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Die Dame im Turm

Bennot bekam Gänsehaut auf den Armen als ihm das Messer an den Hals gesetzt wurde. Die stumpfe Klinge, mit der man nicht mal einen Ast hätte durchschneiden können, drückte schwer auf seinen Kehlkopf. Der Grauhaarige fühlte sich unwohl, das harte Holz des Stuhls, auf dem er saß, drückte durch seine Hose.

„Jetzt stillhalten“, kam die tiefe Stimme des Barbiers von hinten und er zog das Messer langsam an Bennots Hals hinauf, ging erst zur linken, dann zur rechten Seite. Immer wieder wischte er das Gemisch aus Rasierseife und den grauen Barthaaren Bennots am Rande der Wasserschale ab.

Dem Seher war nicht klar, warum er zum Baron musste, und noch viel weniger war ihm klar, warum die Gefolgsleute des Herzogs ihn so herausputzten.

Während der Barbier weiter die Barthaare entfernte, klopfte es an der dicken Holztür und der Kastellan, dessen Name Bennot bereits erfahren hatte, der kleine, stämmige Mann hieß Dertix, trat in den mit Kerzen beleuchteten Raum. Auf den vor dem Rumpf verhakten Arm hatte er Kleidungsstücke gelegt. Er guckte den barschen Mann an und sagte höflich zu ihm: „Das ist für Euch.“
Bennot hob seine rechte Augenbraue und gab ein Knurren von sich, was wohl etwas wie „Soso“ bedeutete, um den Barbier nicht zu stören.

Dertix legte die Kleider auf einen Stuhl, der in einer Ecke des kleinen, quadratischen Raumes stand, und verließ wieder das Zimmer. Jedoch hörte Bennot ihn nicht weggehen, anscheinend stand der Kastellan wartend vor der Tür.

Dem Barbier schien die Stille im Raum unangenehm zu sein und so begann er zu plappern: „Ihr seid also ein Seher?“

Bennot nickte vorsichtig und gab ein zustimmendes Murmeln von sich.

„Stimmt es, dass Seher Monster töten, die Menschen bedrohen?“, der Barbier rasierte weiter.

„Mhm.“
„Habt ihr schon viele Monster getötet?“

„Mhm.“
„Wie viele?“, die Frage schien den Mann brennend zu interessieren, denn er unterbrach seine Arbeit und sah dem Seher in die unwirklichen, tiefblauen Augen.

„Ich habe aufgehört zu zählen“, antwortete Bennot geduldig, ohne die Lippen weit zu bewegen.
„Soso“, der Barbier fuhr mit seiner Arbeit fort.

Bennot verlor sich wieder in Gedanken. Was wollte Herzog Huvvengald von einem Seher, von einem Monsterjäger? Es konnte ja nur ein Auftrag sein …

Bennot hatte schulterlange, graue Haare, die jetzt bereits gereinigt worden waren, buschige, fast weiße Augenbrauen, unter denen seine tiefblauen Augen hervorblitzten, mit welchen er jede noch so kleine Bewegung erfassen konnte. Unter seinen Haaren lagen die Ohren mit den kleinen, angewachsenen Ohrläppchen eng am Schädel, quer über die linke Hälfte des kantigen Gesichts zog sich eine lange, bleiche Narbe, die ihm ein räudiger Bissigein vor vielen Jahren verpasst hatte. Normalerweise steckte der drahtige Körper in einem Lederwams, darunter ein Leinenhemd, einer Leinenhose und hohen Stiefeln aus Wildschweinsleder. Darüber trug er für gewöhnlich noch einen langen, schwarzen Filzmantel, und auf dem Rücken, an einem quer über den Oberkörper führenden Ledergurt befestigt, trug er ein Langschwert und rechts davon ein kürzeres Krummschwert, deren Griffe über Bennots linker Schulter lagen. Der Mann war Linkshänder. Außerdem war er mit einem übernatürlichen Geruchs- und Gehörsinn ausgestattet, denn er war ein Seher. Seher ähnelten sehr den Waldläufern, nur dass sie sich ihr Gold mit der Monsterjagd und anderen Arten, Menschen zu helfen, verdienten - nur eins taten Seher im Allgemeinen nicht: Morden.


Plötzlich riss der Barbier den Seher aus den Gedanken: „Fertig, Herr!“

Er wischte Bennot kurz mit einem Tuch über die untere Gesichtshälfte und ließ den Mann dann aufstehen. Dieser fuhr sich mit einer Hand über die Wangen und den Hals nachdem er aufgestanden war. So rasiert zu sein hatte auch etwas.

Während der Barbier sein Werkzeug zusammenpackte, fiel der Blick Bennots auf die auf dem Stuhl liegenden Kleider.

„Was soll das noch gleich?“, rief er mit sarkastischem Unterton.

Die Tür schwang auf und Dertix eilte hinein: „Was gibt es, Seher?“

„Wo sind meine Klamotten und meine Schwerter?“, knurrte er auf seine barsche Art.
„Ähm ... die sind sicher verwahrt. Ihr solltet das da“ - der Kastellan wies auf die Kleidung auf dem Stuhl - „tragen, wenn ihr vor den Baron tretet.“

„Euer Ernst?“

„Der des Barons, ja.“

„Und warum bekomm ich nicht meine Schwerter?“

„Ihr dürft keine Waffen tragen, wenn ihr vor Baron Huvvengald tretet.“

„Na sowas. Nette Umgangsformen“, knurrte Bennot und warf einen weiteren Blick auf die Kleidung, „das zieh ich nicht an.“

„Das müsst ihr aber. Bitte, tut das einfach“, flehte Dertix schon fast.

„Nur für Euren Herrn“, knurrte er, zog sich sein Leinenhemd aus und streifte das steife Oberteil des höfischen Gewandes über. Es war etwas eng und kratzte.

Der Kastellan war offensichtlich erleichtert, dass der Seher nachgegeben hatte, er stellte sich wieder vor die Tür.

Im Zimmer zog Bennot sich die Stiefel und und seine Hosen aus und schlüpfte in die türkisblaue Hose und die Schuhe, die ebenfalls auf dem Stuhl lagen.

Dann fiel sein Blick auf seine ausgezogenen Stiefel und das etwas aus dem linken herausgerutschte Stilett. Nach kurzem Abwiegen der Argumente zog der das dünne Messer samt Scheide aus dem Stiefel und befestigte an der Innenseite der Hose, denn die Schuhe, die er jetzt trug, hatten keinen Schaft und gingen nur zu den Knöcheln.

Dann verließ er das Zimmer.

Dertix drehte sich um und blickte in die Augen Bennots.

„Ihr habt das alles angezogen!“ Er war wohl immer noch erstaunt, dass der als so widerspenstig geltende Seher nachgegeben hatte.

Dieser musste grinsen. Dann fiel es auch dem Kastellan auf: „War da nicht noch ein Hut bei?“
„Dem ist so, ja", antwortete Bennot wieder gewohnt ernst, „aber den werde ich nicht aufziehen - ich bin schließlich kein Barde!“

„Aber das ist ... Nun gut, wie Ihr meint“, gab Dertix nach. Ihm war bewusst, dass eine Diskussion zwecklos war.

„Hier lang bitte, der Baron erwartet Euch“ Der Kastellan wies Bennot den Weg und ging an seiner Seite zum Thronsaal von Baron Huvvengald.

Die zwei gingen den Gang entlang, an den das Zimmer grenzte, in dem sich Bennot umgekleidet hatte, dann eine kurze Wendeltreppe hinunter. Sie bogen zwei mal nach links ab durch die Gänge der Herrensitzes von Huvvengald, danach liefen sie durch ein kleines Atrium, in dessen Mitte ein wuchtiger, steinerner Brunnen, umringt von Ringelblumen und violettem Rittersporn stand.
Auf einmal blieb der Seher stehen und fasste Dertix am Arm um ihn zum Stehenbleiben zubringen.
„Was ... was gibt es, Herr?“, fragte er verdattert.

„Was möchte der Baron von mir?“

„Das ... ähm ... das kann ich Euch nicht verraten.“

„Warum nicht? Ich erfahre es doch eh gleich.“, der Kastellan schien sehr eingeschüchtert von der groben Art des Sehers, welcher bei dem Gedanken daran fast grinsen musste.

„Das geht nur Euch und ihn etwas an.“

„Und warum wisst ihr davon, wenn es nur für ihn und mich bestimmt ist?“

„Ähm ... also ... ich ...“, Dertix fand keine Worte mehr und seine Augen glänzten feucht von Verzweiflung.
Jetzt konnte sich Bennot das grinsen nicht mehr verkneifen. Er grinste dem erst verwunderten Mann ins Gesicht, und sagte: „Redet Euch nicht um Kopf und Kragen! Auch wenn ich's kann, ich möchte Euch nicht verspeisen.“

Die Erleichterung ließ den kleinen Mann gleich wieder etwas größer werden.

„Gehen wir weiter“, sagte Bennot. Er löste seinen Griff um den Dertix' Arm. Während sie weiterliefen verschwand das Grinsen bereits wieder aus seinem Gesicht. Er bedauerte es, dass er nicht mehr aus dem Kastellan herausbekommen hatte - doch das war eine gute Gelegenheit seine Geduld zu schulen.


Auf ihrem Weg folgte nach dem Atrium ein hoher Gang, an dessen Ende ein hohes Tor aus hellem Holz zu sehen war, und welches von den beiden Wachmännern, die daneben standen, geöffnet wurde, als sie Bennot und Detrix gewahrten.

Wenige Schritte vor dem Tor hielt der kleinere den Seher an und sagte leise zu ihm: „Egal, wie Ihr über das denkt, was der Baron gleich sagen wird, widersprecht ihm auf keinen Fall. Unterbrecht ihn auch nicht. Wenn ihr das tut, wird Herr Baron Kurnd Huvvengald schlimmer als ein weiblicher Rotdrakier zur Brutzeit.“

„Ich versuch's, aber das wird schwer.“

„So seht Ihr auch aus, trotz der edlen Kleidung.“

„Was soll das denn heißen?“

„Das war nur ein Scherz, mein Herr. Geht jetzt.“

„Eine Frage noch.“

„Ähm ... ja?“

„Weiß er, also der Baron, weiß er, wen er gleich vor sich hat, wenn ich da drin bin?“

„Er hat Euch diese Kleidung zurecht legen lassen.“

„Also weiß er es nicht ... hervorragend“, mit diesen halb ironischen Worten überschritt Bennot die Schwelle und ließ Detrix hinter sich.

Starken und stolzen Schrittes ging er doch recht gelassen durch den Saal Richtung Thron, auf dem ein dürrer, alter Mann saß und ihm entgegenblickte.

Der Herold kündigte ihn an: „Herein tritt Bennot vom Irmenfels, seinerseits Seher und Monsterjäger.“
Der Klang von Bennots Schritten auf dem kalten Stein vermischten sich mit dem Ruf des höfischen Ausrufers und der sonst herrschenden Stille zu einer sonderbaren Atmosphäre, ganz anders als der sonnige Mittsommertag außerhalb der Mauern dieses Thronsaals.

Neben dem Thron standen auf jeder Seite eine Wache mit weinrotem Wams über dem Kettenhemd und zur Linken des Barons ein Mann, in den gleichen adeligen Klamotten, in die sich auch der Seher hatte zwängen müssen.

Während Bennot näher kam, sah er, wie dieser Mann dem Baron etwas ins Ohr flüsterte, jedoch konnte der Seher die Reaktion des Hofherren nicht deuten, denn dieser blickte einfach weiter gerade aus.
Der Seher kam näher an den Thron heran. Hinter ihm fiel das Tor zu. Er machte eine leichte Verbeugung, die Anwesenden hatten wohl erwartet, dass diese etwas umfangreicher ausfallen würde - doch das kümmerte Bennot nicht.

Als er sich wieder aufrichtete sagte er höflich: „Mein Herr, Ihr ließet nach mir rufen?“

„Ja, Seher“, die Stimme Kurnd Huvvengalds war alt und schwach und passte zu dem gebrechlichen Gesamteindruck, den man von dem Mann bekam, „ich habe einen Auftrag für dich.“

Der Mann zur Linken des Barons hielt sich im Hintergrund und verfolgte den Dialog.
„Das habe ich mir gedacht, Herr“, in Bennots Stimme klang noch immer der höfliche Unterton mit.

„Ich ... ich habe ein Problem mit einem Monster.“

„Das ist meine Spezialität.“

„Deswegen habe ich nach einem wie dir rufen lassen.“ Ein Hustenanfall des Barons donnerte in der Halle.
„Mögt Ihr mir Details verraten?“

„Hm ... natürlich. Sie verdreht die Geister der Menschen im Dorf, so dass sie keine Steuern mehr zahlen wollen. Sie verhext Tier und Getreide, so dass unser Essen rar wird und sie lässt niemanden an den See heran, an dem ihr Turm steht!“

Etwas verwirrt, dass ein Monster in einem Turm lebte, fragte der Seher nach: „Sie? Von was für einem Monster reden wir?“

„Wie? Was? Achso ... selbstverständlich einer Hexe! Sie lebt im Tu ...“

„Verzeiht, dass ich Euch unterbreche“, Bennot bemerkte wie der neben dem Thron stehende Mann heftig einatmete, „aber Ihr scheint zu jenen Menschen zu gehören, die sich in meinem Beruf irren.“

Der Monsterjäger machte eine kurze Pause.

Die Augen des Barons hatten sich verengt, doch er blieb ruhig. „Sprich weiter, Bennot vom Irmenfels.“
„Ich helfe Menschen, indem ich meine Klinge benutze - dem ist so. Ich verwende sie gegen Kreischer, Bissigeine, Ghule, Vampire, Schlitzer, Erscheinungen, Hausteufel, Werwölfe ... auch gegen Bären oder Wildhunde, wenn es sein muss. Aber, und das ist das Wichtige, ich bin kein gedungener Mörder. Ich erhebe meine Klinge nie gegen Menschen, das verbietet mein Kodex, es sei denn mein Leben hängt davon ab.“

„Jetzt hörst du mir zu“, der Baron zog zischend die Luft ein, “du brauchst Geld, das verdienst du dir durch Aufträge, ob am Ende ein stinkendes Tier sein Leben lässt oder eine stinkende, pestverbreitende und verdammte Hexe, das kann dir doch egal sein!“

Bennot spürte, wie in ihm der Respekt und die Höflichkeit Huvvengald gegenüber sank und seine Wut zunahm. Er musste an sich halten, den Baron nicht niederzumachen ... er wählte seine Worte sehr sorgfältig: „Auch eine Hexe ist ein Mensch. Stellt Euch vor, Herr Baron, Ihr wäret ein Verwandter dieser Hexe, oder ein Magier selbst, und irgend so ein dahergelaufener Strolch möchte Euren Kopf. Und als Werkzeug benutzt er einen Seher, einen Zugehörigen eine Rasse, die bei Magievertrauten viel lieber gesehen ist als der gemeine Mensch. Wie würdet Ihr Euch fühlen?“

Baron Huvvengald war offensichtlich überrascht, dass die Antwort des Sehers so ruhig ausgefallen war, denn er wusste nichts zu erwidern.

Jetzt schaltete sich der Mann zur Linken des Throns ein. Er sagte in einer Stimme, die wie eine stumpfe Säge auf Eichenholz klang: „Herr Bennot von ... irgendwas, Ihr habt ohne wenn und aber“, die Stimme wurde lauter und schmerzte in den Ohren, „und damit meine ich wirklich ohne wenn und aber, dem Befehl des Barons folge zu leisten!“

Kühl konterte der Seher: „Herr Irgendwas...“

„Holding venn Crain!“

„Herr Irgendwas ... wisst Ihr, was der Unterschied zwischen mir und Euch ist? Ihr steht im Dienste des Barons, also gibt er Euch Befehle, die Ihr erledigen müsst und ich ... ich bin frei, in dem was ich tue. Mir gibt der Herr Baron höchstens Aufträge und ich entscheide selber, ob ich diesen nachkomme oder nicht, und -“

Holding venn Crain, wie der Mann anscheinend hieß, bekam einen hochroten Kopf. Er unterbrach den Seher: „Ihr seid sehr dreist!“

Das Ganze wurde dem Angesprochenen zu nervenaufreibend und er erwiderte blitzschnell: „Und Ihr seid sehr dämlich.“

Dann wollte er sich wieder an den Baron wenden. Doch der Sägestimmen-Mann rastete aus, stürmte auf Bennot zu und wollte seine Hände um dessen Hals schließen. Er brüllte. Instinktiv reagierte der Seher: Er machte einen kleinen Schritt zur Seite und trat so aus der Bahn des Angreifenden. Er drehte sich in einer Pirouette, packte danach venn Crain hinten am Kragen. Mit einem Tritt in die Kniekehle zwang er ihn auf den Boden, hielt ihn immer noch fest. Dann zog er das Stilett und hielt dem Unterlegenen an den Hals. Auch die Wachen reagierten - einer schrie: „Waffe!“ - daraufhin stürzten beide Wachmänner auf die Kämpfenden, die Hellebarden nach vorne gestreckt.
„Halt!“, rief plötzlich der Baron mit wackliger Stimme und jeder verharrte in seiner Bewegung, „Das hier ist doch keine Kampfarena! Wachen zurück auf eure Plätze, Seher lass den Mann gehen und Holding, verschwinde in deine Gemächer!“

Die Wachen gingen wieder zurück neben den Thron, Bennot ließ den Mann einfach los, dieser fiel auf den Steinboden, stand dann auf und eilte humpelnd aus dem Saal.

Der Baron warf einen missbilligenden Blick auf das Stilett in Bennots Hand, sagte jedoch nichts. Der Seher verstand trotzdem, er ließ auch die Waffe einfach fallen.
„Also?“, fragte er, ohne irgendein Anzeichen von der Rangelei.

„Ich habe versta -“, ein weiterer Hustenanfall, „verstanden. Du wirst die Hexe nicht töten und es ist dir ernst damit.“

Ein kurzes Nicken von Seiten des Monsterjägers. Der Baron sprach weiter: „Jedoch hoffe ich, dass du sie verschreckst oder ihr ein, zwei Finger abhackst - auf jeden Fall muss sie verschwinden!“
Bennot wandte sich um. „Vielleicht.“

 

Bennot saß auf dem Rücken seines fuchsfarbenen Rosses Evellyn und ritt über die sandige Straße weg vom Herrensitz des Baron Huvvengalds. Die Straße war gesäumt von bunten Blumenwiesen und Feldern, in der Ferne lag in einem kleinen Tal ein Mischwald, mit vielen Baumkronen in verschieden, eher dunklen, Grünstufen. Der Weg selber befand sich auf dem Rücken eines sanften Hügels, welche hier in der Gegend nicht selten waren.

Der Seher ritt gen Süden. Sein Ziel war das etwas süd-westlich liegende Dorf Blumwisn. Diese Ansammlung von Hütten aus hellem Holz war es, die der Baron kurz zuvor angesprochen hatte. Denn einen kurzen Ritt hinter dem Dorf lag der recht kleine See Hellwasser, der sich sanft wogend in die Landschaft einbettete. Am Ufer des nicht sehr tiefen Gewässers stand hoch in den Himmel ein dunkler Turm mit einem Spitzdach aus roten Ziegeln.

Dieses Dach konnte Bennot bereits jetzt in der Ferne sehen, hinter den Gipfeln der Häuser Blumwisns. Die sinkende Sonne spiegelte sich in dem ebenfalls etwas erkennbaren See neben dem Turm.
Der Seher trug wieder seine Kleidung: Sein Leinenhemd mit dem Lederwams darüber und seine zwei Schwerter auf dem Rücken. Sein Mantel war immer noch neben einer kleinen Tragetasche am Sattel befestigt.

Er wischte sich eine graue Strähne aus dem Gesicht, nahm dann die Zügel in beide Hände und drückte seiner Stute die Fersen in Seiten. Er wollte noch vor Sonnenuntergang in Blumwisn sein.
Evellyn beeilte sich und schnaubte erfreut, diesen Mann mit einer besonderen Bindung zur Natur wieder tragen zu dürfen. Die beiden folgten dem Weg, der den Hügel hinab führte, mit einer kleinen Holzbrücke einen schmalen Fluss kreuzte und dann wieder einen Hügel hinauf führte. Am anderen Fuße des Hügels wartete es auf die Beiden: Blumwisn.

Ruhig lagen die wenigen Häuser in einer Kuhle zwischen den Hügeln, das zuvor überquerte Flüsschen zog sich durch das Dorf, gesäumt von Angelständen und Gestellen, auf den Fischernetze ausgebreitet wurden, um zu trocknen. Kleine gelbe Felder lagen um das Dorf herum. Es waren wenige Menschen auf der Hauptstraße unterwegs, gingen von einem Haus zum anderen; kamen vom Felde nach Hause oder gingen in das Gasthaus, was auch Bennots Ziel war.
Neben eben diesem hielt der Seher sein Pferd an und stieg ab. Die zum befestigen der Pferde gedachten Balken nutzte er nicht - Evellyn würde nicht weglaufen.

Mit knallendem Schritt stieg er die wenigen Stufen zur Tür des Gasthauses, vorbei an dem Schild „Zum stinkenden Lachs“, was delikate Fischspeisen versprach, hinauf und betrat den spärlich beleuchteten Gastraum. Er war gut gefüllt. Die meisten runden Tische waren voll belegt, Bierkrüge standen darauf, manche Männer spielten Karten. Davon verstand der Seher nicht viel - Spiele, sowas interessierte ihn einfach nicht.

Er schritt vorbei an saufenden Bauern und Tagelöhnern, die zu ihm aufsahen und mit missbilligenden Blicken versahen. Seher waren nicht sehr beliebt bei den Menschen.
Bennot setzte sich auf einen hohen Stuhl an der Theke. Der Wirt kam zu ihm. Er war ein schlanker Mann mit tiefroter Nase.

„Was willst du, Seher?“, fragte er grob.

„Auskunft.“
„Haben wir nicht, das kann man nicht trinken.“

„Ich interessiere mich nur für dieses Dorf.“

„Aha.“
„Wie läuft es denn so?“

„Siehst du die Leute hier drin? So läuft es.“

„Für dich also nicht so schlecht.“

„Mhm.“
„Und für die anderen?“

„Naja ... sie verlieren manchmal Getreide oder Jagdbeute. Auf unerklärliche Weise.“

„Das ist alles.“

„Was geht dich das an, Fremder?“

„Ich kann euch helfen.“

Der Wirt antwortete nicht.

„Mit dieser ... angeblichen Hexe“, setzte Bennot hinzu.

„Psst!“, der andere hielt den Zeigefinger vor die Lippen. Bevor er weitersprach beugte er sich vor, er flüsterte fast, als er sagte: „Es gab nur einen der nicht glaubt, dass es eine Hexe ist. Der ist eines Tages hin zum Turm ...“

„Und?“

„Wir haben ihn nie wieder gesehen.“

„Was unternehmt ihr dagegen?“

„Nichts, wir sind nur Bauern, Fischer und Jäger. Wir haben keinen Krieger.“

„Dafür bin ich da.“

„Du wirst sie töten?“

„Nein.“
„Was willst du dann hier?“ Der Wirt wurde wieder lauter.

„Bleib ruhig, ich rede werde mit ihr reden.“

„Das wird nicht klappen.“

„Hat irgendjemand im Dorf sie schon mal gesehen, außer dem, der nicht zurückgekehrt ist?“

„Nee! Wollen wir doch auch gar nicht!“

„Soso, ihr habt Angst vor etwas was ihr noch nie gesehen habt ...“

„Letztens hat sie den Geist eines arman Knaben, er war noch keine 17, verhext! Er hat seinen Vater erdolcht und ist dann in den See gesprungen!“

Der Seher erkannte, dass es keinen weiteren Zweck hatte. Die Dorfbewohner waren verängstigt und soffen sich die Angst aus dem Kopf. Aber stichhaltige Hinweise, die ihm hätten helfen können gab es nicht.

Er schüttelte den Kopf. „Wenn ihr nichts dagegen unternehmt, wird es nie enden.“

Er drehte um und ging Richtung Tür. Doch er blieb stehen, als ihm der Wirt hinterher rief: „Würdest du dich darum kümmern, Seher?“

Ohne eine Antwort zugeben, verließ er das Gasthaus. Der Wirt wusste ja nicht, dass Bennot von Anfang vor hatte, der Hexe einen Besuch abzustatten.

Er pfiff Evellyn herbei und schwang sich in den Sattel. Dann streichelte er ihr kurz über die Mähne und sagte: „Los, lass uns einer gewissen Dame einen Besuch abstatten. Ich bin gespannt, was sich dort ergibt.“

Er gab seinem Pferd die Sporen und sie ritten Richtung See.

Sie ließen Blumwisn hinter sich und ritten auf einer Ebene durch Felder und darauf folgenden Blumenwiesen. An diese schloss wieder ein kleiner, lichter Wald an. Zwischen den Baumstämmen hindurch erkannte Bennot bereits die glitzernde Wasseroberfläche des Sees und daneben besagten Turm. Doch irgendwas war anders. Als Evellyn von den Wiesen in den Wald getrabt war, hatte sich etwas prompt verändert. Der Seher brachte sein Pferd zum stehen. Er blickte sich um - keine Tiere waren zu sehen, keine Kaninchen, nicht mal Ameisen oder Käfer. Dann spitzte er seine Ohren und nahm mit seinem Gehörsinn, der dem eines Wolfes gleich war, ... nichts. Nichts war zu hören, keine Vögel sangen, keine Bienen summten. Der Wald war leer.

Er trieb seinem Pferd die Fersen in die Seiten und Evellyn begann, weiter zu laufen. bennot steuerte sie genau auf den Turm zu. Sie kamen ihrem Ziel immer näher.

Doch bevor sie das Ende des Waldes erreichten, wurde das Tier plötzlich hysterisch. Die Stute wollte nicht weiter gehen, sie schnaubte und wieherte, wand den Kopf in alle Richtungen, blähte die Nüstern. Beruhigend legte der Seher ihr eine Hand an den Hals und sprach ein beruhigendes Wort: „Ithraduun, Evellyn.“

Doch sie beruhigte sich nicht und wagte keinen Schritt weiter, sie wollte nicht zu dem Turm.
Bennot schwang sich notgedrungen von dem Pferderücken. Nach einem letzten Beruhigungsversuch des Pferdes, ließ er es gehen. Es drehte um und galoppierte aus dem Wald heraus. Bennot wusste, dass sie davor warten würde.

Nochmal betrachtete er seine Umgebung: die Baumstämme, den mit altem Laub bedeckten Erdboden, verrottende Baumstümpfe. Er bückte sich, grub seine Hände in die Erde und hob etwas davon nah an sein Gesicht. Die Erde fühlte sich sonderbar spröde an und lief ihm durch die Finger wie Sand. Er hob seine Hände mit Erde vor die Nase und sog die Luft ein. Es roch komisch, nicht nach normalen Waldboden - sondern als wäre der Wald ... tot. Doch die Bäume trugen noch Blätter.
Er ließ die Erde fallen, stand wieder auf und richtete seine Aufmerksamkeit auf sein eigentliches Ziel: den Turm.

Langsam näherte sich dem Waldesrand. Die Bäume wurden weniger, der sonderbare Geruch nahm zu. Irgendwas stimmte nicht. Kein Wunder, dass sich die Dorfbewohner fürchteten.
Er lief weiter, ließ den Wald nun hinter sich und es bot sich ihm ein wundernswerter Anblick: Vor ihm breitete sich flach und klar der See aus, gesäumt von Schilf, steiniger Erde. Die Wasseroberfläche lag fast unbewegt da. Nur ein leichter Lufthauch kräuselte sie. Das Wasser schien sonderbar dickflüssig, zumindest so, wie Bennot es in der fast komplett untergegangenen Sonne erkannte.
Rechts von dem See ragte weit in den wolkenlosen Himmel der Turm, schwarze, brüchige Steine, ein rotes Ziegeldach, jedoch mit Löchern. Der Turm war gerade wie eine Säule. Er hatte keine Fenster. Nur eine kleine Tür aus dunklem Holz, unsauber verziert mit sonderbaren Mustern und Runen, von denen Bennot wusste, dass sie Worte der Schwarzen Sprache bildeten. Er konnte es nicht lesen, aber erkennen.

Der Seher schritt näher. Wie das hohe Gemäuer so da stand, über ihn und alles in der Umgebung ragte. Bennots Herz begann schneller zu schlagen, seine Wangen zuckten. „Ein Ort der Macht“, flüsterte er zu sich selbst, „Kein Wunder, dass sich hier ein Zaubereivertrauter niedergelassen hat.“
Jetzt stand er nur noch wenige Schritte vor der Tür des Turmes. Er überlegte, ob er sich durch einen Ruf ankündigen sollte, oder wie ein Sektenvertreter an der Tür klopfen sollte und hereingelassen wollte. Er entschied sich für einen alten Trick, der zu seiner Jugend sehr beliebt war unter Sehern.
Er trat vor die Tür. Er hob die rechte Hand und klopfte an das brüchige Holz. Einmal. Zweimal. Auf einmal, und damit hatte der erfahrene Mann nicht gerechnet, schwang die Tür mit einem lauten Knarzen auf. Dahinter war alles komplett schwarz - nichts zu erkennen.

Erstaunt hob Bennot eine Braue. Schnell verwarf er seinen zuvor zurecht gelegten Plan wieder. Er sprach erneut ein Wort, dieses mal ein erhellendes: „Alluminuth“.

Mit gezogenem Langschwert betrat er den Turm.

Das Wort hatte seine Umgebung in einen weißes Licht getaucht, dass aber nur er sah. Er sah rissigen Mörtel zwischen den Steinen des Turms, die Silhoutten von leeren, verbogenen Kerzenständern, und eine alte Holztreppe, der man nicht mehr vertrauen sollte.

Mit dem Schwert in der linken Hand ging er langsam Schritt für Schritt weiter in den Raum hinein. Plötzlich fiel krachend die Tür hinter ihm zu. Doch dem schenkte er keine Aufmerksamkeit. Er befand sich in einer Art Trance, die Seher nur von den Göttern bekommen konnten, und in der er winzige Geräusche und Bewegungen wahrnehmen konnte, aber laute Geräusche nicht für voll nahm. Dies hatte wie fast alles im Leben eines Sehers auch seine Kehrseite.

Die Etage, auf der er sich befand, war etwa drei Meter hoch. Die Decke bestand aus dem gleichen Holz wie die Treppe, war allerdings von Querbalken gestützt.

Langsam betrat er die Treppe. Er nahm eine Stufe, noch eine und auch noch eine dritte. Dann blieb er überrascht stehen und verließ den Zustand, der sein Gehirn umnebelte. Denn er hatte etwas gehört: Die Holzbalken der Decke hatten geknarzt - dort oben war etwas.

Vorsichtig, mit skeptischem Blick, ging er die Treppe weiter hinauf. Noch trennten ihn wenige Schritte von der Schwelle in die nächste Etage, und er konnte aufgrund eines Vorhangs nicht sehen, was sich in dem Raum befand.

Wäre der Seher noch in der Trance gewesen, hätte er es gehört - das verräterische Geräusch: Jemand holte Luft, und das war nicht er.

Nun befand er sich eine Stufe vor der Schwelle, doch bevor einen Blick in den Raum werden konnte, sagte plötzlich eine Frau, mit einer krächzenden Stimme, die klang wie ein Streitgespäch zwischen zwei Raben: „Grüß Novagin, Bennot vom Irmenfels.“ Der Mann zuckte zusammen, er ging in Kauerstellung, machte keinen weiteren Schritt, einen Katzenbuckel und atmete nur noch flach.
„Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, die Worte beruhigten Bennot nicht, „Ingridur'ak Van.“
Das hatte Bennot nicht verstanden, es schien ein Zauberspruch gewesen zu sein. Denn plötzlich sah er gleißend weißes Licht, und er erkannte nichts mehr. "Alluminuth dain!", rief er schnell, bevor er sich die empfindlichen Netzhäute verbrannte. Damit hatte er das erhellende Wort beendet und er sah wieder normal. Durch den Zauber waren die Kerzen in dem runden Zimmer angegangen. Sie standen auf Kerzenleuchtern, auf einem Tisch und in einem Dreieck auf dem Boden. Auf dem Tisch und in einem kleinen Bücherregal standen und lagen alte, in Leder gebundene Bücher. Rechts im Raum stand ein Zaubertisch, so wie Bennot ihn aus dem Hause seines Freundes und Magiers Totenblum kannte. Nur dass dieser ein weißer Magier war, diejenige, die hier lebte folgte der schwarzen Zauberei - das hatte Bennot schon an den Schriften auf der Tür erkannt.

Doch die Frau, der die Stimme gehören sollte, war nicht in diesem Zimmer.

Der Seher löste den Katzenbuckel und betrat den Raum.

Die Frauenstimme sagte: „Ich habe dich bereits erwartet. Die Zeichen standen klar und sie haben mir gesagt, dass ein Seher kommt ... dass du kommst.“

Der Angesprochene ging darauf nicht ein. Skeptisch blickte er sich um und rief in die Leere hinein: „Wo bist du?“

Ein lauter Donner ertönte und zu seiner Rechten, nur etwa einen Meter von ihm entfernt, tauchte sie aus dem Nichts auf. Eine Frau, nicht älter als Bennot selbst, mit dreckigen, langen, weißen Haaren, die weit über den gekrümmten Rücken gingen, sie stützte sich an einem langen hölzernen Stab ab und unter weißen, buschigen Augenbrauen blitzten mit einer gespielten Höflichkeit tiefblaue Augen.
Das überraschte Bennot jedoch nicht, er hatte bereits an den ersten Worten der Frau erkannt, was sie mal war.

„Du bist also die örtliche Hexe?“, knurrte er, das Schwert immer noch erhoben.
„Tu bitte dieses Ding aus meinem Gesicht, oder siehst du, wie ich dir eine Klinge vor die Nase halte?“
„Ziemlich freundlich für eine Hexe.“ Der Seher senkte das Langschwert, behielt es aber in der Hand.
„Nun ja, ich lebe ... allein.“

„So wie du aussiehst, wird sich das auch nicht ändern.“

Die Frau erwiderte nichts, sie stand nur da und sah Bennot an.

Noch hatte dieser nicht vor, die Frau auch nur wegzuschicken, denn sie schien eine interessante Hintergrundgeschichte zu haben.

Eigentlich redete Bennot nicht viel - doch die folgenden Worte legte er sich in Fülle und guter Wahl zurecht. Er wollte das Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken. Und dafür musste er sagen: „Seher werden vielen Kuren unterzogen, deswegen haben wir weißes Haar und unnatürlich blaue Augen. Auch bekommen wir dadurch die Fähigkeit, unsere typischen Kampffertigkeiten zu erlernen. Auch werden uns bestimmte Prinzipien oder Umgangsformen eingeflößt, wie zum Beispiel, nur Aufträge auszuführen, die eigenen Gefühle zu kontrollieren, Menschen nicht zu töten und ihnen auch nicht anderes antun, außer es ist zur Selbstverteidiung - aber das kennst du ja. Und jetzt kommt meine Frage: Warum tust du das, und warum bist dem Kult der Schwarzen Magie beigetreten - als Seherin?“

Die Hexe schien erstaunt zu sein. „Woher weißt du das?“

„Man sieht es dir an. Und Novagin ist der Gott der Seher - auch wenn ich nicht glaube. Allerdings, und das solltest du wissen, mag ich es nicht, wenn mir jemand mit einer Gegenfrage antwortet.“
„Ich auch nicht.“

„Dann sind wir uns ja wenigstens in einem Punkt einig.“

Die Hexe schlurfte auf den Stock gestützt zu einem der zwei Holzstühle, die bei dem Tisch standen, und setzte sich.

„Wie heißt du?“, knurrte der Seher.

„Früher nannte man mich Ilenna, heutzutage bin ich nur noch die Hexe vom See.“ Für nicht einmal eine Sekunde schien sie traurig. Dann kehrte das hinterhältige Grinsen zurück.
„Also Ilenna, was hat es mit den Gerüchten auf sich, die ich in Blumwisn erfahren habe?“

„Willst du nicht meine Geschichte hören?“

Grimmig darüber, dass er schon wieder eine Gegenfrage bekommen hatte, überlegte Bennot, ob er mehr über diese hässliche Hexe hören wollte. Er entschied sich dafür, denn dann musste er nicht so viel reden, und er konnte vielleicht ihre Beweggründe nachvollziehen, auch wenn er ihr gegenüber noch immer skeptisch war und Abscheu empfand - hätte er nicht herausgefunden, dass sie einmal eine Seherin war, hätte er sie schon verscheucht.

„Ich höre“, antwortete er.

„Setz dich doch“, krächzte die Zaubereikundige und wies mit einer knochigen Hand auf den anderen Stuhl, der nicht ganz zwei Meter von dem, auf dem sie saß, stand.
Bennot setzte sich, hielt aber das Langschwert fest in der Hand.

„Also“, räusperte sich Ilenna, „ich wurde geboren in der Kleinstadt Ansgrad, im Norden also, meine Eltern waren arm, meine Mutter verstarb früh, mein Vater begann, sich die Birne wegzusaufen. Als er eines Abends wieder nicht nach Hause gekommen ist, bin ich los um ihn zu suchen, ohne Erfolg. Auch am nächsten Tag kam er nicht heim. Die Stadtwache hatte ihn auch nicht gefunden, obwohl ich bezweifle, dass sie ernsthaft gesucht haben. Also habe ich meine sieben Sachen gepackt und bin auf Wanderschaft gegangen -“

„Du brauchst mir nicht jedes Jahr im Detail erzählen.“

„Übe dich in Geduld, Bennot vom Irmenfels, wo war ich? ... Achso, ich bin also losgezogen. Als das kleine, 13-jährige Mädchen, das ich damals war, ein großer Fehler: Schnell bin ich bei einer Gruppe Räuber gelandet, die mich festgehalten und sich abends ... an mir vergnügt haben. Nicht nur das, ich war ihr Mädchen für alles.

Eines Tages haben die Banditen sich an einer Straße auf die Lauer gelegt, mit mir als Köder, um Reisende abzufangen und zu überfallen. Dann kam er, ein, in den Augen einer 13-jährigen, großer, muskulöser Mann, in Lederwams, mit weißen Haaren, tiefblauen Augen und zwei Schwertern auf dem Rücken, des Weges geritten. Barmherzig, wie er war, blieb er bei mir stehen, auch als ich ihm sagte, er solle weitergehen. Er stieg von seinem Ross und reichte mir seine Hand. In dem Moment kamen sie aus den Büschen - über ein halbes Dutzend. Er erkannte die Situation blitzschnell und zog sein Schwert.“

„Den Rest kann ich mir denken.“

„Ähem ... Er verteidigte sich. Blut spritzte, Köpfe rollten. Nach wenigen Sekunden war der Weg voller Blut, sein Wams und seine Klinge auch, und er hatte keinen Kratzer.
Kurz gesagt, er hat mich mitgenommen in die Seherschule Ashk'Nuzg mitgenommen und mich ausgebildet. Ich wurde Seherin und bin irgendwann meine eigenen Wege gegangen.“

„Und?“

„Gedulde dich! Irgendwann, ich war nicht so stolz und egozentrisch wie du es bist, kam ich hier her. In das kleine Dörfchen Blumwisn. Ich mochte die Gegend. In dem Dorf jedoch erzählten sie mir von diesem Ort hier: Einem Turm neben einem See, in dem eine uralte, dunkle Kraft vor sich hin wabert und die Getreide verdörrt, die Tiere vertreibt oder umbringt und auch die Geister der Menschen verzaubert.“

„Die habe ich auch gespürt. Das heißt, du konntest sie nicht bannen?“

Die Hexe ignorierte die Frage und fuhr fort: „Die Macht hatte sich kristallisiert und war zu einem Wesen geworden: Ein Dunkling.“

Dunklinge waren, das wusste Bennot, Wichte, die der schwarzen Magie mächtig waren und sie gerne benutzten.

Erneut räusperte sich die Hexe. „Ich hab ihm das Angebot unterbreitet, er solle verschwinden und ich tue ihm nichts. Ich hab ihn unterschätzt, denn anstatt zu kooperieren, griff er mich an. Schlussendlich ... ich konnte mich wehren und ihn auch töten - er war ja kein Mensch. Doch bevor meine Klinge seine Brust durchbohrte, sprach er einen furchtbaren Fluch aus: 'Auf ewig sollst du meine Stelle einnehmen, solange mein Geist lebt, sollst du hier in diesem Turm sein und nicht heraus können. Außerdem wirst du der schwarzen Magie folgen. Auf ewig!'. Erst hatte ich es nicht geglaubt. Doch nachdem ich seine Leiche in den See geworfen hatte, hatte ich den Gedanken, irgendetwas im Turm vergessen zu haben. Also ging ich wieder hinein - ich hatte nichts vergessen - und als ich wieder heraus wollte, konnte ich nicht.“

„Ein Fluch, das ist es also.“

„Ich begann, mich für Schwarze Magie zu interessieren, und las die Bücher, die hier standen ... Fast automatisch lernte ich die Zauber - alle, auch die tödlichsten. Irgendwann begriff ich, dass ich hier durch die dunkle Macht festgehalten wurde, und dass ich gleichzeitig diese Kraft am Leben hielt. Und sie hielt mich am Leben. Also sitze ich nun in diesem verdammten Turm seit über 40 Jahren fest. Aber jetzt hat sich die Kraft verschlimmert.“

„Dann muss ich dich ja nur töten, dann verschwindet auch die Macht und die Menschen können wieder in Ruhe leben.“

„Aber du kannst mich nicht töten.“

„Ich kann schon, aber ich töte keine Menschen, richtig.“

„Ich bin fertig mit meiner Geschichte.“

„War sehr spannend“, antwortete Bennot kühl und ironisch.

„Aber eine Sache hast du vergessen, Bennot.“

„Welche?“
„Ich bin inzwischen Anhänger böser Mächte und du weißt jetzt über mich Bescheid. Also muss ich dich leider beseitigen - das wird lustig!“

Der Seher sprang auf, das Schwert in beiden Händen, schräg vor den Körper gehalten.
Die Hexe schloss beide Hände um ihren Stab, stieß einmal mit Wucht auf den Boden und sagte leise einen Zauberspruch in der Schwarzen Sprache. Dieser Zauber verursachte eine Druckwelle, die von dem Stab aus ging und die den Mann etwa einen Meter nach hinten und auf den Boden warf. Überrascht davon landete er hart, konnte keinen Katzenrücken mehr machen. Die Wucht hatte ihm den Atem aus den Lungen gepresst. Während er nach Luft schnappte, sah er wie die Hexe bereits über ihm stand und ihm den Stab in die Brust rammen wollte.

In letzter Sekunde konnte sich Bennot zur Seite abrollen. Dann zog er den Kopf an, ließ kurz das Schwert über seinem Haupt kreisen, um vor Schlägen geschützt zu sein, und konnte sich dann vom Boden abstoßen und stand eine Sekunde später wieder kampfbereit da.

Die Hexe ließ sich davon nicht beirren. Sie drehte den Stab in beiden Händen vor ihrem Körper und kam langsam auf Bennot zu. Sie wollte ihn in die Ecke treiben ... in einem runden Zimmer.

Der Seher nahm das Schwert wieder beidhändig, aber anstatt es schützend vor den Körper zuhalten, wie Wachsoldaten es tun würden, stach er nach vorne, in den rotierenden Stab. Massives Holz stieß an eleganten Stahl und erzeugte ein hässliches Donnern. Aber das war nur die Ablenkung - mit einer Pirouette drehte er sich aus der Angriffslinie Ilennas. Er zog das Schwert mit, nahm so gleich wieder Schwung und hieb es in einer Halbkreisbewegung wieder in die Richtung der Frau.

Jedoch war schon wieder ihr Stab an genau dieser Stelle und blockte. Er donnerte wieder Stahl auf Holz.
Bennot fragte sich, wann der Stab denn bricht. Dafür hatte er aber offensichtlich die falsche Waffe in der Hand.

Wieder mehrfacher Schlagabtausch.

Dann drehte sich die Hexe um die eigene Achse und stieß in Bennots Richtung. Mit einem Ausweichschritt nach links entging er dem wuchtigen Stab.

Nun befand er sich mit dem Rücken zur Treppenschwelle nach unten. Ein weiterer Schritt und er würde nach unten fallen. In einer weiteren Abwehrdrehung, diesmal auf der Stelle, erkannte er dies aus dem Augenwinkel.

Wieder Stab auf Schwert.

Die Hexe versuchte, den Seher weiter nach hinten zu treiben. Es gelang ihr nicht.

Nach einem weiteren Schlagabtausch schwang Ilenna ihren Stab gen Himmel und kam mit dem Ende unter Bennots Schwert. Sie hob das Holz mit so einer Wucht nach oben, dass sie dem Seher die Waffe aus der Hand warf. Es fiel die Treppe herunter.

Innerlich fluchend tauchte er unter einem Längsschlag auf Kopfhöhe durch, murmelte das schützende Wort „Ginlinleth“ und zog blitzschnell das zweite Schwert, das er normalerweise auf dem Rücken trug. Es war ein Krummschwert, das kürzer, schwerer und wuchtiger war als das Langschwert. Es vollbrachte schwere Schläge und konnte leichter Knochen oder ähnliches durchschlagen. Doch auch deshalb war es um einiges langsamer.

In letzter Sekunde konnte er damit einen weiteren Schlag blocken. Der Stab knackte schon sehr viel lauter als vorher. Die Hexe schrie und Bennot merkte, wie das kräftezehrende Schutzwort in auch langsamer werden ließ. Schnell beendete er es wieder.

Die beiden bewegten sich im Gerangel wieder etwas weg von der Schwelle. Immer wieder trafen Schwert und Stab aufeinander. Bei jedem Mal knackte der Stab. Die Hexe wurde hektischer.
Plötzlich sprach sie ein sehr kurzes Zauberwort und sprang dadurch unnatürlich schnell vor die andere Wand des Raumes, aus Bennots Reichweite.

Doch dieser machte ebenfalls einen Satz nach vorne, hieb das Schwert mit aller Kraft von oben herab. Die Hexe konnte noch den Stab über den Kopf halten und die Klinge donnerte auf das Holz herab. Es entstand ein sehr unangenehmes Knacken und, voller Wut und doch überrascht, hatte Ilenna plötzlich zwei Teile ihres Stabes in den Händen. Sie fing an zu schreien. Der Schrei wurde lauter und lauter. Plötzlich formte er Bennot wieder unbekannte Worte. Die Luft begann zu zittern. Dem Seher fingen die Ohren an zu schmerzen.

Er musste weg hier, denn das war ein sehr gefährlicher Zauber - und ebenfalls einer, den Magievertraute des Schwarzen Kults auch ohne Zauberstab ausführen konnten.

Bennot stand auf, steckte während er zur Treppe nach unten lief, das Schwert in die Scheide. Auf den Stufen hob er im Lauf sein Langschwert auf. Unten angekommen stieß er mit einem Tritt die Tür auf und hechtete in die Nacht.

Hinter ihm fiel die Tür langsam zu. Die Hexe war nicht nachgekommen.

Der Seher rang nach Atem, das Langschwert in der Hand. Aber er konnte nicht flüchten - das machen Seher nicht! Er drehte sich wieder zur Tür um, machte sich für einen erneuten Kampf bereit. Dann fiel sein Blick auf die Runen in der Tür und ihm schoss der Name, den ihr die ehemalige Seherin gesagt hatte durch den Kopf: „Ilenna“.

Die Erleuchtung traf ihn eiskalt. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und knurrte: „Wie konnte ich nur so dumm sein? Das hätte mir auffallen müssen!“

Da Ilenna sich jetzt auf Grund des zerstörten Zauberstabs nicht mehr wehren konnte, fasste Bennot einen Plan.

Erneut öffnete er die Tür. Er ging aber nicht hinein, sondern rief: „Ilenna, hör!“

Er vernahm ein Krächzen von ihr aus der Etage, in der der Kampf stattgefunden hatte.

Er fuhr fort: „Lass uns eine Abmachung treffen! Ich kann den Fluch bannen, und danach verschwinde ich. Du kannst machen was du möchtest, denn du bist dann ja keine Hexe mehr, und wir sehen uns nie wieder.“

Er hörte die Frau aufstehen, sie sagte: „Einverstanden.“

„Das einzige, was du tun musst, ist, herunterzukommen und dein altes Seherschwert mitbringen... Und natürlich mich nicht angreifen!“

„Warte!“
Ilenna ging zu einer Truhe in dem Raum, holte die eingestaubte Waffe heraus und humpelte langsam die Treppen herunter.

Bennot betrat nun wieder den Turm, sprach wieder das Wort "Allumineth" und schloss die Tür hinter sich.

Kurz darauf stand die Hexe neben ihm vor der Tür. „Nun?“, fragte sie.

„Diese Tür ist der Schlüssel - sie ist gebrandmarkt, deshalb herrscht der Fluch und du kommst nicht heraus. Der Fluch kann gebrochen werden, wenn ein Dritter diesen Schlüsselgegenstand mit einem Gegenstand des Verfluchten zerstört.“

„Also wirst du gleich das Schwert in die Tür rammen und ich ...“

„Und du bist frei, tatsächlich.“

„Worauf wartest du noch?“, fragte die Frau ungeduldig und hielt Bennot ihr Schwert hin. Schnell nahm er es entgegen, denn nun hatte sie nichts mehr, womit sie ihn angreifen könnte - der Seher fühlte sich gleich sicherer.

Er wog das Schwert kurz in der Hand, es war etwas schwerer als seines, und älter. Innerlich musste der Seher grinsen, denn der schwierigste Teil seines Plans war geschafft. Im Nachhinein wusste er jedoch nicht, was sich Ilenna davon versprochen hatte, herunterzukommen.
Dann stellte er sich vor die geschlossene Holztür und sagte: „Stell dich neben mich.“

Sie tat das und man konnte ihr ansehen wie gespannt sie war. Allerdings war da etwas Sonderbares in ihren Augen, was der Mann jedoch deuten konnte.

Dann hob er Ilennas Schwert.

„Bereit?“
„Ja, mach schon!“

„Also gut.“

Dann richtete er die Klingenspitze auf die Tür. Diese war nicht besonders dick, es sollte klappen. Er sammelte seine gesamte Kraft und stieß schließlich das Schwert nach vorne. Knarrend schob es sich ein gutes Stück in das Holz. Bennot ließ es los und es blieb stecken.

Er blickte zu Ilenna herüber. Sie sah an sich herunter und befühlte ihren Körper - sie hatte sich nicht verändert.
„Was ist los?“, sie wurde hysterisch, „es ist nichts passiert!“

„Ich weiß“, knurrte Bennot kalt und drehte sich zu ihr um.

Sie wankte einen Schritt nach hinten und fragte: „Warum? Warum ist nichts passiert?“

„Weil du mich belogen hast, stimmt's?“, sagte er durch enge Lippen, „die ganze Geschichte mit dem Fluch war gelogen!“

Blitzschnell zog er sein eigenes Langschwert, machte einen Halbschritt nach vorne und ... rammte es in Ilennas Brust.

Das panische Glitzern verschwand aus ihren Augen.

„Was hast du getan?“, fragte sie schwach, „du darfst keine Menschen töten.“

„Verräter schon“, knurrte er und ließ seine Wut auf diese Frau frei, indem er sein Schwert weiter in sie schob. Die Wirbelsäule knackte hässlich.

Dann zog er seine Klinge aus dem Körper, welcher leblos auf den Boden sank.
Kurz blickte der Seher auf die verdrehte Leiche herab und dachte an all das Grauen, dass diese Frau verbreitet hatte, auch bevor sie hierher kam. Dann war er für nicht eine ganze Sekunde fasziniert, dass sie viel älter sein musste, als sie aussah, aber Hexen alterten sehr langsam. Außerdem zogen sie ungern herum, sondern ließen sich lieber an einem Ort nieder.

Nachdem er sein Schwert an der Kleidung der Toten gereinigt hatte, verließ er den Turm und machte sich auf den Weg nach Blumwisn, um seine Belohnung abzuholen. Er blickte nicht zurück.
Was die Hexe nicht gewusste hatte, war, dass auch Bennot aus der Seherschule Ashk'Nuzg kam.

Und dort wurde sie jedem Schüler, um sie zu schockieren und zu lehren, erzählt - die Geschichte von der Hexe Ilenna, die bereits im Schatten der Schwarzen Macht geboren wurde, und die sich in den Clan gelogen hatte und mit ihren bösen Taten, die sie im Namen der Seher vollbrachte, jeden Seher in dieser traurigen Welt verraten hatte - auch die, die noch nicht geboren waren. Sie war nie eine echte Seherin, sie handelte nie nach dem Kodex.

Es war nun Zeit, sie zu vergessen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.08.2015

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