Hinter dem Vorhang
von
Bettina Wohlert
Das Gericht „Asleep! O sleep a little while“ auf Seite 62 ist von John Keats (1795 - 1821), ohne Titel, aus “Extracts from an Opera”, in “Life, Letters, and Literary Remains of John Keats”, herausgegeben von Richard Monckton Milnes, London, 1848
Copyright © by Bettina Wohlert 2015
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Umschlaggestaltung Bonnyb Bendix
Hinter dem Vorhang
von
Bettina Wohlert
Inhalt:
»Das Leben geht weiter« und »Zeit heilt alle Wunden« sagt man, aber Nick zweifelt daran. Er kann diese wohlmeinenden Sprüche der anderen nicht mehr hören. Er kommt einfach nicht darüber hinweg und seine Schuldgefühle fressen ihn auf. Aber er hat sich vorgenommen, mit den Heimlichkeiten Schluss zu machen und fährt nach Salzburg. Dort will er seine Fehler eingestehen und sich Martinas Familie und vor allem Frank stellen. Lügen haben kurze Beine, lernt er, und darüber hinaus, wie das mit der Vergebung funktioniert. Auch sich selber gegenüber.
Der zweite Teil von Der Geruch von Licht, ein Roman über Verlust und Vertrauen, und das Geheimnis des Lebens – Liebe.
Bettina Wohlert, Jahrgang 1965, lebt mit ihren beiden Söhnen in Berlin. Hauptberuflich arbeitet sie als Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte. Viele Jahre schon schreibt sie Kurzgeschichten und kleine Theaterstücke, die in Gottesdiensten für kirchenferne Besucher aufgeführt worden sind, sowie Krippenspiele der moderneren Art. Ihr erster Roman „Das Sonnenmal“ erschien 2013 und wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.
Bisher erschienen:
Das Sonnenmal - 2013
Fünf-Wort-Geschichten – 2014
Der Geruch von Licht – 2015
eine Kurzgeschichte in der Anthologie: »Kurze Geschichten für zwischendurch«, 2015
Hinter dem Vorhang – 2015
Alle Bücher als eBooks auf Amazon und als Taschenbücher im Online-Shop https://supr.com/online-shop-bettina-wohlert/buecher/das-sonnenmal-taschenbuch/
So eine Art Vorwort
Zum besseren Verständnis vorweg:
Da einige Personen in diesem Buch gehörlos sind, machen sie sich durch Gebärden verständlich. Sie sind in der wörtlichen Rede mit einfachen Anführungszeichen › ‹ gekennzeichnet, um sie von dem laut gesprochenen Wort » « unterscheiden zu können.
Ich habe diese Gebärden in gedrucktem Wort in korrekter Grammatik geschrieben, um das Lesen leichter zu machen.
DGS – Deutsche Gebärdensprache – kennt konjugierte Verben, Artikel und ausformulierte Sätze nicht. Ist etwas z.B. gestern geschehen, gibt die erste Gebärde – ein Winken über die Schulter – an, dass vergangen ist, was folgend mitgeteilt wird.
Der Satz »Ich bin gestern Rad gefahren« wäre also: ›vergangen‹ ›ich‹ ›Fahrrad‹. (Wie viel Spaß dieser Ausflug gemacht hat, würde man an dem Gesichtsausdruck des Erzählenden sehen, freudestrahlend oder genervt, je nachdem).
Gehörlose verstricken sich üblicherweise nicht in langen Sätzen mit kompliziertem Aufbau, helfen ihrem Gegenüber aber durchaus mit synchronen Lippenbewegungen zu den Wörtern, die sie meinen, auf die Sprünge. Je eingespielter ein Team ist, umso weniger Gebärden sind nötig, damit man sich versteht. Weshalb sie gerne auf Gebärdendolmetscher zurückgreifen, die sie gut kennen.
Die Sprache ihrer hörenden Umgebung ist für Gehörlose wie die erste Fremdsprache, die sie mühsam lernen müssen.
Nick Cameron ließ den Wagen vor der Scheune von Frank Willes Bauernhof in Grödig bei Salzburg ausrollen. Mit eckigen Bewegungen stieg er aus. Schon im Flugzeug hatte er sich gefragt, ob seine Schwägerin Melissa nicht doch recht gehabt hatte. War er wirklich schon soweit? Wie sollte er damit umgehen, wenn Frank Wille und die anderen ihn tatsächlich verurteilten? Coulter von der Mordkommission und sein Handlanger Dr. Sangster hatten das ja auch völlig skrupellos getan. Er hatte immer noch das Gesicht seines Bruders Ethan vor Augen, der ihn, noch bevor er in Linton losgefahren war, vor dem Haus auf dem Vorplatz abgefangen und ihm auf den Kopf zugesagt hatte, dass er masochistisch veranlagt sei. Es war Ethan nicht klarzumachen gewesen, dass er der Meinung war, es sei das Mindeste, was er noch tun könnte. Frank Wille war vor Wochen wutschnaubend in Nicks Büro von Films & Movies aufgetaucht. Er musste sich dem Zorn dieses Mannes stellen, ansonsten würde er für den Rest seines Lebens das Gefühl nicht mehr loswerden, ein elendiger Feigling zu sein.
Nick holte tief Luft und hoffte, dass sich sein Herzrasen legen würde, bis er Frank auf dem Hof gefunden hatte. Ein Bauer würde tagsüber kaum im Haus zu finden sein und daher begann Nick seine Suche bei den Ställen. Als er aus dem Pferdestall in den Hühnerhof trat, sah er im Obstgarten Martinas Söhne Christopher und Robin schreiend hintereinander herjagen. Die beiden Jungs, die er ebenso innig in sein Herz geschlossen hatte, wie Martina Bienert, die Frau seiner Träume, in die er sich vor langer Zeit Hals über Kopf auf den ersten Blick verliebt hatte. Und die wegen ihm ihre Jungs als Halbwaisen zurückgelassen hatte.
Das Verhältnis zwischen Martina und Frank war wohl enger gewesen, als er gedacht hatte, wenn die Jungs bei Frank waren anstatt bei ihrem Vater, oder er hatte doch recht gehabt mit seiner Vermutung, dass Frank Robins Vater war. Dann wäre es nur zu verständlich, dass die beiden hier oben in Grödig waren. Wer würde es wagen, die beiden Brüder, die gerade erst ihre Mutter verloren hatten, zu trennen?
Ein »Grüß Gott« ließ ihn herumfahren. Frank stand in der Stalltür, den Arm gegen die blendende Sonne erhoben.
»Hallo.« Nick hob grüßend die Hand, ließ sie aber auf halben Weg angesichts von Franks finsterem Blick wieder sinken.
»Du!« Frank verschlug es sichtlich die Sprache. »Was gibt’s?«, fragte er eisig, als er sich wieder gefangen hatte.
»Es tut mir leid… Ich wollte nicht stören… Aber… weil du in London warst… dachte ich…«
»Ja?«
»Also, was ich sagen wollte …« Hilflos fuhr sich Nick durch die Haare. Er wusste nicht mehr, warum er je der Meinung gewesen war, es könnte irgendwie gut oder hilfreich sein, mit Frank zu sprechen.
»Was wolltest du sagen?« Frank war überhaupt nicht bereit, Nick auch nur einen Schritt entgegen zu kommen. Er platzte fast vor Wut. Dieser Mann hatte ihn schon immer aufgeregt und er hatte noch nie verstehen können, warum Martina so viel Zeit mit ihm verbracht hatte.
»Kommst du her, weil Martina auf deine Anrufe auf dem Handy nicht mehr reagiert?« Frank merkte durchaus, dass er schrie, aber es war ihm egal.
»Siebenunddreißig Anrufe auf der Mailbox! Ich hab gedacht, ich spinne. Hast du gemeint, dass ihr das noch hilft? Ich habe diese verdammte Sim-Karte weggeworfen, dass du es nur weißt!«
Nicks Knie wurden weich. Er hatte tatsächlich auf Martinas Handy angerufen. Das erste Mal in der Nacht nach der Show, in der Kate Markham, seine damalige Freundin und langjährige Lebensgefährtin, von ihrer Schwangerschaft gesprochen hatte, als er in Martinas Hotelzimmer in London gesessen und sie verzweifelt gesucht hatte, bis er ihr Handy in ihrer Handtasche auf dem Nachttisch gefunden hatte. Aber später, als es dann schon nicht mehr geladen war, und Frank es von Inspektor Coulter wohl mit all den anderen Sachen Martinas erhalten hatte, hatte er trotzdem immer wieder angerufen und der Mailbox zugehört. Immer wieder hatte er Martinas Ansage gelauscht, weil dies die einzige Möglichkeit gewesen war, sie überhaupt noch einmal zu hören. Er hatte es einfach nicht seinlassen können, obwohl er gewusst hatte, dass es ihm alles andere als gut tat. Nick sah schuldbewusst auf den Boden.
»Ich seh schon, so durchdacht wie alles, was du bisher gesagt oder getan hast, wie? Aber ich sag dir was: Ich will überhaupt nichts hören! Was du dir da geleistet hast vor einigen Wochen war so ziemlich das Letzte!« Frank schrie immer lauter und die Hühner begannen, verängstigt zu gackern.
»Ja, ich war in London. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht da warst. Ich hätte dich am liebsten erwürgt. Und wenn du jetzt nicht sofort vom Hof kommst, werde ich es vielleicht sogar noch nachholen.«
Nick wich langsam zurück. Abwehrend hob er eine Hand.
»Verdammt, niemand bereut mehr als ich, was passiert ist. Es tut mir leid. Ich wollte doch nur…«
»Verschwinde!« Frank machte langsam einige Schritte auf Nick zu.
»Okay, okay, ich geh ja schon.« Nick drehte sich um. Sein Blick fiel auf die beiden Jungs, die interessiert herübersahen. Als sie ihn erkannten, winkten sie ihm aufgeregt zu. Er hob den Arm und grüßte zurück.
»Lass die Jungs in Ruhe!« Franks Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn.
»Fahr rüber zu Hanna ins Rabengut und hol dir deinen gottverdammten Kram im Häusl ab. Ich habe ihr zwar gesagt, sie soll ihn wegwerfen, aber sie hat ihn aussortiert. Sie muss wohl geahnt haben, dass du kommst. Und dann sieh zu, dass du Land gewinnst. Und lass dir nie wieder einfallen, jemals wieder herzukommen.« Schwer atmend blieb Frank in der Hofeinfahrt stehen und sah dem roten BWM-Cabrio nach, das ziemlich rasch beschleunigte.
»Du Mistkerl, du verdammtes Schwein!« Am liebsten hätte er noch ein paar Steine hinterher geworfen, aber das kam ihm dann doch zu kindisch vor.
~~~
Es hatte ihn eine ganze Menge Kraft gekostet, zum Rabengut in Liefering bei Salzburg hinaufzufahren. Lange hatte Nick unten an der Hauptstraße im Auto gesessen und sich bemüht, seinen Herzschlag etwas zu verlangsamen, indem er konzentriert und ruhig durchatmete. Nun, als er seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem alten großen Bauernhaus abstellte, waren seine Hände trotzdem schon wieder schweißnass. Er hoffe nur inständig, dass Martinas Cousine Hanna Riedinger oder ihr Mann Klaus nicht auch einen solchen Aufstand machten wie Frank, sobald sie ihn sahen. Er hatte genug damit zu tun, sich soweit zusammenzureißen, dass ihn seine Gefühle nicht ganz aus der Bahn warfen.
Zögernd ging er zu dem kleinen Gartentor. Nichts hatte sich hier verändert. Der große Gartentisch für die Mahlzeiten stand immer noch unter dem Küchenbalkon und sah aus, als ob er vor kurzem noch benutzt worden war. Die Stühle waren zurückgeschoben, als ob alle nur für einen Moment verschwunden waren. Das winzige Philharmonikerhäusl, in dem Martina mit den Jungs gewohnt hatte, lag still und dunkel. Die Tür war immer noch nicht abgeschlossen, stellte Nick fest, als er probehalber die Klinke herunterdrückte. Leise trat er ein. Das Haus roch nach Stille, Staub und Einsamkeit. Früher hatte es nach frischgebackenem Brot, nach Holz und Martinas Kaffee, nach Kindergeplapper und Musik, nach Sonne und Honig gerochen, nun hatte es einen leicht muffigen Geruch angenommen. Aber nachdem es ja auch schon einige Zeit leerstand, war das nicht verwunderlich, fand Nick. Langsam ging er die zwei Stufen in das Wohnzimmer hinab und ließ seine Finger über die Bücher im Regal gleiten. Selbst nach sechs Wochen hatten Hanna und Klaus es offensichtlich noch nicht über sich gebracht, das Haus auszuräumen. Nick schaute in das Zimmer der Jungen. Selten, dass es so aufgeräumt und ordentlich war, aber sie waren bei Frank und hatten ihre Sachen vermutlich alle mitgenommen.
Er trat an das Fenster und sah auf die kleine Gasse hinaus, die direkt davor entlang führte. Das kleine Häuschen gegenüber war immer noch unbewohnt, das Zu-vermieten-Schild im Fenster nur etwas verblasster. So viele Dinge hatten sich in seinem Leben verändert, nichts war mehr so, wie noch vor ein paar Wochen, aber woanders hatte sich nichts verändert.
Auf dem Tisch stand ein offener Karton. Als Nick nähertrat, sah er das Erdbeerservice darin, das er Martina letztes Jahr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte. Hanna hatte offenbar doch etwas zusammengepackt, genau wie Frank gesagt hatte, und es waren ausschließlich die Sachen, die er Martina geschenkt hatte. Als ob sie sie ihm wiedergeben wollte. Er nahm eine der hauchdünnen Porzellantassen in die Hand und drehte sie hin und her. Er sah wieder Martinas sommersprossiges Gesicht vor sich, wie sie ihm erklärt hatte, dass es zwar wunderschön war, aber sinnlos teuer.
In Gedanken versunken stieg er langsam mit der Tasse in der Hand die Treppe zur Küche hinauf. Neben der Spüle stand eine Kaffeetasse und ein Teller mit Krümeln. Nick lächelte wehmütig. Sie war wie immer in Eile gewesen und hatte keine Zeit gehabt, das Frühstücksgeschirr zu spülen, bevor sie zum Flughafen aufgebrochen war, dachte er. Das in der Küche hinterlassene Chaos war so typisch für sie. Er konnte verstehen, dass Hanna es noch nicht über sich gebracht hatte, aufzuräumen. Dieser Raum atmete Martina noch immer so stark, dass er wusste, er war endlich dort angekommen, wo er sein wollte, anderseits es aber kaum noch aushielt vor Sehnsucht nach ihr und jederzeit erwartete, ihr lautes Lachen vom Garten heraufschallen zu hören. Er konnte sogar einen schwachen Hauch ihres Parfums noch riechen. Langsam ging er die Treppe wieder hinunter. Im Garten wurden die Schatten länger und die Abendsonne schien durch die Fenster von Martinas Werkstatt bis in den Garten.
Wie oft hatte er oben in Hannas vermietetem Ferienapartment am Fenster gestanden und durch dieses Sammelsurium von Fensterrahmen in die Werkstatt und den kleinen Laden gesehen. Hatte zugesehen, wie Martina den Kindern und Jugendlichen half, deren kreative Ideen umzusetzen, wie sie aus Zigarrenkistchen Banjos und Mini-Gitarren baute oder mit einer Gruppe aus alten Umschlägen und Altpapier Sammelmappen oder Scrapbooks herstellte.
Langsam öffnete er die Tür und trat in die Werkstatt. Er hatte diese Theke geliebt, ihren Verkaufstresen, der über die ganze Länge des Anbaus ging und deren Platte sie wie in dem Altstadtcafé aus gepresstem Kaffeesatz gemacht hatte. Was genau sie noch dazugemischt hatte, hatte sie ihm nie verraten, aber er hatte sie viele Abende in ihrer Werkstatt gesehen, wie sie die samtige Oberfläche wieder und wieder geschliffen und poliert hatte, damit sie glatt wurde, aber dennoch die charakteristischen Sprünge des Kaffeesatzes behielt. Die ganze Werkstatt hatte wochenlang intensiv nach Kaffee gerochen und ein schwacher Duft hing immer noch in der Luft.
Die tiefstehende Sonne schien genau durch das eine Ladenfenster auf der Straßenseite und durchflutete den gesamten Raum mit goldenem Licht. Nick ließ seinen Blick über all die kleinen Schätzchen wandern, über die er anfangs zwar gelächelt hatte, die ihn aber mehr und mehr in den Bann gezogen hatten, je mehr er Martinas Begeisterung dafür erkannt hatte.
»Des einen Abfall ist des anderen Schatz«, murmelte er leise vor sich hin. Vor sich im Schatten sah er eine hastige Bewegung und zuckte erschrocken zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass er nicht alleine im Laden war. Er blinzelte. Gegen das Licht konnte er nur eine dunkle Silhouette erkennen.
»Oh, Verzeihung, ich wollte hier nicht so hereinplatzen…«
Der Schatten erstarrte in der Bewegung.
»Was machst du denn hier?«
Nick taumelte gegen die Werkbank, weil seine Knie unvermittelt unter ihm nachgaben und die Tasse fiel leise klirrend auf den Boden. Hin und her gerissen zwischen trockenem Schluchzen und hysterischem Lachen schüttelte Nick den Kopf. Er versuchte verzweifelt Luft zu holen. Sein Gehirn spielte ihm einen Streich. Er merkte, dass er kurz davor stand, ohnmächtig zu werden.
Dass sich die Frau wie Martina anhörte, konnte Zufall sein, vielleicht war sie auch nur eine Familienangehörige, die genau wie er zwischen all den Sachen von Martina stand, um Erinnerungen nachzuhängen. Eine ihrer vielen Cousinen möglicherweise, halt nein, ihre Schwester, deren Stimme nur sehr ähnlich war! Natürlich. Martina hatte ihm erzählt, wie sie mit ihrer Schwester Musikstunden geschwänzt und sich darüber geärgert hatte, dass diese dann doch gepetzt hatte.
»Große Schwestern sind die Pest«, hatte sie kichernd gesagt, »aber kleine Schwestern sind einfach der Horror. Ich muss das wissen, ich bin eine kleine Schwester.«
Nick war erleichtert. Die Welt stand wieder still, sein logisches Denken funktionierte, sein Herzschlag beruhigte sich langsam und er konnte auch wieder atmen. Hastig bückte er sich und begann, die Scherben aufzusammeln. Er sah mit einem raschen Blick auf, bevor er vorsichtig weitere Splitter aufhob. Endlich fand er auch seine Stimme wieder.
»Es tut mir leid, äh…wirklich, ich hätte es mir denken können. Sie hat mir ja von ihrer Schwester erzählt.« Er stand mit den Scherben in der Hand auf.
»Meine Schwester?« Der Schatten stand immer noch unbeweglich, hörte sich aber irritiert an. Nick blinzelte gegen das Licht. Mehr als einen dunklen Umriss konnte er immer noch nicht ausmachen.
»Entschuldigung, ich kann es immer noch nicht fassen. Es ist echt ein Schock für mich, allein diese Ähnlichkeit in der Stimme.«
»Du kanntest meine Schwester doch gar nicht.«
»Ich … oh, Entschuldigung. Ich bin Nick. Oder Tommy, je nachdem.«
»Ich weiß doch, wer du bist.«
»Hat sie von mir erzählt?« Er wusste sonst nicht, wie er erklären sollte, warum ausgerechnet er, Nick Cameron, hier im Laden stand. Immer noch versuchte er, etwas gegen das Licht zu erkennen.
»Wer? Meine Schwester? Meine Schwester ist tot.«
»Ich weiß … es tut mir furchtbar leid, verstehen Sie. Es hat mich auch sehr tief getroffen… Sie können mich jetzt hassen und das ist Ihr gutes Recht, weil ich schuld daran bin...« Nick schluckte krampfhaft. Er fühlte sich schrecklich. Er hatte nur in der Werkstatt stehen und sehen wollen, ob Martina dort genauso spürbar war, wie oben in der Küche im Häusl. Stattdessen war er ihrer Schwester in die Arme gelaufen.
»Ich werde jetzt besser gehen und diese Scherben wegwerfen, bevor sich jemand daran verletzen kann…Ich wollte nicht stören.« Betreten drehte Nick sich um. Er wusste nicht, was er sich vorgestellt hatte, als er den Flug gebucht hatte. Vielleicht, dass Frank oder Hanna ihm ein Grab zeigten oder einen Erinnerungsstein und dass er mit ihnen sprechen konnte, darüber wie Martina gewesen war, wie sehr er sie geliebt hatte. Aber Frank hatte ihn auf das Übelste beschimpft, was er ihm kaum verdenken konnte, und diese Frau vor ihm gehörte zwar offensichtlich zur Familie, hatte sich aber bisher weder einen Schritt gerührt, noch wusste sie kaum, dass er in dem Leben ihrer Schwester existiert hatte.
»Meine Schwester ist vor acht Jahren gestorben«, sagte sie leise. »Und daran bist bestimmt nicht du schuld.«
Nick fuhr herum. »Wie war das? Wann?«
»Vor acht Jahren. Was ist denn bloß los mit dir? Was soll dieser Auftritt hier?« Endlich trat sie einen Schritt zur Seite und Nick sah entsetzt, wie sich der Schein der Abendsonne auf ihr Gesicht legte. Er sah die Sommersprossen, den geschwungenen Mund, die irritiert zusammengezogenen Augenbrauen über den bernsteinfarbenen Augen, die roten Locken, die in der Sonne wie ein Heiligenschein aufflammten. Um Nick drehte sich alles. Einerseits war er wie benommen und alles schien völlig unwirklich zu sein, andererseits waren die Farben so strahlend bunt und so klar wie nie zuvor, während die Geräusche von der kleinen Straße vor der Ladentür um ihn herum wellenartig lauter und leiser wurden.
Nick ballte seine Hände entsetzt zur Faust, riss aber die Linke mit einem Aufschrei hoch. Blut tropfte zwischen den Fingern hervor. Der Schmerz holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Oh, Shit«, murmelte er, als er auf die Scherbe sah, die in seine Hand geschnitten hatte.
»Besser du tust die Scherben in den Abfalleimer.« Sie zeigte in die Ecke unter dem Tresen. Erstarrt stand Nick mitten in der Werkstatt, der Schnitt tat weh, aber der Schmerz hielt ihn irgendwie aufrecht. Wie in Trance hob er den Kopf und sah zu ihr hinüber. Martina. Direkt vor ihm.
»Was ist denn bloß los mit dir? Du siehst furchtbar aus.« Sie kam langsam einen Schritt näher. Mit einem Ruck drehte Nick sich um und stürzte durch den Garten hinüber ins Badezimmer des Philharmonikerhäusls.
~~~
Würgend erbrach er sich. Nachdem die Übelkeit endlich nachlassen hatte, sank Nick auf den Badewannenrand und ließ kaltes Wasser über seine zerschnittene Hand laufen. Mit der nassen Hand fuhr er sich durch das Gesicht. Jetzt ist es soweit. Nun konnte er zu Dr. Anderson zurück in die geschlossene Abteilung der Klinik in Cambridge. Endlich hatte sie einen Grund, ihn dazubehalten. Halluzinationen waren erst der Anfang. Und er hatte sogar minutenlang in der Werkstatt mit einer gesprochen. Es hatte so real gewirkt, dass er völlig erschüttert war. Er hatte eine dunkle Ahnung, wie es danach weiterging, immerhin hatte er drei Wochen Anschauungsunterricht gehabt. Erst kamen die Wahnvorstellungen, dann die Ängste und Panikattacken und schließlich die Tabletten zum Ruhigstellen, mit denen man nur noch dahinvegetierte. Und er hatte gedacht, dass es nun nach Wochen langsam besser wurde und er nicht mehr am Boden lag. Er sollte zusehen, dass er so schnell wie möglich nach Hause kam, bevor er noch in der Öffentlichkeit Halluzinationen bekam.
Stöhnend erhob er sich und trat in den engen Flur. Alles um ihn herum in diesem kleinen Haus atmete Martina. Es war kein Wunder, dass ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte und ihm seine sehnlichste Wunschvorstellung vorgegaukelt hatte. Langsam ging er zur Haustür.
»Hast du was Falsches gegessen? Soll ich dir einen Tee machen?«
Auf der untersten Stufe der Treppe saß sein persönliches Gespenst, seine private Halluzination und sah ihn aufmerksam an.
Nick schüttelte entsetzt den Kopf. Er hatte nichts Falsches gegessen. Er hatte fast gar nichts gegessen. Schon weil ihm immer bei Stress oder Ärger sein Magen Probleme gemacht hatte, weil sein Magen revoltierte, sobald etwas schieflief.
»Ich glaube das nicht.« Abwehrend hob er die Hände und wich zurück. Dabei sah er, dass seine Hand immer noch blutete.
»Ich kann dir drüben in der Werkstatt ein Pflaster draufmachen.«
»Du bist doch tot…« Er blieb stehen, als er mit dem Rücken gegen die Haustür stieß. »Du bist doch von der Brücke ins Wasser… Du bist ertrunken.« Nicks Gedanken überschlugen sich. Sein Blick wanderte die Stufen vor ihm entlang, hinauf und hinunter und wieder hinauf. Kurz vor seiner persönlichen Fata Morgana blieb sein Blick wie festgenagelt auf einer Stufe hängen.
»Aber nein …« Langsam hatte er den Eindruck, einer Lösung näher zu kommen. »Sie haben die Leiche nie gefunden, nicht wahr?«, fragte er schleppend, dann zog er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sein Magen hatte sich zu einer harten Kugel geballt, sein Herz raste. Es gab nur eine Lösung und er wollte es eigentlich nicht hören, wollte gar nichts wissen. Wollte einfach nicht hören, dass alles nur ein perfider Plan gewesen war. Und doch fragte er.
»Erklär es mir. Bitte sag, dass es eine ganz normale Erklärung dafür gibt. Sag mir, warum ich dich für tot halten sollte.« Seine Knie gaben nach und er rutschte kraftlos an der Haustür hinunter, während er Martina anstarrte, die völlig verwirrt aussah.
»Sag mir, warum du mich so bestraft hast. Das, glaube ich, war das Schlimmste, was du mir antun konntest.«
»Wie kommst du auf die Idee, ich wäre tot oder wollte, dass du das denkst? Du redest ziemlich wirres Zeug grad. Du bist das doch gewesen, der nicht schnell genug aus dem Hotelzimmer ins Studio für die Show kommen konnte.« Martina zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Du wolltest mir noch irgendwas erzählen und inzwischen weiß ich auch, was so wichtig war. Kate hat es ja in der Show verraten. Die Überraschung war übrigens perfekt gespielt, alle Achtung, beinahe hätte ich es geglaubt. Aber du hattest ja schon angekündigt, dass du mir etwas Wichtiges sagen wolltest. Und als du dich dann nie wieder gemeldet hast, war das deutlich. Das war ziemlich deutlich. Weshalb ich auch nicht verstehe, warum du jetzt hier bist.«
Nick legte sein Gesicht in die Hände.
»Gott, du warst nicht da, als ich gekommen bin, du warst die ganze Nacht nicht da. Du bist nie wiedergekommen. Ich war bei der Polizei. Zwei Leute haben gesehen, wie du von der Brücke gesprungen bist. Mein Gott, die haben dein Tuch aus der Themse gezogen. Was sollten wir denken? Du hast diese Zettel geschrieben.« Nick schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du hast den Spiegel mit Lippenstift vollgeschrieben.«
»Welchen Spiegel?«
»Oh, nein, bitte, tu das nicht. Streite es bitte nicht ab. Ich hab es doch selber gesehen. Es war auf Deutsch, kein anderer hätte das schreiben können. Du musst das gewesen sein. Ich sollte denken, dass du dich umgebracht hast.«
»Ich habe gar keinen Lippenstift dabeigehabt.« Martina schüttelte abwehrend den Kopf. »Und warum hätte ich dich bestrafen sollen? Es ist ja wohl dein gutes Recht, mit Kate ein Baby haben zu wollen. Ich wusste doch immer, dass du eine Freundin hast.« Sie breitete bedauernd die Hände aus. »Du wirst Vater, ihr habt geheiratet, es ehrt dich, dass du es mir selber sagen wolltest. Aber du bist nicht mehr gekommen an dem Abend. Dafür ist diese Sophie Sonst-wie gekommen.«
» Kates Sophie? Sophie Wilkins?«
»Ja, diese Sophie. Sie im Hotel aufgetaucht und hat ein ziemliches Drama gemacht. Irgendein Streit mit ihrem Freund und sie wollte jemanden zum Reden. Sie hat diese Zettel geschrieben. Wir haben die Show gesehen und sie hat die ganze Zeit Whiskey getrunken. Mir ging’s überhaupt nicht gut. Mir war schlecht. Ich wollte nur noch an die frische Luft. Zwei Wochen später bin ich dann im Krankenhaus langsam aus einem furchtbaren Fiebertraum wieder aufgewacht.«
»Krankenhaus«, stöhnte Nick heiser. Wollte Martina sich allen Ernstes mit solch einer billigen Ausrede aus dieser Nummer herausreden? Konnte sie sich nicht denken, dass er sie gesucht hatte?
»Das ist nicht wahr. Ich hab alle Krankenhäuser angerufen, du kannst nicht in einem Krankenhaus gewesen sein. Die Polizei hat auch noch einmal alle überprüft.«
»Ich war fast fünf Wochen dort. Der Bruch ist relativ schnell verheilt, nur die Lungenentzündung haben sie einfach nicht in den Griff bekommen.«
»Was für ein Bruch? Und Lungenentzündung?« Nick schüttelte nur verständnislos den Kopf.
»Mich muss auf dem Weg zum Krankenhaus ein Auto angefahren haben. Ich weiß nichts mehr. Aber die Polizei war da und hat gefragt und gefragt und immer wieder Sophie gesucht. Und die Lungenentzündung…« Martina senkte betreten den Blick. »Karl war zwar der Meinung, ich hätte die von Januar schon über Monate immer wieder verschleppt, aber erst in der zweiten Woche in London sind sie dann darauf gekommen, dass sich ein Fremdkörper in der Lunge befinden musste. Ein Stück Seetang. Vom Strand damals. Eingeatmet bei dem Anfall in der Bucht.« Martina flüsterte nur noch. »Auf den Röntgenbildern war es nicht zu sehen, weil es organisch war. Sie haben Wochen gebraucht, bis sie mich wieder auf den Beinen hatten und mich nach Hause fliegen ließen.«
»Eine verschleppte Lungenentzündung?«, fragte Nick ungläubig. Er war froh, dass er hier in der Ecke saß. Seine Beine machten immer noch nicht den Anschein, als ob sie ihn tragen würde und er zitterte inzwischen am ganzen Körper.
»Vier«, sagte Martina leise. » Vermutlich Neujahr im Nachtcafé auf Iris’ Balkon geholt und dann nie wirklich weggegangen. Dazu das kalte Wasser in Newquay. Du hast mal wieder recht gehabt, wie immer.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sophie muss mich ins Krankenhaus gebracht haben.«
»Sophie soll gewusst haben, dass du im Krankenhaus warst?« Nicks Magenschmerzen verstärkten sich. »Das hört sich alles so abwegig an. Wie soll ich dir das glauben? Warum sollte Sophie ausgerechnet zu dir ins Hotel kommen? Sie kennt dich ja noch nicht mal, zumindest nicht richtig.«
Er war völlig erschlagen. Er hasste sich dafür, dass er ihr nicht uneingeschränkt glauben konnte. Für ihn klang alles, was Martina ihm gerade wie unbeteiligt erzählt hatte, weit hergeholt. Die Polizei hatte in den Krankenhäusern nachgefragt. Sie hätte sie ausfindig gemacht, wenn sie dort gewesen wäre. Sophie hätte ihm gesagt, wo Martina zu finden gewesen wäre.
Nick kam nur zu einem Schluss, dass Martina versuchte sich herauszureden, eine unwahrscheinliche Erklärung nach der anderen erfand, damit sie nicht zugeben musste, dass sie ihm etwas hatte heimzahlen wollen. Vielleicht hatte sie ihn nur erschrecken wollen, ihn für sein ewiges Zögern bestrafen wollen. Aber das war kein lustiges An-der-Nase-Herumführen mehr gewesen, allein diese Schrift auf dem Spiegel hatte ihn schockiert. So etwas schrieb man nicht im Spaß. Diese Worte hatten ihn wochenlang fix und fertig gemacht. Nick stand mühsam auf.
»Das war das Niederträchtigste, was du mir antun konntest!«, stieß er kraftlos hervor. Seine Stimme zitterte, aber das konnte er nicht ändern.
»Und dann willst du auch noch alles feige Sophie in die Schuhe schieben…« Nick brach ab. Ihm war abwechselnd heiß und kalt und sein Magen war kurz davor, erneut zu revoltieren. Er musste dringend aus diesem Haus raus. Er musste unbedingt dort weg. Weg von Martina. Was ein Witz war, dachte er. Vor noch nicht einmal zwölf Stunden hätte er gemordet für die Chance, sie noch einmal lebend zu sehen und nun stand er vor ihr und war nur völlig verwirrt, komplett durcheinander und überhaupt nicht mehr fähig, klar zu denken.
Einerseits wollte er ihr glauben, andererseits passte nichts zusammen von dem, was sie erzählt hatte. Er wollte nicht glauben, dass sie log, dass sie ihn anschwindelte, um sich aus einer Geschichte, die offenbar komplett aus dem Ruder gelaufen war, noch herauszuwinden, und doch fand er einfach keine andere Erklärung.
Er ging wie in Trance durch den Garten, am Auto vorbei und hinunter zum kleinen Bach. Er war im Moment nicht fähig zu fahren. Er musste sich bewegen. Bevor er vor Wut und Frust irgendwo gegen fuhr, einfach weil ihm danach war, etwas kaputt zu machen. Wie wütend musste Martina gewesen sein, um solch einen Satz auf den Spiegel zu schreiben, wie enttäuscht und verärgert, um all diese Zettel zu schreiben. Und wie verletzt, um mich so verletzen zu wollen, dachte er bekümmert. Die beiden Poster mussten sie auf die Idee gebracht haben. Wenn er allein daran zurückdachte, was sie ihm vor den beiden Bildern in der Galerie über unerwiderte Liebe und Herzeleid erzählt hatte, dann musste sie nach Kates Offenbarung in der Show nur einen Blick auf die Bilder werfen, um solch eine Idee zu bekommen. Und wie schnell Martina zu einer Kurzschlusshandlung austicken konnte, die sich zu einem unkontrollierten Wutanfall steigerte, wusste er auch.
Nick ging schneller. Wenn er daran dachte, wie sehr er sich die letzten Wochen gequält hatte und dabei sollte sie nur einen Steinwurf weit weg gewesen sein? In einem Krankenhaus, obwohl er dort zuerst nachgefragt hatte, die Polizei ebenfalls alle überprüft hatte? Es musste ihr doch klar sein, dass er sie gesucht hatte. Wie konnte sie nur annehmen, dass er diese Lüge nicht sofort durchschauen würde?
~~~
Eine Stunde war er ziellos durch die Stadt gelaufen, durch Straßen, die er nicht kannte, um dann doch immer wieder überraschend an Stellen herauszukommen, an denen Martina mit ihm gewesen war. Immer noch war er zwar völlig aufgewühlt, aber er war auch erschöpft. Inzwischen war er ruhig genug, dass er sich endlich auf eine Bank setzen konnte. Und so saß er auf dem Kapuzinerberg, wieder einmal auf der Bank weitab von den üblichen Touristenströmen, dort wohin ihn Martina an ihrem ersten Ausflug durch Salzburg mitgenommen hatte. Dort, wo sie ihr Eis mit der Gabel gegessen hatte und sein Denken damals nur damit beschäftigt gewesen war, wie er dieses Mädchen davon überzeugen konnte, dass er der Mann ihres Lebens war. Es war inzwischen schon fast dunkel und vom Verkehrslärm des Tages war nur noch ein leises Summen übriggeblieben. Nick schob seine Hände in die Jackentasche und stieß mit den Fingern an das kleine Kästchen, dass er am Morgen dort hineingesteckt hatte. Langsam zog er es heraus und öffnete es. In der Dämmerung war von dem Funkeln des Rubins kaum noch etwas zu erahnen, aber er wusste, dass der Stein sonst in allen Rottönen funkelte, genau wie Martinas Haare, wenn das Licht auf ihnen lag. Der Ehering seiner Großmutter. Was er eigentlich mit dem Ring vorgehabt hatte, darüber war er sich nicht so im Klaren. Wenn Hanna oder Frank ihm ein Grab oder einen Erinnerungsstein gezeigt hätten, hätte er ihn vielleicht dazugestellt.
Trotz allem, was an diesem Tag geschehen war, war er sich nach wie vor sicher, dass es außer Martina nie wieder eine Frau in seinem Leben geben würde, der er diesen Ring schenken würde.
Wie hatte er nur so dumm und naiv sein können?
Liebe auf den ersten Blick. Nick schnaubte durch die Nase. Was für ein schwachsinniges Konstrukt eines offenbar ausgesprochen zynischen Schicksals. Fast immer erwischte es ja wohl nur einen von beiden. Und Martina war direkt genug gewesen, um ihm genau das klarzumachen, dass er der eine war und nicht sie. Dass nie mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein würde, dass sie sich lieber mit Frank herumstritt.
Er hatte sie viel zu lange durch seine rosarote Brille gesehen. Sie hatten sich oft genug gestritten, so dass er es eigentlich besser wissen musste. Aber dieses Mal war sie zu weit gegangen. Dieses Mal würde er sogar Schwierigkeiten haben, die Freundschaft aufrechtzuerhalten.
Er liebte sie noch immer, dagegen konnte er so schnell nichts tun. Und das war der Grund, warum sein Herz vor Enttäuschung über Martinas wahres feiges und hinterhältiges Ich schon wieder zerbrach. Weil sich sein naives Idealbild der von ihm geliebten Frau gerade in Nichts auflöste.
Er hatte sie in den letzten Wochen geradezu glorifiziert, sie fast zu einer Art Heiligen gemacht, obwohl er genau wusste, dass sie durchaus ihre Ecken und Kanten hatte. Aber dass sie derartig rachsüchtig sein konnte, dass sie zu solch einem Schlag ausgeholt hatte, das erschütterte ihn zutiefst.
Ethan hatte völlig recht gehabt. Wie hatte er nur jemals zulassen können, dass sie ihn derartig fertig machte? Gut, Ethan hatte Kate gemeint damals, aber seit vorhin passte es genauso gut auch auf Martina. Ob auch nur eine der beiden Frauen länger als eine Minute über ihr Handeln nachgedacht hätte, wenn der Morgen in der Badewanne erfolgreich verlaufen wäre? Ob sie überhaupt betroffen gewesen wären? Sicherlich hätte keine von ihnen auch nur annähernd ein solch erdrückendes Schuldbewusstsein gehabt, wie er. Von Kate wusste, dass sie in dieser Beziehung eiskalt sein konnte. Aber er war so unendlich enttäuscht von Martina. Er hatte sie nie im wahren Licht gesehen, schien es ihm. Vielleicht hätte er ihr irgendwann verzeihen können, wenn sie offen und ehrlich zugegeben hätte, dass sie ihn hatte bestrafen wollen, dass sie ihm hatte wehtun wollen. Aber sie hatte versucht, Sophie vorzuschieben. Sophie, die an diesem Abend gar nicht bei ihr gewesen sein konnte, weil sie wie immer ständig um Kate herumscharwenzelt war, bis diese sie entnervt weggeschickt hatte. Sophie, die jeden Tag mehr versuchte, wie Kate auszusehen und sogar diesen lasziven dunkelrot-verruchten Lippenstift trug, den Kate immer dann auflegte, wenn sie besonders sexy aussehen wollte. Wie an dem Abend der Show. Nick stockte. Endlich ließ sich der Gedanke greifen, der die ganze Zeit in seinem Hinterkopf herumgegeistert war. Dieser verdammte dunkelrote Lippenstift. Dieses Blutrot auf dem Spiegel. Die Farbe, die Martina nie tragen würde. Martina, die er erst zweimal mit einem zart beigen Lippenstift gesehen hatte.
Er riss das Telefon aus der Hosentasche und blätterte hektisch durch das Adressbuch.
»Ja?« Die Stimme hörte sich dünn und zögerlich an.
»Sophie? Ich bin’s.«
»Mr. Cameron.« Täuschte er sich, oder hörte er Resignation in der Stimme statt der üblichen aufgedrehten Betriebsamkeit, die Sophie sonst immer an den Tag legte?
»Sophie«, sagte Nick ohne Einleitung. »Erzähl mir von dem Abend bei der Comedy-Talkshow.«
»Mr. Cameron, ich… das ist so lange her… ich weiß gar nicht mehr…« Er nahm überrascht zur Kenntnis, dass sie verlegen herumstotterte.
»Erinnere dich, es ist wichtig!«, bat er.
»Mr. Cameron, es tut mir so leid… ich hätte das nicht tun dürfen…« Nick wurde heiß und kalt.
»Was… was hättest du nicht tun dürfen?« Er biss sich auf die Lippen vor Anspannung. »Wo bist du hingegangen, als Kate dich weggeschickt hat? Als sie gesagt hat, du hättest doch bestimmt noch wichtigere Dinge zu tun, als dort in den Fluren vor den Garderoben herumzuwuseln?« Nick merkte, dass er sie zu sehr unter Druck setzte und wiegelte etwas ab. »Wohin?«, fragte er etwas ruhiger.
Sophie berichtete ihm leise und anfänglich stockend davon, dass ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hätte und sie so sauer und verzweifelt darüber gewesen war. Da Kate sie genervt weggeschickt hatte, sie aber unbedingt die Show hatte sehen wollen, war sie bei Martina im Hotel aufgekreuzt, weil sie es in der Zeit einfach nicht nach Hause geschafft hätte. Außerdem mochte sie sie und hatte gehofft, dass diese ihr ein bisschen Trost spendete in ihrem Liebeskummer.
Nick hörte ihr stumm zu, als sie ihm davon erzählte, wie versteinert Martina zuerst gewesen war, als Kate von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte.
»Und dann, sie hat gar nicht mehr aufgehört, sich zu übergeben… und ich wusste nicht, ob das der Schreck war, wegen der Neuigkeit mit dem Baby, oder ob sie wirklich krank war. Auf alle Fälle musste sie zu einem Arzt. Sie war so heiß, hatte echt hohes Fieber und definitiv zu viel getrunken. Sie ist mehrmals minutenlang weggeblieben…«
Dieses minutenlange Wegbleiben kannte er. Es waren zwar immer nur einige Sekunden, die Außenstehenden aber wie Minuten vorkamen, wenn Martina nicht mehr reagierte. Dass diese Absencen Sophie Angst gemacht hatten, konnte er verstehen. Nick ließ Sophie einfach reden. Es hörte sich für ihn danach an, als ob sie beinahe froh wäre, endlich einen Zuhörer zu haben. Es sprudelte geradezu in einer atemberaubenden Geschwindigkeit aus ihr heraus.
»Ich hab sie da irgendwie aus dem Badezimmer herausgekriegt und wollte einen Arzt anrufen, aber sie wollte nicht. Ich bin dann mit ihr nach unten, weil sie meinte, vielleicht würde ihr die frische Luft helfen. Aber unten wurde alles nur noch viel schlimmer. Sie wollte auf die Brücke, weil sie über den Fluss gucken wollte, die Sonne ging gerade unter und es sah schön aus, aber sie hat da gestanden und ewig einfach so ins Wasser gestarrt. Sie musste dann wieder kotzen und wir haben da auf der Brücke gehockt, Gott, es war so peinlich. Und dann ist dieser dumme Schal weggeflogen. Sie hat so ein braunes Tuch dabeigehabt, das sie die ganze Zeit festgehalten hatte. Sie muss es losgelassen haben, als sie sich hingehockt hatte zum Kotzen. Es hat ausgesehen, als ob jemand von der Brücke gesprungen ist. Da waren dann Leute, die erschocken geschrien haben und zu uns gelaufen sind und ich hab Martina da einfach weggezogen, bevor die näher kommen konnten. Sie hat so entsetzlich geschwankt, sie hatte so viel getrunken. Und dann hab ich mir gedacht, es wäre nicht schlecht, wenn wir zum Krankenhaus hinübergingen. Die haben eine Notaufnahme und so weit war es ja nicht vom Hotel. Wir sind die wenigen Schritte die Straße langgegangen. Irgendwann hat sie ihren Schal vermisst und ist einfach ohne zu gucken auf die Straße gelaufen. Ich hab sie gar nicht aufhalten können.« Sophie schluchzte trocken auf.
»Sie ist vor das Auto gelaufen. Ich höre diese quietschenden Bremsen immer noch. Ich bin hingelaufen, wollte ihr helfen, der Taxifahrer und der andere, die haben doch keine Schuld gehabt. Sie war doch völlig betrunken und verwirrt. Der Taxifahrer hatte schon die Sanitäter im Krankenhaus alarmiert. Und als die dann da war, die haben mich einfach zur Seite geschoben. Ich hab mich nicht mehr getraut. Ich hatte Angst. Ich hab ihr doch den Whiskey gegeben und sie nicht zurückgehalten, als sie auf die Straße gelaufen ist. Und dann haben die sie einfach in den Krankenwagen geschoben und alles eingepackt, was da noch herumlag und da war auch meine Handtasche dabei. Die stand da noch, weil ich mich doch neben sie gekniet hatte. Und ich hatte doch Angst, dass die Polizei mich befragen würde. Und ich hätte doch nicht gewusst, was ich sagen sollte. Ich hätte denen doch sagen müssen, warum ich überhaupt bei ihr war.« Endlich verstummte Sophie.
Nick hatte Bilder vor seinem geistigen Auge, wie Martina völlig verwirrt auf die glitzernden Lichter der Autoscheinwerfer zuging. Er sah sie durch die Luft fliegen, getroffen von einem schnell heran schießenden Auto, und dann auf dem Asphalt aufschlagen. Ihm wurde schlecht. Sophies verlorene Handtasche würde erklären, warum niemand im Krankenhaus ihren Namen auf der Patientenliste gefunden hatte. Aber irgendetwas war faul an Sophies Geschichte. Was hatte sie zuletzt gesagt?
»Und was wäre das gewesen? Was hättest du der Polizei erzählen müssen?«, fragte er drängend nach.
»Ich habe Martina erzählt, dass ich mich ausheulen müsste, weil mein Freund mich verlassen hätte.« Wieder schluchzte Sophie. »Aber Kate hatte mich geschickt. Sie hat doch schon bei den Probeaufnahmen gewollt, dass alle über Martina lachen sollten. Sie war so sauer gewesen und an Ihrem Geburtstag, Mr. Cameron, da hat Martina was gesagt, dass es furchtbar peinlich sein müsste, vor so einer Kamera zu stehen und das hatte Kate auf die Idee gebracht. Sie wollte doch nur, dass alle sie anstarren, und sie so richtig dumm und hässlich aussehen soll. Es konnte doch keiner wissen, dass sie dann alle anderen übertrumpft. Kate war so stinksauer.« Sophie schluchzte erneut. Nick hörte ihr mit wachsendem Entsetzen zu.
»Und daher hat sie gesagt, ich müsse unbedingt dafür sorgen, dass sie die Show sieht und dann sofort aus London verschwindet. Und zwar möglichst mit einem riesigen Knall, einem tränenreichen Drama vor möglichst vielen Kameras. Wenn Martina angefangen hätte, richtig wütend rumzuschreien und zu toben, dann hätte ich sie rausbringen sollen, damit es möglichst viele hören. Irgendein Idiot ist immer dabei, der seine Handykamera draufhält, hat Kate gemeint. Sie wollte unbedingt, dass es mindestens auf YouTube kommt. Aber Martina hat einfach keinen Wutanfall bekommen, und da dachte ich, wenn sie irgendwas richtig Wütendes schreibt, dann hätte ich das irgendjemandem im Hotel mit einem Hinweis auf die Presse geben können. Und wir haben da auch den ganzen Block vollgeschrieben. Und ich hab das dann an den Spiegel gemalt. Ich habe es von einem der Zettel abgeschrieben, ich dachte, wenn ich das deutsche Zeugs abschreibe, dann glaubt jeder, dass sie das war. Und wenn das Zimmermädchen das sieht, dann hat sie ein gefundenes Fressen für die Presse. Aber da ist es Martina schon immer schlechter gegangen und ich wollte doch nur noch ins Krankenhaus mit ihr. Das war so nicht geplant gewesen.« Sophie war fast gar nicht mehr zu verstehen am Telefon.
»Catherine hat das gewusst? Dass Martina im Krankenhaus war?«, fragte Nick tonlos vor Entsetzen.
»Ja, natürlich. Ich hab sie doch angerufen und gefragt, was ich tun sollte, weil die doch gedacht haben, ich bin das in dem Krankenhaus, die hatten doch meine Handtasche mit dem Ausweis. Kate hat mich dann noch mal hingeschickt, damit ich mir meine Papiere hole und denen sage, dass ich nur eine Passantin war, die zufällig da war und geholfen hat und die Sanitäter aus Versehen meine Handtasche gegriffen haben. Aber ich sollte das erst nach der Pressekonferenz machen und vorher so tun, als ob ich die ganze Zeit meine Tasche suche.«
Nick wurde mit einem Mal klar, dass das der Anruf gewesen sein musste, den Kate nach der Show erhalten hatte. Sie hatte ihn ins Hotel fahren und die ganze Nacht warten lassen und ihm auch danach kein Wort davon gesagt, dass Martina im Krankenhaus war. Sie hatte ihn einfach in dem Glauben gelassen, dass die Polizei mit ihrer Selbstmordtheorie recht hatte. Wie betäubt legte Nick einfach auf. Catherine! Kate!! Kate hatte dafür sorgen wollen, dass Martina einfach verschwand. Kate, die in ihrer mörderischen Wut wieder einmal Menschen wie Marionetten missbraucht hatte, um ihn an der Stelle zu treffen, die am meisten schmerzen würde. Ihm erst das Baby vor die Nase gehalten hatte, damit Martina damit aus dem Rennen geschlagen wurde, nur um ihm dann den letzten Tritt in der Pressekonferenz zu verpassen. Kate, von der er dachte, dass er sie ein bisschen kennen würde, dass er eine ungefähre Ahnung hatte, wie sie tickte. Kate, von der er schon an seinem Geburtstag in Linton gewusst hatte, dass sie sich rächen würde, aber da noch gedacht hatte, dass er Martina vor ihr schützen könnte. Und sich dann selber nicht hatte schützen können. Kate! Kate, die über Leichen ging, um zu erreichen was sie wollte.
Nick wurde übel und er musste sich übergeben. Er hockte hinter der Bank und würgte wieder und wieder, bis sein Magen endlich Ruhe gab. Er war froh, dass ihn dort oben kein Mensch sehen konnte. Erschöpft ließ er sich auf die Fersen sinken und fuhr sich mit einem Taschentuch über das Gesicht.
Der Zufall hatte Kate in die Hände gespielt mit der falschen Selbstmordtheorie der Polizei, der auch er dann schließlich geglaubt hatte. Alles hatte dafür gesprochen, dass Martina sich das Leben genommen hatte. Diese unselige Schmiererei auf dem Spiegel, die Tablettenreste im Glas, Martinas Tröstetuch, das von einer Windböe ins Wasser geweht worden war. Das im Wind ausgesehen hatte, wie jemand, der von der Brücke sprang. Das Tuch, das bei ihm zuhause in der Nachttischschublade lag. Sorgfältig genäht und mit zwei neuen Flicken. Das er so oft in den letzten Wochen in der Hand gehabt hatte und das ihn so gar nicht getröstet hatte. Das ihm wie eine Schuldenlast auf der Seele gedrückt hatte, und doch hatte er es immer wieder hervorgeholt, hatte es nicht wegtun können. Er hatte sich in seinem Schmerz suhlen wollen.
Im Moment brannte in ihm nur der Wunsch, dass Sophie litt. Und vor allem Kate. Er hockte da wie erstarrt. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was Kate noch alles in seinem Leben manipuliert hatte. Und er hatte an Martinas Aufrichtigkeit gezweifelt. Wie hatte er auch nur eine Minute in Frage stellen können, ob sie ihm die Wahrheit sagte? Obwohl er doch genau wusste, dass Kate die Meisterin der verdrehten Worte und der Manipulation war. Wie hatte er nur denken können, Martina wäre genauso eiskalt und rachsüchtig?
Mühsam rappelte er sich auf. Er musste sofort zurück zu Martina, musste dringend mit ihr reden. Ihr sagen, dass er ihr jedes Wort glaubte. Dass er die Wahrheit wusste. Dass er wusste, was tatsächlich passiert war.
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Er lief durch die Nacht nach Liefering zurück, er rannte und wünschte sich, er könnte fliegen, damit es schneller ging. Er hatte Herzrasen und bekam Atemnot und merkte deutlich, dass er alles andere als fit war. Immer wieder musste er anhalten und nach Luft ringen. Er hatte nicht bemerkt, dass er so weit gelaufen war und er brauchte fast eine halbe Stunde für den Rückweg. Da er seine Brieftasche im Leihwagen vor dem Häusl gelassen hatte, konnte er sich noch nicht einmal ein Taxi nehmen, obwohl er so schnell wie möglich zurück wollte. Endlich stürzte er die schmale Gasse zum Häusl hinauf, blieb dann aber unentschlossen auf dem Vorplatz stehen. Es brannte nirgends in dem Haus Licht und er zweifelte, ob Martina überhaupt noch da war. Er hoffte und betete, dass sie nicht zu Frank und ihren Kindern geflüchtet war, nachdem er sie derartig beschimpft hatte und einfach gegangen war. Wenn er zu Frank auf den Hof musste, um noch einmal mit ihr reden zu können… er wusste nicht, ob er Frank an diesem Abend noch einmal aushalten würde.
Als er vor Stunden nach ihrem ersten Erklärungsversuch, den er für gelogen und frei erfunden gehalten hatte, für eine Ausrede, aufgestanden und gegangen war, hatte er nicht einmal mehr zurückgeblickt. Er hatte ihr gesagt, dass sie niederträchtig sei. Und dabei war sie ganz offensichtlich genau solch ein Opfer von Kates Intrigen wie er.
Er hatte die Bitterkeit in ihrem Blick gesehen, den Vorwurf, dass er als Freund nicht dagewesen war, als sie Hilfe gebraucht hatte, und hatte es einfach ignoriert, weil er so empört über ihre vermeintliche Unaufrichtigkeit gewesen war, dass er gar nicht weiter darüber nachgedacht hatte, wie Martina sich gefühlt haben musste.
Was mochte ihr in den letzten Wochen im Kopf herumgegangen sein? Als sie alleine in einem Krankenhaus gelegen hatte, ohne Familie und Freunde.
Sie konnte nur zu dem Schluss gekommen sein, dass sie ihm völlig egal war. Wenn sie tatsächlich nichts mitbekommen hatte von Kates Bombe bei der Pressekonferenz, dann hatte sie die ganze Zeit annehmen müssen, dass er sie in dem Augenblick vergessen hatte, als er von Kates Schwangerschaft erfahren hatte.
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Vorsichtig klinkte er die Tür auf.
»Mari?«, rief er leise. Seine Hand tastete zum Lichtschalter.
»Lass das Licht aus!«
Nick atmete erleichtert auf und merkte erst dabei, dass er die Luft angehalten hatte. Gott sei Dank, sie ist noch da.
Er ließ die Hand kurz vor dem Schalter wieder sinken. Martina musste irgendwo vor ihm auf der Treppe sein. Ob sie sich die ganze Zeit nicht vom Fleck bewegt hatte? Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die dichte Dunkelheit in dem kleinen Treppenhaus.
»Was willst du noch?«, fragte sie gepresst.
»Gott, Mari, ich bin so froh, dass du noch da bist.« Endlich sah er sie, ein paar Stufen höher, mitten auf der Treppe sitzend.
»Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Dass du niederträchtig seiest. Das bist du nicht. Es ist alles wahr, was du gesagt hast.«
»Woher weißt du das?« Er konnte nur an ihrer veränderten Kopfhaltung erahnen, dass sie überrascht war.
»Ich hab Sophie angerufen. Sie hat gebeichtet.«
»Sophie ist also tatsächlich da gewesen«, murmelte Martina, mehr zu sich selber. Nick hockte sich zwei Stufen unterhalb von Martina auf die Treppe. Er versuchte im Dunkeln ihr Gesicht zu sehen.
»Bitte, geh weg.« Martina drehte ihr Gesicht zur Wand. Sie wollte nicht, dass Nick sah, dass sie geweint hatte. Die ganze Zeit im Krankenhaus in London hatte sie sich zusammengenommen. Hatte die Enttäuschung über das abrupte Ende ihrer Freundschaft nicht gezeigt. Und schon gar nicht, als Frank nach Tagen im Krankenhaus aufgetaucht war. Er hatte kein Wort gesagt, kein einziges Ich hab es doch gleich gewusst. Und doch. Als er seine Hand an ihre Wange gelegt hatte, hatte sie in seinen Augen deutlich ein Genau das hatte ich dir ersparen wollen gelesen. Es war nicht nötig gewesen, dass Frank es laut gesagt hätte. Sie hatte ihn auch so verstanden, sie verstand ihm immer ohne Worte. Und doch hatte keiner sehen sollen, wie tief verletzt sie darüber gewesen war, dass Kate und das Baby so zu Nicks Lebensinhalt geworden waren, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte. Frank hatte ihr das Handy wiedergebracht und der Stich der Enttäuschung, dass es nicht einmal eine erklärende SMS oder eine Nachricht auf der Mailbox gegeben hatte, war bitter gewesen.
Und dann war Nick vorhin einfach mit wirren Anschuldigungen bei ihr aufgetaucht und hatte sie als niederträchtige Lügnerin und Heuchlerin beschimpft. Sie hatte die letzten Stunden krampfhaft versucht, ihre Tränen zu unterdrücken und hatte es dann doch nicht geschafft. Seitdem saß sie hier im Dunkeln auf der Treppe. Und Nick sollte auf keinen Fall die Genugtuung haben zu sehen, dass sie geweint hatte. Sie war stark, sagte sie sich. Sie hatte die Wochen im Krankenhaus durchgehalten, sie würde auch jetzt durchhalten. Und auf keinen Fall würde sie ausgerechnet vor Nick erneut in Tränen ausbrechen.
Freunde kommen, Freunde gehen. Das war ihr Mantra in den letzten Wochen gewesen. Dass sie Nicks Verrat an ihrer Freundschaft tiefer traf als bei jedem anderen, lag daran, dass sie mehr für ihn empfand als Freundschaft. Aber das war ihr Problem, nicht seines.
»Geh weg!«, sagte sie noch einmal.
»Gib mir eine Chance alles zu erklären, eine halbe Stunde, bitte.«
»Lass mich alleine!« Martina starrte hartnäckig die Wand an.
»Bitte, tu das nicht«, bat er leise. »Schick mich nicht weg. Ich bitte dich nur um eine halbe Stunde. Die sollte ausreichen, dass ich eine Entschuldigung und eine Erklärung für mein Verhalten vorhin zustande bringe.« Er versuchte es mit einem kleinen Lachen, aber es blieb ihm in der Kehle stecken. Er streckte die Hand aus, um sie am Arm zu berühren, und stieß dabei gegen etwas, das laut klappernd die Treppe hinunterpolterte. Das zweite Teil fiel gegen seinen Knöchel und er konnte es gerade noch auffangen.
»Was ist das de…?«, rief er überrascht, verstummte aber schlagartig, als er erkannte, dass er eine Krücke in der Hand hielt.
»Mein Gott, du bist auf Krücken?«, fragte er entsetzt. »Seit wann …? Ach, du meine Güte, der Unfall!«
»Geh weg!«
Nick sprang auf. »Warum sitzt du hier auf der Treppe?«
»Ich sitze verdammt noch mal hier, weil es der einzige Platz in diesem verdammten Haus ist, den man nicht durch eines der verdammten scheiß Fenster sieht. Geh weg! Geh verdammt noch mal einfach weg! Du stehst im Weg!« Martina machte Anstalten aufzustehen.
»Warte, ich helfe dir!« Nick streckte die Arme nach ihr aus, um ihr hochzuhelfen, aber sie schob ihn unwirsch zur Seite.
»Fass mich nicht an! Lass mir doch bitte noch den letzten Rest meiner Selbstachtung.«
Mit einem Ruck stand sie auf und tastete sich vorsichtig die Treppe im Dunkeln hinunter. Nick trat zur Seite. Er konnte deutlich sehen, dass sie beim Gehen Schmerzen haben musste, so langsam und vorsichtig, wie sie die Stufen hinabging. Erst als sie unten im Zimmer verschwunden war, ging er langsam hinterher.
»Hör zu, es tut mir leid…« Verlegen fuhr er sich durch die Haare, als er in dem dunklen kleinen Zimmer stand. »Was ich vorhin gesagt habe...«
»Schon gut«, murmelte Martina.
»Nein, es ist nicht gut. Meine Güte, bitte, lass mich Licht machen. Ich kann dich kaum sehen im Dunkeln.«
Er wartete einen Moment und knipste dann einfach das Licht an, als von Martina kein Widerspruch kam. Die Lampe auf dem schmalen Tisch vor dem Bücherregal verbreitete schummriges Licht in dem kleinen Zimmer. Martina hatte sich vorsichtig mit vielen Kissen im Rücken auf ihre Schlafcouch gesetzt, aber ihr Gesicht zur Rückenlehne gedreht. Sie würde ihm genau die halbe Stunde geben, um die er gebeten hatte, aber nicht eine Minute mehr.
»Es war ein richtiger Schock vorhin, dich zu sehen. Ich bin jetzt noch völlig geschockt.« Nick rang um Worte. Neben ihm auf dem Tisch stand der Karton mit dem Teeservice. Er zog einen Bilderrahmen mit seinem Foto heraus.
»Ich sehe, du hast alles zusammengepackt«, sagte er leise. Es tat weh, aber er konnte es ihr nicht verdenken. Für Martina war er genauso schlagartig aus ihrem Leben verschwunden, wie sie aus seinem. Kein Wunder, dass sie alles weggeräumt hatte, was an ihn erinnerte.
»Frank hat angefangen, hier herumzukramen. Er sagte, besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Martina hoffte, dass er den enttäuschten Unterton in ihrer Stimme nicht hörte.
»Das sagt er öfter.« Nick drehte sich um und hockte sich vor ihr auf den Boden. »Und genau deshalb war ich mir so sicher, dass du das geschrieben hattest.«
»Was geschrieben?« Martina sah immer noch zur Rückenlehne und wagte nicht sich umzudrehen.
»Diese zusammengeknüllten Zettel. Sie haben im ganzen Hotelzimmer auf dem Boden gelegen. Auf einem stand genau das, was du gerade gesagt hast.«
Martina schob das Kinn trotzig vor. »Ja, verdammt, ich habe diese Zettel geschrieben. Zumindest einen Teil davon. Nenn mich jetzt niederträchtig oder hinterhältig, aber ich wollte doch nur Sophie loswerden. Ich dachte, wenn ich einfach tue, was sie sagt, dann geht sie irgendwann.« Sie sah ihn aufgebracht an, wandte ihren Kopf aber sofort wieder ab.
»Du bist nicht niederträchtig. Ich kann dich nur um Verzeihung bitten, dass ich das vorhin gesagt habe und hoffen, dass du mir das vergibst. Aber Sophie… Kate hat sie geschickt.«
»Kate? Wieso sollte sie? Sophie hatte Liebeskummer und hat sich mit diesem grässlichen Zeug betrunken.«
»Kate hat sie geschickt. Glaub mir. Sophie hat es mir selber am Telefon vorhin gesagt. Kate wollte sicherstellen, dass du dir die Show ansiehst und vor allen Dingen ihre Ankündigung des Babys mitbekommst.«
»Das ist ihr gelungen.«
»Du solltest wütend werden und Sophie sollte dich dann irgendwo hinbringen, wo möglichst viele Kameras dokumentieren würden, was ich für ein Schwein bin. Die schwangere Freundin mit einer anderen betrügen, so in der Art.«
»Ich wäre nie irgendwo hingegangen, wo Kameras sind!«
»Mari, das wissen wir beide, aber nicht Kate oder Sophie! Und genau ab da ist Kates Plan nicht mehr aufgegangen.« Nick zuckte hilflos mit den Schultern.
»Plan? Was für ein Plan?« Martina runzelte die Stirn. »Das einzige, was Kate planen wollte, war eure Hochzeit.«
»Du hast wirklich nichts mitbekommen, da im Krankenhaus, nicht wahr?«
Martina schüttelte kurz den Kopf. Nick kniete sich hin und griff nach ihren Händen.
»Bitte, schau mich an«, bat er. Martina blickte immer noch stur zur Seite.
»Mari, ich weiß auch so, dass du geweint hast und es tut mir furchtbar leid, wenn es wegen mir war. Aber bitte, schau mich an.« Widerwillig drehte Martina den Kopf.
»Kate hat zwei Tage später eine Pressekonferenz organisiert, in der sie mich dann noch einmal so richtig vorgeführt hat. Kates Baby ist nicht von mir. Sie hatte alles geplant. Wie sie dir wehtut und du mich hassen solltest, wie sie mich noch einmal so richtig verletzt, bevor sie diesen Daniel Greenfield heiratet.«
Martina starrte stur auf einen Punkt unter seinem Kinn.
»Du hast nicht einmal mehr angerufen«, flüsterte sie. »Auch wenn Sophie dafür gesorgt hat, dass wir uns im Hotel nicht mehr treffen, du hättest anrufen können.«
»Dein Handy war im Hotel.« Nick holte tief Luft und berichtete dann von der Nacht, die er wartend im Hotel verbracht hatte, von der Suche der Polizei und den Identifizierungsversuchen, von Kates Pressekonferenz, und davon, wie er nach Linton geflüchtet war.
»Ich wusste, dass du nie wieder an das Handy gehen würdest, du warst nicht mehr da, es konnte nicht geladen sein, keiner würde antworten oder zurückrufen, aber ich habe trotzdem immer wieder angerufen.«
»Frank hat mir das Handy ins Krankenhaus gebracht, es war leer.« Martina war kaum zu hören. »Es war kein Anruf in der Anruferliste und kein Nachricht auf der Mailbox.«
Nick hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme, die bodenlose Enttäuschung.
»Es ist aber wahr. Siebenunddreißig Mal hat Frank vorhin gesagt, er muss sie gezählt haben.«
»Frank? Er soll das gewusst haben?« Endlich sah sie hoch und er konnte den Unglauben in ihrem Gesicht erkennen.
»Er hat dir eine neue SIM-Karte in das Handy getan.« Nick kam sich mies vor, als ob er petzte, aber Frank hatte sich das selber zuzuschreiben, fand er. Wenn er Martina diesbezüglich manipulieren wollte, dann sollte er auch dazu stehen.
»Ich habe deine Mailbox angerufen. In dieser einen Nacht, wieder und wieder.« Nick brach ab. Wie sollte er ihr erklären, dass er es einfach nicht geschafft hatte, damit aufzuhören? Dass er die ganze Nacht gesessen, ihrer Stimme gelauscht und dabei verzweifelt herzzerreißende Gedichte geschrieben hatte. All die Zettel, die Ethan auf dem Boden gefunden hatte. All die Zeugnisse seines gebrochenen Herzens und seiner unglaublichen Schuld. Und die ganze Nacht hatte er ihre Stimme im Ohr gehabt, leicht atemlos wie immer und so voll sprühender Lebensfreude. Am Morgen hatte er dann einfach den Gedanken nicht mehr ertragen, auch nur noch einen weiteren Tag aufzuwachen und durchstehen zu müssen in der sicheren Gewissheit, dass er daran schuld war, dass er sie nie wieder sehen würde, dass sie nicht mehr da war. Und ab diesem Moment hatte er genau gewusst, was er zu tun hatte.
Leise fuhr Nick fort, erzählte von dem Morgen in der Badewanne, von der Klinik, der Prügelei mit Ethan.
»Ethan hat einen Orden verdient. Schon dafür, dass er es einfach ertragen hat, dass ich ihm wochenlang nicht vergeben konnte. Wahrscheinlich hat er mich deshalb verprügelt.«
Martina sah ihm nach wie vor nicht ins Gesicht.
»Frank hat mich heute Nachmittag mehr oder weniger vom Hof gejagt und ich habe fast zwei Stunden gebraucht, bis ich herkommen konnte, weil ich dachte, ich halte es nicht aus. Dann, als ich dich vorhin in der Werkstatt gesehen habe …«
Er brach ab, ließ er ihre Hände los und drehte seine Handgelenke nach oben. Entsetzt sah Martina auf die roten Linien zwischen den Lederbändern hinab.
Behutsam strich sie darüber.
»Weiß Kate, was sie angerichtet hat?«, fragte sie heiser.
»Ich weiß es nicht.« Nick sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Ich weiß, dass mich ein Fotograf mit seiner Kamera erwischt hat, als ich aus der Klinik zurück war, aber sie haben sich zu Hause sehr bemüht, alles fernzuhalten von mir. Ich weiß nicht, wie weit das in den Medien rumgegangen ist. Und es interessiert mich auch nicht wirklich.« Er zuckte halbherzig mit den Schultern.
Seine halbe Stunde war um, es gab nichts mehr zu sagen. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das Geräusch der tickenden Uhr war das Lauteste, was zu hören war. Und das in einem Haus, in dem sonst das Leben getobt hatte, dachte Nick betrübt.
Es gab nichts mehr zu sagen. Er hatte ihr alles erzählt, hatte alles erklärt, nun würde er ihr Zeit geben müssen. Er wartete. Ihr entsetzter Blick, als er von dem Morgen in der Badewanne erzählt hatte, war ihm durch und durch gegangen. Sie war unbewusst zurückgewichen, aber er hatte es deutlich bemerkt. Wenn sie ihn wieder wegschickte, würde er dieses Mal gehen.
Er kniete immer noch vor dem kleinen Sofa. Sie war zu dicht vor ihm, fand er, viel zu dicht. Ihre Haare dufteten wie immer nach Honig. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte eine ihrer Locken.
»Gott, ist das schön, dich zu sehen«, murmelte er leise. »Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung hatte.«
Martina rappelte sich etwas auf.
»Shh, nein, bleib liegen. Du hast Schmerzen, nicht wahr?«
Martina drehte den Kopf wieder zur Seite. »Beim Gehen«, sagte sie leise. »Und manchmal beim Sitzen.«
»Ist das … von dem Unfall? Verzeih, eine blöde Frage, natürlich«, fügte er sofort hinzu, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
»Es war ein Geländewagen«, sagte sie leise. »Sonst hätte es mein Knie erwischt und nicht den Oberschenkel. Nur ein einfacher Bruch, aber das Gleichgewicht stimmt nicht mehr. Der Gelenkkopf liegt nicht mehr richtig in der Pfanne.«
»Hört sich kompliziert an.«
Wieder breitete sich Stille aus. Nach einer Weile nickte er, mehr für sich. Martinas Schweigen war deutlich. Alle Erklärungen dieser Welt konnten nicht heilen, was Kate so effektiv zerschlagen hatte. Er hatte ihr vorhin nicht vertrauen können, wie konnte er dann erwarten, dass sie es tat? Seine halbe Stunde war längst um. Er würde sich in das Unvermeidliche fügen müssen und gehen. Nur eines wollte er noch.
»Entschuldige, aber bevor du mich gleich wegschickst, muss ich noch etwas tun«, flüsterte er. »Ich wollte schon so lange wissen, wie es ist.« Er beugte sich vorsichtig vor, bis seine Lippen auf ihren Mund trafen. Die Zeit schien stehenzubleiben, solange seine Lippen ihre berührten.
Langsam hob er seine Hand zu ihrem Kopf. Behutsam hielt er sie fest, jederzeit bereit, sie sofort loszulassen, sobald sie zurückwich. Sanft zog er sie zu sich heran und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
»Wusstest du, dass du nach Honig riechst? Ich meine, dein Haar«, murmelte er. Er hatte in den letzten Wochen jeden Honig gemieden und wusste nicht, ob er in Zukunft wieder jemals welchen auch nur würde ansehen können. Aber dieser Duft sollte das Letzte sein, was er mitnahm. Nick ließ seine Hand von ihrem Kopf gleiten und wollte aufstehen, als Martina sich etwas vorbeugte.
Sein Herzschlag setzte in dem Moment aus, als ihre Lippen seinen Mund trafen. Als sie ihn mit einer leichten Bewegung ihrer Hand zu sich herunter zog, setzte auch sein Verstand aus. Er spürte nur noch Martina auf seinem Mund, ihre Hand in seinem Nacken, ihre Hand auf seiner Haut, auf seiner Brust, als sie sein Hemd aus der Hose zog. Er spürte nur noch Martina unter seinen Händen, ihr Gesicht, ihren Mund, die Locken, die sich um seine Finger wanden, als er seine Hand in ihren Nacken gleiten ließ. Er spürte, wie sie sich aufsetzte und von der Couch auf seinen Schoß rutschte, wie ihr Mund immer noch auf seinen gepresst war, während sie mit fliegenden Fingern sein Hemd aufknöpfte.
»Shhh, besser nicht«, flüsterte er mit ihren Lippen auf seinen.
»Was?« Sie sah ihn nur eine Sekunde verwirrt an, bevor sich ihr Mund wieder auf seinen presste.
Nick wehrte sich nicht mehr. Martina hatte ihn schon immer überrascht und er hatte ihr einfach nichts entgegenzusetzen. Als sie ihr T Shirt über den Kopf zog und mit einer Handbewegung zur Seite warf, traf sie die kleine Lampe, die mit einem Klirren vom Tisch fiel. Nur noch das Licht der Straßenlaterne vor dem Fenster fiel ins Zimmer. Nick hatte keine Zeit mehr, über eventuelle Folgen nachzudenken. Sein Körper schrie vor Verlangen nach ihr und er konnte die Wärme, die von ihr ausging, in Wellen auf seiner nackten Haut spüren, nachdem sie ihm sein Hemd von den Schultern gezerrt hatte. Dass er immer noch vor dem Sofa kniete und Martina rittlings auf seinem Schoß saß, machte die Sache nicht leichter. Er hatte nur Angst, ihr wehzutun, weil auch in ihm alles zu ihr drängte und es ihm kaum schnell genug ging.
Das Ganze hatte den Beigeschmack einer schnellen Nummer in einer dunklen Ecke, heimlich, hastig und hektisch bevor man überrascht wurde, fand er. Sie fiel geradezu hemmungslos über ihn her und ihr leidenschaftlicher Kuss hatte ihm innerhalb von Sekunden klar gemacht, was sie von ihm wollte und dass jeder Widerstand zwecklos war. Er hatte es sich zwar nie so wild und ausgehungert, so verzweifelt und hemmungslos vorgestellt, aber er war absolut nicht fähig, Martina auch nur einen Moment aufzuhalten. Ihre Hände waren überall und sie wusste genau, womit sie ihn am meisten erregte, um mögliche Gegenwehr von ihm im Keim zu ersticken. Nick stöhnte tief auf, als sie seine Hose öffnete und ihre Hand hineingleiten ließ. Er hatte es sich immer romantisch und zärtlich vorgestellt, er hatte sie auf Rosenblätter betten wollen, sanft und liebevoll endlos streicheln und angucken, das Zimmer voller Kerzen, weil er sie einfach nur sehen wollte. Stattdessen kniete er im Dunkeln halbnackt auf dem Boden und hatte ihr hektisches Stöhnen im Ohr.
»Wir sollten das nicht tun«, ächzte er. »Nicht so«. Immer noch hatte er Angst, dass er ihr weh tat. Und doch konnte er nicht aufhören. Als sie sich auf ihn senkte und er in sie eindrang, stöhnte sie laut und lustvoll auf.
Das hier war schlimmer als eine schnelle Nummer als Teenager auf dem Rücksitz eines Autos, aber er konnte es einfach nicht beenden. Martinas Hände fuhren durch seine Haare, ihr Mund war auf seinen gepresst, er atmete ihren Atem und er hatte absolut nichts dagegen, dass sie sich so gierig an ihn drängte, dass er sie kaum noch halten konnte. Der Rest seines Verstandes sagte ihm, dass sie einfach Schmerzen haben musste, nachdem was sie ihm von dem Unfall erzählt hatte. Das hier konnte nicht gut sein für sie, und doch konnte er nicht aufhören. Er spürte, wie sich ihre Brüste an seiner Brust rieben und sein Gehirn blendete in dem Moment komplett aus, als sie sich mit einem lauten Stöhnen an ihn drängte und ein Zittern durch ihren Körper lief. Auch er konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken, als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte.
»Gott, war das gut.« Martina schmiegte sich atemlos an seine Brust. Sein Herzschlag beruhigte sich nur ganz langsam, und genauso langsam setzte sein Denkprozess wieder ein.
»Wir hätten es nicht tun sollen, nicht so.« Nick wusste, dass er sich wiederholte. Er versuchte immer noch, sie so zu halten, dass nicht allzu viel Gewicht auf ihren Hüftgelenken lastete.
»Doch! Du wolltest das genauso sehr, wie ich.« Sie zog sein Gesicht zu sich herunter und küsste ihn sanft. »Wir beide wollten das und hätten das schon viel früher tun sollen.«
Nick hob Martina vorsichtig hoch und setzte sie auf dem Sofa ab. Er wickelte eine Strähne ihrer Locken um seine Finger und küsste sie sanft unterm Ohr.
»Aber doch nicht so. Auf dem Fußboden«, murmelte er leise. »Es hätten Kerzen, leise Musik und Rosen dabei sein sollen, viele Rosen…«
»Du bist ein hoffnungsloser Romantiker, oder?« Martina lachte leise und zog mit der einen Hand die Decke vom Fußende hoch und mit der anderen Nick zu sich herunter.
»Ich musste das Licht ausmachen, weil man nur die Treppe von außen nicht einsehen kann.«
»Du hast das absichtlich gemacht? Die Lampe ist zerbrochen!«
»Nichts, was man nicht wieder reparieren kann«, murmelte sie leise lachend. Ihr Bein schob sich über seine Hüfte und sie atmete seufzend aus.
Martina lag völlig entspannt an seine Brust geschmiegt, ihre Finger mit seinen verflochten, ihr warmer Atem blies sacht über seinen Hals und er verstand die Welt nicht mehr. Am Morgen war er noch im Flieger kurz vor einer Panikattacke gewesen, Frank hatte ihn auf das Wüsteste beschimpft, er war den ganzen Abend aufgewühlt durch die Stadt gelaufen, zwar herausgerissen aus seiner Trauer, aber in maßloser Enttäuschung und danach in loderndem Zorn und völligem Entsetzen, dass Kate ihr Ziel erreicht haben könnte. Und nun lag er hier und hielt Martina im Arm, immer noch irgendwie fassungslos über das, was eben passiert war und kam einfach nicht zum Denken. Vor allem schon deshalb nicht, weil sich Martinas Hand, die auf seinem Oberschenkel gelegen hatte, definitiv langsam nach oben vorarbeitete. Er spürte ihren warmen Mund auf seiner Brust und seinem Bauch und stöhnte entsetzt auf, als sie die Bettdecke weiter hinunter schob.
»Nein, bitte…« Er konnte ihr nichts entgegensetzen, ihre Hände brachten seine Haut zum Brennen und sein Körper zeigte deutlich, dass er genau das Gegenteil von dem wollte, was er gerade gesagt hatte. Ihre Lippen hinterließen eine heiße Spur auf seinem Bauch.
~~~
Nicks Haut brannte immer noch. Und er hoffte, dass sich das niemals ändern würde. Martina hatte endlich die letzte der Kerzen angezündet und stieg zu ihm ins Wasser. In dem kleinen Badezimmer breitete sich das warme Kerzenlicht aus und brachte ihre Haare zum Leuchten.
Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und ihm war, als ob er den gesamten Kummer der letzten Wochen mit dem einen Schwall Wasser fortgewaschen könnte. Eigentlich müsste er auf dem Weg sein, um Kate zu foltern, sie umzubringen oder sonst etwas Schlimmes mit ihr anzustellen, aber stattdessen saß er hier und sah die hinreißend schöne Frau ihm gegenüber an.
»Oh Gott, du hast dich ja wirklich mit Ethan geprügelt.« Martina deutete überrascht auf die blauen Flecke an seinen Rippen und Oberarmen.
Nick zuckte entschuldigend mit den Schultern und produzierte ein schiefes Lächeln. »Ich habe das nicht erfunden, damit du Mitleid mit mir hast.«
»Und ein blaues Auge. Das hab ich vorhin gar nicht gesehen.«
Er schnaufte durch die Nase. »Das will ich doch hoffen. Ich hab heute Morgen lange genug gebraucht, um es abzudecken.« Es hatte ihm schon gereicht, dass ihm der Mann bei der Passkontrolle auf dem Flughafen ungläubig ins Gesicht gesehen hatte. Was für ein gefundenes Fressen wäre es erst gewesen, wenn er sein blaues Auge dabei entdeckt hätte.
Sie zog die Augenbrauen interessiert hoch. »So richtig mit Make-up und so?«
»Mehr professioneller, aber so in der Art.«
Nick sah Martina aufmerksam an, wie sie vor ihm in der Badewanne hockte, die langen Haare bis zu den Schultern nass und mit einem strahlenden Gesichtsausdruck, der ihm durch und durch ging.
»Du bist wunderschön«, flüsterte er. Er streckte die Hand aus und zog sie zu sich. Mit einer gleitenden Bewegung drehte sie sich um und lag in dem warmen Wasser auf seiner Brust. Er vergrub sein Gesicht in ihren feuchten Haaren und hielt sie sanft im Arm. Das Bad war so klein, dass man sich fast nicht bewegen konnte, aber die Badewanne war eine von Martinas geretteten Kostbarkeiten, ein riesiges Monstrum auf geschwungenen Füßen, so groß, dass sie beide darin Platz hatten. Völlig entspannt lag er im Wasser und hielt sie zufrieden im Arm.
»Schnurrst du etwa?«, fragte er verblüfft und Martina sah lächelnd zu ihm auf.
»Fand ich grad passend«, murmelte sie. Nick schüttelte grinsend den Kopf.
»Erzähl mir was«, flüsterte sie.
»Ich weiß nichts, mein Kopf ist im Moment völlig leer.«
»Dann war es gut«, meinte sie zufrieden. »Wenn dir nichts mehr einfällt und du wunschlos glücklich bist, dann war es einfach nur gut.«
Nick wollte am liebsten stundenlang mit ihr im Arm sitzen, im Moment war er tatsächlich einfach nur wunschlos glücklich.
»Nein, bitte nicht, tu das nicht«, stöhnte er, als sie sich sanft im Wasser bewegte und gegen ihn presste. »Ich kann nicht mehr.«
»Oh«, murmelte sie leise, »das fühlt sich aber gerade ganz anders an.« Sie lachte auf und er hielt ihr rasch den Mund zu.
»Shhh, das Fenster ist offen, man kann uns hören.«
»Und wenn schon, wen stört das?« Martina tauchte lachend unter, als sie sich stärker gegen ihn presste.«
»Du hast Hunger, dein Magen knurrt«, stellte sie fest, als sie prustend wieder auftauchte. Es war ihm furchtbar peinlich, aber sie hatte recht, er kam fast um vor Hunger.
»Wir müssten etwas dagegen tun, aber ich weiß nicht was. Der Kühlschrank ist leer. Ich bin doch erst seit zwei Tagen wieder hier.« Sie sah ihn entschuldigend an.
»Mari, es ist gut. Mach dir keine Gedanken.«
»Du verhungerst mir und ich soll mir keine Gedanken machen?« Sie hatte sich umgedreht und kniete vor ihm Wasser. »Ich würd dich gern noch ein wenig am Leben erhalten. Wir könnten zu Hanna und Klaus rübergehen.«
»Bloß nicht«, murmelte Nick. Konnte es wirklich so peinlich sein, dort drüben zu erscheinen, fragte er sich. Nur, was sollte er sagen? Wie sollte er jemals erklären, was in den letzten Wochen alles passiert war und warum er sich in London nicht mehr um Martina gekümmert hatte? Wie sollte er das glückliche Strahlen von Martina oder gar seinen eigenen Gesichtsausdruck mit dem vermutlich ziemlich debilen Dauergrinsen erklären? Er war sich sicher, dass man ihnen beiden schon von Weitem ansah, was in den letzten Stunden passiert war.
»Ich hab’s noch nie ausprobiert, aber vielleicht gibt es noch irgendwelche Lieferdienste heute Nacht.« Martina machte Blubberblasen, als sie seinen Bauch erneut küsste.
Mit einem Mal fuhr er hoch.
»Shhh!« Hektisch wedelte er mit der Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Sei leise!«
Jemand öffnete vor sich hin pfeifend die Haustür.
»Wer ist das?«, fragte Nick entsetzt, bemüht, fast lautlos zu sprechen.
»Hanna, extra laut, damit wir wissen, dass sie da ist.« Martina prustete laut los und er legte ihr rasch die Hand auf den Mund.
»Hör sofort auf damit«, flüsterte er. »Wenn sie uns hier findet!«
»Sie weiß doch längst, dass wir hier sind. Sie kann das Licht sehen«, murmelte Martina undeutlich hinter seiner Hand, dann schob sie sie zur Seite. »Wir sind erwachsen! Wir können machen, was wir wollen.«
»Was will sie hier?« Nick sah immer noch wie auf frischer Tat ertappt aus.
»Das werden wir erst herausfinden, wenn wir nachsehen.«
»Bist du wahnsinnig?« Er zog sie wieder zurück ins Wasser, als Martina Anstalten machte, aus der Wanne zu klettern. »Du hast nichts an.«
»Glaubst du, sie hat mich noch nie nackt gesehen? Das hast selbst du doch schon!«
Nick musste ihr zustimmen. Er hatte ihr vor dieser Nacht bereits schon zweimal frische T-Shirts angezogen.
»Aber ich hab nicht hingeguckt«, behauptete er.
»Wer’s glaubt, wird selig.« Sie grinste ihn anzüglich an.
Auf der Treppe über ihnen wurden erneut Schritte laut.
»Ich hab euch etwas zu essen hingestellt. Der Kühlschrank ist ja noch leer«, rief Hanna einen Moment später, bevor sie mit einem Auflachen im Garten verschwand.
»Du bist ein Schatz«, rief Martina zurück und Nick zuckte angesichts ihrer Lautstärke zusammen. Sie brach in lautes Gelächter aus, als sie seinen ertappten Gesichtsausdruck sah.
»Sie weiß, dass ich hier bin?«, fragte er betreten.
»Dein Auto ist ja wohl nicht zu übersehen!« Martina lachte immer noch. »Kann doch nicht sein, dass dir das peinlich ist!«
~~~
»Wir könnten im Bett essen.« Martina krempelte die Bademantelärmel hoch.
»Ich würde nicht zum Essen kommen!« Nick bückte sich und hob Martina trotz ihrer Proteste hoch.
»Ich werde nicht zulassen, dass du mit Krücken diese schmale, steile Treppe hinaufgehst. Und womöglich hinunterfällst.«
»Als ob ich das in den letzten Tagen nicht schon mehrfach getan hätte!« Aber sie lehnte sich gegen seine Brust und ließ zu, dass er sie in die Küche hinauftrug.
»Auch du musst dringend etwas essen, du wiegst ja fast gar nichts mehr.« Er fand sie entsetzlich leicht.
»Du weißt doch, was man über das englische Essen sagt, unessbar. Und in Krankenhäusern ist es nicht unbedingt besser. Es ist sehr kohlehydratreich, was dringend zu vermeiden war.«
Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich hinunter.
Nick brachte es irgendwie fertig, trotz Martinas leidenschaftlichem Kuss mit ihr auf dem Arm heil in der Küche anzukommen. Er setzte sie auf dem Sofa ab und nahm ihr gegenüber auf einen der blau gestrichenen Stühle Platz.
»Du bleibst schön auf deiner Seite des Tisches. Das ist mir sonst zu gefährlich.« Sein Zeigefinger deutete unmissverständlich auf das Sofa, als sie Anstalten machte, aufzustehen.
Martina lachte ihn aus und Nick spürte ihren nackten Fuß an seinem Bein, der sich langsam zu seinem Schoß hocharbeitete.
»Bist du dort sicherer?«, fragte sie mit blitzenden Augen und Nick stöhnte auf.
»Bitte, lass mich erst etwas essen.«
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Nick kam völlig erschlagen zu sich. Es dauerte einen Moment, bis er sich so weit orientieren konnte, dass er wieder wusste, wo er war. Er lag in Martinas Bett. Martina! Das Bett neben ihm war leer. Mit einem Ruck setzte er sich auf und lauschte in das Haus. Oben in der Küche hörte er leises Geschirrklappern und er ahnte, was ihn geweckt hatte. Irgendwann mitten in der Nacht hatte Martina kapituliert und er hatte sie, als sie in seinem Arm eingeschlafen war, vorsichtig ins Bett getragen. Er hatte stundenlang wach gelegen und nicht einschlafen wollen, weil er schon mehr als zufrieden und glücklich war, sie einfach nur anzusehen.
In der frühen Morgensonne hatte sie die Augen aufgeschlagen und er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er befürchtet hatte, dass seine Blicke sie geweckt hatten.
»Wie lange bist du schon wach?«, hatte sie gefragt und er hatte zugeben müssen, dass er gar nicht geschlafen hatte, weil er die ganze Zeit aufgepasst hatte, dass sie sich nicht wie eine Fata Morgana in Luft auflöste und verschwand.
»Ich bin gleich wieder da«, hatte sie geflüstert und er hatte Martina dann eine ganze Weile im Bad rumoren gehört. Offenbar war er genau darüber dann doch eingeschlafen. Und nun klapperte sie oben in der Küche herum.
Irgendwo in dem wilden Haufen von Kleidungsstücken vor dem Bett fand er seine Boxershorts und sein Hemd. Leise tappte er die Treppe zur Küche hinauf und blieb wie erstarrt stehen, als er aus dem Hemd auftauchte, das er über den Kopf gezogen hatte.
»Wo ist Mari?«, fragte er Hanna entgeistert, die in der Küche hantierte.
»Guten Morgen, Tommy. Klaus hat sie heute Morgen in die Klinik gefahren. Sie hat da doch diesen Termin für die Voruntersuchung.«
»Klinik? Heute Morgen? Wie spät ist es?« Nick sah entsetzt auf die als Uhr zweckentfremdete Tortenbodenform an der Wand. »Halb eins?«, stieß er ungläubig hervor.
»Und doch hast du noch nicht annähernd genug geschlafen, so wie du aussiehst. Ich bin erstaunt, dass du überlebt hast.«
»Das ist jetzt peinlich«, murmelte er.
»Oh bitte, schau nicht so, als ob ich dich bei etwas Verbotenem erwischt habe. Ihr seid erwachsen.«
Nick wurde feuerrot. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte er verlegen.
»Oh«, lachte Hanna, »was du nicht sagst, seh ich auch so.«
Stand er wirklich vor Martinas Cousine, die offensichtlich von dem Ablauf des Abends und der vergangenen Nacht einiges mitbekommen hatte? Martina war geradezu über ihn hergefallen und auch er war ausgesprochen gierig gewesen. Nach dem Imbiss in der Küche war es nicht nur bei Martinas tastenden Fuß in seinem Schoß geblieben, sie hatte ihn mehr oder weniger auf das bunte Sofa gezerrt. Nicht, dass er sich gewehrt hätte.
»Du kannst hier essen oder in den Garten runterkommen, aber es sind Feriengäste dabei und deshalb dachte ich, du wärst lieber für dich.«
»Ja, danke, das ist wohl besser«, murmelte Nick und warf drei Stück Zucker in den Kaffee. Er konnte im Moment alles gebrauchen, was versprach, ihn wieder wach zu machen.
Hanna grinste ihn gutmütig an.
»Vielleicht ist es auch besser, wenn man dein Veilchen nicht so sieht.« Sie deutete sich vielsagend auf die linke Wange.«
Nick wurde erneut rot. »Das war Ethan«, sagte er hastig.
»So laut wart ihr auch nicht, dass ich gedacht hätte, es wäre von Mari.«
»Laut?« Seine Stimme rutschte entsetzt nach oben. »Das ist jetzt wirklich peinlich.« Er hatte geahnt, dass nichts in der vergangenen Nacht wirklich geräuschlos abgegangen war. Martina hatte sich ihm völlig hemmungslos hingegeben und sie war dabei nicht besonders leise gewesen.
Nick sah Hanna betreten an.
»Oh, Tommy, schau nicht so.«
»Können wir bitte das Thema wechseln?« Er fuhr sich verlegen durch die Haare.
»Dann setz dich hin und iss etwas.«
Nick musste unwillkürlich grinsen. »Du hörst dich an wie meine Mutter.«
»Ich habe den Auftrag bekommen, darauf zu achten.«
»Machst du immer das, was Martina dir aufträgt?«
»Es war deine Mutter, dir mir den Auftrag gegeben hat.«
»Meine Mutter?!« Nick fuhr hoch, aber Hanna deutete unmissverständlich auf den Teller und er setzte sich wieder.
»Melanie, Melinda, Melli…« Sie suchte nach dem Namen.
»Melissa?«
»Ja, das war’s. Melissa hat herumtelefoniert und dich verzweifelt gesucht. Als ich ihr sagte, du wärst hier, hat sie mir deine Mutter ans Telefon gegeben. Du hättest dich seit dem Morgen nicht mehr gemeldet und sie war ganz aufgelöst. Sie war erst beruhigt, als ich ihr sagte, dass du hier bist und es dir gut geht.«
Nick kaute bereits. Sein Hunger war größer, als der Drang etwas mehr aus Hanna herauszuquetschen.
»Hast du deshalb gestern was zu essen hergestellt?«, fragte er mit vollem Mund.
Hanna lächelte ihn nur mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Schätze mal, es war Rettung in letzter Sekunde. Martina kennt da kein Erbarmen. Sie wird bald wieder da sein, das kann ja nicht allzu lange dauern.«
»Du sagtest Krankenhaus. Was machen die da eigentlich?«
»Frag sie selbst! Ich muss los.«
~~~
»Geht’s dir jetzt etwas besser?« Nick strich Martina über die Haare, als sie die Augen aufschlug.
»Hmhm.« Sie räkelte sich wie eine Katze, zuckte aber bei einer Drehbewegung ihres Beines wie vom Blitz getroffen zusammen. Nick sah deutlich, dass sie den Schmerzschrei nur mit Mühe unterdrückte. Klaus hatte sie vorhin völlig erledigt nach Hause gebracht worden und er hatte sie nicht gleich mit Fragen überfallen wollen, um zu erfahren, was man mit ihr im Krankenhaus alles angestellt hatte. Völlig widerstandslos hatte sie sich von ihm überzeugen lassen, sich einen Moment hinzulegen, und war fast sofort an ihn gekuschelt eingeschlafen. Er beugte sich vor und küsste sie sanft.
»Meinst du, du bist fit genug, um mit mir essen zu gehen?«, flüsterte er.
»Solange du danach nicht mit mir tanzen gehen willst.« Sie lächelte ihn verschlafen an. »Wie spät ist es?«
»Halb sieben, du hast fast vier Stunden geschlafen.«
»Oh!« Martina sah ihn betreten an. »Was hast du denn solange gemacht?«
Wenn ich dich nicht gerade gehalten und dir beim Schlafen zugesehen habe? Nick lächelte sie sanft an.
»Ach, ich hab ein bisschen rumtelefoniert, uns einen Tisch reserviert und solche Sachen.« Auf keinen Fall würde er ihr verraten, dass er stundenlang mit dem Krankenhaus in London telefoniert hatte, um an eine Kopie ihrer dortigen Patientenakte zu gelangen. Erst sein Onkel Iain als Arzt hatte es sozusagen von Kollege zu Kollege erreicht, dass man ihm die Akte gemailt hatte. Nick hatte einiges googeln müssen, aber inzwischen verstand er, worin das Problem lag. In den nächsten Tagen würde er sich auf die Suche nach dem besten Spezialisten machen, der Martina wieder auf die Beine bringen könnte. Manchmal war er einfach nur froh, dass Geld für ihn keine Rolle spielte. Je schneller er bei seiner Suche Erfolg hatte, umso weniger musste Martina leiden und war umso schneller wieder schmerzfrei. Und alle Ärzte, mit denen er gesprochen hatte, hatten ihm bestätigt, dass sie heftige Schmerzen haben musste. Wenigstens bei ungünstigen Bewegungen oder starker Belastung. Wie sie die ziemlich wilde Nacht überhaupt überstanden hatte, ohne vor Schmerzen zu schreien, war ihm ein Rätsel. Er küsste sie noch einmal sanft.
»Tisch reserviert, ja? Wo willst du denn mit mir hin?«
Martina richtete sich auf und Nick nahm bedrückt zur Kenntnis, dass sie jegliche Belastung auf der rechten Hüfte vermied.
»Ich dachte, sicher ist sicher. Lass dich überraschen.« Er lächelte sie sanft an. Genauso, wie er es für den Rest seines Lebens tun wollte.
»Ich wusste gar nicht, was man alles mit ein bisschen Herumtelefonieren erreichen kann.« Martinas Finger malten Anführungszeichen in die Luft und sie strahlte ihn an. Ihre Augen leuchteten wieder und Nick freute sich, dass es ihr offenbar sehr viel besser ging und sie das Ambiente im Esszimmer genießen konnte. Er hatte es sich dieses Mal nicht nehmen lassen, eines der teuren Restaurants in Salzburg auszusuchen. Nicht nur, dass es edel war, mit seinem Michelin-Stern kulinarisch etwas versprach und einen besonderen Ruf in der Stadt hatte. Ihm war es in erster Linie darum gegangen, dass die Tische teilweise in kleinen Alkoven und Nischen standen und man keine Sicht auf die Nachbartische hatte. So lief er wenigstens nicht Gefahr, doch noch erkannt zu werden und schloss unerwünschte neugierige Blicke aus. Er genoss es, dass Martina so gar keinen Wert auf den großen Auftritt legte und in dem dunkelgrünen Kleid und ihren zu einem Knoten aufgesteckten Haaren zwar wunderschön aussah, aber nichts an ihrem Outfit laut nach Aufmerksamkeit schrie.
Kate hatte aus einem einfachen Supermarktbesuch für einen Liter Milch ein Aufsehen erregendes Happening voller Glamour samt Selfies für Twitter machen können und manchmal war es ihm einfach zu viel gewesen. Einfach nur normal zu sein, in Ruhe gelassen zu werden, nichts Besonderes zu sein und nicht allein schon durch Anwesenheit aufzufallen, definitiv wurde es von all den anderen Menschen unterschätzt, fand er.
Auf dem Tisch zwischen ihnen lag eine langstielige rote Rose, nur mit etwas Spitze und Gaze umwickelt, und Martina hatte ihn vorhin, als sie Platz genommen hatten, darüber derartig überrascht und erfreut angestrahlt, dass er wusste, dass sich der Anruf in dem Blumenladen ebenfalls mehr als gelohnt hatte. Nick verspürte ein richtiges Hochgefühl und hatte keine Bedenken mehr, dass der weitere Abend nicht wie erhofft verlaufen würde. Trotz allem wurde er langsam nervös.
»Tommy, es war deine Idee, hierher zu gehen. Hör auf so nervös herumzurutschen. Ich glaube nicht, dass dich jemand erkannt hat und außerdem sind die Leute hier so distinguiert, dass sich mit Sicherheit keiner mit einem Aufschrei an deinen Hals werfen wird«, lachte Martina ihn aus. »Wir sitzen in einer Nische, keiner kann uns sehen und der Ober würde nicht mal zucken, wenn du Handstand machen würdest.«
Sie genoss den Abend. Die Schmerztabletten hatten vorhin endlich geholfen, sie war ausgeruht und fühlte sie sich nach der vergangenen Nacht völlig euphorisch, aber das lag mit Sicherheit an Nick und an seinem unwiderstehlichen Lächeln, mit dem er sie die ganze Zeit anstrahlte.
»Es ist alles in Ordnung.« Er nickte beschwichtigend und drehte aber dennoch nervös sein Weinglas hin und her. Dann holte er tief Luft.
»Damals, in London, als wir aus Newquay zurückgekommen sind, ich wollte dich etwas fragen, etwas Wichtiges, erinnerst du dich?«
Das Lächeln verschwand schlagartig von ihrem Gesicht. »Als ob ich mich nicht an diesen Abend erinnern könnte«, murmelte sie.
Nick nestelte an der Tasche seines Jacketts herum und zog ein kleines Kästchen heraus.
»Also, ich hatte mir das schon damals zurechtgelegt und bin heute einfach nur glücklich, dass ich das überhaupt noch fragen kann. Es ist wirklich wichtig für mich. Und für dich natürlich auch. Ich wollte fragen,… ob du… Ich meine, kannst du dir vorstellen ... würdest du …« Nick holte noch einmal tief Luft. »Also, noch mal in Kurzfassung, um es klar auszudrücken… also, ich liebe dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe und ich möchte wissen, ob du… meine Frau werden willst?« Glücklich, dass er die entscheidende Frage herausgebracht hatte, ohne noch mehr herumzustottern, schaute er Martina erwartungsvoll an. Er schob das kleine Kästchen zu ihr. »Willst du mich heiraten?«
Martina strahlte geradezu und Nick spürte, wie die Erleichterung ihn durchflutete.
»Wie geht der Text jetzt weiter?«, fragte sie fröhlich. »Was sagt deine Filmpartnerin? Haucht sie ein leises Ja und klatscht entzückt in die Hände, oder wirft sie dir den Ring an den Kopf und beschimpft dich als untreuen Mistkerl?«
Martina hatte kaum zu Ende gesprochen, als sie seinen irritierten Blick wahrnahm.
»Das war jetzt keine Filmszene, oder?« Sie sah ihn verstört an. Nick schüttelte langsam den Kopf.
»Du meinst das ernst, nicht wahr?«
Er nickte langsam.
»Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.« Martina schloss entsetzt für einen Moment die Augen.
»Wie wäre es mit der traditionellen Antwort?« Nick musste trotz allem lächeln. Er hatte sie offenbar völlig überrumpelt und sie sah einfach zu niedlich aus. Die riesengroß aufgerissenen Augen, der leicht offene Mund, der verblüffte Gesichtsausdruck. Er wartete auf die Rückkehr ihres glückseligen Strahlens, das sie den ganzen Abend über gehabt hatte.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie leise.
»Du … kannst nicht?« Fassungslos sah Nick sie an. »Was soll das heißen?«
»Ich kann das nicht.«
»Du kannst was nicht?«
»Ich kann dich nicht… heiraten.« Es war beinahe ein Aufschrei. »Du musst das verstehen.«
»Ich verstehe gar nichts.« Nick rieb sich die Stirn. »Gott, du hast schon so oft Nein zu Rupert gesagt, dass es schon Standard ist, oder?«
»Ruperts Auftritte waren fast schon so peinlich, wie das hier«, murmelte Martina.
»Wenn ich das jetzt richtig mitbekommen habe, hast du zwar letzte Nacht mit mir völlig hemmungslos geschlafen…«, aber du liebst mich nicht, wollte er fortfahren. Und biss sich gerade noch auf die Zunge, weil es ihn wie ein Blitz durchzuckte. Sein Unterbewusstsein hätte ihn beinahe aussprechen lassen, was es ihm seit der vergangenen Nacht ständig irgendwo im Hinterkopf herumspukte. Obwohl er ihr einige Dutzend Male in der Nacht ein I love you ins Ohr geflüstert hatte, hatte sie ihm nie geantwortet. Er hatte es verdrängt, es bewusst nicht bemerken wollen. Er hätte darüber nachdenken müssen und das war das Allerletzte, wozu er in dieser Nacht fähig gewesen wäre.
»Die letzte Nacht war …«, Martina suche verzweifelt nach Worten.
»Was? Was war die letzte Nacht?«, bohrte er nach, auch wenn er sicher war, dass er gar nicht hören wollte, was sie sagen würde.
»Es war sehr schön«, sagte sie leise und sah niedergeschlagen auf ihre Hände. »Aber ist das schon ausreichend, um zu heiraten?« Sie sah ihn gequält an.
»Verdammt, ich liebe dich mehr als ich ertragen kann. Ich kann nicht einfach nur ein Freund sein. Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Ich brauche dich wie die Luft zum Atmen.«
Martina griff nach Nicks Handgelenk und drehte es nach oben.
»Ich weiß«, murmelte sie. »Aber genau das setzt mich fast unerträglich unter Druck. Das ist wie Erpressung.«
Nick stöhnte auf. Das war das Letzte gewesen, was er erreichen wollte, als er ihr alles erzählt und nichts ausgelassen hatte.
»Aber die letzte Nacht?«, fragte er. Er hatte nur einen Kuss gewollt und war bereit gewesen zu gehen, als sie geradezu über ihn hergefallen war. Sie konnte sich doch von einem Kuss nicht so unter Druck gesetzt gefühlt haben, dass das Ganze dann derartig ausgeartet war.
»Vielleicht war es nicht mehr als ein riesengroßer Fehler«, sagte sie leise. »Ich hab mir einfach genommen, was sich geboten hat, das war nicht fair. Verzeih.« Martina schob ihren Stuhl zurück.
»Nicht fair?« Nick fuhr auf. »Würdest du mir das bitte erklären? Und bitte sieh mich dabei an. Sag es mir ins Gesicht. Das ist wohl das Mindeste, was ich erwarten kann.« Nick versuchte, ihren Blick zu fixieren. »Was hast du dir genommen?«
»Es war nicht richtig. Ich wollte das so sehr in dem Moment, aber es war nicht richtig, es mir einfach zu nehmen und nicht über die Folgen nachzudenken. Aber hätte ich ahnen können, dass so was dabei herauskommt?« Ihre Hand beschrieb einen Kreis um den Tisch. Martina holte tief Luft und sah ihm dann in die Augen.
»Du weißt doch selber, dass alles dagegen spricht…« Sie geriet ins Stocken
»Was, was spricht dagegen?« Nick war nicht bereit, sie ohne Erklärung gehen zu lassen. Martina stöhnte.
»Schau, wo du auftauchst, gibt es Menschen, die sich auf dich stürzen, Handys zücken, Kameras hochreißen. Ich kann das nicht. Ich will nicht flüchten müssen oder mich verstecken. Ich will keine unmöglichen Fotos von mir in der Zeitung finden. Ich will meine Kinder morgens in den Kindergarten bringen können und mich völlig normal mit den Müttern unterhalten dürfen, ohne befürchten zu müssen, dass sie alles, was ich sage, sofort dem nächsten Reporter erzählen. Die haben drei Tage den Laden und das Haus umlagert, als die Fotos vom Dachstein im Kurier waren.«
»Haben sie?« Seine Stimme rutschte vor Entsetzen nach oben weg. Sie hatte ihm das nie erzählt. Nick griff nach ihrer Hand und sah sie bittend an.
»Wir sitzen hier doch ganz ruhig und ungestört. Das sind Ausnahmen!«
»Das sagst ausgerechnet du? Du erinnerst dich an das furchtbare Foto mit dem nassen T-Shirt? Und die haben dir sogar am Haus deiner Eltern aufgelauert, als du aus der Klinik gekommen bist.«
»Kate wollte dir die Rolle in dem Projekt Max geben. So wie du aussiehst, würden dir spätestens dann alle Journalisten hinterher rennen.«
»Was für ein Blödsinn! Kate wollte mich in die Pfanne hauen.« Martina lachte bitter auf. »Ich hätte mich vor jedem Blitzlicht versteckt. Ich wäre auf keiner Premierenfeier erschienen und hätte keine Filmpromotion machen können.« Sie schob das Kästchen zurück auf seine Seite des Tisches.
»Du hast keine Ahnung, was das wirklich bedeutet. Du kannst das einfach nicht verstehen. Ich bin krank! Begreifst du das? Kein normaler Mensch will den Rest seines Lebens mit mir verbringen. Ich habe einen Behindertenausweis, ich darf nicht Autofahren, nicht unbeaufsichtigt an meinen Maschinen arbeiten, ich brauche einen Aufpasser. Verdammt, das Häusl und die Werkstatt sind nicht umsonst von allen Seiten einsehbar.« Martina schnaubte durch die Nase. »Das geht irgendwann an die Substanz, es nervt, wenn man ständig Rücksicht nehmen muss. Ich bin anstrengend, ich koste die Menschen Kraft. Frank, nicht einmal Frank, hält mich auf Dauer aus.«
»Jetzt sind wir endlich am entscheidenden Punkt angekommen, nicht wahr?«, fiel ihr Nick aufgebracht ins Wort. »Es geht doch nur um Frank, Frank und nochmals Frank! Sei wenigstens so ehrlich und gib es zu. Ich glaube, so langsam verstehe ich das. Vielleicht bin ich ja wirklich ein bisschen dumm, aber ich bin nicht blind. Mir hältst du Vorträge, dass du dich nach deiner Scheidung keinem anderen Mann in die Arme werfen willst, aber mit Frank schläfst du in einem Hotelzimmer, er übernachtet bei dir im Häusl. Er steht dir am nächsten, er ist derjenige, der vom Krankenhaus benachrichtigt wird. Ich weiß, dass ihr schon mal zusammengelebt habt. Was soll ich mir noch anderes dabei denken? Deine verdammte Scheidung ist schon Jahre her und nur noch eine dämliche Ausrede für den Tommy, der dumm genug war, dir zu glauben. Und ja, ich bin offenbar wirklich ein ziemlicher Idiot. Schon dass ich überhaupt diese Frage gestellt habe.« Er sah sie bitter an.
»Was soll das jetzt?« Verständnislos zog Martina die Augenbrauen zusammen. »Was hat Frank damit zu tun?« Sie bückte sich nach ihren Krücken und schob den Stuhl zurück.
»Bleib hier!« Er streckte die Hand nach ihr aus und Martina hatte Mühe nicht zu straucheln, als sie einen Schritt aus seiner Reichweite machte.
»Einen Grund hab ich noch«, zischte sie und warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Deine verdammte Trennung von Kate ist noch nicht so lange her. Und ich bin nicht gern die zweite Wahl!«, fauchte sie, bevor sie sich durch die Tische zum Ausgang schlängelte.
»Bleib hier, verdammt noch mal!«, schrie er hinter ihr her. Der Ober sah irritiert auf und auch an den Tischen drehte man sich überrascht nach ihm um. Nick setzte sich sofort wieder hin, um aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu kommen. »Bleib hier.« Dieses Mal flüsterte er nur noch.
Die Zeit, die er brauchte, um die Rechnung zu bezahlen, reichte vollkommen, dass er von dem Taxi nur noch die Rücklichter sah, als er endlich aus dem Restaurant stürzte. Hinter sich hörte er schnelle Schritte.
»Entschuldigung, aber ich glaube, Sie haben das hier vergessen.« Der Ober reichte ihm das kleine Schmuckkästchen.
»Äh, ja, danke.« Nick hatte Mühe, sich normal anzuhören und nicht einfach nur vor Frust und Ärger laut zu schreien. Wobei er sich über sich selber ärgerte. Schon darüber, dass sein Timing für diese brisante Frage offenbar völlig falsch gewesen war. Dass er Martina gerade überrumpelt hatte, so dass sie sich, fassungslos wie sie gewesen war, mit allen fadenscheinigen Ausflüchten versucht hatte herauszureden, die ihr nur eingefallen waren. Wenn er ihr nur Zeit gelassen hätte. Er hätte es definitiv langsamer angehen müssen. Frustriert schob er das Kästchen in die Jackentasche und ging zu seinem Wagen hinüber. Lange Zeit saß er einfach nur da, bevor er den Motor startete. Es mache ihn wahnsinnig, dass sie weggelaufen war, statt mit ihm zu reden. Er wollte allerdings auch noch nicht zu ihr in Häusl fahren. Es war ihm durch und durch gegangen, als sie ihm gesagt hatte, seine Frage zusammen mit den Narben an seinen Handgelenken würde sie unter Druck setzen. Dachte sie wirklich, dass er ihr alles nur aus diesem Grunde erzählt hatte? Als eine Art emotionale Erpressung? Wenn er zu ihr ins Häusl fahren würde, sah es tatsächlich viel zu sehr danach aus, als ob er sie mit einem Gespräch, das sie offenbar im Moment nicht wollte, unter Druck setzte. Nick fuhr langsam durch Salzburg, bis er aus der Stadt heraus war. Auf einem dunklen Parkplatz auf dem Gaisberg hielt er schließlich an und stieg aus. Perspektive ändern hätte es Dr. Anderson genannt. Aus der verfahrenen Situation heraustreten und die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Unter ihm lag die Stadt mit ihren Lichtern und sah von hier oben winzig aus. Ob der Abstand reichen würde, auch seine Probleme winzig werden zu lassen?
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Martina hatte sich hektisch zwischen den Tischen hindurch geschlängelt. Sie war von Nicks Frage so erschüttert gewesen, dass sie kaum gesehen hatte, wohin sie ging und war mehrmals an andere Stühle gestoßen. Sie hatte nicht gewusst, ob sie es überleben würde, wenn Nick hinterherkam, und mit ihr auf der Straße weiter diskutierte. Sie hatte nur gewusst, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Euphorie, die sie noch vor nicht mal einer halben Stunde gespürt hatte, war mit einem Mal wie weggeblasen gewesen. Nick machte ihr Angst. Er konnte doch nicht wirklich erwartet haben, dass sie einfach so Ja sagte. Es war nur eine Nacht gewesen, eine einzige Nacht!
Martina hatte vor dem Restaurant gestanden und nach links gesehen. Da sie weder nach Hause laufen noch sich das Taxi leisten konnte, hatte sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen, wie sie wegkam, bevor Nick auftauchte. Sie war über die Straße gegangen und in die schmale Gasse gegenüber getreten.
Vor dem Restaurant hielt ein Taxi und das Pärchen, das gewartet hatte, stieg ein. Direkt dahinter stürzte Nick auf die Straße und sah dem Wagen hinterher. Martina war dankbar, dass sie mit dem dunklen Kleid im Schatten stand. Sie wischte die Tränen auf ihren Wangen wütend weg. Wie hätte sie Nick erklären sollen, dass sie einfach nur Angst hatte. Angst, dass alles, was bisher in Liebesdingen bei ihr schief gelaufen war, wieder schief laufen würde. Sie hatte definitiv Angst, überhaupt wieder jemanden so dicht an sich herankommen zu lassen, dass er sie verletzten könnte. Viel zu oft war sie schon verletzt worden.
Und wenn Nick vorhin gesagt hatte, dass er sie liebte, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, dann konnte das durchaus wahr sein, aber gleichzeitig hatte er fast zwei Jahre gebraucht, um sich von seiner Freundin zu trennen. Wobei, fiel ihr ein, so wie er es erzählt hatte, war es Kate gewesen, die sich von ihm getrennt hatte. Nick hatte noch nicht einmal Zweifel gehabt, dass das Kind von ihm war.
Martina lehnte an der Hauswand und war froh, als Nick zu seinem Wagen hinüberging. Sie würde ihren Winkel im Schatten erst verlassen können, wenn er die Bewegung im Dunkeln nicht einmal mehr erahnen konnte.
Wenn sie daran dachte, wie oft sie sein Bild auf dem Tablet geküsst hatte, wie verliebt sie gewesen war. Aber da war Nick in sicherer Entfernung gewesen. Sie hatte nie Angst haben müssen, dass dieser unerreichbare Wunschtraum wahr werden würde. Sie hatte immer gewusst, dass er eine Freundin hatte. Dass er sich von ihr nicht getrennt hatte, war für sie ein völlig ausreichendes Zeichen gewesen, dass er in ihr nie mehr gesehen hatte, als eine lustige Freundin, eine Bekannte. Und dann hatte er in Newquay in dem Hotelzimmer neben ihr gelegen und Sommersprossen gezählt. Bis Kate angerufen hatte und er wie ertappt hochgeschossen war. Sie war nur zu froh gewesen, dass gar nichts passiert war. Wobei, doch, etwas war geschehen. Ihr Verhältnis hatte sich von kumpelhafter Freundschaft plötzlich auf einen anderen Status gestellt. Seit diesem Moment war er nicht mehr der witzige Freund gewesen, mit dem man eine lustige Zeit hatte. Mit diesem einen Satz, den er damals gesagt hatte, hatte er ihre Verteidigungsanlagen um ihr Herz zum Einstürzen gebracht, sie tief berührt. Bis Kate von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte. Und seitdem hatte sie versucht, Nick komplett zu vergessen, dankbar dafür, dass nie auch nur irgendetwas passiert war, was sie hätte bereuen müssen. Bis er am Vortag einfach in der Werkstatt aufgetaucht war. Und er vor ihrem Bett gekniet und leise erzählt hatte, was Kate angerichtet hatte, was Schuldgefühle anrichten konnten. Sie schnaubte durch die Nase. Als ob ausgerechnet sie nicht genau wusste, wie sich eine erdrückende Schuldenlast anfühlte. Fahrig wischte Martina sich erneut über die Wange.
Als er sie dann zum Abschied geküsst hatte, der erste Kuss, auf den sie so lange gewartet hatte, da hatte einfach irgendetwas in ihrem Hirn ausgesetzt. Sie hatte sich allen Ernstes gefragt, warum sie darauf verzichten sollte, sich einfach auch einmal etwas zu nehmen, so wie alle anderen das offenbar ständig taten. Wem tat sie damit weh, hatte sie sich gefragt. Und vorhin, bei Nicks Frage, war ihr klar geworden, wen sie damit verletzt hatte. Sie hatte ausgerechnet den Menschen bis ins Innerste getroffen, dem sie nie hatte weh tun wollen.
Wenn sie nicht bald von der Straße kam, würde irgendjemand sie ansprechen, und angesichts ihrer Heulerei als depressiv und gefährdet ins Krankenhaus bringen.
Krankenhaus! Martina sah um die Ecke zur Einfahrt der Landesklinik hinüber. Karl ist dort, war alles, was sie noch denken konnte, bevor sie sich langsam in Bewegung setzte.
Es war schon geschäftiges Morgentreiben im Rabengut, als Nick seinen Wagen parkte. Langsam stieg er aus und blieb unentschlossen auf dem Weg zum Häusl stehen.
»Guten Morgen.«
Er fuhr herum. Hanna stand am Tisch im Garten und räumte mit Mias Hilfe das Frühstücksgeschirr ab. Er winkte ihr kurz zu. Wie selbstverständlich übernahmen die Mädchen den Job, den Martina sonst machte. Aber Martina war auf Krücken. Sie konnte nicht einmal einen Teller tragen. Und genau deshalb war er noch einmal gekommen. Er würde ganz sachlich, als Freund, mit ihr darüber sprechen, was gegen ihre Schmerzen getan werden konnte. Das hatte er sich in der Nacht fest vorgenommen. Er hoffte nur, dass sie ihm zuhörte und nicht wieder einen solchen Rappel bekam wie bei ihrem Geburtstag, als sie ihn wegen des Teeservices mehr oder weniger rundgemacht hatte. Verdammt, er hatte mehr als genug Geld, und es würde reichen, damit sie ihre Beweglichkeit wieder bekam. Und dieses Mal würde er darauf bestehen, dass sie dies auch ausnutzte.
»Ihr seid aber früh in die Klinik gefahren. Ich hatte euch Frühstück oben reingestellt, aber da wart ihr schon weg.« Hanna deute mit einer raschen Geste zur Küche vom Häusl hinauf.
»Klinik? Sie war doch gestern mit Klaus dort.« Nick sah sie verständnislos an.
»Kommst du denn nicht aus der Klinik?« Hanna zog die Augenbrauen überrascht hoch. »Sie hat doch den OP-Termin heute.«
»Was für eine OP?«
»Hat sie dir das nicht erzählt? Sie bekommt heute das künstliche Hüftgelenk.«
Nick sah Hanna mit offenem Mund an. »Künstliches Hüftgelenk?«
Soweit war er mit seinen Recherchen und Onkel Iains Hilfe ebenfalls gekommen. Er hatte sich in den letzten Stunden darauf vorbereitet, wie er Martina dies bei ihrer Aversion gegen Krankenhäuser schmackhaft machen konnte, und dabei lag sie schon längst im OP. Er schüttelte fassungslos den Kopf.
»Aber ich verstehe nicht, warum sie dir nichts davon gesagt hat.«
Das verstand Nick allerdings auch nicht.
»Und wo kommst du her, wenn du nicht in der Klinik warst?« Hanna sah ihn genauer an und Nick wand regelrecht sich unter ihrem Blick.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast im Auto geschlafen, so zerknittert siehst du aus.«
»Ich hab gar nicht geschlafen«, murmelte Nick.
»Aber du warst auch nicht drüben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Oh, bitte, sag nicht, dass ihr euch schon wieder gestritten habt.« Hanna war kurz vor dem Verzweifeln.
»Wir sind gar nicht zum Streiten gekommen, weil sie vorher weggelaufen ist.« Nick fuhr sich müde durch die Haare. »Ich hab ihr einen Heiratsantrag gemacht.« Er wusste nicht, warum er das überhaupt erzählte, aber Hanna hatte mit seiner Mutter telefoniert. Sie stand auf einer Ebene mit seiner Familie. Vielleicht gab das den Ausschlag, ihr etwas zu erzählen, was er sonst mit sich selber abgemacht hätte.
Hanna strahlte ihn freudig an. »Herzlichen Glückwunsch.«
Nick zog abwehrend die Schultern hoch.
»Gratuliere lieber nicht, sie hat nein gesagt.«
»Sie hat was?« Hanna blieb der Mund offen stehen.
»Sie hat mir Argument um Argument aufgezählt, warum es nie klappen würde.«
»Ich versteh das nicht.« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte deutlich gesehen, dass Martina viel mehr für Nick empfand als sie sich selbst gegenüber zugeben würde. Und sie war so erleichtert gewesen, als es vor noch nicht einmal einem Tag so schien, als ob diese beiden sich endlich gefunden hatten.
»Müsst ihr eigentlich beide immer so stur sein?«
»Falsches Timing, ich weiß«, murmelte Nick. »Gott, sie war so erschrocken.«
»Sie hat gestern Abend bestimmt etwas anderes im Kopf gehabt.« Hanna sah ihn entschuldigend an. »Oben in der Küche ist Frühstück, auch wenn der Kaffee bestimmt schon kalt ist. Leg dich ein bisschen hin, du siehst aus, als ob du es gebrauchen kannst.«
»Mir ist so viel im Kopf rumgegangen…«
»Ich mach dich wach, wenn sie aus dem OP raus ist, und sag dir Bescheid.« Hanna legte ihm die Hand auf die Schulter und Nick ließ sich einfach von ihr ins Häusl schieben. Nach Frühstück war ihm gar nicht und so fiel er direkt ins Bett. In das Bett, das immer noch nach Martina roch, und ein bisschen auch nach ihm.
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Die Schwester deutete auf einen Sessel in der Besucherecke.
»Setzen Sie sich ruhig wieder hin, es wird noch ein Weilchen dauern.«
»So eine OP dauert doch keine sechs Stunden!«, begehrte Nick auf.
»Der Doktor wird kommen, sobald er Zeit hat.« Die Schwester sah ihn unnachgiebig an und verschwand dann wieder.
Nick trat ans Fenster. Seit drei Stunden tigerte er auf den Krankenhausfluren umher, blätterte in abgegriffenen Zeitschriften in einer Sprache, von der er kein Wort lesen konnte, und trank viel zu viel von dem lausigen Kaffee aus dem Automaten. Zwei Stunden hatte er geschlafen, dann war er aufgeschreckt und hatte Hanna gar nicht lange überreden müssen, damit sie ihm sagte, in welcher Klinik Martina war.
»Sie hat uns jeglichen Besuch verboten«, hatte Hanna eingewandt, aber dann doch nachgegeben.
»Wenn sie im Bett liegt, kann sie nicht mehr weglaufen. Geh hin und wasch ihr den Kopf! Sag ihr, dass sie total falsch liegt!«, hatte sie gemeint. Hannas auf dem Weg zurück ins Haus halb gemurmeltes »Dieses verrückte Huhn, sagt das Mädel Nein!«, hatte er trotzdem gehört, obwohl es vermutlich gar nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war.
Einerseits kam er sich mies vor, weil er im Krankenhaus war, obwohl Martina ihrer Familie jeglichen Besuch verboten hatte. Er war trotzdem dort, obwohl sie am Vortag seinen Antrag nicht angenommen hatte. Nick wusste nicht einmal, ob sie ihn überhaupt noch sehen wollte. Sie würde vielleicht eher Frank erwarten. Er seufzte. Er wollte doch nur wissen, wie die Operation ausgegangen war. Erst wenn er wusste, dass es ihr gut ging, würde er bereit sein, wieder nach Hause zu fahren.
Auf dem Flur wurden Schritte laut und Nick sah überrascht auf, als Karl Liponik in der Tür zum Besucherwarteraum stand und ihn ernst ansah.
»Du?« Nick war verblüfft. »Du bist Neurologe.« Das hier war die Orthopädie, schoss ihm durch den Kopf. Karl hatte hier nichts zu suchen.
Karls Blick schweifte einmal unruhig durch das Zimmer, bevor er Nick bei der Schulter griff.
»Komm mit«, sage er leise und schob ihn zur Tür. »Hanna hat mir gesagt, dass du hier bist.«
»Bitte, Karl, ich weiß, dass Martina keinen Besuch will und ich hier nichts verloren hab, aber ich will doch nur sehen, dass sie wieder wach ist.« Er würde nicht zulassen, dass Karl ihn wie einen unerwünschten Eindringling entfernte.
»Ich bring dich ja zu ihr.« Karl schob ihn den Flur hinunter.
»Wie geht es ihr? Sind sie endlich fertig?«, fragte Nick ungeduldig.
»Die Operation ist gut verlaufen.« Karl machte eine Pause, er rang sichtlich um Worte.
»Aber?« Irgendetwas an Karls Ton ließ Nick alarmiert aufsehen.
»Ich hab mir grade die Bilder vom CT angesehen.«
»CT? Mari kriegt eine künstliche Hüfte. Wozu braucht man da ein CT?«
Karl schob Nick in ein Arztzimmer und drückte ihn auf den Stuhl.
»Jetzt hör endlich zu, dann kann ich dir das erklären.«
»Was?«, schrie Nick fast.
»Martina ist aus der Narkose nicht mehr erwacht.«
Nick wurde schwarz vor seinen Augen. Er riss sie entsetzt wieder auf, als Karl ihn am Arm packte und leicht schüttelte.
»Hey, bleib hier. Wir brauchen dich jetzt. Als Martina nach der Narkose nicht aufgewacht ist, haben wir ein CT von ihrem Kopf gemacht. Dabei haben wir eine kleine Blutung gefunden, die wohl schon länger gesickert und mit der Zeit immer mehr Raum gefordert hat, was das Koma ausgelöst haben dürfte. Wir vermuten, dass sie sich die Sickerblutung bei dem Unfall in London zugezogen hat.«
Nick fuhr aufgeregt hoch. »Aber die haben damals auch ein CT gemacht. Da war nichts. Ich hab die Bilder selber gesehen!«
»Da wird auch noch nichts zu sehen gewesen sein. Diese kleinen Sickerblutungen sind so minimal, das kann Tage oder Wochen dauern bis sie auf den Bildern erkennbar sind. Die Blutung drückt inzwischen auf ein anderes Blutgefäß im Hirn, weshalb sie ins Koma gefallen ist.«
»Oh, Gott. Und was macht ihr jetzt? Ihr Gehirn aufbohren, damit das Blut ablaufen kann?«
»Wir können das medikamentös behandeln. Sie bekommt Medikamente. Die Blutung wird dadurch gestoppt. Dann kann kein weiteres Blut mehr austreten. Das subdurale Hämatom wird sich auflösen und dann sollte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder aufwachen. Ganz sicher«, versuchte Karl ihn zu beruhigen.
»Kann ich sie sehen?« Nicks Stimme war ein tonloses Flüstern.
Karl guckte ihn ernst an.
»Bitte, Karl, du weißt, was sie mir bedeutet.«
»Ich weiß doch«, sagte Karl leise. »Komm mit, ich bring dich rüber. Da nur Familienangehörige erlaubt sind, werde ich denen sagen, du bist ihr Bruder, okay?«
Karl brachte Nick auf die Intensivstation und gab ihm einen grünen Kittel, dann öffnete er die Tür zu einem Zimmer.
»Bitte, bekomm keinen Schreck, es sieht schlimmer aus, als es ist«, mahnte Karl, aber die Warnung kam zu spät. Nick öffnete entsetzt den Mund und blieb abrupt stehen. Unzählige Schläuche und Kabel waren an der bleichen Gestalt im Bett angeschlossen. Zuckende Linien huschten über den Monitor und irgendetwas piepste entnervend. Die Gitter am Bett waren hochgeklappt und auf der Innenseite gepolstert worden.
Nick starrte erschüttert auf den Beatmungsschlauch, der direkt in ihre Kehle führte, und die vielen anderen kleinen Schläuche, die an der riesigen Kanüle in Martinas Hals hingen. Jemand hatte über ihrem nackten Oberkörper das Bettuch nur halbherzig hochgezogen.
»Los, weiteratmen«, murmelte Karl neben ihm und packe ihn am Oberarm. Nick schnappte nach Luft.
»Darf ich näher ran?«
»Ja, ja«, nickte Karl. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, fügte er erklärend hinzu, als Nick sich über das Gitter beugte. Aber Nick verstand auch so. Keiner wollte riskieren, dass Martina sich noch mehr Schaden zufügte, wenn sie womöglich einen Grand Mal bekam und aus dem Bett fiel oder sich stieß.
Jede einzelne ihrer Sommersprossen hob sich dunkelbraun von der bleichen Haut ab. Der Schlauch mit all den Pflastern und Kompressen, der direkt in ihren Hals führte, war auf den ersten Blick fast zu viel für ihn. Ein dünnerer Schlauch führte in ihre Nase und neben ihm pumpte sich ein automatisches Blutdruckmessgerät an ihrem Oberarm auf.
»Mari, du musst aufwachen«, bat Nick inständig leise an ihrem Ohr. »Tu uns das nicht an. Bitte nicht.« Er richtete sich auf.
»Weiß Hanna Bescheid?«
»Ja, ich hab sie zuerst angerufen. Sie kann nicht weg, sie hat alle Kinder.«
Nick runzelte die Stirn. »Die Jungs waren oben bei Frank.«
»Frank ist bei irgendeinem Agrarkongress in Wien.«
So schlimm, wie die Situation im Moment auch war, Nick war mehr als froh, dass Frank nicht auftauchen würde.
»Rede ruhig mit ihr«, sagte Karl. »Viele Komapatienten können hören, was um sie herum geschieht. Lies ihr etwas vor, gib ihr das Gefühl, dass sie nicht allein ist.«
Er sah sich irritiert um, als um das Nachbarbett hinter dem Vorhang hektische Betriebsamkeit einsetzte. »Und ich werde sehen, ob ich nicht etwas für ein Einzelzimmer tun kann.«
»Karl, egal was es kostet, versuch es, okay? Versuch alles, was machbar ist, ja? Und wenn du irgendwelche Ärzte einfliegen lassen musst.«
»Es liegt nicht an den Ärzten, Tommy.« Nick hörte Karl schon gar nicht mehr richtig zu. Zögernd strich er Martina über das Haar und zog das Laken über ihrer Brust hoch.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4639-8
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