicken. Es bildeten sich schon wieder Tränen in seinen Augen, obwohl er das gar nicht wollte.
„Und hat sie dich auch geliebt?“
„Natürlich,“ meinte er. Er war ein guter Kerl. Er hatte einen Job, stand mit beiden Beinen im Leben und er sah nicht schlecht aus. Jede Frau sollte sich nach ihm sehen.
Michaëlle schürzte die Lippen. „Dann kann man dir vielleicht helfen“, sagte sie schließlich zögerlich.
„Wie meinst du das?“ fragte Thomas irritiert.
„Wir können einen Zauber wirken.“
Thomas rollte mit den Augen. Jetzt ging das schon wieder los. So sehr er die Freundin seines besten Freundes auch schätzte, aber dieser Voodoo-Hokuspokus ging mal gar nicht.
„Du glaubst mir nicht“, sagte sie vorwurfsvoll. „Aber ich weiß, dass es funktioniert. Bondieu hat schon tausenden Menschen geholfen. Was sagst du all den Menschen, die dir seine Hilfe bestätigen können?“
„Schon gut, Ich bin ja tolerant“, wich er aus. Eine Diskussion über Religion war das Letzte, was er jetzt vom Zaun brechen wollte. Dabei war Voodoo in seinen Augen nicht einmal eine Religion. Es war einfach nur Unsinn.
Kai jedoch war neugierig. „Was könnte er denn tun?“ fragte er.
„Hey, wo wollt ihr denn hin?“ fragte Tim verdutzt, die Hände voll mit vier eisgekühlten Bierflaschen und eigentlich auf dem Rückweg. Doch jetzt kamen ihm seine Freunde mitsamt seiner Freundin entgegen und alle Sachen waren gepackt.
„Wir retten die Liebe“, murrte Thomas sarkastisch. „Gib mir besser schnell ein Bier!“ Er schnappte sich eine der Flaschen weg und nahm einen tiefen Schluck.
„Wir gehen zu Moana“, erklärte Michaëlle. „Sie wird Kai helfen einen Zauber für die Liebe zu sprechen. Um Victoria zurückzugewinnen.“
„Oh“, machte Tim. Er wusste ganz genau, wie wichtig seiner Freundin ihre kulturellen Wurzeln waren und diese ganze Voodoo-Sache war Teil ihrer Familie und Tradition. Sie glaubte tatsächlich daran, während Tim und seine Freunde dem Ganzen eher skeptisch gegenüberstanden. Ganz im Gegensatz zu Kai. Der war schon immer offen für Magie und alles darum herum gewesen.
Tim und Thomas warfen sich einen Blick zu, der mehr zu sagen schien als tausend Worte. Wortlos verständigten sie sich in diesem anderthalbsekündigen Blick, erstmal nichts zu tun und die Sache zu tolerieren.
Mit dem Auto von Michaëlles Familie, einem namenlosen Modell, das schon in den achtziger Jahren als Relikt gegolten haben musste, aber hier zum normalen Straßenbild gehörte, waren sie innerhalb weniger Minuten auf der großen Route Nationale 1, einer der beiden Hauptverkehrsstraßen von Port-au-Prince. Die Hauptstadt und zugleich größte Stadt der Insel beherbergte etwa 1,3 Millionen Einwohner, ein Großteil jedoch lebte in ärmlichen Verhältnissen in Slums an den Hängen rings herum. Obgleich die Insel wunderschön war, so war es an jeder Stelle unübersehbar, dass Haiti zu den ärmsten Ländern der Erde gehörte. Tim hatte recherchiert, dass von den zehn Millionen Einwohnern etwa 80 % von weniger als 2 Dollar am Tag lebten. Etwa sechzig Prozent der Erwachsenen hatten keine reguläre Arbeit, viele waren unterernährt und die Analphabetenquote lag bei respektablen 55%.
Es schien an ein Wunder zu grenzen, dass es überhaupt Leute gab, die Universitäten besuchten und im Ausland studierten. Auf ihrer Fahrt vom Flughafen hierher hatten sie mehr Armut gesehen, als für einen leichten Urlaub gut war. Für einen Moment hatten sie sogar gedacht, dass dies alles ein totaler Flopp werden würde.
Das hatte sich zwar in den nächsten zwei Tagen zum Glück nicht bestätigt und die Familie von Michaëlle war relativ wohlhabend, so dass ihre Unterkunft und Verpflegung durchaus in Ordnung war. Obgleich sein französisch sehr eingerostet war, hatte Tim einen guten Start mit den Eltern seiner Angebeteten erwischt und sie waren mehr als nett zu ihm und seinen Freunden. Michaëlle hatte ihm ihre Insel gezeigt und bis zu diesem Moment war der Urlaub eigentlich ganz gut gewesen.
Nun aber fuhren sie scheinbar direkt in einen dieser Slums hinein und die alten Barracken in Verbindung mit einem schlechten Geruch ließen Tim und Thomas wieder völlig vergessen, dass sie eigentlich im Urlaub waren.
„Wohin fahren wir denn genau?“ fragte Tim vorsichtig.
„Moana lebt hier draußen“, erklärte Michaëlle. „Am Rande des Slums in einem kleinen Haus. Wir sind bald da.“
Unsicher sahen sie nach draußen. Halbnackte Kinder spielten an einem defekten Hydranten, aus dem eine Fontäne aus Wasser schoss. Am Straßenrand streunten abgemagerte Hunde und überall lungerten Leute herum, denen man scheinbar nicht im Dunkeln begegnen wollte. Eben noch waren sie an einem traumhaften Strand gewesen und schon zehn Minuten später war von der friedlichen Idylle dort nichts mehr zu sehen.
Erneut fühlten sich Tim und Thomas sehr unwohl in ihrer Haut, während Kai aufgeregt nach vorne sah und nichts weiter von sich gab. Sie wussten, dass ihr Kumpel im Moment sehr emotional war. Seine Begierde zu Victoria war ihnen von Anfang an nicht ganz geheuer gewesen und jetzt hatten sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2276-2
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