Das Sonnenmal
von
Bettina Wohlert
Inhalt:
Ein gut gelungener Mix aus atemloser Spannung, Lovestory und Liebe zum Detail! Ein Kriegsreporter ohne Illusionen, ein halbtotes Mädchen mit viel Zukunft, aber ohne Gedächtnis, eine Familie mit großem Haus und noch viel größerem Herzen, ein vermeintlicher Engel mit Glauben, aber ohne Herz und Gewissen … und Landschaften, die zum Träumen einladen.
Ben Reevers kehrt nach endlosen Jahren als Reporter in den Kriegsgebieten der Welt zu seiner Familie nach Cornwall zurück. Was er zunächst für eine Leiche hält, über die er mehr oder weniger zufällig stolpert, ist ein junges Mädchen, das sich erst im Krankenhaus und dann in der Obhut seiner Schwester Helen langsam erholt. Als ihr Lebensretter fühlt er sich eng mit ihr verbunden und versucht, ihr auf ihrem Weg zurück ins Leben zur Seite zu stehen. Dies ist allerdings gar nicht so einfach, wie es zunächst scheint…Das Mädchen ist offenbar durch die Hölle gegangen. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit wird sie allerdings von dieser wieder eingeholt.
Bettina Wohlert, Jahrgang 1965, lebt mit ihren beiden Söhnen in Berlin. Hauptberuflich arbeitet sie als Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte. Viele Jahre schon schreibt sie Kurzgeschichten und kleine Theaterstücke, die in Gottesdiensten für kirchenferne Besucher aufgeführt worden sind, sowie Krippenspiele der moderneren Art. Ihr erster Roman »Das Sonnenmal« erschien 2013 und wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.
Bisher erschienen:
Das Sonnenmal - 2013
Fünf-Wort-Geschichten – 2014
Der Geruch von Licht – 2015
Hinter dem Vorhang (2. Teil von Der Geruch von Licht) – 2015
Alle Bücher als eBooks in den üblichen Online-Shops und als Taschenbuch bei der Autorin im Online-Shop
Das Sonnenmal
von
Bettina Wohlert
Copyright © by Bettina Wohlert 2012
2. Auflage
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen außerhalb der Nutzung auf einem e-Book-Reader.
Die Überschriften sind Zitate aus der Bibel.
Umschlaggestaltung Schlunz Arts, Ritze - Altmark
I. Er streckte seine Hand aus von der Höhe und zog mich aus großen Wassern
Psalm 18:16
Ben Reevers liebte die engen schmalen Straßen Cornwalls. Sie gaben ihm eindeutig das Gefühl, nach Hause zu kommen. Nirgendwo sonst waren die Straßen so eng wie in Cornwall und nirgendwo sonst preschten die Lastwagen trotzdem einfach so durch, egal was ihnen entgegen kam. Er hätte durchaus auf den großen Schnellstraßen bleiben können, es war frühmorgens und es gab kaum Verkehr. Vor allem standen an den Kreisverkehr-Ausfahrten von den Schnellstraßen um diese Uhrzeit keine Touristen-Wohnmobile völlig verunsichert vom Linksverkehr und hielten den Verkehr auf, weil sie nie schnell genug die Lücken ausnutzten, die sich nur für wenige Sekunden auftaten. Und trotzdem war er vorhin an der nächsten Ausfahrt auf die kleine Landstraße abgebogen, die sich zwischen den hohen Hecken mit vielen Kurven über die Hügel schlängelte.
»Oh, nein, bitte nicht! Nicht ein Milchlaster!« Ben fluchte und lenkte den Wagen so weit es ging in die schmale Einbuchung in der Hecke. Mit einer raschen Bewegung zog er den Außenspiegel zu sich heran, der ihm schon zu oft auf diesen engen Straßen abgefahren worden war. Ganz langsam und im Schritttempo schob sich der breite Lieferwagen an ihm vorbei. Ben fuhr noch ein Stückchen tiefer in die Hecke und fluchte erneut, als er das Geräusch der auf dem Lack schrammenden Äste hörte.
»Ich hasse diese engen Straßen!«, murmelte er vor sich hin, und versuchte nicht an das hell leuchtende Blech zu denken, dass unter den Kratzern hervorblitzen würde, musste dann aber doch wieder grinsen. So was kommt von so was, dachte er.
Dann war der Milchwagen endlich vorbei und er konnte wieder Gas geben. Langsam fuhr er in Kestle Mill um die spitze Kehre und endlich gaben die hohen Hecken, die bisher die Straßen rechts und links begrenzt hatten, den Blick über die Hügel Cornwalls frei. Jetzt musste er nur noch über die uralte kleine Brücke über den Gannel River, dann auf der anderen Seite aus dem flachen Tal hinaus nach Trenrice hinauf und er würde das Haus seiner Schwester schon sehen können.
Langsam rumpelte Ben über die schmale Brücke und atmete tief ein. Eindeutig, Zuhause! Nur noch wenige Meter und er sah rechts die Einfahrt. Vorsichtig zirkelte Ben seinen Wagen über die schlichte Betonplatte, die den Graben vor Green Meadows abdeckte und schlängelte sich dann über den kurvigen Weg durch das urwaldartige Gestrüpp, den sein Schwager so großspurig Einfahrt nannte. Hier sollte Stu mal Hand anlegen, dachte er. Dann hätte man von der Straße einen viel schöneren Blick auf das Haus. Das konnte sich nämlich durchaus sehen lassen. Behäbig lag es auf halber Höhe des Hügels ein kleines Stück über dem Dorf. Nur wenige Meter hinter dem großen Garten, den Stu genauso scherzhaft Park nannte, begann der Wald, der sich über die Anhöhe zog. Das Haus hatte in einer früheren Zeit offenkundiger Wohlhabenheit zwei zusätzliche Seitenflügel erhalten und konnte somit leicht bis zu zwanzig Kindern nebst Betreuern und Nells Familie ausreichend Platz bieten, ohne dass man sich unweigerlich auf den Füßen stand. Unten schlicht weiß verputzt hatte das obere Stockwerk einen Pseudo-Tudorstil mit schwarzem Fachwerk, der für die Gegend total untypisch war, seinem Vorfahren aber vermutlich als der damalige Inbegriff von eleganter Herrschaftlichkeit vorgekommen war. Stu und Nell hatten aus dem alten Haus wieder ein Schmuckstück gemacht. Während der Wohntrakt für die Ferienkinder mehr funktional gehalten war, hatten sie den ältesten Teil des Hauses irgendwie in eine Art bewohnbares Museum verwandelt, ohne auf moderne Bequemlichkeit zu verzichten.
Ben stellte sein Auto vor dem Pferdestall ab, der jetzt einen großen Aufenthaltsraum für die Kinder beherbergte, und sah auf die Uhr. Halb sechs war eindeutig zu früh, um seine Ankunft kundzutun. Wenn er jetzt ins Haus ging, würde er den Hass der ganzen Familie auf sich ziehen.
Er sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Auto, um den Hund abzufangen, bevor dieser mit seinem Pfoten auf dem Lack seines Autos gelandet war.
»Pscht, Abby«, versuchte er die aufgeregte Hündin zu beruhigen und hielt ihr die Schnauze zu. »Aus! Leise! Nein, nicht bellen. Die schlafen doch noch alle!« Aber der Hund jaulte und winselte laut vor Freude und sprang an Ben hoch, um ihm trotz aller Abwehr das Gesicht abzulecken.
Ben sah seine einzige Chance, nicht den Weckdienst für das gesamte Haus zu spielen, nur darin, den Hund vom Hof zu locken.
»Na, mein Mädchen, magst du spazieren gehen?« Ben kraulte der Hündin den Kopf. »Dann lass uns mal gucken, ob wir nicht ein paar Kaninchen für dich finden, die du Jagdhund hetzen kannst.«
Einträchtig stiegen Mann und Hund nebeneinander den Hang hinter Stus Park auf der Rückseite des Hauses langsam bergauf. Prüfend warf Ben einen Blick in den Himmel. Es hatte schon den ganzen Morgen regnerisch ausgesehen, aber inzwischen ballten sich die Wolken am Horizont geradezu unheilverkündend dicht und dunkel zusammen.
»Wenn wir Glück haben, dann zieht das Unwetter dort vorne vorbei und wir bekommen gar nichts ab.« Ben überlegte kurz zurückzugehen, fand aber andererseits, dass er nicht aus Zucker war und ein paar Regentropfen noch keinem geschadet hatten. Er war in den letzten Jahren in so vielen Ländern gewesen, wo man angesichts der Wolken einen Freudentanz in Erwartung des kommenden Regens aufgeführt hätte, dass es ihm wie Frevel vorkam, vor ein bisschen kommenden Geniesel Reißaus nehmen zu wollen.
»Wir sind Engländer, wir ziehen den Kopf ein und gehen einfach weiter. So wie wir das schon immer bei Regen gemacht haben.« Ben grinste stillvergnügt in sich hinein, als er sich dabei ertappte, wie er mit dem Hund sprach.
»Du widersprichst mir wenigstens nicht. Du erziehst nicht an mir herum, kriegst keine hysterischen Anfälle, wenn ich aus Syrien anrufe oder schreist Zeter und Mordio, weil ich mich mal drei Tage nicht melde. Ein sehr sympathischer Gesprächspartner, wie ich finde.«
Nach einer ganzen Weile schlugen sie einen weiten Bogen über die Hügel und gingen langsam wieder bergab, als die ersten Regentropfen hatten sie erreichten und schnell kräftiger wurden. Der Himmel war inzwischen rabenschwarz.
»Vielleicht sollten wir doch zusehen, dass wir von hier verschwinden, bevor uns ein Blitz erwischt.«
Mit langen Sätzen lief Ben hinter Abby her, die pfeilgerade den sanften Hang hinunterrannte. Keine halbe Minute später prasselte der Regen heftig auf sie ein und Ben sah sich suchend nach einem Unterschlupf um. Wenige Augenblicke später ließ er sich schwer atmend unter dem Brückenbogen der Schnellstraße auf den trockenen Boden fallen.
Das schmale Rinnsal, das sich zu seinen Füßen in dem Abwasserkanal gebildet hatte und unter der Brücke hindurch gluckerte, würde wohl nicht so stark anschwellen, dass es ihm hier gefährlich werden könnte. Er sah sich nach Abby um, die noch im peitschenden Regen herumtobte und nur unwillig auf seinen Pfiff reagierte, dann aber zu ihm kam. Bevor er zur Seite springen konnte, schüttelte sie sich direkt vor ihm das Wasser aus dem Fell und nur einen Augenblick später schoss zu allem Überfluss aus einem Abflussrohr über ihm ein wahrer Sturzbach.
»So viel zu trockenem Plätzchen«, fluchte Ben und schüttelte sich ebenfalls, wobei er allerdings das eiskalte Wasser, das ihm in den Kragen gelaufen war, nur gleichmäßig verteilte. Wenn das so weiterging, konnte er auch in aller Ruhe nach Hause laufen, da er sowieso nicht nasser werden konnte, dachte er in einem Anflug von Ärger. Mit einem Mal sprang der Hund an ihm vorbei und blieb wild bellend vor dem Abflussrohr stehen.
»Ja, mein Mädchen, bell das Rohr nur richtig zusammen als Strafe dafür, dass es mich so nass gemacht hat.« Ben hielt sich die Ohren zu.
»Aber jetzt ist genug! Aus! Still!«
In dem Gekläff des Hundes und dem lauten Geplätscher des Wassers, das inzwischen, wie er fand, überraschend schnell stieg, gingen seine Rufe jedoch ungehört unter.
»Abby! Aus!«, brüllte er. Jaulend hörte Abby endlich auf zu bellen. Da die Hündin aber keine Anstalten machte, von dem schmalen Sims herunterzukommen, sondern immer noch aufgeregt jaulte und scharrte, kletterte Ben zu ihr hinauf.
»Was ist los? Was hast du gefunden? Ein totes Kaninchen? In dem Loch da?«
Ben spähte durch das Gitter. »Ist da was drin, was dich aufregt?«
Offenbar war dies das Abflussrohr für das gesammelte Regenwasser der Schnellstraße über ihnen und inzwischen schoss das Wasser in einem schon handbreit hohen Schwall in den Graben hinter Ben.
Da von oben wohl kaum größere Teile durch die Gullischlitze in der Straße passten, war das Gitter wohl eher dazu gedacht, dass dort keiner hineinkletterte oder Müll im Abflussrohr ablegten. Und doch konnte Ben in dem kaum vorhandenen Licht ein recht großes Bündel erkennen, das in dem strömenden Wasser lag.
Er streckte den Arm durch das Gitter und zog vorsichtig an dem nassen Stofffetzen.
»Ist es das, was dich so aufregt, Abby? Aber ich sag dir gleich, wenn das ein totes Tier ist, was ich hier anfasse, dann Gnade dir Gott.«
Das Bündel rutschte ihm nach einem leichten Ruck entgegen und drehte sich dabei. Ben riss die Hand zurück, als sich eine dicke Strähne von Fadenalgen um seine Finger wickelte.
»Abby, du magst so was vermutlich spannend finden, aber das ist jetzt echt eklig!«
Ben tastete nach seinem Schlüsselbund und schaltete die kleine Taschenlampe an, die dort immer hing. In dem kleinen Lichtkegel blitzte ein heller Fleck unter dem im Wasser schwimmenden Algenvorhang auf.
»Das ist doch ...« Ben sah überrascht auf das Gesicht vor ihm, das unter einer Flut von langen nassen Haaren, die sich um seine Hand gewickelt hatten, kaum auszumachen war. Das Gesicht war fast nicht mehr als solches zu erkennen, ein Auge war fast komplett zugeschwollen und die rechte Schläfe schwarz verschmiert, wobei Ben davon ausging, dass das wohl eher getrocknetes Blut war.
Irgendjemand hatte eine Kinderleiche hier abgelegt und er und Abby waren geradewegs darüber gestolpert. Magnetisch angezogen von jeglicher Art an Dramen, die sich in seiner Nähe auch nur abspielen konnten. Wie immer, seufzte Ben und tastete in seiner Hosentasche nach seinem Handy. Vermutlich würde er hier unter der Brücke kein Signal bekommen und durch das gestiegene Wasser im Graben nach draußen waten müssen, um dann klitschnass und durchgefroren Ewigkeiten auf die Polizei oder wen auch immer zu warten. In diesem Augenblick öffnete sich in dem Gesicht das Auge und Ben ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen. Mit fahrigen Bewegungen tastete er mit der einen Hand nach der Lampe während er mit dem anderen Arm erneut durch das Gitter griff, um die Gestalt näher zu ziehen, damit er den Kopf über Wasser halten konnte.
»Shhh, keine Angst, ich bin da«, versuchte er das Mädchen zu beruhigen, obwohl er nicht den Eindruck hatte, dass sie ihn irgendwie sah oder bemerkt hatte. Aber es beruhigte auch ihn, auf sie einzureden.
Wie um alles in der Welt war sie in das Abflussrohr gekommen? Ben rüttelte probehalber mit der freien Hand am Gitter, das zwar protestierend schepperte, aber ansonsten an Ort und Stelle blieb. Mit der Taschenlampe im Mund sah Ben sich hektisch um. Das Gitter musste sich öffnen lassen, das Mädchen hätte nicht anders in das Rohr gelangen können. Er zerrte das Bündel herum, bis der Kopf etwas höher lag. Er war sich gar nicht mehr so sicher, ob die Kleine sich tatsächlich bewegt hatte und noch lebte. Inzwischen kam das kalte Wasser knietief aus dem Abwasserrohr geschossen und er spürte seine Beine kaum noch. Während er sich bemühte, das Mädchen in einen aufrechtere Position zu ziehen, damit er sie kurz loslassen konnte, ohne dass sie unter Wasser sank, konnte er in dem Kegel der Taschenlampe mehrere blutverkrustete Wunden am Kopf des Mädchens und ihre tiefblauen Lippen sehen. Seine Finger waren vor Kälte viel zu klamm, um nach ihrem Puls zu tasten. Mit einem kräftigen Ruck zerrte er sie noch einmal hoch und endlich schirmte ihr Körper ihr Gesicht von dem um sie herumgurgelnden Wasser ab. Hastig griff Ben nach dem Gitterrand und rüttelte erneut daran. Das Gitter gab nur wenige Zentimeter nach. Jemand hatte den verrosteten Metallbügel, durch den das geschlossene Gitter mit einem Schloss gesichert wurde, zur Seite gebogen, nachdem es wieder geschlossen worden war. Ben fluchte laut. Ein Schloss hätte er vielleicht knacken können, aber die verbogene Falle stellte ein fast unüberwindliches Hindernis dar, wenn er nicht einen großen Stein fand. Das Wasser unter der Brücke stieg beängstigend schnell und würde den kleinen Vorsprung, auf dem er stand, bald erreicht haben.
Voller Wut und Verzweiflung über seine Hilflosigkeit riss Ben noch einmal an dem Gitter und mit einem Ruck gab der verbogene Schlossbügel nach und brach ab. Der Schwung reichte, um ihn rückwärts von dem Vorsprung ins Wasser zu katapultieren und er konnte sich nur mit Mühe in dem unter der Brücke inzwischen rasend schnell dahinströmenden Wasser wieder aufrichten. Mit einem Satz war er wieder auf dem Vorsprung, zog das Kind aus dem Rohr und watete durch das inzwischen brusthohe Wasser ankämpfend ins Freie. Dort stolperte er die schmalen, glitschigen Stufen an der Brücke zur Fahrbahn hinauf, während Abby wild bellend um ihn herumsprang. Ben ließ das Kind ins Gras am Straßenrand sinken und riss das Handy aus der Tasche. Wenn nicht sofort Hilfe kam, würden sie beide hier draußen erfrieren.
»Wollen Sie nicht lieber nach Hause gehen und ein heißes Bad nehmen? Eigene trockene Sachen anziehen?« Die Schwester schaute ihn besorgt an. »Sie holen sich ja noch den Tod!«
»Das wär doch die Schlagzeile morgen in der Zeitung: ›Kriegsgebiets-Reporter stirbt in der Heimat an läppischem Schnupfen‹.« Ben lächelte die junge Frau schief an. Er kam sich durchaus etwas albern vor in dem blauen OP-Anzug seiner Schwester Allison, die als Ärztin im Krankenhaus von Truro in Ermangelung anderer trockener Sachen einfach die Krankenhausbestände geplündert hatte, und ein heißes Bad hatte ebenfalls etwas sehr Verlockendes.
»Wie geht's der Kleinen?«, fragte er.
Er saß in einer Ecke des Behandlungszimmers und sah Schwester Nancy Jones dabei zu, wie sie die Infusionen kontrollierte, die Wärmedecke über dem Kind feststeckte und die Anzeigen auf dem Monitor prüfte.
»Stark unterkühlt, einige Platzwunden, zwei tiefe Schnitte im Gesicht, mehrere stumpfe Schädeltraumata und unzählige Prellungen am ganzen Körper.«
»Da wollte sie jemand loswerden und hat ordentlich draufgehauen.« Die Tür zu dem kleinen Raum in der Notaufnahme hatte sich geöffnet und Sergeant Carol Carrigan nickte kurz in die Runde. Ben hob grüßend die Hand. Er kannte sie von der Initiative gegen Kindesmissbrauch, Standing together against Child abuse, kurz STACA, der er vor einiger Zeit beigetreten war, um mit seinem in der Öffentlichkeit bekannteren Namen und Gesicht eine größere Resonanz für deren Arbeit zu erreichen.
»Sie dürften gar nicht hier sein«, beschied sie Ben, ging dann aber zu der Liege hinüber und sah zu, wie Schwester Jones gerade den Schmutz unter den Fingernägeln des Mädchens herauslöste. Sie reichte ihr die durchnummerierten Reagenzgläschen zu.
»Weiß man schon, wer sie ist?«
»Nein, aber dafür seid ihr von der Polizei jetzt da. Tut mir einen Gefallen, ja? Findet den Scheißkerl!« Nancy Jones sah aufgebracht auf. »Das Letzte, was wir hier in der Gegend gebrauchen können, ist ein Triebtäter, der sich kleine Mädchen schnappt.«
»Das kann keiner gebrauchen«, Sergeant Carrigan versuchte die Krankenschwester zu beruhigen.
»Ich müsste ein paar Fotos machen«, fuhr sie fort. »Von dem, was ihr noch nicht verpflastert und verarztet habt. Danach könnt ihr sie dann waschen.«
Sie hob eine große Kamera aus ihrer Umhängetasche und begann systematisch jedes Hämatom, jede Platzwunde und jede Verletzung genauestens zu fotografieren. Sie war lange beschäftigt.
Ben blickte von seiner Ecke auf die Röntgenbilder an den Lichtkästen. Mehrere Rippenbrüche, das gebrochene Nasenbein und der doppelter Kieferbruch waren sogar für ihn als Laie zu erkennen. Als Nancy Jones endlich beginnen konnte, die Wunden zu säubern und Carol Carrigan noch weitere Reagenzgläser mit Partikeln und Fasern füllte, kamen immer mehr Schnitt- und Platzwunden und Prellungen zutage. So wie das Mädchen im Moment aussah, würde man nicht einmal erahnen können, wie sie normalerweise aussah.
Er war sich nicht sicher, ob er wollte, dass sie noch möglichst lange bewusstlos blieb und sich damit viele Schmerzen ersparte, oder ob sie bald zu sich kommen sollte, damit sie ihnen sagte, wer sie war und man ihre Eltern verständigen konnte.
Die Polizei würde sich darum kümmern müssen. Chief Inspector Mark Granger, sein bester Kumpel aus Schultagen. Mark würde sich um alles kümmern. Er hatte ihn auch gleich ins Krankenhaus fahren lassen, damit er nach dem Mädchen fragen konnte, und die Vernehmung auf einen Tag geschoben, an dem Ben in eigenen trocknen Sachen bei der Polizei erscheinen konnte.
»Gehen Sie nach Hause!« Sanft schob ihn die Schwester zur Tür.
»Es hat keinen Sinn, dass Sie hier warten. Wir bringen sie gleich hoch auf die Intensivstation und es wird noch Stunden dauern bis sie wieder bei Bewusstsein ist. Vielleicht legt man sie auch erst ins künstliche Koma.«
Ben wandte sich widerstrebend zum Gehen. Vorher wollte er doch erst mal sehen, ob nicht Allison als Ärztin schon mehr in Erfahrung bringen konnte. Wozu hatte man schon eine Schwester, die im Krankenhaus arbeitete?
~~~
Was immer man im Krankenhaus mit seinen Sachen getan hatte, sie waren in der kurzen Zeit vollständig getrocknet und ihm wurde auch langsam wieder warm. Das Taxi ließ ihn an der Einfahrt hinaus und Ben schlenderte zum Haus hinüber. Nell wohnte mit Stuart und ihren Zwillingen Meghan und Maureen im Familiensitz ihrer Urgroßmutter, einem alten Haus, das vor zweihundert Jahren dem damaligem Landpfarrer mit seiner großer Familie als Wohnsitz gedient hatte, als von Pfarrern noch erwartet wurde, dass sie eine große Familie hatten. Nell und Stu hatten lange daran renoviert und umgebaut, um es als Ferienheim für Kindergruppen aus den grauen Industriestädten anbieten zu können. Für eine nur vierköpfige Familie war das Haus einfach zu groß und viel zu teuer im Unterhalt. Damit es in der Familie bleiben konnte, hatten sie, wie so viele andere im Land, die ihre großen Herrenhäuser nicht mehr unterhalten konnten, sich eine neue Nutzung ausdenken müssen. ›Ferienheim‹ hieß im Klartext nichts anderes, als dass Nell den ganzen Tag am Rennen und Wirtschaften war und Stuart mit seinem Werkzeuggürtel herumlief und so tat, als ob das Haus sonst zusammenfallen würde, wenn er nicht ständig in irgendeiner Ecke schnell etwas hämmerte oder woanders einen Nagel einschlug. Ben lachte ihn regelmäßig dafür aus, dass er diesem Al aus der beliebten Heimwerkerfernsehserie so verflixt ähnlich sah. Er hatte den Verdacht, dass dies durchaus von Stu beabsichtigt war.
~~~~~~~
Er ging über den Hof und durch den kleinen Küchengarten zur Küchentür.
»Hallo, die Herrschaften!«, grüßte er freundlich in die vermeintlich leere Küche, bis er seine Schwester kopfüber im Kühlschrank wühlen sah. Nur Stu brachte es fertig, in einer Küche, die aussah wie aus einem Geschichtsbuch, eine Spülmaschine zu integrieren, ohne dass sie auffiel. Nell war viel zu praktisch veranlagt, als dass sie zugelassen hätte, dass Stu aus dem gesamten Haus ein Museum für Früh- und Vorgeschichte machte, in dem sie morgens einen Küchenherd hätte anfeuern oder gar für den Abwasch mit einer alten Handpumpe erst Wasser hätte pumpen müssen, grinste er in sich hinein,
»Ben!« Nell warf die Kühlschranktür zu und fiel ihrem Bruder um den Hals. »Kleiner Bruder!«
»Oh Mann, keine fünf Sekunden hier und du spielst deine Trumpfkarte aus!«
»Bin ich froh, dass du heil und gesund wieder da bist.«
»Ach, komm, so schlimm war es doch auch nicht!« Woher wusste seine Schwester schon wieder, was passiert war? Ben war verblüfft.
»Also bitte, ja!« Empört stemmte Nell die Arme in die Seiten. »Es ist überhaupt nicht lustig, dich nur im Fernsehen zu sehen, wie du von irgendwelchen Militärputschen berichtest, während im Hintergrund die Granaten einschlagen und Schüsse zu hören sind!« Puh, Ben atmete innerlich auf. Sie wusste noch gar nichts. Ally hatte vermutlich anderes zu tun gehabt, als ihre Schwester sofort per Telefon auf den neuesten Stand zu bringen. Auf diese Art würde er noch einige Zeit in Ruhe das Nachhauskommen genießen können, ohne mit Nells zu erwartender Hysterie konfrontiert zu werden, sobald Allison sie ausreichend von seinem kleinen Abenteuer in Kenntnis gesetzt haben würde.
»Nellie, du weißt doch, wie das geht! Wenn du von Steinewerfern gehört hast, dann fährst du da hin, siehst keine mehr, weil die schon weg sind, und drückst ein paar Straßenkindern ein paar Münzen in die Hand, damit sie vor der Kamera ein paar Steine in Gegend werfen und Bingo, hast du deine Aufnahme im Kasten.«
»Als ob du so schummeln würdest.«
Ben grinste nur breit. »Berufsgeheimnis.«
»Los, setz dich hin, ich mach dir Tee. Oder trinkst du nur noch diese modernen Yuppiekaffees?«
Klar, in Syrien oder Libyen in den Rebellenhochburgen gab es Starbucks-Coffeeshops auch wie Sand am Meer. Er lächelte sie nachsichtig an.
»Nell, ich trinke, was du grad da hast und gesundheitlich bedenkenlos trinkbar ist.« Er fand es sehr entspannend, einfach alles trinken zu können, was ihm angeboten wurde, statt sich Gedanken darüber machen zu müssen, woher seine Gastgeber das Wasser geholt hatten und ob er es nicht besser erst einmal entkeimen sollte.
Während Nell ihm Löcher in den Bauch fragte und ihn über die Lebensgeschichte von sämtlichen Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, ihm bekannten Nachbarn und aller dazugehörigen Kinder auf den neuesten Stand brachte, sah sich Ben in der Küche um und ließ sein Auge über Trockenblumensträuße, die von der Decke hingen, die Kräutertöpfen auf dem Fensterbrett, die Flickenteppiche auf den alten Holzdielen und die schlafende Katze im Großvaterstuhl in der Ecke wandern.
»Wie verträgt sich Abby mit der Katze?«, unterbrach er Nells steten Redefluss.
»Sie hat einen Heidenrespekt, glaub mir.«
»Oh, da bin ich unbesorgt. Ich bin nur erstaunt, dass Abby noch lebt.«
Ben grinste wieder. Abby hatte es als Hundewelpe vor einigen Jahren nur ein einziges Mal gewagt, den Weg des riesigen Katers zu kreuzen und danach immer einen großen respektvollen Bogen um ihn gemacht, Auch Ben würde es nie im Leben noch einmal wagen, die Katze anzufassen. Er hatte dies völlig unbedarft nur einmal vor Ewigkeiten versucht, als ihm der große Kater maunzend um die Beine gegangen war und ihm vorgegaukelt hatte, gestreichelt werden zu wollen. Kaum hatte Ben damals die Hand auch nur in Richtung des Katzenrückens ausgestreckt, als der Kater auch schon mit allen Krallen in seinem Unterarm gehangen und ihn die Haut zerfetzt hatte.
»Wie alt ist Peg jetzt?«
»Oh, ich glaube, achtzehn oder so ... Vermutlich wird er uns alle überleben.«
»Er wird euch eines Tages nachts im Schlaf niedermetzeln, Ihr werdet schon sehen.« Wohlig ließ Ben sich in die Kissen auf der Eckbank sinken und rührte gedankenverloren in seiner Teetasse, während Nell weiter über solch nette Nebensächlichkeiten auf ihn einschwatzte, dass er deren Banalität geradezu genoss.
»Ben! Jungelchen!« Stu stieß die Küchentür auf, gefolgt von Abby, die sich wie eine Irre auf Ben stürzte, um ihm das Gesicht abzulecken.
»Na, das nenn ich Liebe.« Stu grinste unter seinem Vollbart, während Ben alle Hände voll zu tun hatte, sich Abbys Liebesbezeugungen zu entziehen.
»Nenn mich nicht Jungelchen, alter Mann!« Freundschaftlich boxte Ben seinem Schwager auf den Oberarm.
»Solange ich mich daran erinnern werde, wie du als Teenager bei meiner Hochzeit ausgesehen hast, werd ich dich Jungelchen nennen.«
»Wie viele hundert Jahre ist das jetzt her, alter Mann?«
Ben lächelte still in sich hinein. Er hätte einfach besser aufpassen müssen, in was für eine Familie er hineingeboren wurde, hatte er immer gefunden. Es war ein absolutes Unding, drei ältere Schwestern zu haben, wenn dazu noch die jüngste schon zehn Jahre älter war als er. Es war, als ob man vier Mütter hatte, die alle an einem herumerzogen und einen nicht auch nur einen einzigen Atemzug oder Schritt alleine tun ließen. Und wenn Nell und Stu ihn ›kleiner Bruder‹ oder ›Jungelchen‹ nannten, dann konnte er es auch einfach nicht lassen, auf der Tatsache herumzuhacken, dass Stu schon komplett grau war, obwohl er erst knapp Ende vierzig war.
Erneut flog die Küchentür mit Schwung auf und Ben sah sich von seinen blonden Zwillingsnichten umringt, die aufgeregt auf ihn einschnatterten. Nur zu gerne ließ er sich von dem liebenswerten Getöse dieser lauten Familie in den Bann ziehen und begann sich langsam wieder heimisch zu fühlen. Nells und Stuarts Entscheidung für den Betrieb von einem Ferienheim war damals mit Sicherheit davon inspiriert, dass sie beide aus großen und lauten Familien kamen, in denen es nie ruhig oder geordnet zuging.
»So ein Haus verlangt nach Leben in der Bude«, war Nells Meinung gewesen. »Im Altersheim kann ich noch früh genug dem Ticken der Standuhr zuzuhören.«
~~~
Das Essen zog sich mit dem üblichen Geräuschpegel hin und Ben summten die Ohren, als er endlich zum kleinen Pförtnerhaus hinübergehen konnte, um sein Gepäck auszupacken. Es war immer wieder erstaunlich, fand er, wie wenig Gepäck man brauchte, wenn man fünf Jahre in der Welt herumgondelte, um von einem Krisenherd zum nächsten zu kommen. Je weniger man mit sich herumschleppte, umso weniger konnte man verlieren oder bei endlosen Zollkontrollen einbüßen. Er würde sich wohl in den nächsten Tagen um eine etwas zivilere Kleidung kümmern müssen. Feste Trekkingschuhe, Khakihosen mit Cargo-taschen und Hemden aus funktionaler Mikrofaser machten sich in der Wüste, im Hindukusch und in Militär-Jeeps auf Iraks staubigen Pisten nicht schlecht, aber vielleicht konnte er sich wieder etwas kultivierter kleiden, bevor ihn jemand noch mit Indiana Jones anredete.
Ben stand in dem kleinen Badezimmer des Gästehäuschens und packte mit jahrelang geübten Handgriffen Zahnbürste und Rasierzeug aus, als sein Blick beiläufig auf sein Spiegelbild fiel. Er würde auch einen neuen Haarschnitt brauchen, fand er, sogar dringend. So wirr, wie die Haare von seinem Kopf abstanden, konnte er ja nicht mehr unter Leute gehen. Ansonsten fand er sein Spiegelbild gar nicht so übel. Unter den dunklen Wirbeln auf seinem Kopf blitzten ihn aus einem sonnengebräunten Gesicht hellblaue Augen an. Wenigstens wurde er braun und nicht hellrot, wie die meisten Engländer unter südlicher Sonne. Und ganz so jugendlich, wie Stu immer tat, sah er auch nicht mehr aus. Mit seinen zweiunddreißig Jahren hatte er schon das eine oder andere Fältchen im Augenwinkel. An den sozial verträglicheren Haarschnitt würde er sich morgen machen.
Ben hatte sich eigentlich für die Dauer seines Heimaturlaubes auf sein kleines Reihenhäuschen in London gefreut und die Tatsache, dass er dort dann endlich wieder einmal ohne Angst und ohne dass ihn das leiseste Geräusch auffahren ließ, in Ruhe schlafen würde. Aber er hatte kaum die Haustür aufgeschlossen gehabt, als die Erinnerungen auf ihn hereingestürzt waren und er die Nacht erst einmal in einem Bed & Breakfast um die Ecke verbracht hatte, bevor er am nächsten Morgen einen Maler und Innenarchitekten angerufen hatte. Fünf Jahre als Reporter in den Krisengebieten dieser Welt hatten auch fünf Jahre Abwesenheit bedeutet, in denen sich keiner um Haus und Garten gekümmert hatte. Fünf Jahre hatte er von Regierungsumschwüngen, Revolutionen, Kriegen und Krisen berichtet, von den Dramen, die alle anderen betrafen, nur um das Drama in seinem eigenen Leben endlich vergessen zu können. Aber als er das Haus betreten hatte, war innerhalb von Sekunden alles wieder präsent gewesen. Er liebte das Haus und auch den kleinen handtuchschmalen Garten. Vor allem mochte er, dass es mitten in London lag, und es zu verkaufen würde ihm nie einfallen. Aber er wollte auch nicht jeden Tag und jede Stunde an Catherine erinnert werden oder an einer sorgsam verschlossenen Tür vorbeigehen mit dem Wissen, dass dahinter ein Kinderbett leer geblieben war.
Er war gespannt, was Dick Garrett aus dem Haus machen würde und hoffte nur, dass es nicht zu modern und steril werden würde, sondern seine viktorianisch verwinkelte Seele behalten durfte. Er hatte sich früher zu gern diese Pseudo-Dokus wie Wohnen nach Wunsch angesehen und sich an den Gesichtern der Leute geweidet, die von einem Zwangsurlaub in ihre völlig umgestalteten Wohnungen und Häuser zurückgekommen waren und vor der Kamera gute Miene zum Kuh-Geschmack der selbsternannten hypermodernen Innenarchitektinnen machen und entweder gleich noch einmal renovieren oder mit den Dekorationskatastrophen lila- und türkisfarbener Blumen auf dunkelbraunen Wänden oder grün-grau gestreiften Küchenschränken mit Neon-Ornamenten leben mussten. Mr. Garrett allerdings gehörte nicht in diese Kategorie. Er war dafür bekannt, dass er die Kuh im Dorf ließ, dass man im neugestalteten Haus noch wohnen konnte und es trotzdem einen eigenen Charakter hatte und auch nicht zu einem ›mein-Immobilienmakler-sagt-es-lässt-sich-so-besser-verkaufen‹ - Einheitsbeige wurde. Mr. Garrett würde das Ganze perfekt lösen und dann würde auch Ben endlich anfangen können, sein Leben wieder auf die Reihe bekommen.
Ben ging wieder zurück ins Wohnzimmer, wo er Abby auf dem handgewebten Teppich vor der Küchenzeile vorfand.
»Na, Abby, altes Mädchen … Abenteuer überstanden?« Ben kraulte der Hündin, die ihm inbrünstig die Hände ableckte, den Kopf. Dann schob er sie sanft in den Hof hinaus.
»Geh mal nach Hause und stinke lieber dort nach nassem Hund vor dich hin.« Grinsend schloss er die Tür und wanderte in das kleine Bad, um das Wasser für ein heißes Bad aufzudrehen, als hinter ihm die Tür aufgerissen wurde. Mit einem erschrockenen Aufschrei fuhr Ben herum.
»Erschrick mich bitte nie wieder so zu Tode, hörst du?!«, fauchte er seine Schwester an.
»Das musst ausgerechnet du sagen!« Nell funkelte ihn empört an. »Du bist kaum einen Tag hier und schon hast du dich in Lebensgefahr begeben.«
»Ally?«, fragte Ben resigniert.
»Ja, zum Glück ruft meine Schwester mich an, um mir von deinen gefährlichen Aktionen zu berichten! Du hast das ja nicht nötig, mir so etwas zu erzählen!«
»Die einzige Person in Lebensgefahr war das Mädchen.« Ben rollte mit den Augen. »Und ich, aber erst grade! In mörderischer Gefahr, zu Tode erschreckt zu werden. Darf ich jetzt baden, oder willst du kontrollieren, ob ich mich auch hinter den Ohren wasche?«
»Ben! Du bist unmöglich!«
»Und schleich dich bitte nie wieder so an. Sonst erschieß ich dich noch eines Tages, bevor ich merke, dass du es bist. Du weißt schon, da ich so lange in Angst und Schrecken vor barbarischen Horden und auf Journalisten angesetzte Killerkommandos gelebt habe, trage ich meine Waffe immer schussbereit bei mir.«
»Ben! Du hast doch nicht wirklich eine Waffe? Hier im Haus, wo Kinder sind!«
Er grinste Nell nur vielsagend an.
»Du alter Schwindler! Ich hab dir eine Tasse Tee gemacht. Steht ihm Wohnzimmer auf dem Tisch.«
»Das englische Allheilmittel. Wie hab ich eine ordentliche Tasse Tee vermisst, das ahnst du nicht! Hoffentlich mit einem ordentlichen Schuss!«
»Ben!«
Ben zog sich das T-Shirt über den Kopf und begann an dem Reißverschluss der Hose zu nesteln. Erwartungsgemäß ergriff seine Schwester sofort die Flucht.
»Ben! Ben! Ben!«, äffte er sie leise nach. »Tu dies nicht, tu dass nicht. Und vor allem keinen Schuss in deinen Tee!«
Mit einem wohligen Seufzen sank er in das heiße Wasser.
»Und du hast tatsächlich keine Vorstellung, wie sehr ich eine ordentliche Tasse Tee vermisst habe in den letzten Jahren. Und euch mit eurem Trubel und Tohuwabohu. Euch und alle anderen ... Und den Schuss im Tee ...«
Ganz langsam löste sich der Nebel in ihrem Gehirn auf. Draußen war Krach. Ein Pumpen und Surren, Klappern, Piepen und Schleifen. ›Draußen‹ war weit weg, kam aber immer näher. Ungewohnte Geräusche. Technische Geräusche. ›Nur die Schöpfung Gottes und das Werk eurer Hände sollen euch umgeben.‹ Nichts, was hierher gehörte. ›Wieso war sie sich so sicher, was hierher gehörte?‹ Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie war. Vorsichtig blinzelte sie, konnte aber nichts erkennen. Pechschwarze Nacht. In ihrem Mund steckt etwas, lang und dünn, sie musste würgten, als sie es ausspucken wollte, und doch blieb das Ding dort, wo es war. Die Nase tat fürchterlich weh. Sie wollte die Hand heben, um zur Nase zu greifen, konnte es aber nicht. Unwillig drehte sie den Kopf vom Schmerz weg, aber es half nicht. Der Druck des Dinges in ihrem Rachen wurde nur stärker. Irgendwo über ihr piepte es immer durchdringender.
Eine Hand legte sich auf ihren Arm und an ihrem Ohr erklang eine sanfte Stimme.
»Shh, alles wird gut. Wir ziehen dir nur den Beatmungsschlauch und dann ist gleich alles besser.«
Nur wenige Momente später war nach einem fürchterlich würgenden Gefühl der Druck im Hals endlich weg. Sie holte tief Luft und hätte am liebsten laut aufgeschrien, wenn sie nur einen Ton herausgebracht hätte. Der Schmerz in ihrem Brustkorb beim Einatmen war schier unerträglich. Entsetzt hielt sie die Luft an, während um sie herum immer mehr Stimmen murmelten und immer mehr Leute an ihr herumzogen. Sie riss die Augen auf, um ihre Folterknechten zu sehen, aber alles blieb dunkel.
Jemand streichelte ihre Hand und irgendetwas Langes wurde aus ihrer Nase gezogen, wodurch der Schmerz dort endlich nachließ. Sie brachte immer noch keinen Ton heraus. Ihre Kehle war knochentrocken und Schlucken tat außerordentlich weh. Warum taten die ihr das an? Was hatte sie ihnen getan, dass sie ihr so zusetzten? Konnten sie endlich Licht machen? Sie wollte sie sehen.
Alleine zu atmen war anstrengend. Schlucken war anstrengend. Jemand hielt ihr einen Becher mit lauwarmem Wasser hin und sie fand das Wasser im Mund zwar angenehm, konnte es aber kaum herunterschlucken. Wieder streichelte eine Hand ihre Wange, als sie der bleiernen Müdigkeit nachgab und sich vom Schlaf davon tragen ließ.
~~~
Der Sergeant deutete auf eine Tür am Ende des Ganges und zwinkerte ihm aufmunternd zu, bevor er kehrt machte und wieder verschwand.
Ben klopfte einmal kurz an und steckte seinen verstrubbelten Kopf durch die Tür, wo er seinen Freund an einem kleinen Schreibtisch sitzend fand.
»Hi, Mark, in was für eine Besenkammer haben die dich denn abgeschoben?«
Ben reichte ein kurzer Blick durch den engen Raum. Beigefarbene Wände, die halbhoch mit Ölfarbe gestrichen waren, um so leichter abwaschbar zu sein. Das sparte eindeutig Renovierungskosten. Auch wenn die Putzfrau die jahrzehntelang gesammelten Fingerabdrücke und Staubspuren nie abwusch. Dass aber die Möglichkeit bestand, sie könnte es in einem Anfall von überschäumenden Arbeitseifer eines Tages tun, hatte gereicht, um dieses Zimmer von einer Liste möglicher Renovierungsobjekte im Polizeirevier zu verbannen. Über Mark hing in Kopfhöhe ein uralter Heizkörper an der Wand. Wäre er unten an der Wand angebracht gewesen, hätte man einen Schreibtisch weniger in dieses handtuchschmale Zimmer stellen können, aber vielleicht wäre das auch sinnvoller gewesen, weil man sich so kaum noch einmal um sich selbst drehen konnte. Zu allem Überfluss befand sich noch ein Beistelltischchen hinter der Tür, auf dem eine Kaffeemaschine stand.
Mark bemerkte Bens Blick.
»Der Kaffee aus dem Automaten draußen im Flur ist ungenießbar.«
»Und hat vermutlich nicht genug Umdrehungen für dich.«
»Du hast es erfasst. Kaffee nur intravenös. Willst du einen? Das Baby kann von Espresso über Cappuccino bis Latte Macchiato alles was dein Herz begehrt.«
Ben nahm ihm dankbar einen doppelten Espresso ab und sah sich suchend nach einem Besucherstuhl um.
»Ich weiß.« Mark breitete entschuldigend die Arme aus. »Klein, aber mein. Nimm Carols Schreibtischstuhl, sie ist unterwegs. Die anderen sind seit Wochen mit dem Umzug in den neuen Anbau beschäftigt, aber ich hab einfach wichtigere Dinge zu tun, als Akten in Umzugskartons zu sortieren und Lagepläne von neuen Besprechungszimmern mit Flipcharts und Beamern zu studieren, um das Briefing nicht zu verpassen.«
»Du wirst trotzdem zum Briefing müssen.« Ben nippte an dem Kaffee. Dann dämmerte es ihm. »Ah, ich verstehe, Carol erledigt das für dich und kommt dann Bericht erstatten. Wie hält sie es mit dir hier drinnen aus? Darf sie elektrischen Strom und einen Computer benutzen oder muss sie noch auf Steintafeln meißeln, weil alles Technische Teufelswerk ist?«
»Jahrelange Gewöhnung?«, bot ihm Mark an.
Ben nickte wissend.
»Habt ihr schon was Neues über das Mädchen?«
»Nichts, was uns weiterhilft. Sie ist gestern operiert worden und liegt noch im künstlichen Koma. Die Spurensicherung hat an der Kleidung Haare und Hautpartikel unter den Fingernägeln sichergestellt, aber wenn ich mir deine Kratzer so am Arm angucke, ahne ich schon, woher die stammen.«
Ben hatte erst heute Morgen die bereits verschorften Kratzer auf seinem Unterarm bemerkt. Betäubt von der Kälte des Wassers hatte er gar nicht bemerkt, dass das Mädchen nach ihm gegriffen oder gar versucht hatte, sich an ihm festzuhalten. Er hob entschuldigend die Hände.
»Wenn sie die Augen nicht geöffnet hätte, ich hätte sie vermutlich gar nicht erst angefasst. Aber so konnte ich sie doch unmöglich da drin liegenlassen bis die Spurensicherung gekommen wäre.«
»Du kannst von Glück sagen, dass der Fahrer des Wohnmobils angehalten hat, um euch zu helfen. Ohne dass ihr die Kleine in die Aludecke gewickelt hättet, wäre sie wohl an Unterkühlung gestorben. Die pumpen sie im Krankenhaus grad mit Antibiotika gegen die Lungenentzündung voll.«
Ben dachte voller Dankbarkeit an den Wohnmobilfahrer auf der Küstenstraße, der angehalten hatte, als Ben wild winkend am Straßenrand gestanden hatte. Sein Handy hatte das Bad im eiskalten Wasser nicht unbeschadet überlebt, was Ben erst auf der Straße gemerkt hatte. Der Fahrer hatte sofort die Aludecke aus dem Erste-Hilfe-Kasten gezerrt, das Mädchen eingewickelt und in der Schlafkoje verstaut und Ben mit einer Wolldecke und einer Tasse heißem Tee versorgt, bis der Krankenwagen gekommen war. Einer der wenigen, der nicht schlaumeiernd selbst ins nächste Krankenhaus gefahren war, sondern auf die Sanitäter gewartet hatte, die ganz andere Möglichkeiten zur Erstversorgung in ihrem Wagen hatten und viel schneller durch den Verkehr kamen. Der Fahrer hatte es in Kauf genommen, dass Ben und das Kind in seinem Arm sein Wohnmobil unter Wasser setzten und sie trotzdem sofort ins Trockene gebracht.
Wie zur Bestätigung von Marks Worten nieste Ben kräftig. Ganz ohne Spuren war auch an ihm das Bad im eiskalten Regenwasser nicht vorübergegangen.
»Hast du schon in den Vermisstenlisten geguckt? Sie wird doch aus der Gegend hier sein.«
»Nichts, nada. Die üblichen Verdächtigen, die immer wieder ausreißen und die wir an den immer gleichen Plätzen einsammeln, oder die Meldung gleich an die Kollegen in London weitergeben. Nichts, was auch nur einigermaßen passt.« Mark zuckte mit den Schultern.
»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Sie hat die typischen Symptome einer Drogensüchtigen, zahllose Einstichstellen, die klassische Unterernährung des letzten Stadiums, sie wird vermutlich auf dem Straßenstrich gewesen sein und wahrscheinlich auch obdachlos. Ihr verwahrloster Zustand spricht Bände in dieser Beziehung.«
»Sie ist ein Kind! Wie alt? Zehn, zwölf?«
»Sehr klein und sehr dünn für ihr Alter, aber von der Entwicklung her mindestens vierzehn, fünfzehn.«
»Ein Kind, sag ich doch.«
»Eine jugendliche drogensüchtige Ausreißerin trifft es wohl eher.«
»Aber sie hat Eltern. Jeder hat Eltern! Die müssen sie doch vermissen!«
»Ben, komm wieder runter. Wenn die Ärzte sie aus dem Koma holen, werden wir mit ihr reden. Entweder sagt sie uns dann, wer ihr das angetan hat und wie sie heißt, oder sie hält sich das Hintertürchen offen und verschwindet bei nächstbester Gelegenheit aus dem Krankenhaus auf direktem Weg zu ihrem Zuhälter, dem Straßenstrich und der Nadel.«
»Jemand hat sie dort absichtlich in das Abflussrohr gestopft. Sie hat sich doch nicht selbst auf den Kopf gehauen und ist dann dort reingeklettert und hat das Gitter hinter sich wieder zugemacht.«
»Ja, das wissen wir doch. Aber das Regenwasser hat uns die Spurensuche da unter der Brücke nicht gerade leichter gemacht.«
»Mist. Aber ohne dieses Unwetter wäre ich da nie runter gekrochen und dann hätte sie vermutlich nie einer gefunden.«
»Du ziehst diese Dinge magnetisch an, oder?« Mark grinste breit und erinnerte Ben daran, dass er in der Schule immer der Idiot gewesen war, der ständig unwissentlich in den dümmsten Unfug anderer geraten war und einmal in einem beispiellosen Einsatz von Mut und vor allem Dummheit zur Gaudi aller anderen statt eine zum Sprung bereite junge Frau eine Schaufensterpuppe vom Schuldach gerettet hatte. Wenn jemand in der Schule etwas vor Lehrern oder Hausmüttern hatte verstecken wollen, hatte er sicher sein können, dass Ben unbeabsichtigt darüber stolpern würde, egal wie genial das Versteck war. Und selbst wenn Ben versucht hatte, das Geheimnis seiner Kameraden zu hüten, so war er sofort beim Schwindeln für die anderen erwischt worden. Keiner seiner Schulkameraden hatte ihn je beim Planen von Streichen dabeihaben wollen und es damit begründet, dass man in diesem Falle gleich ein Schild mit ›Achtung, hier ==> ‹ hätte aufstellen können. Bei eigenen Streichen und Schandtaten war er sowieso immer erwischt worden, was ihm den Spaß an der Sache ziemlich schnell verleidet hatte. »Man sieht dir das Schwindeln auf zehn Meter Entfernung an«, hatten seine Lehrer immer behauptet und da ihn auch seine Eltern und drei nervige Schwestern immer bei allen Heimlichkeiten erwischt hatten, hatte er es irgendwann einfach aufgegeben, um den Rest seines Schullebens in Freiheit ohne ewiges Hausarrest verbringen zu können.
»Ich habe mir diese Gabe zum Beruf gemacht«, grinste Ben zurück. »Wenn ich jetzt über ein lebensbedrohendes Drama stolpere, halte ich die Kamera drauf.«
»Willst du über deine Heldentat von gestern auch berichten?« Mark sah Ben abwägend an. »Ich weiß noch nicht, ob wir das überhaupt rausgeben an die Presse. Lass uns erst mal abwarten, ob wir noch eine Vermisstenanzeige hereinbekommen oder das Mädchen uns weiterhilft.«
»Ja, klar, melde dich bitte, wenn du was Neues hast, okay?«
»Logo, die Story geht an dich, du Held.« Mit einem kurzen Winken zur Tür war Ben entlassen.
~~~~
Reichlich genervt griff Sergeant Carol Carrigan nach dem Telefon.
»Ja?«, meldete sie sich knapp.
Nicht nur, dass sie hier mit einer Menge Schreibkram saß, die überhaupt nicht mehr zu bewältigen war, und schon gar nicht, wenn sie ihre normale Arbeit nebenbei auch noch erledigen sollte, nein, den ganzen Tag klingelte dieses Telefon schon mit nervtötender Penetranz.
»Hall hier.«
Carol sah vor ihrem inneren Auge das schmale Gesicht des Laboranten, der in der Pathologie arbeitete. Sie unterdrückte ein Lachen. Noch nie hatte sie ihn ohne den Mundschutz gesehen, den er ständig trug. Sie war sich nicht sicher, ob er nur immer wieder vergaß ihn abzunehmen oder ob er schon ein fester Bestandteil seines Outfits geworden war. Und so gedämpft, wie sich seine Stimme anhörte, telefonierte er auch offenbar mit Mundschutz.
»Hallo, was gibt’s?«
»Dachte, es interessiert euch vielleicht. Heute Morgen hat mir jemand einen Sack auf den Tisch gelegt. Über und über mit Blut beschmiert. Haben die Polizisten vor Ort bei der Spurensicherung aus dem Abwasserkanal gefischt. Hat bestimmt der Cornwall-Mädchenmörder da mit reingestopft.«
»Der wer?« Carol zog die Augenbrauen hoch.
»Na, der Typ, der die Kleine, die ihr gefunden habt, so zugerichtet habt. Wenn das erst mal über alle Nachrichtenkanäle geht, braucht der doch einen Namen. Ist doch besser, wir haben dann schon einen.«
»Noch ist er kein Mörder. Sie lebt noch.« Carol schüttelte unwillig den Kopf. Hall würde die nächste Stunde kein Ende finden, wenn es in diesem Tempo weiterging.
»Und? Was ist mit dem Sack?«
»Na ja, ich hab den also hier auf den Tisch bekommen und hab mir noch gedacht: Mensch, das sieht man doch gleich, dass das kein Blut sein kann. So rot ist doch kein Blut! Wenn Blut trocknet, wird das nämlich ziemlich braun.«
Carol nickte ergeben. Es hatte keinen Sinn, Hall zu erklären, dass sich dieses Wissen ihrer Kenntnis nicht entzog. Sie hoffte, dass er schneller zum Schluss käme, wenn sie ihn nicht allzu häufig unterbrach.
»Na ja, was soll ich sagen? Ich hab das also untersucht. Und es war doch tatsächlich Blut. Wissen Sie, was Hämolyse ist? Das ist das Aufbrechen von roten Blutkörperchen bei einem Verletzungstrauma, durch den Schmerz und den Schock. Dabei tritt Hämoglobin aus, der rote Blutfarbstoff. Wenn aber jemand ein schweres und beständiges Trauma erleidet, hat die Leber keine Zeit, das Hämoglobin zu verarbeiten, sondern gibt es direkt an das Blut ab. Und dann entstehen solche grellroten Flecken, die aussehen, als ob jemand Farbe vergossen hat.«
Und? Was ist jetzt sooo interessant für mich? Carol hütete sich, ihre Gedanken laut auszusprechen.
»Und wissen Sie was? Es ist sogar von dem Mädchen. Ich hab es mit ihren Werten verglichen. Und die Fasern, die wir von ihren Wunden abgenommen haben, stimmen mit dem Sackleinen überein.«
Carol setzte sich etwas aufrechter hin.
»Sie sagen, Sie haben einen Sack, in dem sie wahrscheinlich transportiert worden ist?«
»Nicht nur transportiert. Wahrscheinlich war sie auch da drin, als sie geschlagen, getreten oder sonst was wurde. Ihre Verletzungen sind von einem oder mehreren stumpfen Gegenständen. Ich plädiere ja für mehrere, weil die Abdrücke so unterschiedlich sind. Sonst hätte der Täter die Waffe bei jedem Schlag anders anfassen müssen. Und wer macht das schon, wenn er grad so richtig in Fahrt ist?«
Bei Thomas Hall hörte es sich an, als ob er ständig Schlaginstrumente benutzte, um andere Menschen zu verprügeln, wobei es ihm furchtbar lästig erschien, sie für besondere Fälle ständig umdrehen zu müssen.
»Seid ihr fertig mit dem Sack?«
»Ja, vier Seiten Bericht mit Ergebnissen, die so allgemein sind, dass auch ihr nichts damit anfangen könnt. Außer der Tatsache, dass er zu dem Mädchen gehört. Müsst ihr die eigentlich alle Jane Doe nennen, nur weil ihr nicht wisst, wie sie wirklichen heißen? Irgendwann werd ich da mal durcheinander kommen. Na ja, hättet ihr mehr Fantasie, wärt ihr nicht bei der Polizei.«
Wahrscheinlich wären wir Laborant in der Pathologie, dachte Carol gehässig.
»Irgendwas über die Herkunft des Sackes?«
»Nein, zumindest nichts Hilfreiches.«
»Ein ganz normaler Sack? Wer hat ihn hergestellt?«
»Keine Ahnung. Er ist – halten Sie sich fest – handgewebt und handgesponnen. Aus Leinen. Aber genauer können wir die Herkunft des Leinens nicht eingrenzen. Keine Übereinstimmung mit uns bekannten Herstellern. Den kann jeder hergestellt haben, der ausgefallene Hobbys hat.«
»Kein Firmenaufdruck? Keine eingewebten Markierungen?«
»Nein, nichts. Wär mir aufgefallen.«
Carol seufzte. »Danke erst mal, vielleicht hilft uns das ein bisschen weiter.«
Sie legte den Hörer auf. Es konnte nicht allzu viele Menschen in England geben, die noch fähig waren, Leinen zu verspinnen oder einen Webstuhl besaßen. Jetzt galt es nur herauszufinden, in welchen Vereinen und Gruppen noch handwerkliches Brauchtum und Tradition gepflegt wurde und wer davon Säcke herstellte. Üblicherweise war man mit selbstgesponnenen Leinen sehr sparsam und stellte aus dem daraus gewonnenen Leinentuch eher Kleidung für die mittelalterlichen Jahrmärkte her, für die es jede Menge Besucher und Laiendarsteller gab, die sich nur zu gerne derartig verkleideten. Wer aus diesem aufwendig in Handarbeit gefertigten Stoff Säcke herstellte, verkaufte darin garantiert nichts Billiges. Oder benutzte sie nur zum Eigengebrauch. Carol tippte ›alte Handwerkstradition‹ in das Google-Suchfenster und begann, das Internet nach autarken Gruppen zu durchsuchen, die industriell hergestellte Produkte ihrer Umwelt ablehnten.
~~~
Mark griff nach dem dicken Umschlag mit den Fotos, die Carol im Krankenhaus von dem Mädchen gemacht hatte.
»Hast du schon gefrühstückt?« Carol sah von ihrem Monitor auf.
»Ja, warum?«
»Sind keine Bilder auf’n nüchternen Magen.«
»Es sind nie Bilder auf nüchternen Magen, die du machst.«
Mark blätterte die Fotos stumm durch.
»Muss ganz schön zäh sein die Kleine, dass die immer noch lebt.« Er überflog den Bericht aus dem Krankenhaus.
»Die Anzahl der Brüche kann einer Eishockeymannschaft Konkurrenz machen. Hör dir das an: doppelter Kieferbruch, Nasenbeinbruch, zwei Rippenbrüche, Schädelbasisbruch. Und dann die Liste mit verheilten alten Brüchen: Schlüsselbeinbruch, mehrere Rippen, Handgelenk und Mittelhandknochen, das muss ein alter Hundebiss sein, siehst du hier die Narben? Sie muss die Hand schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig bewegen können. Und das andere, da muss sich ein richtiger Perverser mit der Kleinen eine ganze Zeitlang ausgetobt haben… Narben von Peitschenstriemen auf dem Rücken, mindestens zwei Schichten und unzählige vernarbte kleine Brandwunden, auf dem ganzen Körper, von Zigaretten wahrscheinlich.«
Er legte die letzten Fotos aus der Hand, die die Schnittwunden im Gesicht des Kindes zeigten.
»Was Neues in den Vermisstenanzeigen? Die Liste der bekannten Kinderschänder und Pädophilen schon durch?«
»Nein, nichts bei. Hast du die Fotos mit den Einstichstellen in den Ellenbeugen gesehen? Fixerin. Vermutlich das gleiche Muster, wie bei den anderen auch immer: von zu Hause abgehauen, an den falschen Freund geraten, angefixt und dann auf den Strich geschickt worden. Und dann hat ein Freier oder sogar ihr Macker ab und an mal rot gesehen und zugeschlagen. Beim letzten Mal dann etwas zu stark. Hat es dann wohl mit der Angst zu tun bekommen, dass sie bei ihm abtritt und wollte sie da im Abwasserrohr krepieren lassen. Armes Schwein.«
Carol griff nach dem Krankenhausbericht. »Ach du meine Güte, schwanger ist sie auch noch. Ein Wunder, dass sie das Kind noch nicht verloren hat.«
»Vielleicht war das ja der Grund, warum ihr Macker beim letzten Mal ein bisschen fester zugeschlagen hat. Würde echt gerne wissen, womit er sie geschlagen hat.«
»Du wirst auf die Laborergebnisse warten müssen. Die sind noch nicht so weit.« Carol schob die Fotos auf dem Schreibtisch vor sich hin und her, während sie ab und eines eines griff, um es näher zu betrachten.
Mark stutzte. »Warte mal, mach noch mal zurück … Da, was ist das?« Sein Finger blieb auf einem der Bilder liegen. Carol betrachtete das Foto eingehend.
»Hm, sieht aus wie eine weitere Narbe. Ganz schön auffällig. Wenn die Mädchen nicht spuren und abhauen wollen, greifen manche Zuhälter zu solchen Strafen.«
»Ja, die zerschneiden Gesichter oder den Brustansatz«, Mark drehte das Bild mit den Schnitten im Gesicht zu sich, »aber sie machen hässliche Narben und keine kunstvollen Schnitzereien.« Er drehte das Foto, das ihn hatte stutzen lassen, zu Carol. »Das hier sieht aus wie eine Sonne mit einem großen V.«
»Das ist nicht geschnitten, das ist eingebrannt. Branding ist modern. Es gibt viele Jugendliche, die halten freiwillig still.«
»Du meine Güte. Aber ich hab das hier schon mal gesehen. Vielleicht fällt’s mir noch ein. Los, komm jetzt, wir haben’s eilig.«
~~~
Nell hatte natürlich wieder ihre Bedenken geäußert und befürchtet, Ben mache sich mit seiner Menschenliebe und Fürsorge etwas vor. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass er in allen nur die guten Seiten sähe, und ihn gefragt, ob er in den letzten fünf Jahren nicht gelernt hätte, dass es mit Sicherheit auch das Böse in dieser Welt gäbe, Hässliches und Schmutziges.
»Ja«, hatte er ihr geantwortet. »Aber ein halbtot geprügeltes Kind von dreizehn oder vierzehn Jahren ist nicht hässlich, böse oder schmutzig. Es ist ausgenutzt und hilflos.« Und dieses Kind ist noch dazu allein, weil sich keiner darum kümmert, herauszufinden, wer es ist, hatte er bekümmert gedacht.
Und so fuhr er also jeden Tag nach Truro, um im Krankenhaus nach dem Mädchen zu sehen und Mark auf die Nerven zu gehen. Ben wusste, dass Nell es nicht so hart meinte, wie sie es gesagt hatte. Sie wollte ihn nur vor der Enttäuschung bewahren, wenn die Kleine, wie Mark unkte, das wiedergeschenkte Leben wegwerfen und sich aus dem Krankenhaus davonstehlen würde, nur um wieder auf der Straße zu landen. Und er wusste, dass Nell in ihrer Angst recht hatte. Er war gerade dabei, sein Herz an dieses Kind zu hängen. Aber die hilflosen Seelen dieser Welt hatten schon immer das Helfersyndrom in ihm ausgelöst und er fühlte sich irgendwie verantwortlich für sie.
»Nur solange, bis sie wieder zu Hause ist«, versuchte er, sich selbst zu beruhigen, als er in den Krankenhausflur einbog.
»Wo ist das Mädchen?« Ben starrte entsetzt auf das leere Bett in der Intensivstation. Fragend sah er sich nach der nächsten Schwester um. »Wo ist das Mädchen?«
»Jane? Die ist heute Morgen aufgewacht und jetzt in der Wachstation.«
»Sie heißt Jane?« Ben wurde vor Erleichterung fast schwindelig, als er hörte, dass die Kleine doch nicht gestorben war, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Wenn die Polizei endlich ihren Namen wusste, würden ihre Eltern vermutlich nicht allzu lange auf sich warten lassen.
»Keine Ahnung, wie sie heißt. Sie redet kaum und hat ihren Namen nicht gesagt. Die Polizei hat sie erst mal unter Jane Doe registriert.«
Ben nickte. Auf diesen Gedanken hätte er selbst kommen können. Alle Unbekannten hießen erst mal Jane oder John Doe. Aber leider hieß es auch, dass ihre Eltern vorerst nicht auftauchen würden.
»Sie machen grad alle möglichen Tests mit ihr. Und die Polizei kommt auch bald. Hoffentlich erwischen die den Dreckskerl, der das getan hat! Haben Sie gewusst, dass der Irre sie schon seit Monaten durch die Mangel gedreht hat? Sie hat den ganzen Rücken voll mit Peitschennarben, die mehrere Monate alt sind.«
Ihm drehte sich fast der Magen um, als er die Vermutungen der Schwester hörte.
»Man hört ja soviel über Kindesmisshandlungen. Vermutlich war es der Vater oder Stiefvater.« In dem sicheren Bewusstsein, ihr Wissen an den Richtigen gebracht zu haben, stolzierte die Schwester davon.
»Wenn Mark sich nicht endlich bemüht, das Schwein zu finden, such ich ihn selbst«, knurrte Ben. Er würde den Vater oder Stiefvater der Kleinen sehr genau im Auge behalten, sobald die Eltern hier auftauchten. Er würde jeden Mann sehr genau im Auge behalten, der jemals in Janes Nähe auftauchte. Mörder kehren immer an den Ort ihres Verbrechens zurück. Auch Ben hatte seinen Anteil an Kriminalliteratur gelesen. Er würde bereit sein, nahm er sich vor.
Auf der Wachstation hatte er keine Chance. Die resolute Oberschwester entfernte jeden, der sich zu Jane vorgearbeitet hatte, nach nur fünf Minuten, damit die Kleine endlich Ruhe bekam und Ben wusste sich in der Liste der Wichtigkeit weit hinter allen Psychologen, Polizisten und Ärzten eingereiht. Mit diesem Drachen auf dem Flur hätte ein möglicherweise auftauchender Mörder, der seine Arbeit zu Ende bringen wollte, keine Chance. Eine Tatsache, die ihn durchaus beruhigte.
Sie musste dringend aufstehen. Sie würden nicht erfreut sein, wenn sie so untätig hier herumlag, während so viel Arbeit wartete. Die Wäsche musste aufgehängt werden. Ob das Wetter morgen besser war? Dieser dauerpiepsende Lastwagen stand schon Ewigkeiten mit eingelegtem Rückwärtsgang in der Einfahrt neben dem Laden. Der Hahn krähte aber früh, es war ja noch völlig dunkel draußen. Es war so kalt und feucht im Loch. Der Mond war viel zu hell, jeder würde sie sehen können. Die Wäsche war viel zu nass zum Aufhängen. Sie musste dringend aufstehen, bevor die anderen sie fanden, wie sie untätig herumlag. Der Weizen stand hoch dieses Jahr, es würde viele Hände zur Ernte brauchen. Es war so kalt, dunkel und feucht. Wie lange war sie schon hier? Sie musste die Kerzen anzünden, um das neue Baby willkommen zu heißen. Rose quälte sich schon lange, bald war es soweit. Ohne die Gemeinschaft war sie ein Nichts. Sie musste sich unterordnen. Es regnete draußen. Und Gott ließ Manna vom Himmel regnen, um sein Volk zu versorgen. Alle zusammen sind eins.
Jane blinzelte vorsichtig, konnte aber nichts erkennen.
Es ist pechschwarze Nacht. Ihr war kalt. Das Piepsen des Lastwagens sollte hier hinten nicht zu hören sein.
Nur Gottes Natur und das Werk eurer Hände Arbeit soll euch umgeben. Sie musste sich Gottes Willen und Worte erst genug verinnerlichen bevor sie im Laden helfen durfte.
Laden? Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, wo der Laden war.
Welcher Laden? Weit entfernt konnte sie Schritte hören, die näher kamen. Immer noch war es stockdunkel.
Die Schwester blieb kurz an Janes Bett stehen und überprüfte die Anzeigen der Geräte. Immer noch war keine Veränderung festzustellen, wenn man von dem gelegentlichen Aufbäumen des abgemagerten Körpers absah. Und dabei hätte sie schwören können, dass irgendetwas anders war.
Jane blieb ganz ruhig liegen und wartete, bis die Schritte verklungen waren, ehe sie wieder Luft holte. Es hatte keinen Sinn, die Augen aufzumachen. Es war zu dunkel draußen. Die Schritte waren endlich weg. Prüfend wackelte sie mit den Zehen. Am linken Bein schaffte sie es problemlos, rechts tat sich gar nichts. Sie hielt noch einmal die Luft an, damit sich ihr Herzrasen endlich beruhigte, aber es half nicht. Sie probierte es noch einmal, mit den Zehen rechts zu wackeln. Wieder nichts. Obwohl sie nichts tat, begann sie zu schwitzen. Sie versuchte, die rechte Hand zu heben. Auch Fehlanzeige. Die linke? Konnte sie heben, aber nur ein wenig, dann stieß sie an einen Widerstand. Hatte man sie hier festgebunden? Sie zog stärker an der Hand, atmete tief ein und hielt entsetzt die Luft an, als sie ein heftiges Stechen im Brustkorb spürte. Langsam wurde sie unruhig. Sie spürte einen beginnenden Krampf im linken Bein und zog erneut keuchend die Luft ein, das Stechen in ihrer Brust ignorierte sie dieses Mal. Sie zerrte heftiger an der Hand und bekam sie ein endlich frei. Inzwischen lief ihr der Schweiß über das ganze Gesicht und der Schmerz raste durch den ganzen Körper. Der Schmerz kam von innen und hatte sich mit dem Krampf in ihrem Bein ausgebreitet. Stöhnend rang sie nach Luft, während sie versuchte, endlich diese heiße Decke von ihrem Körper zu ziehen, die förmlich auf ihrer Haut brannte. Jetzt war auch ihre rechte Seite wieder zu spüren, die Krämpfe zogen auch dort die Muskeln von Arm und Bein zusammen, allerdings konnte sie weder das Bein strecken noch die Hand heben. Sie schwitzte noch heftiger. Ihre Haut fühlte sich an, als ob sie in Flammen stünde. Wenn sie doch nur endlich etwas sehen würde. Der Schmerz explodierte förmlich in ihren Adern und endlich hatte sie genug Luft in der Lunge, um einen wimmernden Schrei auszustoßen.
Ben stand schockiert an der Scheibe und sah entsetzt zu, wie die Schwester den linken Arm des Mädchens wieder mit einer Binde am Gitter des Bettes festband und dann die Laufgeschwindigkeit der Infusion veränderte. Was die Schmerzen offensichtlich kaum zu lindern schien.
Es war grauenvoll genug, fand er, hier hinter der Scheibe zu stehen und nichts tun zu können. Wieder einmal zur absoluten Hilflosigkeit und zum Warten verurteilt zu sein. Warten worauf? fragte er sich bekümmert. Nell hatte irgendwie recht gehabt. Es war nicht gut, wenn ausgerechnet er in ein Krankenhaus fuhr. Es war schon vor Tagen in der Notaufnahme nicht gut gewesen und hatte ihn massiv aufgeregt, und wurde jetzt nicht besser. Er hatte nie wieder ein Krankenhaus von innen sehen wollen. Bekümmert sah er zu dem Mädchen hinüber. Die Kleine wand sich immer noch schweißüberströmt wimmernd von einer Seite auf die andere, wobei sie von der festgebundenen Hand behindert wurde.
Meine Güte, warum geben sie ihr nicht endlich etwas Stärkeres gegen die Schmerzen? Ben war versucht gegen die Scheibe zu klopfen, als jemand neben ihn trat.
»Könnt ihr ihr nicht endlich etwas gegen die Schmerzen geben? Auch wenn sie vermutlich ein Junkie ist, hat sie es nicht verdient, dass sie so leidet.« Er sah seine Schwester kurz vorwurfsvoll an, bevor er sich wieder zum Bett wandte. »Allison, bitte.
»Wir könnten ihr schon den Entzug erleichtern, aber das würde vermutlich das Baby schädigen.«
»Baby?« Wie vom Donner gerührt starrte Ben seine Schwester an.
»Sie ist schwanger. Wusstest du das noch nicht? Hat Mark dir nichts gesagt? Wir geben ihr ja schon Schmerzmittel und Magnesium, um die Krämpfe zu lockern, aber durch den eigentlichen Entzug muss sie durch. Außerdem bekommt sie dazu noch so viel Antibiotika, damit die Lungenentzündung endlich abklingt, wie gerade noch erlaubt ist. Wenn das Baby so zäh wie seine Mutter ist, schaffen es beide.«
»Was nutzt einem eine Schwester, die Ärztin ist, wenn sie nicht helfen kann?« Resigniert legte Ben den Kopf an die Scheibe.
»Ben, bitte, geh nach Hause. Es bringt doch nichts, wenn du hier im Krankenhaus rumhängst und dir das ansiehst. Ich schreib dir was für deine schlimme Erkältung auf und du legst dich ins Bett und kurierst dich aus.«
»Ich wollte doch nur sehen, ob ich endlich auch mal etwas Gutes zustande gebracht habe. Weißt du, es ist echt ein Unterschied, ob du einfach nur immer von außen beobachtest und die Kamera drauf hältst oder du auch mal was tust.« Und es ist auch wichtig, was du tust. Ob du Leben rettest oder tötest, ermahnte er sich, damit er das nur nie vergaß.
»Das hast du doch. Sie lebt und wir tun hier alles für sie, was wir können. Geh ins Bett. Du hast Fieber und es nutzt nichts, wenn du auch noch hier mit einer Lungenentzündung landest.«
~~~
Irritiert blinzelte sie. Es war immer noch dunkel. Inzwischen musste doch aber einige Zeit vergangen sein. Jane runzelte überrascht die Stirn. Ein dumpfes Pochen im Körper hatte sie geweckt. Langsam und unaufhaltsam breitete es sich über die rechte Körperhälfte aus, bis es ihren Magen erreichte. So sehr sie sich auch bemühte, keinen Laut von sich zu geben, sie konnte ein Aufkeuchen doch nicht ganz unterdrücken, als sich ihr Magen abrupt zusammenzog. Sie krümmte sich zusammen.
Schwester Holly Jones sah von ihren Unterlagen auf, als sie ein leises Geräusch aus dem offenen Zimmer gegenüber hörte. Die Bewegung im Bett wahrnehmen und auf den Rufknopf drücken, war eins. Fast gleichzeitig mit ihr traf Dr. Allison Morgan an dem Bett von Jane Doe ein.
»Sie kommt zu sich«, stellte sie fest, aber das hatte Holly auch schon gesehen.
Sie warteten einen Moment, bis der Krampf nachgelassen hatte und das Mädchen sich wieder etwas entspannte.
»Ruhig, Mädchen, ganz ruhig. Du bist hier im Royal Cornwall Krankenhaus in Truro. Ich bin Dr. Morgan. Wir geben dir gleich was gegen die Schmerzen.«
Eine warme Hand legte sich auf ihre und drückte sie sanft. Jane lag ganz still, immer noch bemüht, nicht zuzugeben, dass sie überhaupt da war. Wenn dieser plötzliche Schmerz sie nicht so überrascht hätte, hätte niemand ihre Anwesenheit bemerkt. So dunkel wie es war, war es ein Wunder, dass man sie derartig schnell gefunden hatte. Lass die Augen zu, dann kannst du besser hören, ermahnte sie sich selbst. Die Hand lag immer noch warm auf ihrer, während auf der anderen Seite jemand an ihrem festgebundenen Arm herumfummelte. Kurz unterhalb ihrer Ellenbeuge spürte sie einen dumpfen Druck, der genauso plötzlich aufhörte. Innerhalb weniger Sekunden ließen der Magenkrampf und auch das dumpfe Pochen in ihrer rechten Seite nach.
»Kannst du mir deinen Namen sagen? Damit wir deine Eltern verständigen können?«
Dr. Morgen drückte vorsichtig ihre Hand.
In ihrem Körper breitete sich wohlige Wärme und Schmerzlosigkeit aus.
Jemand drückte mit der Faust gegen ihre Schulter und stupste sie sanft an.
»Komm, bleib hier. Wie heißt du? Ich will dir doch nur helfen.«
Namen? Jane dachte krampfhaft nach. Tausend Namen schossen ihr durch den Kopf. Alles Namen, die sie schon einmal gehört hatte. Aber welcher war ihrer? Hatte sie überhaupt einen Namen? Jeder Mensch hat einen Namen, auch du … Aber welchen bloß? Sie zog die Stirn kraus.
»Ja, so ist gut, denk ruhig nach, bevor du uns deinen Namen sagst.« Allison Morgan wartete noch einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Wir brauchen aber deinen Namen wenigstens für die Unterlagen, wenn wir deine Eltern schon nicht verständigen sollen.«
Eltern? Vor ihrem inneren Auge tauchten schattenhafte Gesichter auf. Ganz deutlich wurden die Gesichtszüge nicht, aber sie war sich völlig sicher, dass dies die Gesichter von Eltern einer Freundin waren. Hatten diese Namen? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Irgendetwas blockierte in ihrem Gehirn die Erinnerungen, so sehr sie sich auch bemühte. Ihre Gedanken schweiften wieder ab.
»Weißt du was? Schlaf noch ein bisschen, okay? Du kannst uns ja deinen Namen nachher sagen.«
Die warme Hand drückte noch einmal ihre Schulter, dann verschwand sie.
Dr. Allison Morgan wandte sich zum Gehen. Holly Jones war noch einen raschen Blick auf das entstellte Gesicht des Mädchens. Sie meinte, einen kurzen Ausdruck von Erleichterung zu erkennen, der allerdings blitzschnell wieder verschwand. Rasch folgte sie der Ärztin.
»Die Polizei wird sich nicht so leicht abwimmeln lassen«, meinte sie.
»Nein, sicher nicht. Aber haben Sie auch bemerkt, dass sie Angst hat? Sie tut so, als ob sie nicht da ist, wenn sie sich nicht bewegt und zugibt, dass sie wach ist. Wie ein kleines Kind scheint sie zu denken, wenn sie sich nicht bemerkbar macht, dann wird man sie auch nicht bemerken, Wenn Sie sich an das Geschehene erinnert, dann ist es nur zu verständlich, dass sie Angst hat. Sie scheint zu befürchten, dass man sie leichter finden könnte, wenn wir ihren Namen kennen. Und wer immer sie so zugerichtet hat, er wird mit Sicherheit nicht wollen, dass sie als Zeugin seine Tat überlebt. Sobald sie anfängt zu reden, rufen Sie Sergeant Carrigan an. Sie wird sich brennend für alles interessieren, was immer die Kleine ihr sagen kann. Und sehen sie zu, dass niemand in dieses Zimmer kann, der hier nicht hingehört!«
~~~
Schwester Judith Grant beugte sich über die schmale Gestalt von Jane.
»Guten Morgen, ich bin’s. Schwester Judith. Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug, okay? Wir fahren rauf in die Gynäkologie. Die wollen sich dort mal dein Baby ansehen.«
Sie strich Jane noch einmal über die Wange, dann löste sie die Bremsen des Bettes und schob es zur Tür. Seit zwei Tagen war Jane schon bei Bewusstsein, gab aber immer noch kaum ein Lebenszeichen von sich. Morgen für morgen übergab sie sich egal, was die Ärzte und Schwestern versuchten, um ihr die Übelkeit zu nehmen. Holly und Judith hatten sich beide schon bemüht, ihr zu erklären, warum ihr morgens mit so schöner Regelmäßigkeit übel war, aber Jane hatte nur stumm und still in dem großen Krankenhausbett gelegen und jeden, der mit ihr sprach, mit aufgerissenen Augen angestarrt oder durch sie hindurch gesehen. Durch keinerlei Reaktion zeigte sie, ob es überhaupt bis zu ihr durchdrang, was Schwestern, Ärzte und Pfleger zu ihr sagten. Aufforderungen, zum Tablettenschlucken, kam sie sofort und umgehend stillschweigend nach. Sie war wie eine Puppe ohne eigenen Willen. Nein, korrigierte sich Judith im Stillen, während sie das Bett zum Aufzug schob, mehr wie ein Automat, der jedem Befehl, jeder Aufforderung ohne nachzudenken widerspruchslos nachkam.
Manchmal war es direkt unheimlich, fand sie, wenn Jane so durch sie hindurchstarrte. Es war fast so, als ob ihre Umgebung einfach nicht vorhanden war und sie etwas völlig anderes sah.
Oben angekommen, übergab sie das Bett an eine andere Schwester.
»Das hier ist Jane Doe. Seien Sie lieb zu ihr, auch wenn sie nicht reagiert, und reden Sie mit ihr. Dr. Morgan legt Wert darauf, dass die Patienten wissen, was wir mit ihnen tun. Aber Sie wissen ja, dass sie diesbezüglich beeinflusst ist von ihrer Arbeit mit Patienten im Wachkoma.«
»Nun denn …« Schwester Bridget Hallow sah sich das magere Gesichtchen an. Die Schwellungen der Hämatome waren langsam zurückgegangen, aber dennoch konnte man nicht sagen, dass Jane hübsch war. Mehrere tiefe Schnitt- und Platzwunden verliefen quer über ihr Gesicht. Mit Sicherheit würden Reste davon sichtbar bleiben, abgesehen von den Narben, die die Stiche der Nähte hinterlassen hatten. Das Gestell mit den Schrauben, das den doppelten Kieferbruch fixierte, war noch nicht entfernt und auch hier würden Narben auf der weißen Haut bleiben. Das verzottelte und verklebte lange, viel zu offensichtlich selbst gefärbte, fleckige rote Haar war an der Seite mit einem Band fest zusammengebunden worden. Kurz und gut, fand sie, Jane sah genau nach dem aus, was sie war, ein drogensüchtiges Kind, das auf den Strich gegangen war, um seine Sucht zu finanzieren. Schlimm genug, dass es so etwas gab, aber ein selbst gewähltes Schicksal. Dr. Morgan hat immer Vorstellungen davon, wie wir unseren Job machen sollen, dachte sie und gab dem Bett einen kräftigen Stoß. Wenn die Kleine dort unten in der Wachstation mit Bocken und Sturstellen durchkam, war das eine Sache. Hier oben wehte ein anderer Wind. Sie schob das Bett in den Untersuchungsraum, schloss die Tür hinter sich und ging den Arzt holen.
»Ja, danke Schwester.« Dr. Thompson sah kurz von seinen Unterlagen auf, dann griff er nach der Krankenakte von Jane Doe. Kein Zweifel, dieses Kind würde behindert auf die Welt kommen, ob er jetzt diese Ultraschalluntersuchung machte oder nicht. Immerhin war die Mutter selbst noch ein Kind, auch wenn hier kein genaues Geburtsdatum angegeben war, und sie hatte Drogen genommen, was auch immer sie gespritzt hatte. Dass sie das Kind während des Entzugs nicht verloren hatte oder bei dem brutalen Angriff, verblüffte ihn. Aber die Kleine schien ziemlich zäh zu sein, sonst hätte sie die schweren Verletzungen gar nicht überlebt. Vielleicht war ihr Baby ja genauso zäh. Er schob die Unterlagen zusammen und ging in den Untersuchungsraum hinüber.
Jane lag ausgestreckt unter dem dünnen Laken. Keinerlei Regung von ihr zeigte ihm, dass sie ihn überhaupt wahrnahm.
»Hallo, ich bin Dr. Thompson«, sagt er. Sie schlug die Augen auf und richtete ihren Blick auf sein Gesicht, aber er hatte den Eindruck, dass sie direkt durch ihn hindurch sah.
»Ich werde jetzt eine Ultraschalluntersuchung vornehmen. Achtung, es wird etwas kalt.« Bridget Hallow schlug die Decke zurück und schob ihr das Nachthemd hoch. Mit einer kreisenden Handbewegung drückte Dr. Thompson aus der Kunststoffflasche Gel auf Janes Bauch. Er spürte, wie sie überrascht zusammenzuckte. Selbst wenn er ihr das nicht vorher angekündigte hätte, hätte sie es doch sehen müssen! Thompson runzelte die Stirn. Nachdenklich setzte er den Kopf des Ultraschallgerätes an. Auf dem Monitor war, wie er erwartet hatte, nicht viel zu sehen. In der Notaufnahme hatten sie vor zwei Wochen wie immer routinemäßig einen Schwangerschaftstest durchgeführt, schon wegen des Verdachts auf einen Sexualdelikt, aber natürlich hatte keiner sagen können, wie weit die Schwangerschaft schon fortgeschritten war.
»Schwester, ich werde vaginal rangehen müssen.«
Bridget Hallow nickte. Rasch schlug sie das Laken ganz zurück.
Jane zuckte zusammen, als ihre Beine mit einem raschen Ruck hochgehoben und gespreizt aufgestellt wurden. Abgesehen davon, dass sie sich gegen die Bewegung des rechten Beines nicht wehren konnte, sträubte sich alles in ihr gegen diese Stellung. Jeder konnte ihr zwischen die Beine sehen. Ein Weib soll seine Blöße bedeckt halten, um einen Mann nicht zur Sünde zu verführen. Ein unbedecktes Weib ist ein unzüchtiges Weib und du sollst sie hart strafen. Plötzlich waren in ihrem Kopf diese Sätze. Sie versuchte, die Knie zusammenzupressen, aber unerbittlich hielten sie zwei Hände weit auseinander gespreizt fest. Irgendetwas Glattes, Kühles wurde ihr zwischen die Oberschenkel geschoben und drang mit eine kreisenden Bewegung in sie ein. Nein, nein! NEIN! Alles in ihr wehrte sich vehement gegen dieses Eindringen. Mit einem unartikulierten Schrei schlug sie nach den Händen, die ihre Beine festhielten und begann, um sich zu treten. Bunte Lichtblitze tauchen vor ihren Augen auf, als sie sich mit aller Kraft gegen die zupackenden Hände wehrte, die von allen Seiten nach ihr griffen.
»Verflixt, was wird das? Halten Sie sie fest, sie fällt uns ja noch aus dem Bett!« Dr. Steve Thompson brachte sein Ultraschallgerät in Sicherheit, bevor es ihm von Jane, die verbissen um sich trat, aus der Hand gestoßen werden konnte.
*
»Was war los vorhin?« Allison Morgan sah ihren Kollegen fragend an.
»Keine Ahnung, ich wollte nur die erbetene Ultraschalluntersuchung machen und weil ich sonst nichts gesehen habe, wollte ich die Untersuchung vaginal vornehmen. Und kaum, dass ich sie auch nur berührt hatte, fing sie auch schon an, zu schreien und um sich zu schlagen. Völlig verrückt, wenn sie mich fragen.«
Ich frage sie aber nicht nach Janes Geisteszustand! Allison schüttelte den Kopf. Im Moment kümmerte sich ihre Schwester Fiona Brannigan, die Psychologin des Krankenhauses, um Jane. Gut, dass sie wenigstens ihren Familienmitgliedern soweit vertrauen konnte, dass das arme Kind nicht noch weiter aufgeregt würde. Fiona würde vermutlich auf ihre Fragen auch keine Antworten bekommen, weil Jane nie etwas sagte, aber wenigstens war sie nicht alleine mit ihren Ängsten.
Was Allison Dr. Thompson wirklich übel nahm, war die Tatsache, dass er Schwester Grant angewiesen hatte, Janes Arme und Beine zu fixieren, bevor er seine Untersuchung fortgesetzt hatte. Endlich, endlich hatte das Mädchen eine Reaktion gezeigt, die nicht ›befohlen‹ worden war, und prompt war sie festgebunden und ruhiggestellt worden. So würde sie natürlich nie genug Vertrauen aufbauen können, um sich jemals irgendeinem von ihnen anzuvertrauen. Allison Morgan war immer noch aufgebracht, als sie das klingelnde Handy beantwortete und sich dann zur Notaufnahme begab.
~~~
Fiona Brannigan saß ziemlich dicht neben dem Bett von Jane. Die Fixierungsmanschetten hatte sie gelöst, sobald sie hereingekommen war. Es bestand wohl keinerlei Gefahr, dass Jane nach ihr trat oder schlug. Im Moment lag die Kleine völlig apathisch in ihrem Bett und starrte Löcher in die Luft. Keine Regung zeigte ihr, dass Jane überhaupt bemerkt hatte, dass sie, Fiona, anwesend war. Allison war sich vorhin so sicher gewesen, als sie sie um Hilfe gebeten hatte.
»Fi«, hatte sie gesagt, »Du bist meine einzige Hoffnung. Diesen Holzköpfen hier im Krankenhaus brauche ich nichts mehr erklären von emotional instabilen Patienten. Die scheinen nicht zuzuhören. Bei dir weiß ich wenigstens, dass du sie nicht festbindest, um die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln.«
»Es ist alles wieder gut«, sagte Fiona leise. »Keiner wird dich mehr anfassen, wenn du es nicht willst.« Sie hielt die schmale Hand fest und streichelte ihr über die Handfläche. Mit der anderen Hand strich sie Jane immer wieder beruhigend über das Haar. Offensichtlich schien sich Jane an diesen Berührungen nicht zu stören. Es schien eher so zu sein, dass sie sich unter dem tröstenden Streicheln etwas beruhigte.
Irgendjemand streichelte ihr Haar. In der ersten Sekunde war sie erschrocken gewesen, hatte sich dann aber wieder entspannt. Es war eine tröstende Geste, keine fordernde Berührung. Hier wollte ihr jemand etwas geben und nicht nehmen. Die weiche Hand roch ganz leicht nach Parfüm. Vor ihrem Auge tauchte blitzartig die Hand einer Frau auf, die ihr liebevoll über das Gesicht stricht. Mama, dachte sie, konnte aber das Bild nicht festhalten, als es ebenso schnell verschwand, wie es gekommen war. Ihre Finger schlossen sich um die Hand, die ihre hielt.
»Mama?«, stieß sie heiser hervor.
Fiona Brannigan sah überrascht auf. Hatte Allison nicht gesagt, dass Jane nicht sprach?
»Ich bin Fiona«, sagte sie sanft, während ihre Hand den Druck von Janes Fingern erwiderte.
»Shhh, keine Angst. Wenn du uns sagst, wie du heißt, ist deine Mama bestimmt bald hier.«
Sie strich Jane erneut über die Wange. Behutsam wischte sie die Träne weg, die dem Mädchen über die Wange kullerte.
»Mama …«
In diesem einen Wort lag der ganze Schmerz der Welt, wie es Fiona vorkam. Grenzenlose Einsamkeit und unsagbare Trauer. Fiona griff nach einem Taschentuch, als immer mehr Tränen liefen. Endlich zeigte dieses Mädchen seine Gefühle. Sobald Jane sich etwas beruhigt hatte, würde sie mit ihr reden können. Sie würde einen Namen von ihr bekommen und vielleicht sogar die Täterbeschreibung. Sanft tupfte sie Jane wieder und wieder das Gesicht ab und nahm sie sacht in den Arm. Das Mädchen klammerte sich mittlerweile mit einer geradezu unheimlichen Kraft fest, während es lauter und lauter schluchzte. Dass dieser unterernährte, völlig ausgelaugte Körper eine solche Kraft mobilisieren konnte, erstaunte Fiona. Lange hielt sie Jane so fest, bis das Schluchzen langsam nachließ. Behutsam wischte Fiona der Kleinen das Gesicht ab.
»Ich bin ja da«, sagte sie leise. Und dann lag Jane ganz entspannt in ihrem Arm. Atemzüge, die immer tiefer und gleichmäßiger wurden, zeigten ihr, dass Jane eingeschlafen war. Sanft löste Fiona Janes Hand von ihrem Arm und legte sie sacht auf das Kissen zurück.
~~~
Absolute Stille umgab sie. Kein tickendes Geräusch, keine Stimmen, keine Schritte. Sie genoss es für einen Moment, völlig schwerelos im Nichts zu schweben. Bis die Schmerzen in ihrer rechten Seite wiedergekehrten. Vorsichtig versuchte sie, ihre Lage soweit zu verändert, dass sich auch das unbewegliche Bein etwas mitdrehte. Es machte sie schier wahnsinnig, dass ihre rechte Seite so bewegungslos blieb. Sie blinzelte, mehr aus Gewohnheit, denn aus der Erwartung, dass sie doch noch mal etwas sah. Seit Tagen hatte sie sich damit abgefunden, dass es dunkel bleiben würde. Sie war sich nicht im Klaren, was sie eigentlich erwartete. Solange sie denken konnte, hatte sie nichts gesehen, aber eigentlich war sie davon überzeugt, dass es einmal etwas zu sehen gegeben hatte. Sie war sich nur nicht sicher, wie lange es her war. Sie meinte zu wissen, was Farben waren, und dann diese Bilder, die vor ihr aufgetaucht waren. Die Gesichter von Eltern, die nicht ihre waren, und dann diese Hand, die sie so liebevoll gestreichelt hatte. Alles war deutlich zu sehen gewesen, wenn es auch wieder viel zu schnell in der Dunkelheit versunken war.
»Hallo Jane, du bist ja wieder wach. Ich bin’s, Fiona. Nein, nein, du brauchst keine Angst zu haben!« Fiona griff beruhigend nach Janes Hand, als diese hoch zuckte. Bei der Berührung entspannte sie sich wieder etwas.
»Ich will dir nur ein paar Fragen stellen, ist das okay?«
Fiona wartete einen Moment auf eine Reaktion, die allerdings ausblieb.
»Verrätst du mir deinen Namen?«
Die Augen von Jane bewegten sich blitzschnell hin und her, bis sie an ihrem Gesicht hängenblieben und ihr direkt auf den Mund starrten. Fiona fühlte sich merkwürdig beobachtet unter dem starren Blick von Jane. Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um ihm auszuweichen.
»Wenn du uns sagst, wie du heißt, kann ich deine Mama anrufen.« Die Augen bewegten sich genau um das Stück, das sie ausgewichen war, so dass Jane ihr wieder auf den Mund starrte.
»Sagst du mir deinen Namen? Wir wollen dich doch nicht Jane nennen, wenn du bestimmt einen viel schöneren hast.«
»Jane?« Mühsam quälte sich dieses eine Wort über Janes Lippen. Jede Bewegung ihres Kiefers tat weh.
»Ja, solange wir nicht wissen, wie du heißt, verteilt die Polizei Namen, und unbekannte kleine Mädchen heißen nun einmal Jane Doe.«
»… heiß … nich Jane.«
»Das dachten wir uns schon … aber wie heißt du denn nun, hm?«
» ... weiß nich …«
Merkwürdig war das schon, fand Jane, dass ihr partout nicht einfiel, wie sie hieß. Einen Namen hatte doch jeder, warum konnte sie sich an ihren nicht erinnern? Wenn doch nur diese Kopfschmerzen nachlassen würden …
Fiona runzelte die Stirn. Irgendwann würde die Kleine ihren Namen schon sagen, auch wenn sie jetzt noch nicht wollte, dass ihre Eltern kamen. Es war doch mit allen minderjährigen Drogensüchtigen das Gleiche. Ganz sicher, dass diese Eltern noch nicht wussten, dass ihr kleines Mädchen nicht zur Schule gegangen war, sondern auf den Drogenstrich.
»Sagt du mir, wie alt du bist?«
» … weiß nich …« Janes Stimme wurde wieder leiser.
»Kannst du dich an deinen letzten Geburtstag erinnern? Weiß du noch, wie viele Kerzen auf der Torte waren?«
»Mein letzter Geburtstag …«, murmelte Jane, » … lange her ...«
»Wo wohnst du? Weiß du, wie deine Schule heißt? In welche Klasse gehst du?«
»Ich weiß nicht … nicht erinnern.«
Als erneut Tränen in Janes Augen traten, hörte sie endlich auf, Fiona auf den Mund zu starren, was diese unglaublich erleichterte.
»Nun, Liebes, so schlimm ist das auch nicht, das fällt dir alles bald wieder ein. Weißt du, was dir passiert ist?«
»Wieso? Was passiert?«
»Weißt du, warum du hier bist?«
» … weiß nicht … « Jane sah reichlich irritiert aus. Wo sollte sie sonst sein? War vorher irgendwas, was anders war als das Hier und Jetzt?
»Kleines, als du gefunden wurdest, warst du schwer verletzt und hast vermutlich einen ziemlich heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Seit zwei Wochen bist du bei uns in Truro im Royal Cornwall Krankenhaus.«
» … und vorher?«
»Das wissen wir ja eben nicht. Du hast einen Drogenentzug durchgemacht. Welche Drogen hast du genommen?«
»Drogen?«, murmelte Janes monoton und verwirrt vor sich hin.
»Okay, lassen wir das jetzt erstmal, wenn dir etwas einfällt, sagst du mir dann Bescheid?«
Jane nickte unbestimmt ein wenig. Sie war sich nicht sicher, ob ihr überhaupt jemals irgendetwas auf die vielen Fragen von Fiona einfallen würde.
~~~
»Und?« Allison Morgan sah ihre Schwester gespannt an, als sie vor ihrem Schreibtisch Platz nahm.
»Sie spricht endlich. Aber sie sagt mir auch nichts. Keinen Namen, kein Alter, absolut nichts. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie es uns absichtlich verschweigt, oder ob sie es wirklich nicht weiß. Eine Amnesie durch den schweren Schlag auf den Kopf wäre möglich.«
»Auch durch die Drogen oder ein besonders traumatisches Erlebnis.«
»Na, dass sie das hatte, wissen wir ja wohl. Was macht sie sonst? Ich meine, wie wirkt sie auf dich? Auf die Schwestern? Unruhig? Nervös?«
»Das ist es ja eben. Tagsüber völlig unbeteiligt. Nachts träumt sie unruhig und hat hier in den letzten Tagen mehrfach die Station zusammengeschrien. Aber nie gesagt, was sie geträumt hat.«
»Kann sie sich daran erinnern?«
»Ich weiß es nicht. Sie guckt immer ganz überrascht, wenn die Schwestern sie nachts wecken oder morgens fragen.«
~~~
Ben sah nicht nach rechts oder links, als er über den Krankenhausflur segelte und stracks zur Tür von Janes Zimmer ging. Undercover waren doch die besten Jobs, grinste er still in sich hinein. Seine Monstererkältung war endlich abgeklungen und so hatte er es noch einmal gewagt, im Krankenhaus aufzutauchen, weil er nicht mehr Gefahr lief, dass Allison ihn sofort mit einem Fieberthermometer im Mund in das nächstbeste Bett steckte. Große Schwestern waren eine Pest. Das Schlimme war, es hörte nie auf. Man konnte so erwachsen werden wie man wollte, man blieb immer der kleine Bruder. Er hatte eben noch Allison kurz nach Schichtwechsel im Umkleideraum erwischt. Obwohl sie ihm nichts Neues berichten konnte, hatte sich der Abstecher zu ihr gelohnt. Kaum war sie, als ihr Pieper losgegangen war, zur Notaufnahme gesaust, hatte er sich aus dem Wäschekorb einen Arztkittel gemopst und war seitdem völlig unbehelligt auf den Krankenhausfluren unterwegs. Es ist nur eine Frage der Arroganz, fand Ben. Kopf hoch tragen und aussehen, als ob man furchtbar wichtig ist und ein festes Ziel hat. Und keiner wird es wagen, dich anzusprechen. Vor der Tür zu Janes Zimmer blieb er stehen, tat als ob er sein Handy in der Kitteltasche noch einmal überprüfte und warf dabei einen Blick den Flur zurück. Diesem Drachen von Oberschwester wollte er trotz Arztkittel nicht in die Arme laufen. Schnell schlüpfte er durch die Tür.
Die Vorhänge waren noch zugezogen und trotz fortgeschrittener Tageszeit war es daher dämmrig. Jane lag alleine im Zimmer. Leise ging er zum Bett hinüber. Sie hatte die Augen geschlossen und doch konnte er sehen, dass sie nicht schlief.
»Hallo«, sagte er leise.
Jane drehte den Kopf in seine Richtung.
»Hallo.« Ihre Stimme war rau und kaum zu verstehen.
Rasch zog Ben seinen Kittel aus und ließ ihn im nächsten Schrank verschwinden. Dann zog er einen Stuhl an ihr Bett heran.
»Ich bin Ben.«
»Sie sind kein Arzt.«
»Nein, ich bin kein Arzt. Aber woher weißt du das?«
»Sie haben den Kittel ausgezogen. Und haben mir noch nicht erzählt, womit Sie gleich mir wehtun wollen.«
Ben musste lachen.
»Stimmt, kein Arzt. Den Kittel musste ich mir leihen, weil die mich sonst gar nicht zu dir reingelassen hätten.«
Jane starrte ihm mit ihren dunklen Augen unverwandt ins Gesicht. Ganz knapp neben die Nase. Hatte er dort einen Fleck? Er wischte sich übers Gesicht.
»Sie sind auch nicht von der Polizei. Sie haben noch keine dummen Fragen gestellt.« Da Jane so nuschelte und er sie kaum verstehen konnte, beugte er sich ein wenig vor.
Ihr Blick wanderte einige Zentimeter höher und sie starrte ihm jetzt zwei kleine Löcher in seine Stirn.
Jetzt konnte er in dem dämmrigen Licht sehen, warum sie so undeutlich sprach. Quer über ihr Gesicht zogen sich zwei tiefe Narben, von denen eine vom rechten Augenwinkel zum Mundwinkel reichte. Auf der rechten Seite standen zwei Schrauben aus der Haut, mit einem furchtbar steril aussehenden Gestell verbunden, die den offenbar gebrochenen Kiefer fixierten. Dazu hing die ganze rechte Seite schlaff herab. So etwas hatte er schon einmal gesehen, bei seinem Großvater, als dieser kurz vor seinem Tod mehrere Schlaganfälle gehabt hatte.
»Nein, ich bin auch nicht von der Polizei. Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht.«
Das war nun eine ganz selten blöde Frage, wie er fand. Wie wird es ihr schon gehen? Offenbar gab es keinen Körperteil an diesem kleinen Mädchen, in dem nicht ein Schlauch oder eine Infusionsnadel hing oder der nicht verbunden oder verpflastert war. Die rechte Hand war inzwischen nicht mehr am Bettgitter festgebunden, aber mit einer Schiene eingebunden. Die Blutkrusten waren aus ihrem Gesicht verschwunden, dafür hatte jemand eine Stelle knapp über der Stirn freirasiert und zwei große Kompressen festgepflastert. Wie knochig ihre Schultern waren, konnte er sogar durch den Stoff des Nachthemdes sehen. Das rote lange Haar hing ihr verzottelt auf einer Seite, mit zwei Bändern zusammengehalten, damit es nicht störte.
Jane starrte ihm unverwandt weiterhin Löcher in die Stirn. Ben rutschte unbehaglich ein kleines Stück zu Seite. Dieser emotionslose, starre Blick begann ihn nervös zu machen. Er rieb sich über die Stirn.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Jane plötzlich, »Sie sind der Mann mit dem Hund.«
»Du kannst dich erinnern, was passiert ist?« Überrascht sah Ben auf das Mädchen hinunter. Er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass sie überhaupt irgendwie in dem Rohr bis auf das einmalige Augenöffnen bei Bewusstsein gewesen wäre, so bewegungslos, wie sie in seinem Arm gehangen hatte.
»Ich habe Ihren Geruch wiedererkannt.«
Ben hob seinen Arm und roch am Handgelenk.
»Ja? Nach was riech ich denn?«
»Nach dem Mann mit dem Hund.«
»Na klasse, ich rieche nach ›Mann mit nassem Hund‹.« Ben grinste. Und auch auf dem Gesicht des Mädchens breitete sich endlich ein zaghaftes, wenn auch schiefes Lächeln aus. Die ganze rechte Seite blieb unbeweglich schlaff.
»Nein, Sie riechen nicht nach nassem Hund. So roch der Hund. Sie riechen nach irgendeinem Duschzeug mit besonders männlicher Note, diesem Zeug aus der Werbung.«
»Deine Nase funktioniert ja noch hervorragend, wenn du das riechen kannst. Und dich heute noch daran erinnerst.«
Schlagartig verdunkelte sich Janes Gesicht wieder.
»Ich kann mich an alles erinnern, was seitdem passiert ist, als ich im Krankenhaus aufgewacht bin«, krächzte sie. »Nur an nichts davor.«
Ben war voll in das nächstbeste Fettnäpfchen getrampelt und ärgerte sich.
»Tut mir leid«, sagte er. »Wir finden bald heraus, wer du bist, das versprech ich dir.«
»Sie sollten nur etwas versprechen, was Sie auch halten können.« Janes regloser Blick war inzwischen auf seinem Mund gelandet. Wenn dieses Kind ihn nur nicht so anstarren würde. Ben drehte seinen Kopf etwas zur Seite.
»Ich hasse das, wenn die Leute mir sagen, ›alles ist gut‹. Nichts ist gut und nichts wird wieder wie früher. Ich bin doch kein Baby mehr, dem man solchen Mist erzählen kann.«
»Ich werde mir Mühe geben, okay?« Und versuchen, dir keine platten Sprüche mehr an den Kopf zu werfen, nur um dich zu trösten. Ben drückte aufmunternd ihre rechte Hand.
»Die Erinnerungen werden wiederkommen«, versuchte er sie zu trösten. »Schau mal, du kannst dich ja auch daran erinnern, wie das Zeug aus der Werbung riecht. Das musst du ja schon einmal gerochen haben.«
Verdutzt hielt Ben inne. Sein Duschgel hatte er seit Jahren aus dem Dutyfree-Shop vom Flughafen in Dubai und hatte es bisher nur dort bekommen. Eine, wie hatte Jane gesagt, ›besonders männliche Note‹. Das gab es nur dort. Was er aus Verzweiflung auf dem Flughafen gekauft hatte, weil es dort, wo er vorher in der Weltgeschichte herumgekrochen war, keine Drogerien mit Shampoo und Aftershave geschweige denn Duschgel gegeben hatte, musste Jane auch schon einmal gerochen haben.
Das würde er unbedingt Mark erzählen müssen.
Jane starrte ihm weiterhin kleine Löcher mit ihren dunklen Augen ins Gesicht und Ben fühlte sich immer unbehaglicher.
»Hab ich da was?«, fragte er.
»Wo?« Janes Augen schwenkten von oben nach unten, allerdings genau neben ihm. Sie sieht mich nicht an, durchfuhr es ihn. Sie sieht durch mich durch. Vorsichtig hob er eine Hand und wackelte damit vor seinem Gesicht herum. Keine Reaktion von Jane, die weiter genau neben ihn in die Luft sah.
Ben sprang auf. »Ich bin gleich wieder da, ja?«
»Ja, natürlich. Ich werd hier schon nicht weggehen«, entgegnete Jane trocken. Ben musste lachen.
»Ach, Kleine, du bist schon richtig. Lass dich nicht unterkriegen, hörst du? Wenn die dich zu sehr ärgern, erzählst du mir das und dann bekommen die Ärger mit mir!«
Das schiefe kleine Lächeln, das noch auf ihrem Gesicht lag, als er das Zimmer verließ, würde seinen Tag heute machen, wusste er. Jetzt musste er sich allerdings erst einmal auf die Suche nach Allison machen.
~~~
Er zog die Tür hinter sich zu und sah sich der Oberschwester gegenüber.
»Was machen Sie denn hier? Habe ich mich letztens nicht klar genug ausgedrückt?« funkelte sie ihn wütend an.
»Schwester, bitte, ein Notfall, das müssen Sie doch verstehen.« Er versuchte, mit einem spitzbübischen Lächeln an ihr vorbeizukommen.
»Die polizeiliche Anweisung war eindeutig. Jeder Mann, der sich dem Kind nähert, ist verdächtig. Ich muss sie melden.«
»Ma'am, sie ist hier, weil ich es war, der sie in dem Abwasserrohr gefunden hat.«
»Das ist das, was Sie behaupten. Und solange die Kleine gar nichts erzählt, gehe ich davon aus, dass Sie auch derjenige gewesen sein können, der versucht hat, sie dort loszuwerden.« Sie griff in ihre Kitteltasche und zog ein Handy heraus.
»Oh, Schwester Judith, Sie können diesen Tatverdächtigen gehen lassen. Es ist mein kleiner Bruder. Manchmal ein bisschen übermütig.«
Ben atmete erleichtert auf, als Allison auf dem Weg zu ihrem Arztzimmer um die Ecke bog.
»Er hat einen Ärztekittel entwendet und sich damit unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf der Station eingeschlichen.« Die Oberschwester war immer noch empört.
»Ich sagte ja, ›übermütig‹.« Allison legte ihre ganze Überzeugungskraft in ihr Lächeln, griff Ben am Arm und zog ihn um die Ecke den Flur hinunter.
»Und wenn ich dich noch einmal erwische, wie du hier als Arzt durch die Gänge flitzt, lass ich dich das nächste Mal auflaufen.«
»Woher weiß die denn das schon wieder?«
»Sie hat dich gesehen, wie du durch die Tür zum Fahrstuhl geschlendert bist. Da ist nicht mehr lustig!«
»Ally, es gibt viel Wichtigeres!«, fiel Ben ihr ins Wort und blieb stehen. »Ich denke, dass die Kleine nichts sehen kann.« Er berichtete ihr rasch von Janes beunruhigender Angewohnheit, ihn anzustarren, während er mit ihr gesprochen hatte und die ausgebliebene Reaktion, als er mit der Hand vor ihrem Gesicht herumgewedelt hatte.
Allison sah ihn skeptisch an. »Das mit dem Starren ist mir und Fi gestern auch aufgefallen. Aber ihr Blick folgt dir, wenn du mit ihr sprichst.«
Ben fiel ihr ins Wort. »Eben! Nur, wenn man mit ihr spricht. Sie ist blind«, sagte er. Allison sah ihn entgeistert an.
»Habt ihr das gecheckt?«
Sie schüttelte langsam den Kopf, dann drehte sie sich mit einem Ruck um.
»Los, komm mit!«
Das würde die schlechteste Nachricht für die Polizei sein, die auch nur denkbar war, dachte Ben bekümmert. Immerhin hofften Granger und Carrigan noch darauf, dass Jane ihnen bei der Täterbeschreibung weiterhelfen würde.
~~~
»Jane?« Allison trat an das hohe Krankenhausbett. Erwartungsgemäß hatte sich Jane den Kopf in dem Moment gehoben, als sie die Schritte gehört hatte und starrte ihr jetzt mitten ins Gesicht.
Aber nicht in meine Augen, sondern knapp an meiner Nase vorbei, dachte sie.
»Ich würde dich gerne noch etwas untersuchen.« Sie zog eine schmale Taschenlampe aus ihrer Kitteltasche.
»Pass auf, ich leuchte dir gleich mit einer Lampe in die Augen und du folgst ihr einfach mit den Augen, ja?«
Jane zeigte mit keiner Regung, dass sie ihre Worte überhaupt gehört hatte. Der kleine Lichtkegel wanderte über ihr Gesicht, als Allison die Lampe vor ihr hin und her schwenkte, aber Janes Blick war unverwandt auf den Punkt neben ihrer Nase gerichtet. Ben beugte sich vor und fasste Jane unter das Kinn.
»Maus, warum hast du uns das nicht gesagt, hm? Wir wollen dir doch nur helfen. Wovor hast du solche Angst, dass du uns noch nicht einmal sagen kannst, dass du nichts siehst?«
Kaum hatte er die Frage gestellt, als ihm auch schon klar war, wovor Jane derartig Angst hatte. Vielleicht hatte derjenige, der die Kleine so misshandelt hatte, gewusst, dass sie blind war und ihn nicht sehen konnte. Das würde auch dafür sprechen, dass Jane nicht verstört auf ihre Blindheit reagiert hatte. Wenn sie überhaupt schon länger blind war, vielleicht schon seit Geburt an, war es völlig logisch, dass sie sich anhand von Stimmen orientierte, um ihre Gesprächspartner ›anzusehen‹.
»Jane«, fragte er, »seit wann kannst du nichts sehen?«
Das Mädchen hatte Augen und Lippen fest zusammengekniffen und reagierte nicht. Wieder einmal versuchte sie mit aller Kraft, die Umwelt von sich fernzuhalten, indem sie so tat, als ob sie gar nicht vorhanden wäre.
»Hilf uns doch bitte«, bat Ben.
»Warte mal, so wird das nichts!« Allison schob ihn energisch zur Seite.
»Jane, hör mir zu. Ich will, dass du meine Fragen beantwortest, hast du verstanden?«
Keine Reaktion.
»Antworte!« Ihr Ton wurde streng und befehlend und prompt nickte Jane.
»Seit wann kannst du nicht sehen?«, fragte sie barsch.
»Weiß nicht …«, flüsterte Jane gequält.
»Kennst du Farben?« Allisons Stimme klang schneidend und ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine sofortige Antwort erwartete. Die Frage war gut, fand Ben. Sollte sie von Geburt an blind gewesen sein, würde sie keine Farben kennen. Und dennoch macht es ihn langsam wütend, dass ausgerechnet seine Schwester, die hochqualifizierte Dr. Morgan, die Koryphäe auf dem Gebiet der Wachkomapatienten und vehemente Verfechterin des respektvollen und freundlichen Umgangs mit Patienten, ausgerechnet dieses Mädchen so grob anschnauzte.
Jane nickte auf die letzte Frage nur einmal kurz.
»Hast du gesehen, wer dich so geschlagen hat? Kennst du ihn?«
Jane schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht …«, jammerte sie. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Ben griff nach der Schulter seiner Schwester. »Jetzt ist aber genug«, rief er.
Mit einer unwilligen Bewegung schüttelte Allison die Hand ab.
»Jane, mach die Augen auf!«
Gehorsam öffnete Jane die Augen. Starr und blicklos sahen sie an ihr vorbei ins Leere. Allison konnte die Tränen in ihnen glitzern sehen, die die Kleine offenbar krampfhaft unterdrückte. Sie bewunderte sie dafür, dass sie vor ihr nicht weinen wollte, auch wenn es besser für sie gewesen wäre, ihre Gefühle zuzulassen. Rasch leuchtete sie ihr mit der kleinen Lampe in die Augen, dann knipste sie das Licht wieder aus.
»Du darfst die Augen wieder zumachen, wenn du möchtest«, sagte sie sanfter. Dann wandte sie sich zu Ben um.
»Die Pupillen reagieren völlig normal. Ich brauche einen Termin für ein CT. Und du, kleine Maus, brauchst keine Angst zu haben. Du überlegst dir in Ruhe, wie du heißt, und dann rufen wir deine Eltern an. Aber erst einmal schauen wir in deinen Kopf, warum du nicht sehen kannst, okay?«
Nachdem Allison den CT-Termin vereinbart hatte, konnte Ben sich nicht mehr zurückhalten.
»Allison Morgan, wenn du nicht meine Schwester wärst, würde ich dir jetzt die Freundschaft kündigen. Wie konntest du das da gerade tun? Ausgerechnet du!« Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte er seine Schwester empört an.
»Was meinst du« Irritiert runzelte Allison die Stirn.
»Na hör mal! Alle geben sich hier Mühe, nett und freundlich, höflich und respektvoll zu den Patienten zu sein, weil du das allen seit Menschengedenken eintrichterst und ganz besondern zu der Kleinen da drin. Und dann hast ausgerechnet du nichts Besseres zu tun, als ihr Befehle zu erteilen und sie anzuschreien!«
»Ich habe sie nicht angeschrien!«
»Nein? Hast sich aber schon fast so angehört!« Ben stützte die Hände auf den Schreibtisch und lehnte sich vor. »Du brauchst keine Angst zu haben!«, äffte er sie nach. »Kannst du mir mal verraten, wie sie dir das glauben soll, nachdem sie keine Sekunde davor so angefahren hast?«
»Darf ich jetzt auch mal was sagen?« Allison sah ihren kleinen Bruder mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Na, da bin ich aber mal gespannt!«
»Also, es ist wirklich nicht meine Art, Kinder anzuschnauzen, da hast du völlig recht. Aber sie ist seit zwei Tagen bei Bewusstsein gewesen, hat aber nie auch nur die geringste Reaktion gezeigt, wenn wir mit ihr gesprochen haben. Das einzige, was sie getan hat, war umgehend und sofort zu gehorchen, wenn ihr Befehle erteilt wurden. ›Schluck die Tablette!‹ und sie hat sie geschluckt. ›Dreh dich auf die Seite!‹ und sie hat sich gedreht. Und weil ich gerade Antworten gebraucht habe und zwar schnell, habe ich ihr befohlen zu antworten.« Sie sah Ben entschuldigend an.
»Glaubst du wirklich, mir hat das gerade Spaß gemacht? Ich würde nichts lieber tun, als sie in die Arme ihrer Mutter zu legen, damit diese sie wie ein Baby hält und ihr all die Liebe gibt, die sie braucht, um gesund zu werden.«
Ben setzte sich endlich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, sah aber immer noch ziemlich wütend aus.
»Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, wie so ein blinder Gehorsam zustande kommt? Es ist immer Angst vor Strafe. Wenn ihr von ihr Gehorsam fordert, benutzt ihr ihre Angst, vor was auch immer, als Werkzeug. Sie wird nie Vertrauen zu uns gewinnen können, wenn du ihre Angst benutzt.«
»Meinst du, mir ist das nicht klar? Aber manchmal haben wir nicht die Zeit, stunden- oder gar wochenlang um Vertrauen zu kämpfen. Manchmal muss ich einfach schnell eine Antwort haben.«
Ben sah Allison resigniert an.
~~~
Jane war wieder in ihrem Zimmer, aber immer noch konnte sie das unheimliche Rattern und Surren des Computertomographen hören. Stundenlang, wie es ihr vorgekommen war, war das Ding um ihren Kopf herumgefahren und hatte unzählige Aufnahmen von ihrem Gehirn gemacht. Wie ihr das allerdings helfen sollten, wieder sehen zu können, war ihr schleierhaft. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, ihr zu erzählen, was auf den Bildern zu sehen gewesen war. Es wäre zu schön, wenn mein Name in mein Gehirn eingraviert wäre. Jane seufzte. Auch dazu taugte ein CT nichts. Und deshalb lag sie wie vorher wieder allein in ihrem Zimmer, umgeben von derselben Dunkelheit wie immer, und wie immer allein ihren Gedanken überlassen. Seit Tagen versuchte sie krampfhaft, sich daran zu erinnern, wie sie hieß und was ihr passiert war, aber es war einfach nichts da. Kein Name, keine Gesichter, keine Erinnerung. Sie hatte noch nicht einmal das Gefühl, dass sich irgendwo eine Tür befand, die etwas vor ihr verbarg, und die sie nur aufzustoßen brauchte. Es war, als ob es kein Vorher gegeben hatte. Jane hatte Angst davor, an was sie sich erinnern würde, wenn ihr jemals etwas einfallen würde. Und dennoch wünschte sie sich nichts mehr, als sich wieder zu erinnern. Sie wusste noch nicht einmal, wer sie selbst war, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte keine Persönlichkeit, weil sie keine Erfahrungen hatte, auf die sie zurückgreifen konnte. Sollte sie auf die Freundlichkeiten der anderen positiv reagieren oder lieber misstrauisch? Sie wusste es nicht. Wieder und wieder drehten sich die Gedanken in ihrem Kopf und hatten unendlich Platz, sich in allen Ecken und Winkeln ihres Gehirns auszubreiten.
»Mark, hör zu, das Kind ist blind. Jemand muss doch ein blindes Kind vermissen!«
»Ben, kannst du mal aufhören, hier rumzutigern? Setz dich endlich hin! Sonst gehen wir in einen Verhörraum, wo ich dich am Tisch mit meinen Handschellen anbinden kann.«
»Ist der größer als diese Kabuchte hier?« Ben ließ sich auf Carols Stuhl fallen.
»Ist er, und schalldicht. Dann kann ich hier in Ruhe meinen Kaffee trinken, wenn du mir noch weiter auf den Nerv gehst.«
Mark wuchtete seine Massen von dem ächzenden Stuhl hoch und ging zu seinem Kaffeeschrein.
»Espresso? Zucker, Milch?«
»Schwarz wie deine Seele, doppelt.«
»Jetzt hol doch mal Luft. Im Krankenhaus sitzt grad die Psychologin dran, um herauszufinden, ob die Kleine vorher auch schon blind war, und Carol hat eine landesweite Suchmeldung rausgegeben und alle Vermisstenanzeigen zum hundertsten Mal durchgesehen. Alle neuen Meldungen werden ihr auf den Tisch gelegt. Was willst du noch?«
»Habt ihr Interpol schon eingeschaltet? Die internationalen Vermisstenanzeigen durchgesehen? Hör mal, die Kleine kennt den Geruch von meinem Duschzeug, das ich bisher nur auf dem Flughafen in Dubai kaufen konnte. Sie muss schon mal dagewesen sein. Als drogensüchtige Prostituierte kommt man da nicht so leicht hin!«
»Nein, aber ihr Drogenhändler kann das Duschzeug benutzen und der hat es von seinem Cousin, der das von einem Freund hat, der jemanden kennt, der in Dubai war oder das Zeug von dort mitgebracht bekommen hat. Ben! Komm endlich runter!«
Resigniert ließ sich Ben gegen die Lehne sinken. Mark hatte recht. Sie waren wieder am Anfang. Oder vielmehr: keinen Schritt weitergekommen. Wenn Jane sich nicht selbst erinnerte oder jemand sie in den Suchmeldungen erkannte, dann würde sie wohl für den Rest ihres Lebens Jane Doe bleiben.
»Was ist mit dem Baby? Es muss sich doch feststellen lassen, wer der Vater ist!«
»Und womit vergleiche ich die DNA des Babys? Soll ich etwa eine DNA-Untersuchung von allen Männern im Land machen lassen?«
Mark ließ sich auf den unter ihm stöhnend nachgebenden Stuhl hinter seinem Schreibtisch plumpsen.
»Lass uns unsere Arbeit machen und mach du deine.«
»Ich hab Fronturlaub.« Ben grinste schief.
»Heimaturlaub, meinst du wohl. Den Krieg hast du ja da gelassen.«
»Fronturlaub, Urlaub an der Front. Geschwisterlicher Kleinkrieg, sag ich nur.«
»So schlimm?«
»Schlimmer!«
»Ich werde Gott nachher auf Knien danken, dass ich Einzelkind bin.« Er grinste Ben breit an. »Du kannst mir nichts vormachen. Du hast sie alle vermisst!«
»Die gesamte Aasbande, Nell und Stu, Fiona und Ian, Allison und Alec, sämtliche sabbernden Neffen und zickigen Teenagernichten ...«
»Wie viele sind es jetzt?«
»Engste Familie bei Geburtstagsfeiern? Sechzehn plus meine Person. Aber ich werde nicht für dich zählen, wer Weihnachten alles da sein wird!«
»Eine ungefähre Hochrechnung würde mir völlig reichen.« Mark rührte grinsend in seinem Cappuccino.
»Rechne pro Bruder meines Vaters mit fünfzehn Nachkommen, fünf Brüder hatte er, macht sechs mal fünfzehn und du hast die ungefähre Anzahl. Es sind ja auch immer welche verreist.«
»Noch keiner dabei, der Einsiedler werden wollte?«
Ben grinste breit zurück. »Nein. Diese manische Sucht zur Vermehrung muss bei dieser Familie in der Erbmasse liegen.«
Außer bei dir, dachte Mark.
»Dann hast du ja jetzt eine Aufgabe. Gehe hin und suche dir eine paarungswillige Frau und werde Patriarch einer großen Familie, um die du dich dann kümmern musst. Ich muss mich um meine Arbeit kümmern.«
»Ach du liebes bisschen, was ist denn los?« Ben war mit zwei schnellen Schritten am Bett und legte Jane sanft die Hand auf die Schulter.
Jane schniefte heftig, aber ihre tastende Hand konnte die Taschentücher auf dem Nachttisch nicht finden. Ben drückte ihr eines in die Hand.
Umständlich putzte sich Jane die Nase und wischte sich die Tränen ab.
»Was ist los, kleine Maus?«
»Ich bin keine kleine Maus, ich bin Jane. Auch wenn das nicht mein richtiger Name ist. Ich bin niemandes kleine Maus. Ich bin groß«, brach es aus ihr heraus.
»Du ärgerst dich, weil dich jemand ›kleine Maus‹ genannt hat?« Ben gab sich Mühe, sein erleichtertes Lachen zu unterdrücken.
»Sie haben auch grad kleine Maus gesagt. Das ist blöd. Und die Schwester vorhin auch. Und die beiden Ärzte tun das auch dauernd.« Jane schniefte erneut.
»Ich verspreche dir, dass ich das nie wieder tun werde, wenn du dafür mit diesem blöden Gesieze aufhörst. Ich bin Ben.« Er gab ihr ein neues Taschentuch.
»Bitte, hör auf zu weinen. Die Schwester hat es bestimmt auch ganz lieb gemeint.«
»Die blöde Schwester will gleich mit einer Schere wiederkommen, um meine Haare abzuschneiden.«
»Wie bitte?« Ben sah Jane fassungslos an. Kein Wunder, dass die Kleine heulte wie ein Schlosshund. Die taillenlangen Haare würden vermutlich das Schönste an dem Kind, sein, wenn es aus dem Krankenhaus kam. Ohne Namen und Familie würde keiner eine OP bezahlen, um die Narben aus ihrem Gesicht verschwinden zu lassen.
»Warum das denn?«
»Weil sie total verfilzt und verzottelt sind und keiner Zeit hat, sie zu kämmen. Und ich kann das nicht mit einer Hand ... « Janes Tränen kullerten wieder schneller, als sie das nächste Taschentuch finden konnte.
»Ach, Mau..., Jane«, unterbrach er sich hastig, »wenn es weiter nichts ist. Keiner wird dir die Haare schneiden, wenn du es nicht willst, versprochen. Gib mir ein paar Minuten und niemand wird mehr etwas an deinen Haaren auszusetzen haben.«
»Keine böse Maus-nennende-Schwester mit Schere aufgetaucht?« Ben konnte von der Tür schon sehen, dass Jane sich sichtlich wieder beruhigt hatte.
»Nein, keine böse Scheren-Maus-Schwester und kein Edward mit den Scherenhänden oder sonst jemand.«
Edward mit den Scherenhänden? Was kennt das Kind für Filme? In ihrem Alter kennt man Johnny Depp nur als Pirat. Ben war verblüfft.
»So Mademoiselle, wir werden jetzt zur Tat schreiten.« Er schob den Nachttisch zur Seite. »Ich bin so lange Haare nicht gewohnt, du musst mir sagen, wenn es ziept. Aber damals bei meinen Barbies ging das ganz einfach.«
Erwartungsgemäß musste Jane lachen. »Du hast mit Barbies gespielt? Ich glaub dir kein Wort.«
»Hör mal, ich hab drei große Schwestern. Die Barbies haben in allen Ecken herumgelegen. Die Berge an Barbieklamotten waren höher als ich, als kleiner Knirps ... «
»Drei Schwestern ... das ist eine große Familie«, sagte Jane und Ben konnte den sehnsüchtigen Unterton hören.
»Du wirst dich bald erinnern und dann hast du deine Familie wieder«, tröstete Ben.
»Eine große Familie ist laut, nicht wahr? Es ist immer so still hier. Die Türen sind so dick, dass ich nicht hören kann, was draußen auf dem Flur passiert.«
»Und wenn dir die Schwestern den Fernseher anschalten?« Ben kämmte vorsichtig eine der roten Strähnen von unten nach oben aus. »Du könntest ja wenigstens etwas hören.«
»Das machen die ja jeden Morgen. Das ist, als ob der Fernseher eine Existenzberechtigung wie ein Haustier hat. Das Ding muss nur an sein und den ganzen Tag dudeln, dann sind die schon zufrieden, aber das ist doof.« Jane schüttelte den Kopf. »Ich weiß nie, wer da was sagt oder was die grad tun. Und wenn die gar nichts sagen und nur aufeinander schießen, weiß ich erst recht nicht, wer da grad wen umbringt.«
»Du solltest dir vielleicht nicht unbedingt Krimis angucken.« Ben lächelte milde.
»Die Schwestern stellen immer so ein blödes Kinderprogramm mit Cartoons an. Das ist noch viel schlimmer. Da hört man nur immer ›zack‹, ›bumm‹, ›peng‹ und weiß überhaupt nicht mehr, was da passiert.« Jane sah ziemlich resigniert aus, fand Ben.
»Und wenn ich eh nicht mitbekomme, was da passiert, dann ist das Ding als Geräuschkulisse im Hintergrund zu laut. Dann kann ich nicht mehr hören, was draußen passiert. Ich mach den Fernseher dann aus, aber die nächste Schwester, die reinkommt, schaltet den wieder an. Wie eine sprechende Tapete. Einfach nur da und an sein.«
»Jane, bitte, du musst die Augen zumachen. Du darfst nicht in die Sonne starren.« Ben zog rasch die Vorhänge vor und setzte sich so, dass sein Schatten die Sonnenstrahlen von Janes Gesicht abblockte. Endlich war draußen wieder die Sonne erschienen und er musste sie hier aussperren.
»Ich kann die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht spüren.« Sehnsüchtig reckte Jane das Gesicht zur Seite, um noch einen Streifen Sonnenlicht auf der Haut zu erhaschen.
»Das kannst du ja, aber du darfst nicht direkt in die Sonne gucken.«
»Weil ich davon blind werden könnte?« Jane lachte bitter einmal kurz trocken auf. »Ich seh doch jetzt schon nix. Was sollte das noch schaden?«
»Pass auf, Dr. Morgan, Allison, das ist die eine Ärztin, die hier immer rumsaust …«
»Eine von den vielen«, fiel ihm Jane resigniert ins Wort.
»Allison ist meine Schwester. Sie hat mir das ganz genau erklärt. Du bist nicht blind, weil deine Augen kaputt sind, sondern weil irgendetwas in deinem Kopf die Weiterleitung der Daten an das Sehzentrum im Gehirn blockiert. Das können die Ärzte vielleicht beheben, wenn sie dich nach der Geburt des Babys noch mal unters Messer legen und du kräftig genug bist für eine weitere Operation.«
»In meinem Kopf?« Jane fasste sich an die Stirn.
»Ja. Aber das hat nur Sinn, wenn deine Augen solange heil bleiben. Wenn du in die Sonne starrst, dann bekommst du auf der Netzhaut hinten im Auge einen Sonnenbrand und Verbrennungen und zerstörst sie damit. Bitte mach die Augen also zu.«
»Aber die Sonne ist so schön auf meiner Haut.«
»Das kann sie ja immer noch sein, aber du darfst sie dir nicht in die Augen leuchten lassen, bitte.«
»Liest du mir was vor?«
»Mylady, dafür bin ich gekommen.« Ben grinste breit und zog das Buch aus der Jackentasche. Er war etwas verblüfft über die Auswahl, die Jane getroffen hatte, als er ihr einige Bücher vorgeschlagen hatte, aber vielleicht zog Jane ja gerade aus einem Bericht über die Arbeit einer forensischen Anthropologin den Trost, dass es auch in ihrem Fall Aufklärung geben würde. Und so hatte er den neuesten Krimi von Kathy Reichs von Nells Nachttisch gemopst.
»Die Geschichte hat nichts mit der Fernsehserie zu tun, obwohl die Frau genauso heißt«, hatte Jane zu Beginn gemeint und Ben war wieder einmal verblüfft, was und vor allem wann dieses Kind fernsah. Seines Wissens wurde diese Krimiserie erst ab zehn Uhr abends ausgestrahlt, wenn alle Schulkinder schon im Bett liegen sollten. Oder Stricherinnen auf den Babystrich gingen, weil die beste Geschäftszeit anfing. Sehen Drogensüchtige überhaupt fern? Aber es war immerhin positiv, fand er, dass ihr wieder ein kleines Mosaikstückchen ihrer Erinnerungen eingefallen war. Auch wenn das immer noch keinen Rückschluss auf ihren Namen zuließ. Ben war zuversichtlich, dass sich jeden Tag immer mehr kleine Puzzleteilchen zusammenfügen ließen, bis Jane wieder wusste, wer sie war. Auch kleine Schritte führten letztendlich ans Ziel, dachte er.
»Hey, wie geht's dir heute?« Ben beugte sich über die, wie er fand, immer noch viel zu schmale und zu dünne Gestalt in dem riesigen Bett. »Du hast die Brille ja gar nicht auf.«
»Danke für die Sonnenbrille, aber die drückt so beim Liegen.«
Ben ärgerte sich, dass er nicht früher daran gedacht hatte. Was würde Jane die dunkle Sonnenbrille nützen, wenn sie eh die meiste Zeit im Bett lag und sich nur mühsam drehen oder gar aufsetzen konnte.
»Ich bin gleich wieder da, okay?«
»Schau mal, was ich mitgebracht habe«, Ben hielt den bunt gemusterten Seidenschal in Janes Richtung, um ihn sofort wieder sinken zu lassen. Blöder hätte er es grad gar nicht formulieren können, fand er. Aber Jane schien zum Glück keinen Anstoß daran zu nehmen. Erwartungsvoll drehte sie ihren Kopf in seine Richtung. »Was denn?«
»Ich hab Allison grad ihren Schal gemopst.«
Jane hob den Stoff an ihre Nase.
»Hm, das riecht gut. So exotisch, wie der Asia-Laden in Montreux.« Jane brach irritiert ab, während Ben sofort aufhorchte.
»Hey, du hast dich wieder an etwas erinnert! Das ist toll. Weißt du noch mehr?«
Jane schüttelte langsam den Kopf. Sie würde sich die nächsten Stunden den Kopf zermartern, wie sie auf Montreux kam und den kleinen Geschenkeladen, der nach exotischen Gewürzen roch und schwarzem Tee in Holzkisten aus Indien.
»Deine Nase ist sehr gut. Ich hab Allison den Schal aus Pakistan mitgebracht. Das ist schon einige Zeit her. Dass du das noch riechen kannst.«
Ben faltete das dünne Seidentuch zu einem schmalen Streifen.
»Ich denke, das hier ist dünn genug, damit es nicht drückt.« Vorsichtig legte er Jane das Tuch über die Augen und beugte sich etwas weiter vor, um es hinter ihrem Kopf zu verknoten.
Nein! Nicht! Nicht noch mal! Sie schnappte entsetzt nach Luft. Ihre Hand fuhr hoch, um das Tuch von den Augen zu ziehen. Sie konnte den heißen Atem der Männer in ihrem Nacken spüren, spürte eine große haarige Hand auf ihrem Rücken. Entsetzt fuhr sie herum.
»Wirst du wohl stillhalten!« Jemand hatte in ihre langen Haare gegriffen und hielt ihren Kopf eisern fest. Das Tuch war jetzt fest um ihren Kopf verknotet und sie konnte nichts mehr sehen. Jemand lachte laut.
»Na, da haben wir ja eine kleine Wildkatze.«
Mehrere Hände griffen nach ihr. Ihre Arme wurden nach hinten gezogen und sie begann, in alle Richtungen zu treten, während die Männer laut johlten und sie von den Beinen zerrten. Sie schrie laut auf, bis sich eine Hand auf ihren Mund presste und sie den heißen Atem an ihrem Ohr spürte.
»Na, na, na, gönn uns doch auch ein bisschen Spaß.« Das heisere Lachen explodierte förmlich in ihrem Kopf. Sie zog das Knie mit Schwung hoch und wurde mit einem lauten Stöhnen belohnt. Die Hand vor ihrem Mund verschwand schlagartig. Eine Hand weniger, die sie festhielt. Sie versuchte sich loszureißen, wurde aber von der Hand in ihren Haaren zurückgerissen.
Quer über ihr Gesicht fuhr ein gleißender Schmerz. Sie schrie auf und versuchte, den Kopf wegzudrehen, als ein zweiter Schmerz durch ihre Wange schoss.
»Wenn du mich noch einmal trittst, hast du kein Gesicht mehr!«
Das Blut von ihrer Wange lief in ihren Mundwinkel. Sie konnte den metallischen Geschmack auf ihrer Zunge spüren.
Jane schrie laut auf und schlug mit aller Kraft nach den vielen Händen, die sie festhielten. Sie wehrte sich verzweifelt gegen den Arm, der sie niederdrückte und endlich fanden ihre Finger das Gesicht des Angreifers. Kratzend und um sich tretend, versuchte sie, sich von dem Tuch zu befreien.
Ben wurde mit einem Ruck nach hinten gezogen und gelangte endlich aus der Reichweite von Janes kratzenden Fingern.
»Sie wollten sie doch nicht aufregen!« Die Oberschwester sah ihn wütend an. »Sie sollten sich was schämen!«
Jane hatte inzwischen das Tuch zum Kinn hinunter gezerrt und lag wimmernd zusammengerollt im Bett, während die jüngere der beiden Schwestern beruhigend auf sie einsprach und die Infusionen kontrollierte.
»Meine Güte, was war das denn?« Ben sah entsetzt auf die schmale Gestalt in dem Bett hinab und dann auf das Blut an seinen Fingern. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Jane hatte ihm offenbar nach allen Regeln der Kunst das Gesicht zerkratzt.
»Waren Sie noch nie hier, wenn sie ihre Anfälle bekommen hat?« Die junge Schwester sah ihn interessiert an. »Dr. Brannigan nennt es PTBS, posttraumatische Belastungsstörung. Die Kleine hier schreit hier mehrmals in der Nacht die ganze Station zusammen. Raten Sie mal, warum sie in einem Einzelzimmer liegt. Wenn Sie da sind, schläft sie nicht. Aber wenn sie schläft, dann geht's irgendwann rund. Und nachher kann sie sich wie immer an nichts erinnern«, schloss sie etwas sarkastisch, so als ob sie dem Mädchen im Bett sowieso nicht glauben würde.
»Halt gefälligst still!« Allison Morgan hielt Bens Kopf unerbittlich fest, während sie mit einer antiseptischen Lösung die tiefen Kratzer in seinem Gesicht abtupfte.
»Ich bin dein Bruder, ein bisschen mehr Feingefühl bitte.«
»Betrachte es als Strafe dafür, dass du meinen Schal geklaut hast.« Allison tupfte unbarmherzig weiter.
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass die Kleine deswegen komplett austickt.«
»Du hast einfach nicht in meinen Spind in den Umkleideräumen einzubrechen. Du hast noch nicht mal was in den Umkleideräumen zu suchen.«
»Ally, bitte!« Genervt schob Ben die Hand seiner Schwester zur Seite.
»Nichts da, du bleibst hier. Unter Fingernägeln sind die meisten Bakterien, das wird sich sonst noch mächtig entzünden.«
»Ich bin mir sicher, dass diese Art von Behandlung gegen die Genfer Menschenrechtskonventionen verstößt.«
»Das ist mir egal. Ich habe dich für den Zeitraum der Behandlung entmündigt.«
»Trotzdem gelten für uns arme Entmündigte immer noch die gleichen Menschenrechte. «
»Jetzt mal im Ernst. Was hast du dir dabei nur gedacht?«
»Sie hat gesagt, die Sonnenbrille drückt und sie schaut immer wieder in die Sonne.«
»Dann lass die Jalousien runter! Du hast mir letztens noch Vorträge über Angst vor Strafe gehalten und verbindest ihr dann die Augen.«
»Hat sie gesagt, was sie so in Panik versetzt hat?«
»Wie immer kein Wort.«
Endlich ließ Allison seinen Kopf los und legte den Mulltupfer zur Seite.
»Mach die Augen zu und halt die Luft an. Ich sprüh dir da nur so eine Art Sprühverband drauf, damit die Wunden sauber bleiben.«
»Das hast du schon immer gerne gemacht, nicht wahr?«, fragte Ben, als sie fertig war.
»Was?«
»Uns verarztet.«
»Oh man, du hast dich mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2016
ISBN: 978-3-7396-8702-5
Alle Rechte vorbehalten