So eine Art Vorwort
Zum besseren Verständnis vorweg:
Da einige Personen in diesem Buch gehörlos sind, machen sie sich durch Gebärden verständlich. Sie sind in der wörtlichen Rede mit einfachen Anführungszeichen › ‹ gekennzeichnet, um sie von dem laut gesprochenen Wort » « unterscheiden zu können.
Ich habe diese Gebärden in gedrucktem Wort in korrekter Grammatik geschrieben, um das Lesen leichter zu machen.
DGS – Deutsche Gebärdensprache – kennt konjugierte Verben, Artikel und ausformulierte Sätze nicht. Ist etwas z.B. gestern geschehen, gibt die erste Gebärde – ein Winken über die Schulter – an, dass vergangen ist, was folgend mitgeteilt wird.
Der Satz „Ich bin gestern Rad gefahren“ wäre also: ›vergangen‹ ›ich‹ ›Fahrrad‹. (Wie viel Spaß dieser Ausflug gemacht hat, würde man an dem Gesichtsausdruck des Erzählenden sehen, freudestrahlend oder genervt, je nachdem).
Gehörlose verstricken sich üblicherweise nicht in langen Sätzen mit kompliziertem Aufbau, helfen ihrem Gegenüber aber durchaus mit synchronen Lippenbewegungen zu den Wörtern, die sie meinen, auf die Sprünge. Je eingespielter ein Team ist, umso weniger Gebärden sind nötig, damit man sich versteht. Weshalb sie gerne auf Gebärdendolmetscher zurückgreifen, die sie gut kennen.
»Nein Robin, lass das jetzt stehen, wir müssen doch los.« Martina Bienert seufzte. Wenn die Kinder doch bloß mal hören wollten. Aber je nervöser sie wurde, umso störrischer wurden ihre Söhne. Zum wiederholten Male sah die junge Frau gehetzt auf ihre Armbanduhr und bückte sich dann, um ihrem zappeligen zweijährigen Sohn zum Stillsitzen zu bewegen, während sie ihm die Schuhe anzog.
»Halt doch bitte mal still.« Genervt warf sie sich den langen geflochtenen Zopf über die Schulter und griff nach dem zweiten Schuh.
»Wohin, Mama?« Mit seinen großen, fast schwarzen Augen fixierte der kleine Junge seine Mutter, einen Daumen im Mund, den anderen an seinem Ohrläppchen.
»Weißt du doch. Frank holt euch gleich ab und ihr macht drei Tage Ferien bei ihm und Tante Elschen und Onkel Albert auf dem Hof oben.«
»Und was machst du?«, fragte Christopher. Er saß auf der schmalen Treppe ein paar Stufen über seinem kleinen Bruder.
»Hase, fragt mich doch nicht immer das Gleiche. Das hab ich dir doch schon fünf Mal erklärt.«
Martina warf sich den Zopf ungeduldig erneut über die Schulter und begann, Robins Arme in die Jeansjacke zu fädeln.
»Du darfst Zug fahren«, maulte Christopher.
»Ich muss arbeiten!«, stellte sie richtig. »Und komm nur mit dem Zug dorthin.«
Draußen knirschten Autoreifen auf dem Kies, gleichzeitig ertönte ein lautes Hupen.
»Los, kommt, beeilt euch. Frank ist schon da!« Auffordernd sah sie zu dem größeren Jungen hinüber, der den Kampf mit den Klettverschlüssen seiner Schuhe alleine ausgefochten hatte.
»Christopher, du hast Entenfüße. Tausch die Schuhe aus!«
»Guten Morgen, Lotti-Karotti!«
Hinter ihr erschien ein großer, breitschultriger Mann in der Haustür und begrüßte sie fröhlich, indem er an ihrem roten Zopf zog.
»Hab ich es mir doch fast gedacht! Wieder mal nicht fertig.«
»Halt ja den Mund«, maulte Martina. »Glaub ja nicht, dass es schneller geht, wenn du jetzt noch drängelst.«
»Sicher nicht.« Frank Wille grinste sie breit an, tauschte mit zwei raschen Griffen die Schuhe an den Füßen des Vierjährigen und griff nach der fertig gepackten Reisetasche neben der Tür, während er gleichzeitig Christopher vor sich her zum Geländewagen dirigierte.
»Los, Cowboy, rein mit dir!«
»Fra-hank, Fra-hank«, brüllte der kleinere der beiden Jungen hinter ihm. »Ich auch!«
»Na klar, du auch! Ohne dich geht doch gar nichts.« Er hob Robin mit Schwung in den Kindersitz auf der Rückbank und half ihm beim Anschnallen.
»Endlich fertig, du Schnarchnase?« Er wandte sich zu Martina um.
»Ich bin schon lange fertig! Es sind zwei kleine Kinder, die mich aufhalten!«
»Oh, der Verrat an deinen Söhnen ist bitter und schwer zu verkraften in frühester Kindheit...« Mit einer theatralischen Geste griff sich Frank an die Brust.
»Verschone mich mit deinen humorigen Weisheiten am frühen Morgen.« Martina ließ sich stöhnend auf den Beifahrersitz fallen, grinste Frank dabei aber breit an.
»Danke, dass du mich fährst.«
»Immer zu Ihren Diensten, Madam.«
Frank gab Gas und fuhr langsam aus der Einfahrt des Philharmonikerhäusls, dem kleinen Gästehaus vom Rabengut in Liefering. Es war nicht weit bis zum Salzburger Hauptbahnhof, aber die Strecke würde um diese Uhrzeit gnadenlos verstopft sein, vor allem die Hauptverbindung über die Lehener Brücke.
»Warum können wir nicht mitkommen mit dir?«, wollte Christopher wissen.
»Das hab ich dir doch schon gestern erklärt. Ich muss...«
»... arbeiten. Und das ist zu langweilig für uns. Und dann machen wir nur Blödsinn und das nervt dich. Das ist blöd.«
»Jeder muss arbeiten, um Geld zu verdienen. Das weißt auch du.«
»Aber er hat recht«, mischte sich Frank ein. »Claudia kann wirklich froh sein, dass du für sie einspringst.«
»Hör mal«, warf Martina aufgebracht ein, »das ist wohl das Mindeste, wenn ihre Mutter seit zwei Tagen im Krankenhaus ist.«
»Vorher hat Rupert dich auch nicht gefragt. Und wenn ihm dein Wohl so am Herzen liegen würde, wie er immer tut…«
»Sag mal! Du weißt doch, das Gehörlose ihre festen Dolmetscher haben. Und Rupert hat nun mal Claudia.«
»Außer sein Schwesterherz kann nicht. Dann greift er auf dich zurück!«
»Genau. So funktioniert das.«
»Du bist aber nicht zweite Wahl!«
»Natürlich! Wir sind alle bei irgendjemandem zweite Wahl oder noch weniger. So ist das Leben.«
Frank zog es vor zu schweigen. Es war absolut unnötig, Martina auch noch zu sagen, dass sie bei Marco, ihrem Exmann, offenbar in die Kategorie noch weniger gefallen war.
»Holt Rupert dich ab?«
»Nein, wir treffen uns erst im Hotel. Er muss sich um ein paar Gäste kümmern. Wo fährst du eigentlich hin? Du musst nach rechts zum Bahnhof!« Sie deutete in die entgegengesetzte Richtung, hinüber zur Salzburger Altstadt.
»Lass mich fahren, wie ich will. Hauptsache, du bekommst deinen Zug.«
Konzentriert fädelte Frank den Wagen in den zähfließenden Verkehr ein. Martina zog es vor, den Rest des Weges schweigend zurückzulegen. Es war immer besser, Frank nicht noch mehr zu reizen und schon gar nicht damit, dass sie ihm sagte, wie er fahren solle.
Am Bahnhof sprang sie hastig aus dem Wagen und verabschiedete sich von ihren Söhnen. Auch Frank bekam seine obligatorische Umarmung und einen liebevollen Kuss.
»Kleines, hast du alles? Brille? Geld? Bahnticket? Hotelbuchung? Kongressunterlagen? Dein Armband?«
»Impfbuch, Allergiepass, Handy für Kontrollanrufe«, äffte Martina ihn nach, »alles dabei.«
»Das Armband?« wiederholte Frank und sah sie mit einer hochgezogenen Braue an. Martina rollte mit den Augen, zog den Ärmel ihrer Jacke etwas hoch und klimperte mit dem Sammelarmband in seine Richtung.
»Natürlich! Kümmere dich einfach um deinen Kram, ja? Ich komm auch ganz alleine ohne dich klar.«
»Ruf an, wenn du da bist!« Frank grinste ihr breit hinterher. Sie würde natürlich nicht anrufen. Sie rief nie an. Aber sie würde sich darüber ärgern, dass er es gesagt hatte und das war völlig ausreichend.
~~~
Martina ließ sich aufatmend auf den Sitz im Zug plumpsen. Jetzt blieb nur noch, von Salzburg so schnell wie möglich nach München zu kommen. Hoffentlich hatte der Zug keine Verspätung. Es gab einfach Tage, da ging alles schief und genau so ein Tag schien es zu sein. Zu guter Letzt hatte sie die Kinder vorhin mit ihrer Ungeduld so nervös gemacht, dass sie sich bockbeinig wie die Esel verweigert hatten und überhaupt nichts mehr geklappt hatte. Seufzend griff sie nach den Konferenzunterlagen, die Claudia ihr gestern Abend noch vorbei gebracht hatte.
»Martina Bienert, du bist die beste Freundin, die ich habe. Das ist wirklich toll, dass du das für mich machst«, hatte sie gesagt. »Rupert hat fast die Krise bekommen, weil er sich schon mit einem Ersatzdolmetscher gesehen hatte, dem er jeden Satz hätte dreimal sagen müssen. Du weißt ja, wie er ist, bei ihm bricht in solchen Situationen ja immer das mittlere Chaos aus. Nie im Leben hätte er einen fremden Dolmetscher so fit machen können. Und ich kann jetzt einfach nicht fahren, wo Mama im Krankenhaus ist.«
Martina hatte alle Hände voll zu tun gehabt, ihre Freundin zu beruhigen und zu trösten. Eigentlich war es doch selbstverständlich, dass sie für Claudia einsprang, fand sie. Außerdem hatte Claudia recht. Rupert hätte mit Sicherheit auf die Schnelle nicht so leicht einen Ersatzdolmetscher gefunden. Und schon gar keinen, der ihm recht gewesen wäre. Rupert war sehr eigen mit den Ansprüchen an einen Dolmetscher. Umso glücklicher war er, dass Martina zugesagt hatte, Claudias Part zu übernehmen.
»Ihr versteht euch immer noch blind«, hatte Claudia gesagt.
Und genau da war das Problem, fand Martina. Rupert hatte ihr nie wirklich verziehen, dass sie seinen Antrag abgelehnt hatte und stattdessen Marco geheiratet hatte. Und Rupert würde auch in den nächsten Tagen keine Gelegenheit auslassen, ihr das wieder und wieder unter die Nase zu reiben.
Sie seufzte einmal tief auf, dann zog sie ihren Laptop aus der Tasche und öffnete das Bilderverzeichnis. An und für sich war es ein Witz, fand sie, dass Gehörlose Dolmetscher für die Verständigung untereinander brauchten. Aber fast jedes Land hatte im Laufe der Zeit eine eigene Gebärdensprache entwickelt und daher gab es die üblichen Verständigungsschwierigkeiten, wenn Menschen verschiedener Sprachen aufeinander trafen. Wenn wie bei den Amerikanern viel über ein Fingeralphabet buchstabiert wurde, setzte das voraus, dass das Gegenüber nicht nur Gebärden verstehen konnte, sondern dazu noch Englisch. Selbst Deutsche und Österreicher gebärdeten anders. Und genau an diesem Punkt kam sie ins Spiel. Sie konnte drei Gebärdensprachen. Sie war eine Art Joker. Claudia war schon seit Kindergartentagen ihre beste Freundin und die ersten Gebärden hatte sie wie nichts von ihr und Rupert gelernt. Als aus dem schlaksigen Jungen ein gutaussehender junger Mann geworden war, der ihr schöne Augen gemacht hatte, hatte sie wie selbstverständlich mehr und mehr Gebärden von ihm gelernt, gelernt, seine Körpersprache zu lesen und vor allem, mit ziemlicher Genauigkeit zu ahnen, was er ausdrücken wollte. Sie verstanden sich mit einem Mindestmaß an Gebärden. Sie verstanden sich viel zu gut, fand Martina. Er konnte in ihr lesen, wie in einem offenen Buch. Und manchmal war ihr das einfach zuviel.
Rupert war inzwischen Dozent an der Gallaudet Universität für Gehörlose in Washington. Er hatte ihr viel von den amerikanischen Gebärden beigebracht, aber da sie in den letzten fünf Jahren ohne praktische Anwendung aus der Übung gekommen war, musste sie ihr Gebärdenvokabular wieder auffrischen. Konzentriert begann sie einige Gebärden von den Bildern nachzuformen, während sie die englischen Worte lautlos vor sich hin murmelte. Sie war ihm dankbar, dass er sich die Mühe gemacht hatte, für sie eine Art Wörterbuch mit den ausgefalleneren amerikanischen Gebärden anzulegen. Sie würde noch bis zum nächsten Vormittag Zeit haben, sich wieder fit zu machen.
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Im Foyer vor dem Veranstaltungssaal blieb Martina einen Augenblick unschlüssig stehen. Um sie herum war ein unglaubliches Gewühl von Menschen. Am Vorabend noch hatte sie Rupert eine SMS geschickt, der sich für die Dauer des Kongresses bei Claudia häuslich eingerichtet hatte. Eigentlich hätte ja auch Martina dort schlafen sollen, aber sie hatte es vorgezogen, direkt im Tagungshotel zu wohnen. Hieß es doch zum einen, dass sie nicht jeden Tag zweimal den Weg durch die ganze Stadt machen musste. Außerdem hatte Rupert dadurch auch mehr Platz. Von früher wusste Martina nur zu genau, dass Rupert innerhalb kürzester Zeit eine unglaubliche Unordnung mit dem von ihm seiner Meinung nach unbedingt benötigen Krimskrams veranstalten konnte. Und es war bestimmt nicht besser geworden, seit er an der Universität unterrichtete und sich mehr denn je wie ein zerstreuter Professor benahm.
Dazu kam, dass nichts schlimmer wäre, als Rupert Tag und Nacht auf der Pelle sitzen zu müssen. Er würde ihr ständig die eine Frage stellen, die sie nicht mehr hören konnte, und von der er meinte, es wäre so lustig, es wieder und wieder zu tun. Es war eindeutig besser, wenn sie räumlich getrennt waren.
Sie reckte den Hals und sah sich suchend um. Es war ihr schleierhaft, wie Ruppert sie in diesem Gewühl finden wollte. Er würde nicht nach ihr rufen. Es war dazu nicht besonders hilfreich, dass sie wegen ihrer geringen Größe in der Menge leicht zu übersehen war, weil so ziemlich alle anderen sie lässig überragten. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als in der Nähe des Saaleingangs zu warten, bis sich das Foyer etwas geleert hatte.
Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie herum. Hinter ihr stand ein schlaksiger dunkelhaariger Mann und grinste sie fröhlich an.
›Hallo, Nett dich auch in natura und nicht nur beim Skypen auf dem Bildschirm zu sehen.‹
›Hallo, Rupert!‹ Sie lächelte. ›Wie hast du mich in dem Gewühl gefunden?‹
Statt einer Antwort griff Rupert nach ihrem Zopf und grinste nur vielsagend. Martina rollte mit den Augen. Seine Geste war so deutlich, als ob er es laut gesagt hätte. Mit dieser Haarfarbe konnte sie einfach nicht übersehen werden. Wieder einmal verwünschte sie das leuchtende Rot ihrer Haare. Warum sie als einzige ihrer Familie mit dieser Plage geschlagen war, war ihr unverständlich.
›Wie geht’s eurer Mutter?‹
›Besser, danke. Sie ist froh, dass Claudia bei ihr sein kann. Danke, dass du eingesprungen bist.‹
›War doch selbstverständlich.‹ Martina winkte ab. Allerdings hatte sie auch wieder Franks Lästereien im Ohr.
»Claudia hat genau gewusst, dass sie dich nur zu fragen braucht und dein Helfersyndrom wieder anspringt. Und unser gemeinsames Wochenende, das wir so lange geplant haben, fällt einfach so ins Wasser«, hatte er gemault.
»Wen hätte sie denn sonst fragen sollen?«, hatte Martina eingeworfen. »Außerdem kann ich das Geld gut gebrauchen.«
Das war endlich das Argument gewesen, das Frank zum Schweigen gebracht hatte. Wahrscheinlich würde er aus Trotz alleine mit den Jungs die Wanderung machen, vermutete sie.
»Warum tust du es nur immer wieder?«, hatte Frank gefragt. »Wenn er dir auf die Nerven geht und dich wieder fragt, schickst du ihn endgültig in die Wüste, klar?!« Er hatte sie so aufgebracht angesehen, dass sie diese Aufforderung einfach nur brav abgenickt hatte, damit er endlich Ruhe gab.
Rupert ging ihr nicht auf die Nerven. Ihr ging nur die eine Frage auf die Nerven, die er nur zu gerne stereotyp wiederholte. Sie hoffte inständig, dass er sich wenigstens während der Konferenz zusammennehmen würde.
Rupert dirigierte sie an den vielen Menschen vorbei zum Eingang zur Bühne.
›Hast du das Skript gelesen? Weißt du, was du sagen sollst?‹
Rupert sprang kopfüber in das Berufliche und Martina ließ sich sofort mitziehen. Er brauchte sie voll konzentriert und professionell, da würde es ihr nicht helfen, wenn sie über Frank nachdachte oder über die alten Zeiten mit Rupert. Sie würde ihm die nächsten Tage die Vorträge anderer übersetzen und seine Dolmetscherin in den verschiedenen Seminaren sein.
~~~
›Was jetzt?‹ Es war Mittag geworden, und Martina war selten so erleichtert über eine Pause gewesen. Sie sah Rupert fragend an.
›Ich habe vorhin einen Kommilitonen von der Uni getroffen. Wir haben uns zum Essen verabredet. Dachte, du kommst einfach mit.‹
›Ja. Gut.‹
Rupert griff nach ihrem Arm und zog sie über die Straße zu einem italienischen Restaurant. Zielstrebig steuerte er einen Tisch in der hinteren Ecke an, an dem bereits zwei Männer saßen und angeregt gestikulierten. Der eine trug seine dunkelblonden Haare kurzgeschnitten und blinzelte Martina fröhlich aus grauen Augen an, als Rupert ihn als Ethan vorstellte. Er erhob sich zu wahrer hünenhafter Größe, als er aufstand, um ihr die Hand zu geben.
›Das‹, grinste Rupert fröhlich in die Runde, ›ist Martina, die hübscheste Dolmetscherin, die ich kenne, und das ist Ethans Bruder.‹ Martina war bei Ruperts Gesten so rot geworden, dass sie ihren dunkelroten Haaren Konkurrenz machte. Befangen lächelte sie Ethan an und setzte sich rasch, als Rupert ihr einen Stuhl hinschob.
›Sorry, ich hab deinen Namen vergessen.‹ Rupert lächelte das Gegenüber von Ethan entschuldigend an, während er mit den Schultern zuckte.
›Ich bin Nick.‹ Seine Hände formten die Worte, ohne dabei seinen Blick von Martina abzuwenden.
Während des gesamten Vortrages vorhin war sein Blick schon immer wieder zu ihr hinüber gewandert, obwohl er ihre Gebärden nicht verstehen konnte. Sie war sehr konzentriert gewesen, als sie die amerikanischen Gebärden in deutsche übertragen hatte. Eigentlich schade, hatte Nick bedauert, dass aus diesem hübschen geschwungenen Mund kein Ton herauskam. Aber immerhin lächelte dieser Mund ihn im Moment auf ziemlich umwerfende Art an. Aus ihrem Zopf hatten sich einzelne Strähnen gelöst und ringelten sich vor ihren Ohren. Nick gab Rupert unumwunden und uneingeschränkt recht. Das war eindeutig und wahrhaftig die hübscheste Dolmetscherin, die es gab.
Entschuldigend hob sie die Hände.
›Ich hab den Namen leider nicht verstanden.‹
›Oh, ja natürlich.‹ Nick zuckte zusammen. Wie immer hatte er, um seinen Namen zu buchstabieren, das britische Fingeralphabet benutzt. Rasch buchstabierte er noch einmal mit den amerikanischen Zeichen. Er schenkte ihr eines seiner strahlendsten Lächeln, die er auf Lager hatte. Wenn sich die Gebärden ihrer Sprachen stärker unterschieden, würde er die ganze Zeit Ethan als Dolmetscher brauchen, der alles in amerikanische Gebärden übersetzte, oder er würde buchstabieren müssen, was jeglichen Gesprächsfluss hemmen würde.
›Das war die britische Variante, oder?‹ Ihre goldbraunen Augen sahen ihn interessiert an.
›Ja, britisch.‹ Er nickte hastig.
›Ich wollte schon immer mal jemanden kennenlernen, der mich in diese Kunstfertigkeit einweist.‹
›Soll ich?‹ Nick warf ihr einen fragenden Blick zu. Als sie nickte, sprang er auf.
›Gleich wieder da‹, machte seine Hand. Martina sah ihm interessiert hinterher. Er war schmaler und auch ein Stück kleiner als sein Bruder. Im Gegensatz zu Ethan hatte er dunkle wellige Haare, die er so lang trug, dass sie ihm in den Augen hingen und er sie ständig zurückstreichen musste. Die Augen waren ihr sofort aufgefallen. Sie waren so unwahrscheinlich blau, dass sie ständig hinsehen musste.
Mit einem jungenhaften Grinsen, das von seinem Bart beinahe verdeckt wurde, kehrte Nick zurück und schwenkte triumphierend einen Kugelschreiber, als er sich neben ihr niederließ.
›Also, die Hand ist folgendermaßen eingeteilt… darf ich?‹ Er hielt den Stift fragend hoch. Als Martina nickte, begann Nick, ihr das Alphabet auf die Hand zu malen. Er hatte unglaublich schmale sensible Hände, fand Martina, während sie ihm dabei zusah, wie er schrieb.
›Alles klar?‹ Er warf ihr ein kurzes strahlendes Lächeln zu, das ziemlich schnell wieder verschwand. Schade, dachte sie, dass immer die niedlichsten Kerle irgendein Handicap hatten. Entweder waren sie verheiratet, hatten so blöde Angewohnheiten wie Rauchen oder Drogen, waren schwul oder sonst was. Nun, Nick war ganz niedlich. Nein, entschied sie, er ist schlichtweg süß. Schade nur, dass sie solche Verständigungsschwierigkeiten hatten.
›Was machst du in England?‹ fragte sie.
›Ab und zu arbeite ich tatsächlich.‹
›Als was?‹
›Alles mögliche. Mal hier, mal dort.‹
›Haben Gehörlose es in England auch so schwer?‹
›Ich denke schon.‹ Pause. Und wieder so ein schüchternes Grinsen. Er verhielt sich ganz anders als andere Gehörlose, die Martina kannte. Meistens waren diese so glücklich, wenn sie jemand verstand, dass sie ohne Punkt und Komma redeten. Es blieb kaum Zeit zum Essen, weil die Hände ständig beschäftigt waren. Nick dagegen machte lange Pausen. Als ob er nicht wüsste, was er sagen sollte.
Rupert tippte Martina an. ›Du wirst dir was zu Essen bestellen müssen, wenn du nicht verhungern willst.‹ Er hielt ihr auffordernd die Karte hin.
›Ich nehm den Salat mit Thunfisch.‹ Martina deutete auf die entsprechende Stelle in der Karte. ›Entschuldigt mich bitte.‹ Sie stand mit einem raschen Lächeln auf und verschwand in Richtung Toilette.
Als sie wiederkam, hatten die Männer schon bestellt.
Für den Rest des Essens folge Martina den Händen von Rupert und Ethan und warf nur ab und zu eine kurze Bemerkung ein. Rupert fiel ihre Schweigsamkeit auf.
›Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns langsam zurückziehen. Die junge Dame hier hat noch einen anstrengenden Nachmittag vor sich.‹
Mit einem zustimmenden Nicken wurden sie von den beiden Brüdern entlassen. Nick sah dem leuchtend roten Zopf noch einen Moment hinterher.
›Na, Bruderherz, heute kein Glück bei den Frauen?‹ Ethans Gesten unterbrachten Nicks Gedanken.
›Nein, leider nicht. Schade, dass sie nicht hören kann.‹
›Die Kleine? Ja, aber nur schade für dich! Ist recht niedlich. Aber zu Hause wird dich ja dann Kate trösten.‹
›Ja, welch ein Trost.‹ Nick reckte den Hals, um noch einen letzten Blick auf Martina zu erhaschen.
›Wenn Kate deinen Gesichtsausdruck gerade gesehen hätte, gäb das wieder Tote!‹
›Sie weiß ja nicht, was ich dir gesagt habe. Und du wirst ihr das nicht sagen können.‹ Nick dachte nur einen kurzen Augenblick an Kate. Einerseits ärgerte er sich darüber, dass sie sich in den zwölf Jahren, die sie zusammen waren, immer wieder geweigert hatte, die Gebärdensprache zu lernen. Andererseits gab sie Nick und Ethan damit die Möglichkeit in ihrem Beisein Dinge zu bereden, die sie nicht hören sollte. Kate war im Moment in Los Angeles, weil ihre wichtigen Termine angeblich unaufschiebbar waren. Aber Nick wusste genau, dass sie es einfach unsäglich langweilig fand, von so einer großen Anzahl Gehörloser umgeben zu sein, die sie vielleicht nicht ausreichend beachten würden. Nick genoss es, dass Ethan ihn als Dolmetscher zu dieser Konferenz mitgenommen hatte, und er auf diese Art Los Angeles vermeiden konnte. Die Partys, auf die Kate ihn immer mitschleifte, waren einfach schon deshalb unerträglich, weil alle Gäste sich gegenseitig ständig beweisen mussten, wie wichtig sie waren. Als Ethan ihn gefragt hatte, ob er nicht zu der Tagung mitkommen wollte, weil er ohnehin schon in München sei, hatte er sofort zugesagt. Nick fuhr sich mit der Hand übers Kinn, während sein Blick über die Köpfe irrte, in der Hoffnung, doch noch einen Blick auf den roten Zopf zu erhaschen. Ethans Blick blieb an Nicks Bart hängen. Er hob die Hand und schnippte kurz vor Nicks Augen, bis dieser ihn wieder ansah.
›Irgendwie stört mich das Ding. Ich kann kaum sehen, was du sagst.‹
›Ist aber für die Tarnung sehr gut. Was meinst du, wäre hier los, wenn die mich erkennen würden? Ist schon besser so, auch wenn es höllisch juckt.‹
›Wenigstens hast du die alberne Sonnenbrille endlich abgemacht.‹
›Ja. War zu dunkel.‹
›Los, komm, lass uns noch ein bisschen um die Häuser ziehen. Ich brauch dich zum Frauenaufreißen. Sonst geht es mir wie dir und das Objekt meiner Begierde versteht mich nicht.‹ Mit einem breiten Grinsen zog Ethan seinen Bruder hoch.
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›Jetzt schau nicht so enttäuscht, bloß weil dieses rothaarige Mädchen heute nicht zu sehen war!‹ Ethan verpasste seinem Bruder einen Puff in die Rippen. Ihm war Nicks betrübter Gesichtsausdruck darüber, dass Martina nicht in einem der Gesprächsrunden und Seminare aufgetaucht war, nicht entgangen. Seine Dolmetscherkünste waren an diesem Tag gar nicht gefragt gewesen, weil der deutsche Vortrag in amerikanische Gebärden übertragen worden war, die Ethan selber verstand. Und so hatte er mit Kopfhörern gesessen und der englischen Übersetzung zugehört.
›Hast du Lust auf eine Party?‹
›Party?‹ echoten Nicks Hände lustlos.
›Rupert hat die Truppe von der Gallaudet mobil gemacht, zumindest die, die hier sind. Los, gib dir einen Ruck.‹
Wie groß war eigentlich die Chance, dass auch Martina auf der Party auftauchte, fragte sich Nick. Wenn er sich bloß erinnern könnte, ob sie gesagt hatte, auch auf der Uni gewesen zu sein. Er nickte unbestimmt, als Ethans Hände nochmals fragten, ob er mitkommen würde.
Mit einem tiefen Seufzer nahm Martina das Headset vom Kopf und einen großen Schluck aus dem Wasserglas. Es war ungleich anstrengender aus Ruperts spartanischen Gebärden druckreife Sätze zu formulieren, selbst wenn sie den Vortrag kannte, als ihm Gehörtes zu übersetzen. Rupert schaffte es einfach nicht, sich an sein eigenes Skript zu halten. Und so hatte sie den ganzen Vormittag vor einem Monitor gesessen, auf Ruperts Hände und Gesten gestarrt und gehofft, dass sie seinen Gedankensprüngen schnell genug folgen konnte, während sie gleichzeitig simultan laut übersetzt hatte. Sie trank das Glas aus. Wenn sie sich beeilte, dann konnte sie ziemlich früh bei Claudia sein. Es würde dann noch genug Zeit bleiben, um lange und ausgiebig miteinander quatschen zu können, bevor sie ins Hotel zurück musste, um für die Abreise zu packen.
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»Oh, Martina! Du bist ja schon da. Ich hab die ganze Zeit versucht, dich auf dem Handy zu erreichen.« Claudia zog Martina aufgeregt in den Hausflur.
»Wieso? Was gab’s denn Wichtiges? Ich hab das Ding vorhin ausgeschaltet und wohl vergessen, es wieder anzumachen.« Sie griff in die Handtasche und warf einen kritischen Blick auf das Display, dann schaltete sie das Telefon ein. Sollte sie Franks Kontrollanruf verpasst haben, wäre das nicht weiter dramatisch. Christopher und Robin verpasst zu haben, wäre viel schlimmer. Ein kleines Symbol auf dem Display zeigte ihr mehrere entgangene Anrufe an.
»Rupert hat mir eine Party seiner Uni-Clique angehängt. Ich wollte dich anrufen, weil ich weiß, dass Partys eigentlich nicht dein Ding sind. Wir hätten unseren Kaffeeklatsch auf morgen verschieben können.«
Martina sah Claudia enttäuscht an. Sie hatte sich auf einen Plauderabend mit ihrer Freundin gefreut und nun sollte ausgerechnet bei Claudia gleich das Leben toben. Aber den weiten Weg mit der S-Bahn gleich wieder zum Hotel zurück zu machen, dazu hatte sie eigentlich auch keine Lust.
»Überlass die Männer doch sich selber. Die brauchen uns doch gar nicht«, schlug sie schließlich vor.
Claudia grinste. »Rupert wird schon sehen, was er davon hat, wenn er einfach alle zu mir einlädt. Wird er sich mal um alles selber kümmern dürfen.«
Das Haus von Claudia und Bruno füllte sich rasch, obwohl es alles andere als klein war. Es dauerte nicht lange und überall saßen Leute herum, die wild in der Luft herumfuchtelten. Rupert hatte Martina keine Chance gelassen, sich aus der Affäre zu ziehen und mit Claudia zu verschwinden. Und so saß sie jetzt eingekeilt zwischen ihm und einem seiner Kommilitonen auf der Couch und hielt sich an ihrem Glas fest.
Nick bemühte sich, nicht zu auffällig zu dem rothaarigen Mädchen auf der gegenüberliegenden Seite hinüberzusehen. Ihre Hände tanzten durch die Luft, als ob sie sich nach einer Melodie bewegten, die nur sie hören konnte, und zu der ihr Armband mit den vielen bunten Bändern und Anhängern klingelte und klapperte.
›Na, deine Eroberung von gestern wieder entdeckt?‹ Ethan stieß seinem Bruder in die Rippen.
›Ja.‹ Nick versuchte, möglichst unbeteiligt zu gucken.
›Sehr schönes Kleid, das sie da anhat, man kann ihre Figur richtig gut sehen!‹ Ethan hob seine Hände zu einer anerkennenden Geste in Brusthöhe.
›Hör auf! Sie kann dich verstehen!‹ Verzweifelt versuchte Nick, seinen Bruder so herumzuziehen, dass Martina keinen direkten Blick auf seine Hände hatte.
›Das ist der Nachteil, wenn man jemanden kennenlernt, der uns versteht. Es gibt keine Geheimsprache mehr zwischen uns.‹ Ethan grinste spitzbübisch.
›Hallo, schön dich wiederzusehen. Umwerfendes Kleid.‹ Nick blieb wie zufällig neben Martina stehen, als sie sich endlich von Rupert und seinem Freund losreißen konnte und in das angrenzende Zimmer flüchtete.
›Oh, hi. Das hab ich doch vorhin schon mal gesehen?‹ Sie hob die Hände in Brusthöhe zu einer eindeutigen Geste. Trotz Ethans Frechheit lächelte sie ihn hinreißend an, fand er.
›Mein Bruder… war wohl etwas …‹ Nick kratze sich am Kopf.
›Direkt?‹ beendete Martina den Satz für ihn.
›Ja. Tut mir leid.‹
›Schon gut, das Kleid war Claudias Idee. Sie meinte, ich müsse mich für die Party netter zurechtmachen. Ich finde das Kleid auch ziemlich umwerfend. Wenn ich nicht aufpasse, wirft es mich um, weil der Rock so eng ist und ich keine großen Schritte machen kann.‹
Ihr verschmitztes Grinsen warf ihn beinahe um.
›Warst du auch auf der Uni in Washington?‹ fragte sie rasch, als eine Gesprächspause eintrat.
›Nein. Du?‹
Martina schüttelte den Kopf. Das Gespräch drohte erneut einzuschlafen.
Nick fiel nichts Unverfängliches mehr ein. Er dachte an das Verbot seines Bruders, außerhalb Englands nie über das Wetter zu reden.
›Willst du noch was zu trinken?‹ Er lächelte erleichtert über die rettende Idee.
›Ja, gerne.‹
›Warte hier. Nicht weglaufen. Ich bin in zwei Sekunden wieder da.‹
›Das ging aber schnell. Aber ich kann nicht mehr viel reden, wenn ich eine Hand voll habe.‹ Martina klemmte sich das schmale Glas unter den Arm, als sie die Gebärden machte.
›Wir könnten uns einen Tisch suchen.‹
In einer ruhigeren Ecke ließen sich beide nieder.
›Was machst du?‹ Schon wieder so eine banale Frage, fand Nick. Vor allem so unnötig. Er sah sie seit zwei Tagen wie ein Schatten neben Rupert stehen und hin und her übersetzen. Aber bis er zu den spannenden Fragen käme, würden drei Wochen vergehen.
›Ich bin im Recyclinggeschäft.‹
›Das ist bestimmt sehr interessant.‹ Was soll man auch bloß anderes zu so einer Arbeit sagen, ging ihm durch den Kopf. Recycling hieß doch nichts anderes, als Müll zu sammeln und zu sortieren. Vermutlich saß sie in irgendeinem Büro und organisierte die Fahrpläne der Müllautos. Aber offenbar war sie nicht die Vollzeitdolmetscherin von diesem Rupert und damit dessen ständige Begleiterin. Der besitzergreifende Blick von diesem Professor, als er sie gestern in dem Restaurant vorgestellt hatte, war ihm absolut nicht entgangen,.
›Wahnsinnig spannend.‹ Martina lächelte ironisch und Nick fühlte sich ertappt, weil seine Gedanken abgeschweift waren. Er brauchte die volle Konzentration auf ihre Gebärden, die so anders waren, als die, die er gewohnt war.
›Hier in München?‹,
›Nein, in Salzburg.‹ Sie fährt nicht zurück nach Amerika, jubelte er innerlich. Salzburg war nicht weit von München, gegen Washington war das wie ein Vorort von München.
›Ich war schon mal in Salzburg. Ich hab da Jedermann gesehen. Nett da.‹
Hinter ihnen begann das Telefon zu klingeln. Martina sah rasch auf. Von Claudia und Bruno war weit und breit nichts zu sehen und es war auch nicht zu erwarten, dass bei dem Geräuschpegel, den selbst Gehörlose veranstalten konnten, diese das Klingeln überhaupt hören würden.
›Moment mal‹, sagte ihre Hand, als sie zum Hörer griff.
Sie wechselte einige Worte mit dem Anrufer, bevor sie das Telefon zu Claudia hinüber trug, die sie endlich in dem Gewühl entdeckt hatte. Als sie zu Nick zurückkam, sahen sie die veilchenblauen Augen fassungslos an.
›Ist was?‹ signalisierte ihre Hand, während sie ihn abwartend ansah. Er war nicht an der Gallaudet Universität gewesen. Aber würde er trotzdem zu der Gruppe Gehörloser gehören, die sich als eigene Subkultur sah, und sich gegen die Bezeichnung behindert oder gehandicapt wehrte? Zu denen, die sie als Hörende einfach nur schon deshalb ablehnen würde, weil sie damit nicht zu ihnen gehörte? Sie wäre enttäuscht, wenn es so wäre.
Nick klappte den Mund wieder zu. Fragend ließ er seinen Finger vor dem Ohr kreisen.
»Du bist gar nicht taub?« fragte er laut. Martina sah ihn verblüfft an.
»Nein…«, sagte sie langsam, dann lachte sie laut los. »Du kannst hören? Meine Güte, sind wir blöd!«
»Oh, das ist wohl wahr.« Nick grinste Martina breit an.
Sooft er jemanden getroffen hatte, der amerikanisches Englisch von sich gab, war er davon gar nicht angetan gewesen. Für seine britischen Ohren klang es ziemlich ordinär, vor allem, wenn Frauen mit diesem breiten Südstaatenakzent sprachen. Martinas Akzent unterschied sich nur geringfügig von dem, was er vor dem heutigen Abend für vulgäres, undamenhaftes Amerikanisch gehalten hatte. Seit fünf Sekunden hielt er es für den niedlichsten und bezauberndsten Akzent, den er je gehört hatte.
»Wirklich blöd von mir. Ich hätte mir ja fast denken können, dass eine Dolmetscherin nicht gehörlos sein kann. Warum bin ich bloß nicht gleich auf die Idee gekommen? Wir hätten uns viel Verständigungsschwierigkeiten ersparen können.«
Nick klappte seinen Mund entsetzt wieder zu, als er merkte, dass er begann, wie ein Idiot ohne Ende zu quasseln, seit er ungehindert sprechen konnte.
»Hallo, ihr Süßen.« Claudia kam mit dem Telefon zurück. »Na, hast du dir den begehrtesten Junggesellen geangelt, der heute hier ist?«
»Was, wie?« Martina sah irritiert zu ihr auf.
»Sag bloß, du weißt nicht…« Claudia brach ab, als sie Nicks Kopfschütteln hinter Martinas Rücken sah. »Na, ich geb zu, dass der Bart ziemlich gut ist. Aber na ja… viel Spaß noch, ihr zwei.« Claudia verschwand mit einem anzüglichen Grinsen im Nebenzimmer. Martina drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln um, aber Nick wurde gerade von Ethan in eine andere Ecke gezogen. Alles was sie noch bekam, war ein Schulterzucken, begleitet von einem Lächeln, dass sie bestimmt nicht einschlafen lassen würde. Wie können Erwachsene noch so kindisch sein und Herzklopfen bekommen, weil sie angelächelt werden? Martina schüttelte innerlich entsetzt den Kopf über so viel Idiotie. Sie würde ihn sowieso nie wieder sehen. Er würde mit seinem Bruder nach England zurückkehren und sie würde einen Teufel tun, und ausgerechnet Rupert fragen, ob er eine Kontaktadresse hätte.
›Wir hatten gar keine Zeit, uns in Ruhe zu unterhalten.‹ Wie aus dem Boden gewachsen stand Rupert vor Martina, die einen kurzen Moment auf der Terrasse Ruhe gesucht hatte.
›Wenn du das gewollt hättest, hättest du keine Party veranstalten dürfen.‹ Mit einer Geste des übertriebenen Bedauerns breitete sie ihre Hände aus. Zum Glück waren viel zu viel Leute um sie herum, was Rupert hoffentlich davon abhalten würde, das ewig alte Thema zwischen ihnen wieder aufzukochen.
Mit einem theatralischen Gesichtsausdruck kniete Rupert sich hin. Sie hatte sich geirrt, eindeutig.
›Heirate mich‹, machten seine Hände.
›Wenn du nicht sofort aufstehst, schreie ich laut los.‹
›Ich würde es nicht hören!‹ Er grinste sie fröhlich an.
›Steh sofort auf! Die anderen gucken schon!‹
›Ich nehme das als ein Nein?‹
›Natürlich Nein! Warum fragst du mich das immer wieder?‹ Sie sah ihn verzweifelt an, während sie sich bemühte, ihn am Ellbogen ziehend zum Aufstehen zu bewegen.
›Du könntest deine Meinung geändert haben. Hast du ja schon mal.‹ Er klopfte sich die Knie ab, dann knuffte er sie freundschaftlich an die Schulter.
›Hey, guck nicht so!‹
›Das ist nicht lustig!‹
›Doch, das ist lustig!‹ Rupert hob sie hoch, schwenkte sie einmal im Kreis und gab ihr einen herzhaften Kuss. Als er sie endlich wieder absetzte und sie festen Boden unter den Füßen hatte, stieß Martina ihn ein Stück von sich.
›Rupert, bitte… wie oft soll ich mich noch entschuldigen? Wann lässt du das endlich sein?‹
»Nie, ich werde es nie sein lassen. Das macht viel zu viel Spaß! Was zum Trinken?‹ Er hob die Hand in einer charakteristischen Geste an den Mund, grinste sie fröhlich an und verschwand in Richtung Küche. Martina fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Hatte sie tatsächlich gerade noch gedacht, die vielen Leute auf der Party würden Rupert von solch einer Aktion abhalten? Sie starrte verärgert auf die Spuren der Wimperntusche auf ihrer Handfläche.
»Oh, du guckst aber böse. Alles in Ordnung?« Claudia sah sie fragend an, als sie auf die Terrasse trat.
»Ja, alles okay, nur erledigt. War ein anstrengender Tag.«
»Hat Rupert sich benommen? Oder waren die zwei Tage mit ihm schlimm?« Claudia sah sie mitfühlend an.
»Wenn du wissen willst, ob er mich wie immer alle Stunde wieder gefragt hat, ob ich ihn heiraten will, nein. Aber gerade eben.«
»Das würde allerdings deine finstere Miene erklären. Macht er das immer noch? Das tut mir wirklich leid. Wenn ich gewusst hätte, dass er dich nur ärgern will, hätte ich dich nicht gebeten, für mich einzuspringen. Er hat extra nach dir gefragt.«
»Warte! Er hat extra nach mir gefragt?« Martina sah Claudia mit offenem Mund an.
»Scheint, dass er sich immer noch Hoffnungen macht. Obwohl ich ja dachte, er hätte in Washington endlich eine Frau gefunden, die seinen Ansprüchen gerecht wird.«
»Die ihm die Leviten liest, hoffentlich«, murmelte Martina.
»Seit du ihm damals den Laufpass gegeben hast, ist ja keine mehr gut genug gewesen.«
»Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Das ist doch mindestens acht Jahre her! Ich hab ihn ja lieb, aber es reicht nicht zum Heiraten. Ich will ihn einfach nicht anlügen.«
»Versteh ich doch. Ist ja auch bestimmt die richtige Entscheidung gewesen.«
»Es ist immer noch die richtige Entscheidung. Wenn er das doch nur einsehen würde…« Martina seufzte tief. »Komm, ich helf dir ein bisschen in der Küche.« Sie hakte sich bei Claudia ein und ging mit ihr zur Küche.
Nick stand im Garten und hob langsam sein Glas. Schluck für Schluck trank er es bedächtig leer. Er hatte zwar kaum eine Geste verstanden, die die beiden da vor ihm ausgetauscht hatten, vor dem erleuchteten Fenster als Silhouetten bis weit in den Garten sichtbar. Aber den Kniefall hatte er offenbar richtig interpretiert. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er unendlich froh war, dass Martina Rupert auf die Füße gezerrt hatte und ihm offenbar die falsche Antwort gegeben hatte. Zumindest wurde aus dem Haus kein großes Hallo laut und es knallten auch keine Sektkorken. Er würde noch weiterhin träumen können von einem rothaarigen Mädchen mit einem Haufen Sommersprossen auf der Nase. Und was er alles unternehmen würde, um Rupert aus dem Rennen zu werfen, weil der Kerl überhaupt nicht danach ausgesehen hatte, als ob er aufgeben würde oder Martinas Nein akzeptiert hätte.
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2015
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