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Vorblatt Vorwort und 1. Kapitel

 

 

Der Geruch von Licht

von

Bettina Wohlert

 

 

Inhalt:

 

Mari ist jung und lebenslustig und lässt sich nicht unterkriegen, obwohl sich das Leben gerade für sie oft genug quer gestellt hat. Eines Tages trifft sie Nick, den Mann mit den unglaublich blauen Augen, den zum drin Versinken blauen Augen. Und einem Lächeln, bei dem die Sonne aufgeht und Mari dann erst bemerkt, dass es seit Ewigkeiten Nacht um sie herum war. Wenn da nicht noch Rupert und Frank wären. Und wenn sie nicht ein paar Geheimnisse hätte, die sie auf keinen Fall jemand anvertrauen darf.

Aber auch Nick hat so seine Geheimnisse und erzählt nicht alles.

 

Ein Roman über die große Liebe, über Vertrauen, Verlust und die kleineren und größeren Gemeinheiten des Lebens.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bettina Wohlert, Jahrgang 1965, lebt mit ihren beiden Söhnen in Berlin. Hauptberuflich arbeitet sie als Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte. Viele Jahre schon schreibt sie Kurzgeschichten und kleine Theaterstücke, die in Gottesdiensten für kirchenferne Besucher aufgeführt worden sind, sowie Krippenspiele der moderneren Art. Ihr erster Roman „Das Sonnenmal“ erschien 2013 und wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.

 

Bisher erschienen:

Das Sonnenmal - 2013

Fünf-Wort-Geschichten – 2014

 

Alle Bücher als eBooks auf Amazon und als Taschenbuch im Online-Shop https://supr.com/online-shop-bettina-wohlert/buecher/das-sonnenmal-taschenbuch/

 

 

 

Der Geruch von Licht

 

von

 

Bettina Wohlert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © by Bettina Wohlert 2015

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen außerhalb der Nutzung auf einem

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So eine Art Vorwort

 

Zum besseren Verständnis vorweg:

Da einige Personen in diesem Buch gehörlos sind, machen sie sich durch Gebärden verständlich. Sie sind in der wörtlichen Rede mit einfachen Anführungszeichen › ‹ gekennzeichnet, um sie von dem laut gesprochenen Wort » « unterscheiden zu können.

Ich habe diese Gebärden in gedrucktem Wort in korrekter Grammatik geschrieben, um das Lesen leichter zu machen.

DGS – Deutsche Gebärdensprache – kennt konjugierte Verben, Artikel und ausformulierte Sätze nicht. Ist etwas z.B. gestern geschehen, gibt die erste Gebärde – ein Winken über die Schulter – an, dass vergangen ist, was folgend mitgeteilt wird.

Der Satz „Ich bin gestern Rad gefahren“ wäre also: ›vergangen‹ ›ich‹ ›Fahrrad‹. (Wie viel Spaß dieser Ausflug gemacht hat, würde man an dem Gesichtsausdruck des Erzählenden sehen, freudestrahlend oder genervt, je nachdem).

Gehörlose verstricken sich üblicherweise nicht in langen Sätzen mit kompliziertem Aufbau, helfen ihrem Gegenüber aber durchaus mit synchronen Lippenbewegungen zu den Wörtern, die sie meinen, auf die Sprünge. Je eingespielter ein Team ist, umso weniger Gebärden sind nötig, damit man sich versteht. Weshalb sie gerne auf Gebärdendolmetscher zurückgreifen, die sie gut kennen.

 

 

»Nein Robin, lass das jetzt stehen, wir müssen doch los.« Martina Bienert seufzte. Wenn die Kinder doch bloß mal hören wollten. Aber je nervöser sie wurde, umso störrischer wurden ihre Söhne. Zum wiederholten Male sah die junge Frau gehetzt auf ihre Armbanduhr und bückte sich dann, um ihrem zappeligen zweijährigen Sohn zum Stillsitzen zu bewegen, während sie ihm die Schuhe anzog.

»Halt doch bitte mal still.« Genervt warf sie sich den langen geflochtenen Zopf über die Schulter und griff nach dem zweiten Schuh.

»Wohin, Mama?« Mit seinen großen, fast schwarzen Augen fixierte der kleine Junge seine Mutter, einen Daumen im Mund, den anderen an seinem Ohrläppchen.

»Weißt du doch. Frank holt euch gleich ab und ihr macht drei Tage Ferien bei ihm und Tante Elschen und Onkel Albert auf dem Hof oben.«

»Und was machst du?«, fragte Christopher. Er saß auf der schmalen Treppe ein paar Stufen über seinem kleinen Bruder.

»Hase, fragt mich doch nicht immer das Gleiche. Das hab ich dir doch schon fünf Mal erklärt.«

Martina warf sich den Zopf ungeduldig erneut über die Schulter und begann, Robins Arme in die Jeansjacke zu fädeln.

»Du darfst Zug fahren«, maulte Christopher.

»Ich muss arbeiten!«, stellte sie richtig. »Und komm nur mit dem Zug dorthin.«

Draußen knirschten Autoreifen auf dem Kies, gleichzeitig ertönte ein lautes Hupen.

»Los, kommt, beeilt euch. Frank ist schon da!« Auffordernd sah sie zu dem größeren Jungen hinüber, der den Kampf mit den Klettverschlüssen seiner Schuhe alleine ausgefochten hatte.

»Christopher, du hast Entenfüße. Tausch die Schuhe aus!«

»Guten Morgen, Lotti-Karotti!«

Hinter ihr erschien ein großer, breitschultriger Mann in der Haustür und begrüßte sie fröhlich, indem er an ihrem roten Zopf zog.

»Hab ich es mir doch fast gedacht! Wieder mal nicht fertig.«

»Halt ja den Mund«, maulte Martina. »Glaub ja nicht, dass es schneller geht, wenn du jetzt noch drängelst.«

»Sicher nicht.« Frank Wille grinste sie breit an, tauschte mit zwei raschen Griffen die Schuhe an den Füßen des Vierjährigen und griff nach der fertig gepackten Reisetasche neben der Tür, während er gleichzeitig Christopher vor sich her zum Geländewagen dirigierte.

»Los, Cowboy, rein mit dir!«

»Fra-hank, Fra-hank«, brüllte der kleinere der beiden Jungen hinter ihm. »Ich auch!«

»Na klar, du auch! Ohne dich geht doch gar nichts.« Er hob Robin mit Schwung in den Kindersitz auf der Rückbank und half ihm beim Anschnallen.

»Endlich fertig, du Schnarchnase?« Er wandte sich zu Martina um.

»Ich bin schon lange fertig! Es sind zwei kleine Kinder, die mich aufhalten!«

»Oh, der Verrat an deinen Söhnen ist bitter und schwer zu verkraften in frühester Kindheit...« Mit einer theatralischen Geste griff sich Frank an die Brust.

»Verschone mich mit deinen humorigen Weisheiten am frühen Morgen.« Martina ließ sich stöhnend auf den Beifahrersitz fallen, grinste Frank dabei aber breit an.

»Danke, dass du mich fährst.«

»Immer zu Ihren Diensten, Madam.«

Frank gab Gas und fuhr langsam aus der Einfahrt des Philharmonikerhäusls, dem kleinen Gästehaus vom Rabengut in Liefering. Es war nicht weit bis zum Salzburger Hauptbahnhof, aber die Strecke würde um diese Uhrzeit gnadenlos verstopft sein, vor allem die Hauptverbindung über die Lehener Brücke.

»Warum können wir nicht mitkommen mit dir?«, wollte Christopher wissen.

»Das hab ich dir doch schon gestern erklärt. Ich muss...«

»... arbeiten. Und das ist zu langweilig für uns. Und dann machen wir nur Blödsinn und das nervt dich. Das ist blöd.«

»Jeder muss arbeiten, um Geld zu verdienen. Das weißt auch du.«

»Aber er hat recht«, mischte sich Frank ein. »Claudia kann wirklich froh sein, dass du für sie einspringst.«

»Hör mal«, warf Martina aufgebracht ein, »das ist wohl das Mindeste, wenn ihre Mutter seit zwei Tagen im Krankenhaus ist.«

»Vorher hat Rupert dich auch nicht gefragt. Und wenn ihm dein Wohl so am Herzen liegen würde, wie er immer tut…«

»Sag mal! Du weißt doch, das Gehörlose ihre festen Dolmetscher haben. Und Rupert hat nun mal Claudia.«

»Außer sein Schwesterherz kann nicht. Dann greift er auf dich zurück!«

»Genau. So funktioniert das.«

»Du bist aber nicht zweite Wahl!«

»Natürlich! Wir sind alle bei irgendjemandem zweite Wahl oder noch weniger. So ist das Leben.«

Frank zog es vor zu schweigen. Es war absolut unnötig, Martina auch noch zu sagen, dass sie bei Marco, ihrem Exmann, offenbar in die Kategorie noch weniger gefallen war.

»Holt Rupert dich ab?«

»Nein, wir treffen uns erst im Hotel. Er muss sich um ein paar Gäste kümmern. Wo fährst du eigentlich hin? Du musst nach rechts zum Bahnhof!« Sie deutete in die entgegengesetzte Richtung, hinüber zur Salzburger Altstadt.

»Lass mich fahren, wie ich will. Hauptsache, du bekommst deinen Zug.«

Konzentriert fädelte Frank den Wagen in den zähfließenden Verkehr ein. Martina zog es vor, den Rest des Weges schweigend zurückzulegen. Es war immer besser, Frank nicht noch mehr zu reizen und schon gar nicht damit, dass sie ihm sagte, wie er fahren solle.

Am Bahnhof sprang sie hastig aus dem Wagen und verabschiedete sich von ihren Söhnen. Auch Frank bekam seine obligatorische Umarmung und einen liebevollen Kuss.

»Kleines, hast du alles? Brille? Geld? Bahnticket? Hotelbuchung? Kongressunterlagen? Dein Armband?«

»Impfbuch, Allergiepass, Handy für Kontrollanrufe«, äffte Martina ihn nach, »alles dabei.«

»Das Armband?« wiederholte Frank und sah sie mit einer hochgezogenen Braue an. Martina rollte mit den Augen, zog den Ärmel ihrer Jacke etwas hoch und klimperte mit dem Sammelarmband in seine Richtung.

»Natürlich! Kümmere dich einfach um deinen Kram, ja? Ich komm auch ganz alleine ohne dich klar.«

»Ruf an, wenn du da bist!« Frank grinste ihr breit hinterher. Sie würde natürlich nicht anrufen. Sie rief nie an. Aber sie würde sich darüber ärgern, dass er es gesagt hatte und das war völlig ausreichend.

 

~~~

 

Martina ließ sich aufatmend auf den Sitz im Zug plumpsen. Jetzt blieb nur noch, von Salzburg so schnell wie möglich nach München zu kommen. Hoffentlich hatte der Zug keine Verspätung. Es gab einfach Tage, da ging alles schief und genau so ein Tag schien es zu sein. Zu guter Letzt hatte sie die Kinder vorhin mit ihrer Ungeduld so nervös gemacht, dass sie sich bockbeinig wie die Esel verweigert hatten und überhaupt nichts mehr geklappt hatte. Seufzend griff sie nach den Konferenzunterlagen, die Claudia ihr gestern Abend noch vorbei gebracht hatte.

»Martina Bienert, du bist die beste Freundin, die ich habe. Das ist wirklich toll, dass du das für mich machst«, hatte sie gesagt. »Rupert hat fast die Krise bekommen, weil er sich schon mit einem Ersatzdolmetscher gesehen hatte, dem er jeden Satz hätte dreimal sagen müssen. Du weißt ja, wie er ist, bei ihm bricht in solchen Situationen ja immer das mittlere Chaos aus. Nie im Leben hätte er einen fremden Dolmetscher so fit machen können. Und ich kann jetzt einfach nicht fahren, wo Mama im Krankenhaus ist.«

Martina hatte alle Hände voll zu tun gehabt, ihre Freundin zu beruhigen und zu trösten. Eigentlich war es doch selbstverständlich, dass sie für Claudia einsprang, fand sie. Außerdem hatte Claudia recht. Rupert hätte mit Sicherheit auf die Schnelle nicht so leicht einen Ersatzdolmetscher gefunden. Und schon gar keinen, der ihm recht gewesen wäre. Rupert war sehr eigen mit den Ansprüchen an einen Dolmetscher. Umso glücklicher war er, dass Martina zugesagt hatte, Claudias Part zu übernehmen.

»Ihr versteht euch immer noch blind«, hatte Claudia gesagt.

Und genau da war das Problem, fand Martina. Rupert hatte ihr nie wirklich verziehen, dass sie seinen Antrag abgelehnt hatte und stattdessen Marco geheiratet hatte. Und Rupert würde auch in den nächsten Tagen keine Gelegenheit auslassen, ihr das wieder und wieder unter die Nase zu reiben.

 

Sie seufzte einmal tief auf, dann zog sie ihren Laptop aus der Tasche und öffnete das Bilderverzeichnis. An und für sich war es ein Witz, fand sie, dass Gehörlose Dolmetscher für die Verständigung untereinander brauchten. Aber fast jedes Land hatte im Laufe der Zeit eine eigene Gebärdensprache entwickelt und daher gab es die üblichen Verständigungsschwierigkeiten, wenn Menschen verschiedener Sprachen aufeinander trafen. Wenn wie bei den Amerikanern viel über ein Fingeralphabet buchstabiert wurde, setzte das voraus, dass das Gegenüber nicht nur Gebärden verstehen konnte, sondern dazu noch Englisch. Selbst Deutsche und Österreicher gebärdeten anders. Und genau an diesem Punkt kam sie ins Spiel. Sie konnte drei Gebärdensprachen. Sie war eine Art Joker. Claudia war schon seit Kindergartentagen ihre beste Freundin und die ersten Gebärden hatte sie wie nichts von ihr und Rupert gelernt. Als aus dem schlaksigen Jungen ein gutaussehender junger Mann geworden war, der ihr schöne Augen gemacht hatte, hatte sie wie selbstverständlich mehr und mehr Gebärden von ihm gelernt, gelernt, seine Körpersprache zu lesen und vor allem, mit ziemlicher Genauigkeit zu ahnen, was er ausdrücken wollte. Sie verstanden sich mit einem Mindestmaß an Gebärden. Sie verstanden sich viel zu gut, fand Martina. Er konnte in ihr lesen, wie in einem offenen Buch. Und manchmal war ihr das einfach zuviel.

Rupert war inzwischen Dozent an der Gallaudet Universität für Gehörlose in Washington. Er hatte ihr viel von den amerikanischen Gebärden beigebracht, aber da sie in den letzten fünf Jahren ohne praktische Anwendung aus der Übung gekommen war, musste sie ihr Gebärdenvokabular wieder auffrischen. Konzentriert begann sie einige Gebärden von den Bildern nachzuformen, während sie die englischen Worte lautlos vor sich hin murmelte. Sie war ihm dankbar, dass er sich die Mühe gemacht hatte, für sie eine Art Wörterbuch mit den ausgefalleneren amerikanischen Gebärden anzulegen. Sie würde noch bis zum nächsten Vormittag Zeit haben, sich wieder fit zu machen.

 

~~~

 

Im Foyer vor dem Veranstaltungssaal blieb Martina einen Augenblick unschlüssig stehen. Um sie herum war ein unglaubliches Gewühl von Menschen. Am Vorabend noch hatte sie Rupert eine SMS geschickt, der sich für die Dauer des Kongresses bei Claudia häuslich eingerichtet hatte. Eigentlich hätte ja auch Martina dort schlafen sollen, aber sie hatte es vorgezogen, direkt im Tagungshotel zu wohnen. Hieß es doch zum einen, dass sie nicht jeden Tag zweimal den Weg durch die ganze Stadt machen musste. Außerdem hatte Rupert dadurch auch mehr Platz. Von früher wusste Martina nur zu genau, dass Rupert innerhalb kürzester Zeit eine unglaubliche Unordnung mit dem von ihm seiner Meinung nach unbedingt benötigen Krimskrams veranstalten konnte. Und es war bestimmt nicht besser geworden, seit er an der Universität unterrichtete und sich mehr denn je wie ein zerstreuter Professor benahm.

Dazu kam, dass nichts schlimmer wäre, als Rupert Tag und Nacht auf der Pelle sitzen zu müssen. Er würde ihr ständig die eine Frage stellen, die sie nicht mehr hören konnte, und von der er meinte, es wäre so lustig, es wieder und wieder zu tun. Es war eindeutig besser, wenn sie räumlich getrennt waren.

Sie reckte den Hals und sah sich suchend um. Es war ihr schleierhaft, wie Ruppert sie in diesem Gewühl finden wollte. Er würde nicht nach ihr rufen. Es war dazu nicht besonders hilfreich, dass sie wegen ihrer geringen Größe in der Menge leicht zu übersehen war, weil so ziemlich alle anderen sie lässig überragten. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als in der Nähe des Saaleingangs zu warten, bis sich das Foyer etwas geleert hatte.

Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie herum. Hinter ihr stand ein schlaksiger dunkelhaariger Mann und grinste sie fröhlich an.

›Hallo, Nett dich auch in natura und nicht nur beim Skypen auf dem Bildschirm zu sehen.‹

›Hallo, Rupert!‹ Sie lächelte. ›Wie hast du mich in dem Gewühl gefunden?‹

Statt einer Antwort griff Rupert nach ihrem Zopf und grinste nur vielsagend. Martina rollte mit den Augen. Seine Geste war so deutlich, als ob er es laut gesagt hätte. Mit dieser Haarfarbe konnte sie einfach nicht übersehen werden. Wieder einmal verwünschte sie das leuchtende Rot ihrer Haare. Warum sie als einzige ihrer Familie mit dieser Plage geschlagen war, war ihr unverständlich.

›Wie geht’s eurer Mutter?‹

›Besser, danke. Sie ist froh, dass Claudia bei ihr sein kann. Danke, dass du eingesprungen bist.‹

›War doch selbstverständlich.‹ Martina winkte ab. Allerdings hatte sie auch wieder Franks Lästereien im Ohr.

»Claudia hat genau gewusst, dass sie dich nur zu fragen braucht und dein Helfersyndrom wieder anspringt. Und unser gemeinsames Wochenende, das wir so lange geplant haben, fällt einfach so ins Wasser«, hatte er gemault.

»Wen hätte sie denn sonst fragen sollen?«, hatte Martina eingeworfen. »Außerdem kann ich das Geld gut gebrauchen.«

Das war endlich das Argument gewesen, das Frank zum Schweigen gebracht hatte. Wahrscheinlich würde er aus Trotz alleine mit den Jungs die Wanderung machen, vermutete sie.

»Warum tust du es nur immer wieder?«, hatte Frank gefragt. »Wenn er dir auf die Nerven geht und dich wieder fragt, schickst du ihn endgültig in die Wüste, klar?!« Er hatte sie so aufgebracht angesehen, dass sie diese Aufforderung einfach nur brav abgenickt hatte, damit er endlich Ruhe gab.

Rupert ging ihr nicht auf die Nerven. Ihr ging nur die eine Frage auf die Nerven, die er nur zu gerne stereotyp wiederholte. Sie hoffte inständig, dass er sich wenigstens während der Konferenz zusammennehmen würde.

Rupert dirigierte sie an den vielen Menschen vorbei zum Eingang zur Bühne.

›Hast du das Skript gelesen? Weißt du, was du sagen sollst?‹

Rupert sprang kopfüber in das Berufliche und Martina ließ sich sofort mitziehen. Er brauchte sie voll konzentriert und professionell, da würde es ihr nicht helfen, wenn sie über Frank nachdachte oder über die alten Zeiten mit Rupert. Sie würde ihm die nächsten Tage die Vorträge anderer übersetzen und seine Dolmetscherin in den verschiedenen Seminaren sein.

 

~~~

 

›Was jetzt?‹ Es war Mittag geworden, und Martina war selten so erleichtert über eine Pause gewesen. Sie sah Rupert fragend an.

›Ich habe vorhin einen Kommilitonen von der Uni getroffen. Wir haben uns zum Essen verabredet. Dachte, du kommst einfach mit.‹

›Ja. Gut.‹

Rupert griff nach ihrem Arm und zog sie über die Straße zu einem italienischen Restaurant. Zielstrebig steuerte er einen Tisch in der hinteren Ecke an, an dem bereits zwei Männer saßen und angeregt gestikulierten. Der eine trug seine dunkelblonden Haare kurzgeschnitten und blinzelte Martina fröhlich aus grauen Augen an, als Rupert ihn als Ethan vorstellte. Er erhob sich zu wahrer hünenhafter Größe, als er aufstand, um ihr die Hand zu geben.

›Das‹, grinste Rupert fröhlich in die Runde, ›ist Martina, die hübscheste Dolmetscherin, die ich kenne, und das ist Ethans Bruder.‹ Martina war bei Ruperts Gesten so rot geworden, dass sie ihren dunkelroten Haaren Konkurrenz machte. Befangen lächelte sie Ethan an und setzte sich rasch, als Rupert ihr einen Stuhl hinschob.

›Sorry, ich hab deinen Namen vergessen.‹ Rupert lächelte das Gegenüber von Ethan entschuldigend an, während er mit den Schultern zuckte.

›Ich bin Nick.‹ Seine Hände formten die Worte, ohne dabei seinen Blick von Martina abzuwenden.

Während des gesamten Vortrages vorhin war sein Blick schon immer wieder zu ihr hinüber gewandert, obwohl er ihre Gebärden nicht verstehen konnte. Sie war sehr konzentriert gewesen, als sie die amerikanischen Gebärden in deutsche übertragen hatte. Eigentlich schade, hatte Nick bedauert, dass aus diesem hübschen geschwungenen Mund kein Ton herauskam. Aber immerhin lächelte dieser Mund ihn im Moment auf ziemlich umwerfende Art an. Aus ihrem Zopf hatten sich einzelne Strähnen gelöst und ringelten sich vor ihren Ohren. Nick gab Rupert unumwunden und uneingeschränkt recht. Das war eindeutig und wahrhaftig die hübscheste Dolmetscherin, die es gab.

Entschuldigend hob sie die Hände.

›Ich hab den Namen leider nicht verstanden.‹

›Oh, ja natürlich.‹ Nick zuckte zusammen. Wie immer hatte er, um seinen Namen zu buchstabieren, das britische Fingeralphabet benutzt. Rasch buchstabierte er noch einmal mit den amerikanischen Zeichen. Er schenkte ihr eines seiner strahlendsten Lächeln, die er auf Lager hatte. Wenn sich die Gebärden ihrer Sprachen stärker unterschieden, würde er die ganze Zeit Ethan als Dolmetscher brauchen, der alles in amerikanische Gebärden übersetzte, oder er würde buchstabieren müssen, was jeglichen Gesprächsfluss hemmen würde.

›Das war die britische Variante, oder?‹ Ihre goldbraunen Augen sahen ihn interessiert an.

›Ja, britisch.‹ Er nickte hastig.

›Ich wollte schon immer mal jemanden kennenlernen, der mich in diese Kunstfertigkeit einweist.‹

›Soll ich?‹ Nick warf ihr einen fragenden Blick zu. Als sie nickte, sprang er auf.

›Gleich wieder da‹, machte seine Hand. Martina sah ihm interessiert hinterher. Er war schmaler und auch ein Stück kleiner als sein Bruder. Im Gegensatz zu Ethan hatte er dunkle wellige Haare, die er so lang trug, dass sie ihm in den Augen hingen und er sie ständig zurückstreichen musste. Die Augen waren ihr sofort aufgefallen. Sie waren so unwahrscheinlich blau, dass sie ständig hinsehen musste.

Mit einem jungenhaften Grinsen, das von seinem Bart beinahe verdeckt wurde, kehrte Nick zurück und schwenkte triumphierend einen Kugelschreiber, als er sich neben ihr niederließ.

›Also, die Hand ist folgendermaßen eingeteilt… darf ich?‹ Er hielt den Stift fragend hoch. Als Martina nickte, begann Nick, ihr das Alphabet auf die Hand zu malen. Er hatte unglaublich schmale sensible Hände, fand Martina, während sie ihm dabei zusah, wie er schrieb.

›Alles klar?‹ Er warf ihr ein kurzes strahlendes Lächeln zu, das ziemlich schnell wieder verschwand. Schade, dachte sie, dass immer die niedlichsten Kerle irgendein Handicap hatten. Entweder waren sie verheiratet, hatten so blöde Angewohnheiten wie Rauchen oder Drogen, waren schwul oder sonst was. Nun, Nick war ganz niedlich. Nein, entschied sie, er ist schlichtweg süß. Schade nur, dass sie solche Verständigungsschwierigkeiten hatten.

›Was machst du in England?‹ fragte sie.

›Ab und zu arbeite ich tatsächlich.‹

›Als was?‹

›Alles mögliche. Mal hier, mal dort.‹

›Haben Gehörlose es in England auch so schwer?‹

›Ich denke schon.‹ Pause. Und wieder so ein schüchternes Grinsen. Er verhielt sich ganz anders als andere Gehörlose, die Martina kannte. Meistens waren diese so glücklich, wenn sie jemand verstand, dass sie ohne Punkt und Komma redeten. Es blieb kaum Zeit zum Essen, weil die Hände ständig beschäftigt waren. Nick dagegen machte lange Pausen. Als ob er nicht wüsste, was er sagen sollte.

 

Rupert tippte Martina an. ›Du wirst dir was zu Essen bestellen müssen, wenn du nicht verhungern willst.‹ Er hielt ihr auffordernd die Karte hin.

›Ich nehm den Salat mit Thunfisch.‹ Martina deutete auf die entsprechende Stelle in der Karte. ›Entschuldigt mich bitte.‹ Sie stand mit einem raschen Lächeln auf und verschwand in Richtung Toilette.

Als sie wiederkam, hatten die Männer schon bestellt.

Für den Rest des Essens folge Martina den Händen von Rupert und Ethan und warf nur ab und zu eine kurze Bemerkung ein. Rupert fiel ihre Schweigsamkeit auf.

›Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns langsam zurückziehen. Die junge Dame hier hat noch einen anstrengenden Nachmittag vor sich.‹

Mit einem zustimmenden Nicken wurden sie von den beiden Brüdern entlassen. Nick sah dem leuchtend roten Zopf noch einen Moment hinterher.

›Na, Bruderherz, heute kein Glück bei den Frauen?‹ Ethans Gesten unterbrachten Nicks Gedanken.

›Nein, leider nicht. Schade, dass sie nicht hören kann.‹

›Die Kleine? Ja, aber nur schade für dich! Ist recht niedlich. Aber zu Hause wird dich ja dann Kate trösten.‹

›Ja, welch ein Trost.‹ Nick reckte den Hals, um noch einen letzten Blick auf Martina zu erhaschen.

›Wenn Kate deinen Gesichtsausdruck gerade gesehen hätte, gäb das wieder Tote!‹

›Sie weiß ja nicht, was ich dir gesagt habe. Und du wirst ihr das nicht sagen können.‹ Nick dachte nur einen kurzen Augenblick an Kate. Einerseits ärgerte er sich darüber, dass sie sich in den zwölf Jahren, die sie zusammen waren, immer wieder geweigert hatte, die Gebärdensprache zu lernen. Andererseits gab sie Nick und Ethan damit die Möglichkeit in ihrem Beisein Dinge zu bereden, die sie nicht hören sollte. Kate war im Moment in Los Angeles, weil ihre wichtigen Termine angeblich unaufschiebbar waren. Aber Nick wusste genau, dass sie es einfach unsäglich langweilig fand, von so einer großen Anzahl Gehörloser umgeben zu sein, die sie vielleicht nicht ausreichend beachten würden. Nick genoss es, dass Ethan ihn als Dolmetscher zu dieser Konferenz mitgenommen hatte, und er auf diese Art Los Angeles vermeiden konnte. Die Partys, auf die Kate ihn immer mitschleifte, waren einfach schon deshalb unerträglich, weil alle Gäste sich gegenseitig ständig beweisen mussten, wie wichtig sie waren. Als Ethan ihn gefragt hatte, ob er nicht zu der Tagung mitkommen wollte, weil er ohnehin schon in München sei, hatte er sofort zugesagt. Nick fuhr sich mit der Hand übers Kinn, während sein Blick über die Köpfe irrte, in der Hoffnung, doch noch einen Blick auf den roten Zopf zu erhaschen. Ethans Blick blieb an Nicks Bart hängen. Er hob die Hand und schnippte kurz vor Nicks Augen, bis dieser ihn wieder ansah.

›Irgendwie stört mich das Ding. Ich kann kaum sehen, was du sagst.‹

›Ist aber für die Tarnung sehr gut. Was meinst du, wäre hier los, wenn die mich erkennen würden? Ist schon besser so, auch wenn es höllisch juckt.‹

›Wenigstens hast du die alberne Sonnenbrille endlich abgemacht.‹

›Ja. War zu dunkel.‹

›Los, komm, lass uns noch ein bisschen um die Häuser ziehen. Ich brauch dich zum Frauenaufreißen. Sonst geht es mir wie dir und das Objekt meiner Begierde versteht mich nicht.‹ Mit einem breiten Grinsen zog Ethan seinen Bruder hoch.

 

~~~

 

›Jetzt schau nicht so enttäuscht, bloß weil dieses rothaarige Mädchen heute nicht zu sehen war!‹ Ethan verpasste seinem Bruder einen Puff in die Rippen. Ihm war Nicks betrübter Gesichtsausdruck darüber, dass Martina nicht in einem der Gesprächsrunden und Seminare aufgetaucht war, nicht entgangen. Seine Dolmetscherkünste waren an diesem Tag gar nicht gefragt gewesen, weil der deutsche Vortrag in amerikanische Gebärden übertragen worden war, die Ethan selber verstand. Und so hatte er mit Kopfhörern gesessen und der englischen Übersetzung zugehört.

›Hast du Lust auf eine Party?‹

›Party?‹ echoten Nicks Hände lustlos.

›Rupert hat die Truppe von der Gallaudet mobil gemacht, zumindest die, die hier sind. Los, gib dir einen Ruck.‹

Wie groß war eigentlich die Chance, dass auch Martina auf der Party auftauchte, fragte sich Nick. Wenn er sich bloß erinnern könnte, ob sie gesagt hatte, auch auf der Uni gewesen zu sein. Er nickte unbestimmt, als Ethans Hände nochmals fragten, ob er mitkommen würde.

 

 

Mit einem tiefen Seufzer nahm Martina das Headset vom Kopf und einen großen Schluck aus dem Wasserglas. Es war ungleich anstrengender aus Ruperts spartanischen Gebärden druckreife Sätze zu formulieren, selbst wenn sie den Vortrag kannte, als ihm Gehörtes zu übersetzen. Rupert schaffte es einfach nicht, sich an sein eigenes Skript zu halten. Und so hatte sie den ganzen Vormittag vor einem Monitor gesessen, auf Ruperts Hände und Gesten gestarrt und gehofft, dass sie seinen Gedankensprüngen schnell genug folgen konnte, während sie gleichzeitig simultan laut übersetzt hatte. Sie trank das Glas aus. Wenn sie sich beeilte, dann konnte sie ziemlich früh bei Claudia sein. Es würde dann noch genug Zeit bleiben, um lange und ausgiebig miteinander quatschen zu können, bevor sie ins Hotel zurück musste, um für die Abreise zu packen.

 

~~~

 

»Oh, Martina! Du bist ja schon da. Ich hab die ganze Zeit versucht, dich auf dem Handy zu erreichen.« Claudia zog Martina aufgeregt in den Hausflur.

»Wieso? Was gab’s denn Wichtiges? Ich hab das Ding vorhin ausgeschaltet und wohl vergessen, es wieder anzumachen.« Sie griff in die Handtasche und warf einen kritischen Blick auf das Display, dann schaltete sie das Telefon ein. Sollte sie Franks Kontrollanruf verpasst haben, wäre das nicht weiter dramatisch. Christopher und Robin verpasst zu haben, wäre viel schlimmer. Ein kleines Symbol auf dem Display zeigte ihr mehrere entgangene Anrufe an.

»Rupert hat mir eine Party seiner Uni-Clique angehängt. Ich wollte dich anrufen, weil ich weiß, dass Partys eigentlich nicht dein Ding sind. Wir hätten unseren Kaffeeklatsch auf morgen verschieben können.«

Martina sah Claudia enttäuscht an. Sie hatte sich auf einen Plauderabend mit ihrer Freundin gefreut und nun sollte ausgerechnet bei Claudia gleich das Leben toben. Aber den weiten Weg mit der S-Bahn gleich wieder zum Hotel zurück zu machen, dazu hatte sie eigentlich auch keine Lust.

»Überlass die Männer doch sich selber. Die brauchen uns doch gar nicht«, schlug sie schließlich vor.

Claudia grinste. »Rupert wird schon sehen, was er davon hat, wenn er einfach alle zu mir einlädt. Wird er sich mal um alles selber kümmern dürfen.«

 

Das Haus von Claudia und Bruno füllte sich rasch, obwohl es alles andere als klein war. Es dauerte nicht lange und überall saßen Leute herum, die wild in der Luft herumfuchtelten. Rupert hatte Martina keine Chance gelassen, sich aus der Affäre zu ziehen und mit Claudia zu verschwinden. Und so saß sie jetzt eingekeilt zwischen ihm und einem seiner Kommilitonen auf der Couch und hielt sich an ihrem Glas fest.

 

Nick bemühte sich, nicht zu auffällig zu dem rothaarigen Mädchen auf der gegenüberliegenden Seite hinüberzusehen. Ihre Hände tanzten durch die Luft, als ob sie sich nach einer Melodie bewegten, die nur sie hören konnte, und zu der ihr Armband mit den vielen bunten Bändern und Anhängern klingelte und klapperte.

›Na, deine Eroberung von gestern wieder entdeckt?‹ Ethan stieß seinem Bruder in die Rippen.

›Ja.‹ Nick versuchte, möglichst unbeteiligt zu gucken.

›Sehr schönes Kleid, das sie da anhat, man kann ihre Figur richtig gut sehen!‹ Ethan hob seine Hände zu einer anerkennenden Geste in Brusthöhe.

›Hör auf! Sie kann dich verstehen!‹ Verzweifelt versuchte Nick, seinen Bruder so herumzuziehen, dass Martina keinen direkten Blick auf seine Hände hatte.

›Das ist der Nachteil, wenn man jemanden kennenlernt, der uns versteht. Es gibt keine Geheimsprache mehr zwischen uns.‹ Ethan grinste spitzbübisch.

 

›Hallo, schön dich wiederzusehen. Umwerfendes Kleid.‹ Nick blieb wie zufällig neben Martina stehen, als sie sich endlich von Rupert und seinem Freund losreißen konnte und in das angrenzende Zimmer flüchtete.

›Oh, hi. Das hab ich doch vorhin schon mal gesehen?‹ Sie hob die Hände in Brusthöhe zu einer eindeutigen Geste. Trotz Ethans Frechheit lächelte sie ihn hinreißend an, fand er.

›Mein Bruder… war wohl etwas …‹ Nick kratze sich am Kopf.

›Direkt?‹ beendete Martina den Satz für ihn.

›Ja. Tut mir leid.‹

›Schon gut, das Kleid war Claudias Idee. Sie meinte, ich müsse mich für die Party netter zurechtmachen. Ich finde das Kleid auch ziemlich umwerfend. Wenn ich nicht aufpasse, wirft es mich um, weil der Rock so eng ist und ich keine großen Schritte machen kann.‹

Ihr verschmitztes Grinsen warf ihn beinahe um.

›Warst du auch auf der Uni in Washington?‹ fragte sie rasch, als eine Gesprächspause eintrat.

›Nein. Du?‹

Martina schüttelte den Kopf. Das Gespräch drohte erneut einzuschlafen.

Nick fiel nichts Unverfängliches mehr ein. Er dachte an das Verbot seines Bruders, außerhalb Englands nie über das Wetter zu reden.

›Willst du noch was zu trinken?‹ Er lächelte erleichtert über die rettende Idee.

›Ja, gerne.‹

›Warte hier. Nicht weglaufen. Ich bin in zwei Sekunden wieder da.‹

 

›Das ging aber schnell. Aber ich kann nicht mehr viel reden, wenn ich eine Hand voll habe.‹ Martina klemmte sich das schmale Glas unter den Arm, als sie die Gebärden machte.

›Wir könnten uns einen Tisch suchen.‹

In einer ruhigeren Ecke ließen sich beide nieder.

›Was machst du?‹ Schon wieder so eine banale Frage, fand Nick. Vor allem so unnötig. Er sah sie seit zwei Tagen wie ein Schatten neben Rupert stehen und hin und her übersetzen. Aber bis er zu den spannenden Fragen käme, würden drei Wochen vergehen.

›Ich bin im Recyclinggeschäft.‹

›Das ist bestimmt sehr interessant.‹ Was soll man auch bloß anderes zu so einer Arbeit sagen, ging ihm durch den Kopf. Recycling hieß doch nichts anderes, als Müll zu sammeln und zu sortieren. Vermutlich saß sie in irgendeinem Büro und organisierte die Fahrpläne der Müllautos. Aber offenbar war sie nicht die Vollzeitdolmetscherin von diesem Rupert und damit dessen ständige Begleiterin. Der besitzergreifende Blick von diesem Professor, als er sie gestern in dem Restaurant vorgestellt hatte, war ihm absolut nicht entgangen,.

›Wahnsinnig spannend.‹ Martina lächelte ironisch und Nick fühlte sich ertappt, weil seine Gedanken abgeschweift waren. Er brauchte die volle Konzentration auf ihre Gebärden, die so anders waren, als die, die er gewohnt war.

›Hier in München?‹,

›Nein, in Salzburg.‹ Sie fährt nicht zurück nach Amerika, jubelte er innerlich. Salzburg war nicht weit von München, gegen Washington war das wie ein Vorort von München.

›Ich war schon mal in Salzburg. Ich hab da Jedermann gesehen. Nett da.‹

Hinter ihnen begann das Telefon zu klingeln. Martina sah rasch auf. Von Claudia und Bruno war weit und breit nichts zu sehen und es war auch nicht zu erwarten, dass bei dem Geräuschpegel, den selbst Gehörlose veranstalten konnten, diese das Klingeln überhaupt hören würden.

›Moment mal‹, sagte ihre Hand, als sie zum Hörer griff.

Sie wechselte einige Worte mit dem Anrufer, bevor sie das Telefon zu Claudia hinüber trug, die sie endlich in dem Gewühl entdeckt hatte. Als sie zu Nick zurückkam, sahen sie die veilchenblauen Augen fassungslos an.

›Ist was?‹ signalisierte ihre Hand, während sie ihn abwartend ansah. Er war nicht an der Gallaudet Universität gewesen. Aber würde er trotzdem zu der Gruppe Gehörloser gehören, die sich als eigene Subkultur sah, und sich gegen die Bezeichnung behindert oder gehandicapt wehrte? Zu denen, die sie als Hörende einfach nur schon deshalb ablehnen würde, weil sie damit nicht zu ihnen gehörte? Sie wäre enttäuscht, wenn es so wäre.

Nick klappte den Mund wieder zu. Fragend ließ er seinen Finger vor dem Ohr kreisen.

»Du bist gar nicht taub?« fragte er laut. Martina sah ihn verblüfft an.

»Nein…«, sagte sie langsam, dann lachte sie laut los. »Du kannst hören? Meine Güte, sind wir blöd!«

»Oh, das ist wohl wahr.« Nick grinste Martina breit an.

Sooft er jemanden getroffen hatte, der amerikanisches Englisch von sich gab, war er davon gar nicht angetan gewesen. Für seine britischen Ohren klang es ziemlich ordinär, vor allem, wenn Frauen mit diesem breiten Südstaatenakzent sprachen. Martinas Akzent unterschied sich nur geringfügig von dem, was er vor dem heutigen Abend für vulgäres, undamenhaftes Amerikanisch gehalten hatte. Seit fünf Sekunden hielt er es für den niedlichsten und bezauberndsten Akzent, den er je gehört hatte.

»Wirklich blöd von mir. Ich hätte mir ja fast denken können, dass eine Dolmetscherin nicht gehörlos sein kann. Warum bin ich bloß nicht gleich auf die Idee gekommen? Wir hätten uns viel Verständigungsschwierigkeiten ersparen können.«

Nick klappte seinen Mund entsetzt wieder zu, als er merkte, dass er begann, wie ein Idiot ohne Ende zu quasseln, seit er ungehindert sprechen konnte.

»Hallo, ihr Süßen.« Claudia kam mit dem Telefon zurück. »Na, hast du dir den begehrtesten Junggesellen geangelt, der heute hier ist?«

»Was, wie?« Martina sah irritiert zu ihr auf.

»Sag bloß, du weißt nicht…« Claudia brach ab, als sie Nicks Kopfschütteln hinter Martinas Rücken sah. »Na, ich geb zu, dass der Bart ziemlich gut ist. Aber na ja… viel Spaß noch, ihr zwei.« Claudia verschwand mit einem anzüglichen Grinsen im Nebenzimmer. Martina drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln um, aber Nick wurde gerade von Ethan in eine andere Ecke gezogen. Alles was sie noch bekam, war ein Schulterzucken, begleitet von einem Lächeln, dass sie bestimmt nicht einschlafen lassen würde. Wie können Erwachsene noch so kindisch sein und Herzklopfen bekommen, weil sie angelächelt werden? Martina schüttelte innerlich entsetzt den Kopf über so viel Idiotie. Sie würde ihn sowieso nie wieder sehen. Er würde mit seinem Bruder nach England zurückkehren und sie würde einen Teufel tun, und ausgerechnet Rupert fragen, ob er eine Kontaktadresse hätte.

 

 

›Wir hatten gar keine Zeit, uns in Ruhe zu unterhalten.‹ Wie aus dem Boden gewachsen stand Rupert vor Martina, die einen kurzen Moment auf der Terrasse Ruhe gesucht hatte.

›Wenn du das gewollt hättest, hättest du keine Party veranstalten dürfen.‹ Mit einer Geste des übertriebenen Bedauerns breitete sie ihre Hände aus. Zum Glück waren viel zu viel Leute um sie herum, was Rupert hoffentlich davon abhalten würde, das ewig alte Thema zwischen ihnen wieder aufzukochen.

Mit einem theatralischen Gesichtsausdruck kniete Rupert sich hin. Sie hatte sich geirrt, eindeutig.

›Heirate mich‹, machten seine Hände.

›Wenn du nicht sofort aufstehst, schreie ich laut los.‹

›Ich würde es nicht hören!‹ Er grinste sie fröhlich an.

›Steh sofort auf! Die anderen gucken schon!‹

›Ich nehme das als ein Nein?‹

›Natürlich Nein! Warum fragst du mich das immer wieder?‹ Sie sah ihn verzweifelt an, während sie sich bemühte, ihn am Ellbogen ziehend zum Aufstehen zu bewegen.

›Du könntest deine Meinung geändert haben. Hast du ja schon mal.‹ Er klopfte sich die Knie ab, dann knuffte er sie freundschaftlich an die Schulter.

›Hey, guck nicht so!‹

›Das ist nicht lustig!‹

›Doch, das ist lustig!‹ Rupert hob sie hoch, schwenkte sie einmal im Kreis und gab ihr einen herzhaften Kuss. Als er sie endlich wieder absetzte und sie festen Boden unter den Füßen hatte, stieß Martina ihn ein Stück von sich.

›Rupert, bitte… wie oft soll ich mich noch entschuldigen? Wann lässt du das endlich sein?‹

»Nie, ich werde es nie sein lassen. Das macht viel zu viel Spaß! Was zum Trinken?‹ Er hob die Hand in einer charakteristischen Geste an den Mund, grinste sie fröhlich an und verschwand in Richtung Küche. Martina fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Hatte sie tatsächlich gerade noch gedacht, die vielen Leute auf der Party würden Rupert von solch einer Aktion abhalten? Sie starrte verärgert auf die Spuren der Wimperntusche auf ihrer Handfläche.

»Oh, du guckst aber böse. Alles in Ordnung?« Claudia sah sie fragend an, als sie auf die Terrasse trat.

»Ja, alles okay, nur erledigt. War ein anstrengender Tag.«

»Hat Rupert sich benommen? Oder waren die zwei Tage mit ihm schlimm?« Claudia sah sie mitfühlend an.

»Wenn du wissen willst, ob er mich wie immer alle Stunde wieder gefragt hat, ob ich ihn heiraten will, nein. Aber gerade eben.«

»Das würde allerdings deine finstere Miene erklären. Macht er das immer noch? Das tut mir wirklich leid. Wenn ich gewusst hätte, dass er dich nur ärgern will, hätte ich dich nicht gebeten, für mich einzuspringen. Er hat extra nach dir gefragt.«

»Warte! Er hat extra nach mir gefragt?« Martina sah Claudia mit offenem Mund an.

»Scheint, dass er sich immer noch Hoffnungen macht. Obwohl ich ja dachte, er hätte in Washington endlich eine Frau gefunden, die seinen Ansprüchen gerecht wird.«

»Die ihm die Leviten liest, hoffentlich«, murmelte Martina.

»Seit du ihm damals den Laufpass gegeben hast, ist ja keine mehr gut genug gewesen.«

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Das ist doch mindestens acht Jahre her! Ich hab ihn ja lieb, aber es reicht nicht zum Heiraten. Ich will ihn einfach nicht anlügen.«

»Versteh ich doch. Ist ja auch bestimmt die richtige Entscheidung gewesen.«

»Es ist immer noch die richtige Entscheidung. Wenn er das doch nur einsehen würde…« Martina seufzte tief. »Komm, ich helf dir ein bisschen in der Küche.« Sie hakte sich bei Claudia ein und ging mit ihr zur Küche.

 

Nick stand im Garten und hob langsam sein Glas. Schluck für Schluck trank er es bedächtig leer. Er hatte zwar kaum eine Geste verstanden, die die beiden da vor ihm ausgetauscht hatten, vor dem erleuchteten Fenster als Silhouetten bis weit in den Garten sichtbar. Aber den Kniefall hatte er offenbar richtig interpretiert. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er unendlich froh war, dass Martina Rupert auf die Füße gezerrt hatte und ihm offenbar die falsche Antwort gegeben hatte. Zumindest wurde aus dem Haus kein großes Hallo laut und es knallten auch keine Sektkorken. Er würde noch weiterhin träumen können von einem rothaarigen Mädchen mit einem Haufen Sommersprossen auf der Nase. Und was er alles unternehmen würde, um Rupert aus dem Rennen zu werfen, weil der Kerl überhaupt nicht danach ausgesehen hatte, als ob er aufgeben würde oder Martinas Nein akzeptiert hätte.

 

~~~

 

Martina riskierte einen raschen Blick auf Christopher und Robin, dann lehnte sie sich wieder zurück und genoss die spätherbstlichen Sonnenstrahlen mit geschlossenen Augen. Frank war vor einer Stunde mit den beiden Jungen im Hotel aufgetaucht, um sie abzuholen, hatte sie aber einfach in den nächsten Biergarten verfrachtet, weil er einem Kumpel noch etwas vorbeibringen wollte. Martina war es recht gewesen. Nichts war langweiliger als bei Franks Freunden in einer dunklen Wohnung herumzuhocken und deren endlosem Palaver über Traktoren, Bienenzucht und klassischer Musik zuzuhören. Da zog sie es eindeutig vor, in der Sonne zu sitzen, die Füße hochzulegen und die Kinder in der Gegend herumlaufen zu lassen. Da sie es nie geschafft hatte, ihren Jungs beizubringen, was das Wort leise bedeutet, konnte sie sie im Moment sogar mit geschlossenen Augen anhand ihres Geschreis lokalisieren.

Sie öffnete die Augen erst, als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel. Vor ihr stand Ethan und feixte sie fröhlich an.

›So ein Zufall, dass wir uns noch einmal treffen‹, sagten seine Hände. Zufall? Martina musste unwillkürlich lachen. Das war eindeutig die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Biergarten lag genau gegenüber des Konferenzhotels und war geradezu überlaufen von den Teilnehmern, die sich angesichts des sonnigen Tages noch nicht zu einer Heimfahrt entschließen konnten.

›Setz dich‹, bedeuteten ihre Hände, während sie rasch die Füße vom Stuhl nahm und in ihre Schuhe schlüpfte.

›Dein Bruder schon abgereist?‹ fragte sie mit einem möglichst beiläufigen Gesichtsausdruck.

»Nein, der ist hier!« Hinter ihr tauchte Nick auf, der sie freudestrahlend anlächelte, als sie bei seinen Worten herumfuhr. Martina hier zwischen den vielen Menschen zu treffen, war ein Glücksfall, fand er. So konnte er noch einmal mit ihr reden, statt sie nur von Ferne auf dem Podium neben Rupert bei ihrer Arbeit zu sehen. Sein Lächeln wurde breiter.

»Konntet ihr euch auch angesichts des Wetters nicht entschließen, schon abzureisen?« Endlich nahm sie die Sonnenbrille ab, so dass er ihre goldbraunen Augen sehen konnte.

»Ich hab noch ein paar Termine und Ethan hat noch eine Woche Urlaub«, erklärte Nick. Die Plätze neben ihnen füllten sich, so dass sie etwas zur Seite rutschten. Ethan musterte seine neue Tischnachbarin mit Interesse und war bald darauf in eine angeregt gestikulierende Unterhaltung vertieft. Wieder einmal fragte sich Nick im Stillen, wie Ethan es immer anstellte, bei allen Frauen sofort im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Klar, sein kleiner Bruder war groß und hatte so breite Schultern wie ein Bodybuilder, während er sich immer wieder darüber ärgerte, dass er den feingliedrigen Knochenbau seiner Mutter geerbt hatte und schon in der Schule die Mädchen nicht einfach durch Körpergröße hatte beeindrucken können. Kaum eine war bereit gewesen mit ihm, dem schmalen Handtuch auszugehen. Spargeltarzan hatten sie ihn genannt und er hatte damals den Umstand verflucht, mit sechzehn noch immer die gefühlte Größe eines Kleinkindes gehabt zu haben. Er war irgendwann dann doch noch ein Stück gewachsen, ein ziemliches Stück sogar, aber dennoch betrachtete er den gewaltigen Körperbau seines Bruders gelegentlich mit Neid. Damit er nicht mehr so schmächtig aussah, musste er seit Jahren einiges an Zeit in den Fitnessstudios lassen, aber er hatte überhaupt nicht die Absicht, diese Besuche über das absolute Minimum hinaus auszudehnen.

Sein Blick wanderte zurück zu Martina. Sie hatte sich wieder mit geschlossenen Augen zurückgelehnt und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Der dicke Zopf hing ihr über die rechte Schulter und in der goldenen Herbstsonne funkelten ihre Haare in allen Rottönen.

»Ist es in München im Oktober immer so warm?« Blöder Hund! Du sollst doch nicht über das Wetter reden! Aber besser du sagst etwas über das Wetter als gar nichts mehr. Nick fuhr sich verlegen durch die Haare.

»Nein. Das ist vermutlich auch der Grund, warum alle draußen sitzen.« Martina blinzelte ihn gegen die Sonne an.

Laut heulend lief Robin suchend zwischen den Tischen herum. Als er an ihr vorbeilaufen wollte, weil er sie offenbar vor Tränen gar nicht sah, streckte sie den Arm aus und zog sich den Jungen auf den Schoß.

»Was ist los? Hingefallen?«, murmelte sie leise tröstend. Sie pustete mehrmals auf die Hand und das Knie, die ihr hingehalten wurden.

»Komm, noch einmal Nase putzen.«

Kaum war das Taschentuch in der Hosentasche seiner Latzhose verschwunden, als sich Robin auch schon wieder von ihrem Schoß herunterzappelte. Martina drehte sich um und sah sich zwei Augen gegenüber, die sie verblüfft anguckten. Unwillkürlich ärgerte sie sich darüber. Es gab so viele alleinerziehende Mütter, dass es ein Unding war, wenn Männer überrascht waren, dass Frauen Kinder hatten.

»Du kannst gut mit Kindern umgehen.« Nick nickte ihr anerkennend zu. »Wahrscheinlich hat der Kleine zwischen den vielen Menschen hier seine Mutter nicht gefunden.«

Martina zog die Augenbrauen zusammen. Daher wehte also der Wind. Nick war offensichtlich gar nicht auf die Idee gekommen, dass es ihr Kind sein könnte. Kämpferisch schob sie das Kinn vor.

»Er hat seine Mutter durchaus in dem Gewühl hier gefunden.«

Nick sah sich nur kurz irritiert um. »Aber er ist doch gleich wieder zum Spielen gegangen.«

»Seine Mutter hat ihn getröstet, die Schmerzen weggepustet und ihm die Nase geputzt.« Aufmerksam sah sie ihn an. Es konnte doch fast nicht sein, dass er es immer noch nicht begriff. Da endlich blitzte die Erkenntnis in seinen Augen auf.

»Du bist die Mutter?« Er konnte nichts gegen seinen vermutlich ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck tun. Sie ist doch kaum alt genug, um Autofahren zu dürfen und der Junge war mindestens zwei Jahre alt. Thema wechseln! Unbedingt Thema wechseln, signalisierte sein Gehirn, aber es war schon zu spät. Aufgebracht sah sie ihn an.

»Ja, das war mein Sohn. Und ich habe sogar noch einen von der Sorte. Dieses andere laut schreiende Ungeheuer dahinten gehört auch noch dazu. Ja, ich war verheiratet. Ja, ich bin geschieden. Und ja, die Kinder sind bei mir geblieben. Die Lösung für Männer, die sich noch nicht reif genug für die Verantwortung fühlen.« Ihre Stimme klang gereizt. Na klasse, jetzt zick hier ordentlich rum, dann brauchst du dich nicht mehr zu wundern, wenn er sich gleich umdreht, rief sich Martina selbst zur Ordnung.

Nick machte ein betroffenes Gesicht. »Tut mit leid.«

»So ein Gesichtsausdruck sollte einem aber auch wirklich leid tun.«

»Sollte es.« Er nickte hastig, dann versuchte er es mit einem kleinen schüchternen Lächeln, das sich langsam von einem Mundwinkel über das ganze Gesicht ausbreitete. Es schien zu klappen, ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas. Dann lächelte sie kurz zurück.

»Entschuldige«, sagte sie. »Aber es ärgert mich immer wieder, dass es zwar so viele Scheidungen gibt und so viele alleinerziehende Mütter, aber die meisten Männer völlig überrascht sind, wenn die Frauen, die sie kennenlernen, Kinder haben.«

»Ich war eigentlich nur deshalb überrascht, weil du eher als große Schwester durchgehen würdest.« Nick zuckte unter seinen eigenen Worten zusammen. Na super, ein blöderes Klischee ist dir wohl nicht eingefallen. Manchmal bist du doch genau der Idiot, für den ich dich halte, wenn ich morgens in den Spiegel sehe, schoss ihm durch den Kopf.

»Ich bin ein Idiot«, sagte er schnell. »Entschuldige bitte.«

»Selbsteinsicht ist der erste Schritt zur Besserung.« Noch während Martina ihn mit einem vorsichtigen Lächeln bedachte, legte sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter.

»Hi, Kleines. Wir können dann.« Frank nickte grüßend in die Runde, während seine Finger auf ihrer Schulter ungeduldig trommelten. Martina trank ihr Glas mit einem großen Schluck aus, dann stand sie auf.

»Servus, und gute Heimfahrt. Wann auch immer.« Sie nickte Ethan und Nick noch einmal zu.

Dieser Mann legte genauso besitzergreifend wie Rupert den Arm um ihre Schultern, fand Nick, als sie die Jungs im Spiel unterbrachen und dann zu viert zum Parkplatz gingen. Es war völlig unnötig, diese traute Zweisamkeit derart öffentlich zu demonstrieren. Ihm hatte das Aufleuchten auf ihrem Gesicht gereicht. Ein Mann, über dessen Auftauchen sie sich gefreut hatte. Er seufzte. Auch wenn dieser Kerl mit seinem rötlichem Vollbart und dem blondem Pferdeschwanz aussah wie ein Wikinger, dass sich das Haar in weichen Wellen auf seinen Schultern ringelte, machte dieses ganze extra coole Gehabe völlig zunichte, fand er. Seiner Erfahrung nach standen Frauen viel eher auf den gepflegten Mann von Welt, etwas lässiger als ein Banker, aber durchaus fähig, auch im Smoking eine gute Figur zu machen ohne verkleidet auszusehen.

›Nett. Nein, das wäre untertrieben. Niedlich, sehr niedlich.‹ Ethan machte eine anerkennende Handbewegung.

Nick rollte nur mit den Augen. Sie hat einen Freund. Mist! Mist! Mist, war alles was er denken konnte. Deshalb hat sie Rupert gestern den Korb gegeben. Das Leben machte es einem wirklich nicht leicht, fand Nick. Zwei Konkurrenten. Als ob es nicht schon schwer genug wäre, Martina überhaupt auf sich aufmerksam zu machen.

 

»Ist die Dame jetzt soweit?« Frank sah zu Martina hinüber, die in ihrer Handtasche wühlte.

»Einen Moment noch, ich glaub, ich hab die Sonnenbrille liegengelassen.« Sie sprang aus dem Wagen.

Auf halben Weg kam ihr Nick entgegen und hielt die Brille hoch. Ein strahlendes Lächeln war sein Lohn und schon war sie wieder auf dem Rückweg. Er ärgerte sich darüber, da er viel lieber ihre Handynummer gehabt hätte. Aber du Blödmann hast es einfach nicht geschafft, sie danach zu fragen, beschimpfte er sich selber. Manchmal war der Zwang zur Vorsicht doch ein Kreuz, fand er. Wieso war das Leben in Filmen immer so einfach? Die romantischen Helden hatten immer die richtigen Worte auf der Zunge. Drehbuchautor müsste man sein, dachte er, und du hast zur richtigen Zeit immer die richtigen Sprüche.

 

»Schön, dass du dich doch noch loseisen konntest.« Frank trommelte schon wieder mit den Fingern, dieses Mal auf dem Lenkrad. »Endlich fertig?«

»Natürlich, ja klar, du kannst losfahren. War nur die Brille holen.«

»Ich dachte schon, du hast vergessen, ihm deine Telefonnummer zu geben.«

»Sag mal, Frankie, kann es sein, dass du eifersüchtig bist?« Martina funkelte ihn fröhlich an, während sie versuchte, seinem freundschaftlichen Klaps auszuweichen.

»Hör auf mit dem Unsinn und pass lieber auf, wo du hinfährst, sonst fahr ich.«

»Davor bewahre mich Gott!« Frank steckte nun seinerseits einen Knuff in die Rippen ein, behielt aber beide Hände am Steuer. Martina drehte das Autoradio auf und begann laut mitzusingen.

»Rupert färbt ab, oder? Wir sind nicht taub und wollen es nicht werden. Mach die Musik um Himmels Willen leiser!«

Meckerkopf, formten Martinas Lippen, aber sie drehte die Lautstärke etwas zurück, da sie sich seine zukünftigen Chauffeurdienste nicht verscherzen wollte. Sie lehnte sich zurück, genoss den Fahrtwind vom offenen Fenster und sah vor ihrem inneren Auge ein strahlendes Lächeln mit Augen, die so blau waren wie der Föhnhimmel draußen. Sie hätte einiges dafür gegeben, dass statt Rupert Nick gestern Nacht mit ihr auf der Terrasse gestanden hätte. Dieser höfliche Engländer hätte sich bestimmt nicht zu so einer peinlichen Szene hinreißen lassen. Sie mussten wie auf dem Präsentierteller ausgesehen haben, vor dem hellen Fenster. Sie hoffe nur, dass Nick von Ruperts Showeinlage nichts mitbekommen hatte. Sonst dachte er noch, sie sei in festen Händen.

2.

Nick starrte auf die lange Reihe Zahlen auf der kleinen Visitenkarte. Unter Martinas Namen stand Gebärdendolmetscherin. Und dann nur die Telefonnummer. Eine kleine Karte aus offenbar handgeschöpftem Papier, zart gelb-beige mit einem roten Gitter zwischen den Papierlagen in einer Ecke. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen, dass es ein Stück von diesen Plastiknetzen war, in denen im Supermarkt Obst verpackt war. Aber wer würde so etwas in eine solch sorgfältige Handarbeit geraten lassen? Auf der Rückseite der Karte war eine Werbeanzeige für einen kleinen Laden, ein stilisiertes altmodisches Schaufenster. Was immer die Neu-Macherei reparierte, die Werbeanzeige gab es nicht preis, fand Nick.

Er starrte wieder auf die Nummer auf der Vorderseite. Als er vorhin Ethan auf Rupert angesetzt hatte, hatte er endlich einem inneren Drängen nachgegeben, das ihm zusetzte, seit er Martina das erste Mal gesehen hatte. Und diese Telefonnummer war das Ergebnis. Er bräuchte eigentlich nur anzurufen. Eigentlich. Genau da lag der Hase im Pfeffer. Er legte das Kärtchen aus der Hand, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke über seinem Bett. So wie er es schon viele Stunden in der letzten Woche gemacht hatte. In der Woche, die seit der Konferenz vergangen war und in der er Martina nicht mehr wiedergesehen hatte. Was völlig klar war, weil sie in Salzburg wohnte und er immer noch hier in München herumhing. Salzburg ist nicht weit von München. Ruf sie an, verabrede dich mit ihr und fahr hin. Nick seufzte. Wenn es doch bloß so einfach wäre, wie es sich anhörte. Seit er sie neben Rupert in dem kleinen italienischen Restaurant gesehen hatte, war nichts mehr so wie vorher. Mit einem Donnerhall hatte der Blitz eingeschlagen. Sein Herzschlag hatte sekundenlang ausgesetzt und er war völlig überrascht gewesen, dass es niemand bemerkt hatte. Und als sie dann auch noch auf Ruperts Party gewesen war, war dies das Sahnehäubchen gewesen.

Er kam sich sagenhaft blöd vor, wie ein verliebter Teenager und nicht wie ein erwachsener Mann von fünfunddreißig Jahren. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen er Martina getroffen hatte, war von seiner üblichen souveränen Art, die er sonst bei dem Umgang mit Frauen, die ihn anhimmelten, an den Tag legte, nichts mehr zu spüren gewesen. Er hatte nur stammelnden Blödsinn von sich gegeben und war von einem Fettnäpfchen in das nächste gestolpert. Und trotzdem hatte sie sich mit ihm unterhalten, hatte sogar nach ihm gefragt, als sie im Biergarten gesessen hatten. Sie mag dich. Nick schloss die Augen. Das war es ja gerade. Wie hatte Ruperts Schwester es so schön auf der Party formuliert? Englands begehrtester Junggeselle. Frauen jeden Alters waren hinter ihm her und hielten sich nur mühsam zurück, weil er seit über zehn Jahren eine feste Freundin hatte. Oder scherten sich einen Dreck darum und machten ihm trotzdem eindeutige Angebote.

Wenn Martina ihn erkannt hatte, hatte sie es nicht gezeigt. Sie hatte ihn behandelt, wie jeden x-beliebigen Mann, den sie zwar nett fand, aber… Aber? Aber nichts weiter! Und wenn sie ihn nicht erkannt hatte? Genau das war der springende Punkt. Wenn er die Wahrheit sagte, würde sich ihr Verhalten schlagartig ändern. Das war schon immer so gewesen. In den letzten Jahren hatte er sowenig Leute getroffen, die ihn wie einen normalen Menschen behandelt hatten, dass er sie leicht an einer Hand abzählen konnte.

Stundenlang hatte er in den letzten Tagen kontroverse Diskussionen mit sich selber geführt. Hatte angeführt, dass er mit Catherine bereits so lange zusammen war, dass es schon fast eine Verlobung war, dass alle Welt nur auf eine Hochzeit wartete. Dass er fast fünfzehn Jahre älter war als dieses Mädchen. Er hatte unzählige Gründe vorgebracht, hatte endlos mit sich selbst argumentiert und lamentiert, hatte versucht, auf seinen Verstand zu hören und war daran gescheitert, weil die Stimme der logischen Argumente leiser war als das Herzklopfen, das er bekam, wenn er nur an Martina dachte.

Es hatte ihn erwischt, eiskalt erwischt. Er hatte sich Hals über Kopf in ein Mädchen verliebt, das er nur ein paar Mal gesehen hatte und kaum kannte. Und es war wie eine Sucht, eine Droge, ein Sog. Er konnte nichts dagegen tun und eigentlich wollte er auch nichts dagegen tun. Alles was er wollte, war diesen Rotschopf wiederzusehen. Er hatte schon tausendmal im Geiste durchgespielt, wie er das Gespräch führen würde, wenn er sie endlich anrief, wenn er sie wiedersah und behutsam die Katze aus dem Sack lassen würde.

Er sprang auf. Er würde auf der Stelle nach Salzburg fahren. Es war ihm völlig klar, dass es der totale Blödsinn war. So klein war Salzburg auch wieder nicht, dass es auch nur die geringste Chance gab, Martina irgendwo zufällig zu treffen. Auf der Karte stand nur diese eine Telefonnummer, keine Adresse. Aber er wäre der erste Verliebte, der logisch dachte oder sinnvolle Handlungen ausführte und vor allem, nicht tausend Ausreden produzierte, nur um dort sein zu können, wo das Objekt seiner Begierde war. Salzburg war allemal besser, als in München in dem Hotelzimmer rumzuhängen und darauf zu warten, dass die Verträge fertig würden. Catherine war immer noch in Los Angeles und in London war das Wetter derartig mies, dass er überhaupt keine Lust hatte, nach Hause zu fahren, zumal dort auch nur ein leeres Haus auf ihn wartete. Vielleicht würde er ja in Salzburg den Mut aufbringen, sie anzurufen. Oder ihm würde klar werden, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, Martina in irgendetwas hineinzuziehen.

 

~~~

 

»Mama, dein Handy klingelt.«

»Lass es klingeln. Netter Versuch. Aber du wirst trotzdem drei Minuten deine Zähne putzen und ich werde hier solange daneben stehen, bis du fertig bist.«

»Es ist vielleicht wichtig…« Unlustig fuhrwerkte sich Christopher mit der Zahnbürste im Mund herum.

»Da ist eine Mailbox dran, keine Sorge. Putz!«

Zwei Jahre lang hatte sie mit Christopher Abend für Abend über die Notwendigkeit von geputzten Zähnen diskutiert, ihm immer wieder einen Vortrag darüber gehalten, warum man manchmal etwas tun musste, auch wenn es keinen Spaß machte, bis sie gemerkt hatte, dass er diese Diskussion bereits als wichtigen Teil des langwierigen Zu-Bett-Geh-Rituals betrachtete. Sie war bestimmt keine strenge Mutter, aber es gab Dinge, die waren ihr einfach wichtig und die würde sie auch ohne weitere Diskussionen durchsetzen. Mach ihm eine einfache und klare Ansage, hatte Frank gesagt. Du bist seine Mutter. Er sollte dir verdammt noch mal einfach nur schon deshalb gehorchen! Sie hielt nichts von Kindererziehung, die auf Gehorsam ausgelegt war. Es war ihr wichtig, dass die Jungs auch verstanden, warum sie ihre Entscheidungen traf. Aber Frank hatte in dem einen Punkt recht. Sie würde sich nicht mehr nur aus Spaß am Zeitschinden in fruchtlose Diskussionen mit einem Vierjährigen einlassen.

»Putz weiter!«

 

Eine Stunde später waren die beiden Jungs im Bett und Martina nahm ihre Tasse mit in die Küche. Sie sah auf das Display ihres Handys. Unbekannt. Na super, dachte Martina. Wieder jemand, der seine Rufnummer unterdrückte. Wie soll man solche Leute zurückrufen? Machen die sich jemals Gedanken darüber? Rasch wählte sie die Mailbox an.

»Hi, ich bin’s«, tönte es leise auf Englisch. »Schade, dass du nicht da bist… äh… hm… sorry, ich hasse diese Dinger… ich versuch es später noch mal.«

Martina seufzte. Zu ärgerlich. Das wäre ein Anruf gewesen, den sie gerne entgegengenommen hätte. Meist gab ihr die Mailbox die Chance, unangenehme Anrufe erst einmal seelisch vorzubereiten, bevor sie zurückrief. Vor allem, wenn wieder jemand aus dem Kindergarten anrief, um sich darüber zu beklagen, dass die Jungs viel zu lebhaft wären und wieder einmal etwas zu Bruch gegangen war, weil sie herumgetobt hatten.

Lieber Gott, bitte lass ihn noch einmal anrufen. Martina schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel. Lass mich doch einmal einen interessanten Mann kennenlernen.

Das Handy klingelte in ihrer Hand. Nur einmal, so schnell war sie dran.

»Hi, ich bin’s noch mal.« Nicks Stimme klang ihr gedämpft ins Ohr.

»Hi.« Sie strahlte, auch wenn sie genau wusste, dass er es nicht sehen konnte. Das war bestimmt die schnellste Gebetserhörung der Welt, dachte sie.

»Äh, … ist das okay, das ich anrufe?«

»Ja. Ja, ja. Aber woher hast du meine Nummer?«

»Oh, das war eigentlich ganz einfach. Ich musste Ethan nur mit leichter Gewaltanwendung zwingen, Rupert zu bestechen.«

Martina lachte leise.

»Ich ruf eigentlich nur an, um zu fragen … ob du vielleicht … natürlich nur, wenn du willst …ich wollte fragen….«

»Zu schade, dass ich deine Hände nicht sehen kann. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sogar mit seinen Händen stottert.« Sie lachte immer noch.

»Ich wollte nur fragen, ob wir uns vielleicht einmal treffen könnten?«

»Ja, das wäre nett.« Martina hatte schlagartig einen Anfall von Herzrasen.

»Ich habe ein hübsches kleines Restaurant gesehen in Salzburg, St. Peter Stiftskeller oder so ähnlich.«

Martina grinste, als sie hörte, wie Nick bei den deutschen Wörtern stockte.

»Woher kennst du ein Restaurant in Salzburg?« Hatte er gerade wirklich gesehen gesagt, fragte sich Martina.

»Ich bin heute daran vorbeigelaufen.«

»Du bist in Salzburg?«

»Ja.« Martina konnte sein strahlendes Lächeln regelrecht hören.

»Wie wäre es mit morgen Abend? Bekommst du so kurzfristig einen Babysitter?«

Martina hob anerkennend die Augenbrauen, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Das war der erste Mann, den sie kennenlernte, der sich Gedanken um einen Babysitter machte.

»Ich könnte meine Cousine fragen.«

»Gut, dass es Cousinen gibt.« Er lachte leise. »Wäre acht Uhr okay?«

»Ja, großartig.«

»Gute Nacht.«

»Bis morgen.«

Martina grinste ihr Handy noch einige Zeit debil an, bevor sie sich zur Ordnung rief und es auf den Tisch legte. Ja, doch, freute sie sich, das könnte ein sehr netter Abend werden.

 

~~~

 

Martina stand vor dem großen Spiegel in Hannas Schlafzimmer und drehte sich vorsichtig hin und her. Sie überlegte, ob das Kleid für ein normales Essengehen nicht doch etwas zu auffällig war. Über einem kurzen Rock schmiegte sich der schwarze Stoff an ihre Taille. Hanna hielt ihr eine Kette hin.

»Hier, ich glaube, die passt ganz gut dazu.«

Martina sah auf die Perlen in Hannas Hand.

»Nein, ich glaube, das ist nicht ganz mein Stil. Viel zu erwachsen. Dein Kleines Schwarzes ist ja schon fast grenzwertig.«

Hanna lachte sie aus. »Viel zu erwachsen für eine Mutter von zwei Kindern? Kommt hin.«

»Hanna, bitte!« Martina drehte sich vorsichtig um und sah über ihre Schulter in den Spiegel zurück. »Meinst du nicht, dass es etwas zu overdressed ist?«

»Nein, absolut nicht. Ein kleines Schwarzes passt immer. Es gibt Situationen, da kannst selbst du nicht in Jeans oder Baumwollrock gehen. Und der Stiftskeller gehört eindeutig schon mal nicht in die Jeans-Kategorie.« Hanna legte die Perlenkette wieder in die schmale Schachtel zurück.

Mit geübten Fingern drehte Martina ihre Haare zu einem lockeren Knoten im Nacken auf und steckte ihn fest. Vorsichtig zupfte sie vor den Ohren zwei Strähnen heraus.

»So, fertig!« Sie drehte sich noch einmal demonstrativ für Hanna hin und her.

»Dees muass jo a tois Mannsbuid san, wann du di so aufbrezelt host.« Klaus platzte ohne Anzuklopfen in sein Schlafzimmer. Manchmal hatte Martina das dringende Bedürfnis, ihn umzubringen.

»Klaus, halt den Mund. Sieh zu, dass du deine Töchter ins Bett bringst«, fuhr Hanna dazwischen, peinlich berührt von der Plumpheit, mit der Klaus bei solch brisanten Situationen zu Werke ging.

»So, so, und du vergnügst di mit di Buam driam im Philharmonikerhäusl?«

»Klaus, bring deine Töchter ins Bett!«

Hanna schob Martina zur Tür.

»Viel Spaß heute Abend. Geh jetzt endlich. Du bleibst kein Jahr weg, und ich brauch sicher keine Anweisungen, um deine zwei Kinder ins Bett zu stecken.«

 

~~~

 

Martina fluchte wieder einmal über die Parkplatznot in der Salzburger Altstadt. Wenn sie in das Parkhaus im Mönchsberg wollte, musste sie erst um die gesamte Altstadt außen herumfahren und sie war sowieso schon zu spät dran. Der Restaurantparkplatz war voll gewesen und so kurvte sie jetzt durch die schmalen Gassen der Altstadt. Hanna hatte sich nur sehr widerwillig davon überzeugen lassen, dass der Weg von Liefering in die Altstadt so kurz war, dass mit Sicherheit nichts passieren würde. Mit einem vielsagenden Blick hatte sie ihr die Schlüssel zu dem weißen Corsa gegeben, sich aber jeder weiteren Ermahnung enthalten.

Martina klemmte den Wagen in die winzige Lücke, die gerade direkt vor ihr frei wurde. Hastig ging sie im Laufschritt durch die Altstadt zum St. Peter Stift hinüber. Salzburg war eigentlich zu jeder Tages- und Nachtzeit von Touristen heimgesucht. So schnell wie sie wollte, kam sie gar nicht vorwärts. Mal wieder zehn Minuten zu spät. Engländer sind immer so höflich, die kommen bestimmt nie zu spät. Martina riss die Restauranttür auf. Langsam ließ sie den Blick über die Gäste schweifen.

Nick, der die ganze Zeit die Tür nicht aus den Augen gelassen hatte, hob winkend die Hand. Martina schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch. Erst als Nick aufstand, um sie zu begrüßen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Mit offenem Mund starrte sie ihn an. In derselben Sekunde blitzte neben ihr eine Kamera auf und Martina riss reflexartig den Arm hoch.

»Nicht!«, rief sie. Mit einem Ruck drehte sie sich um und rannte fast zwischen den Tischen hindurch aus dem Stiftskeller. Nick sah ihr verblüfft hinterher, bevor er sich voller Wut zu dem Fotografen umdrehte.

 

Endlich auf der Straße hastete Martina bis zur nächsten Ecke und lehnte sich außer Atem an die Hauswand. Wie hatte sie sich nur derartig überrumpeln lassen können? Wieso hatte sie sich von dem bisschen Bart nur derartig täuschen lassen? Und dabei er hatte noch nicht einmal einen falschen Namen benutzt. Nun hatte er gerade eben ohne Bart vor ihr gestanden und sie hatte ihn sofort erkannt. Schließlich hatte sie so ziemlich jeden Film in den letzten Jahren mit ihm gesehen. Wie kann man nur so blöd sein und sich derartig hinters Licht führen lassen, dachte sie wütend. Er muss sich ja königlich amüsiert haben, dass ich ihm auf den Leim gegangen bin. Und Claudia mit ihrer blöden Anspielung auf der Party! Warum er wohl angerufen hatte? Als Nick Cameron, als der Schauspieler schlechthin, konnte er doch leicht losgehen und sehen, was sich so ergeben würde mit der Damenwelt in den Clubs der Stadt.

Langsam kam sie wieder zu Atem. Wo Nick Cameron auftauchte, war ein Fotograf nicht weit. Was gerade bewiesen worden war. Und das war das Allerletzte, was sie brauchte. Zum Glück hatte sie schnell genug reagieren können und war aus dem Restaurant verschwunden, bevor das Blitzlichtgewitter richtig losgebrochen war. Was soll’s, dachte sie frustriert, auf, nach Hause.

Gerade als sie sich zum Gehen wenden wollte, hörte sie hastige Schritte. Eine Hand griff nach ihrer Schulter und hielt sie fest.

»Bitte, lauf nicht weg. Bitte.«

»Was gibt’s?« Ärgerlich drehte sie sich um. Sie musste zusehen, dass sie wegkam, bevor auf der Straße der Nächste aufmerksam wurde. »Lass mich raten. Du bist nicht gewöhnt, dass die Mädchen dir davonlaufen, was?« Sie gab sich Mühe, sarkastisch zu klingen. Auf keinen Fall sollte er denken, dass sie verletzt war, oder Angst hatte. Lieber sollte er sie für zickig halten. Sie drehte sich um und lief zur nächsten Gasse.

»Es tut mir leid, ich hätte es dir früher sagen sollen.« Er war nur einen Schritt hinter ihr.

»Hättest du. Wir hätten uns nie wiedergesehen.« Sie fuhr herum und sah ihn verärgert an. Nick breitete die Arme entschuldigend aus.

»Ich hab gedacht, du hättest mich erkannt. Es ist einfach total peinlich zu sagen: Hi, ich bin Nick Cameron! Was für ein Glückstag für dich, Baby, dass du mich getroffen hast. Haben dir meine Filme gefallen?«

»Da hast du völlig recht. Das wäre absolut lächerlich gewesen. Aber dir muss klar gewesen sein, dass ich dich nicht erkannt habe, weil ich dich für gehörlos gehalten habe.«

»Es tut mir leid, ich hätte es dir wirklich früher sagen sollen.«

»Gestern am Telefon wäre ein guter Zeitpunkt gewesen. Ich hoffe, dir hat mein dummes Gesicht von eben gefallen und du hast jetzt eine gute Story, die du überall als Witz herumerzählen kannst. Gute Nacht.«

Martina drehte wieder sich um.

»Bitte, lauf nicht weg.« Wieder war er nur wenige Schritte hinter ihr. Hastig lief sie in die Richtung von Hannas Corsa.

»Ich entschuldige mich. Es tut mir leid.« Er trat ihr in den Weg, während Martina verzweifelt versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Die Getreidegasse war eindeutig zu schmal für solche Manöver. Sie blockierten die Fußgängerströme. und einige der Leute sahen bereits zu ihnen herüber.

»Bitte, rede mit mir!«

Sie würde einen Teufel tun. Außerdem musste sie wirklich schleunigst zusehen, dass sie ihn loswurde. Hastig bog sie in eine Geschäftspassage ein, um den Weg abzukürzen. Sie sah kurz über die Schulter zurück. Er hielt mühelos mit ihr Schritt. Endlich hatte sie den Wagen erreicht und fummelte hektisch mit dem Autoschlüssel herum, bis das Türschloss schließlich aufschnappte und sie in den Wagen sprang. Ihr einziger Wunsch war, so schnell wie möglich wegzukommen, bevor sie sich noch weiter zum Affen machte oder dieser dämliche Fotograf mit seiner blitzenden Kamera auftauchte. Was definitiv für sie die schlimmere Möglichkeit wäre. Eine Situation, die andere mit Freuden ausgenutzt hätten – endlich mal einen der großen Stars treffen! Eine Chance, für die andere vielleicht sogar bezahlt hätten, und sie war gezwungen, die Flucht zu ergreifen. Manchmal hasste sie das Leben von ganzem Herzen. Sie schlug die Fahrertür zu und drückte den Sicherungsknopf hinunter.

»Verdammt, rede mit mir. Bitte….«

»Bitte, bitte, keine Paparazzi«, murmelte sie halblaut vor sich hin. Sie ließ den Wagen an, knallte den Gang rein und gab Gas. Nick blieb nichts anderes übrig, als zur Seite zu treten, um nicht vom Wagen gestreift zu werden. Er sah dem Auto hinterher, die Schultern resigniert hochgezogen.

»Shit!« Als er bemerkte, dass bereits mehrere Leute interessiert zu ihm herübersahen, fand er, dass es dringend an der Zeit war, von der Straße zu kommen, bevor ihn noch jemand erkannte oder dieser dämliche Fotoreporter aus dem Stiftskeller wieder auftauchte.

3.

Martina schaute ungläubig auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Drei Uhr achtunddreißig. Warum war sie bloß schon wieder aufgewacht? Erst vor einer Stunde war sie endlich eingeschlafen. Sie war so wütend gewesen, dass sie am liebsten Holz gehackt hätte, um sich abzureagieren. Das Telefon klingelte. Warum klingelt es eigentlich immer nachts, fragte sie sich. Bin ich die Feuerwehr? Aber das fragte sie sich jedes Mal und sie hatte sich noch nie eine Antwort darauf geben können. Auf dem Display war eine Nummer, die sie nicht kannte.

»Ich schlafe noch«, maulte sie ins Telefon.

»Grüß Gott, Unfallkrankenhaus Salzburg. Entschuldigen Sie bitteschön die Störung mitten in der Nacht, aber wir brauchen Sie als Dolmetscherin. Wir haben einen Gehörlosen hier, der Ihre Karte dabei hat und darauf besteht, dass Sie anwesend sind.«

Sie war die Feuerwehr. Martina seufzte. Sie verteilte ihre Karten sehr großzügig in der Gehörlosenschule und bei sonstigen Gelegenheiten und trotzdem kam meist nichts dabei rum. Offiziell war sie nicht zugelassen ohne staatliche Prüfung und die paar Male, die sie doch geholt wurde, waren genau diese Situationen.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie, während sie schon nach ihren Jeans angelte

»Ein Autounfall auf der A9 in Richtung Graz. Der Patient ist etwas desorientiert, ziemlich betrunken und hat leichtere Verletzungen. Er verweigert jedoch der Gendarmerie gegenüber jede Aussage und hat keine Papiere bei sich, die ihn ausweisen könnten. Das einzige was wir von ihm haben, ist die Karte mit Ihrer Telefonnummer und seine Visitenkarte. Rupert Mayrhofer. Er hat uns lediglich mit einer Geste bedeuten können, Sie seien seine Dolmetscherin und Verlobte. Der Leihwagen hat einen Totalschaden, aber das müssen Sie wohl mit denen klären. Um die Uhrzeit ist da jetzt eh niemand.«

»Leihwagen?«, echote Martina. Und was war das mit seine Verlobte? Sie würde Rupert gehörig die Leviten lesen müssen.

»Junge Frau, es ist zwar mitten in der Nacht, und es tut mir leid, dass wir Sie gestört haben, aber Sie würden uns helfen, wenn Sie möglichst schnell kämen. Eine weitere Behandlung kann erst erfolgen, wenn wir uns mit ihm verständigen können.«

Nach einem kurzen Gruß legte die Schwester auf. Kopfschüttelnd legte Martina das Telefon zur Seite. Rupert würde noch massiv Ärger bekommen. Nicht nur ein zerstörter Mietwagen und Trunkenheit am Steuer. Er hatte außerdem nicht das geringste Recht, Gerüchte über ihre Verlobung in die Welt zu setzen. Ihr war klar, dass er das vermutlich als reine Schutzbehauptung getan hatte. Schon, damit eine Art Familienangehöriger informiert wurde, der ihn im Krankenhaus abholen und bei der Polizei rauspauken sollte. Sollte Rupert jemals wieder vor ihr auf die Knie gehen oder ihr dämliche Fragen stellen, würde sie ihm einen Eiskübel über den Kopf kippen. Vielleicht würde er es dann endlich lernen. So sehr sie es hasste, in dieser Situation für Rupert springen zu müssen, sie tat es für Claudia, die Rupert vermutlich sonst aus München antreten lassen würde.

Sie schlüpfte in die Jeans und ein T-Shirt und band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz hoch. Für die Nacht würde das reichen, befand sie. Sorgfältig malte sie für Christopher einen Zettel für den Fall, dass er aufwachen sollte und sie noch nicht wieder zurück war. Dann griff sie nach dem Schlüssel von Hannas Corsa. Vorhin war sie so verärgert und enttäuscht gewesen, dass sie es einfach nicht über sich gebracht hatte, noch einmal zu Hanna ins große Gutshaus hinüber zu gehen, um ihr den Schlüssel wiederzugeben. Wenigstens musste sie sich auf diese Art kein Taxi nehmen. Es hatte auch sein Gutes, dass es mitten in der Nacht war. Den Dauerstau auf Salzburgs Brücken gab es nur tagsüber und so würde sie relativ zügig zum Krankenhaus hinüberfahren können.

 

 

In der Notaufnahme wurde sie schon erwartet.

»Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Patienten.« Die junge Schwester führte Martina am Empfangstresen vorbei zu einem Flur.

»Er ist doch nicht mein Patient.« Martina schüttelte genervt den Kopf.

»Wie nennen Sie Ihre Pfleglinge? Sie sind ja wohl so was wie seine Pflegerin. Oder Dolmetscherin

»Hören Sie, bezeichnen Sie Gehörlose bitte nie wieder als Patienten oder Pfleglinge. Auch nicht als Behinderte. Sie betrachten sich selber nur als jemand, der eine andere Muttersprache hat.«

»Was?« Die Schwester sah sie irritiert an.

»Sie empfinden es als diskriminierend. Sie sind, trotzdem sie nicht hören können, normale Menschen und fühlen sich nicht krank oder behindert.«

»Ja, schon recht.«

Martina befand, dass sie es nicht wert war, ihr die Besonderheit von Gehörlosen und ihrer selbstempfundenen Kultur in weiteren Einzelheiten zu erläutern. Nicht nachts und nicht einer übermüdeten Pflegerin im Krankenhaus, die sich offenbar schon seit Stunden mit Betrunkenen und Jugendlichen, die über die Stränge geschlagen hatten, herumärgerte.

»Ihr Verlobter«, sie malte mit hochgezogenen Augenbrauen Anführungszeichen in die Luft, »hat eine Blutalkoholkonzentration von eins Komma sechs Promille. Er kann von Glück sagen, dass er keinen anderen Verkehrsteilnehmer erwischt hat. Der Unfall wird noch ein Nachspiel haben, darauf können Sie sich verlassen. Die Gendarmerie wartet schon.«

Martina überlegte, seit wann Rupert soviel trank. Ein paar kleine Bierchen, oder zwei, drei Gläser Wein kamen schon mal zusammen. Aber eins Komma sechs Promille? Dafür musste er schon einiges weggekippt haben. Und wie kam er überhaupt dazu, einen Mietwagen zu fahren? Rupert brauchte zum Autofahren einen extra Spiegel, sonst durfte er als Gehörloser nicht fahren, fiel ihr ein.

»Haben Sie irgendwas dabei, was ihn ausweisen könnte?«

»Warum sollte ich? Wir sind nicht verheiratet.«

Zu blöd, dass Rupert keine Papiere dabei hatte. Und da er sie als seine Verlobte hingestellt hatte, erwartete man offenbar, dass sie zweifelsfrei seine Identität bestätigte. Es sah ganz danach aus, dass man sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte, um einen Betrunkenen zur Ausnüchterung mit nach Hause zu nehmen. Dieser Vorwand, dass Rupert sich nicht ohne Dolmetscherin verständlich machen könnte, ist doch völliger Quatsch, dachte Martina. Er konnte sich durchaus in der Welt der Hörenden bewegen und ohne größere Schwierigkeiten verständigen.

Leise glitt die Schiebetür zu einem Traumaraum in der Notaufnahme auf, während die Schwester sie hineinwinkte und die Tür dann wieder schloss.

Zögernd trat sie näher, unschlüssig, was sie Rupert vor Ärger zuerst mit weitausholenden Gesten an den Kopf werfen sollte, sog dann aber entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein, als sich der Kopf mit den verwuschelten dunklen Haaren zu ihr umdrehte und sie ein Blick aus verquollenen, rot unterlaufenen, aber sagenhaft blauen Augen traf.

»Ich fass es nicht!« Während die Schwester sich auf den leise quietschenden Gummmisohlen ihrer Birkenstocksandalen wieder entfernte, trat Martina aufgebracht näher an die Liege mitten in dem kleinen grün gefliesten Raum. Sie war ziemlich sauer über die Leichtgläubigkeit des Pflegepersonals. Eine einfache wortlose Geste und das Vorlegen von ihrer Visitenkarte hatte offenbar gereicht, um alle annehmen zu lassen, dass sie es mit einem Gehörlosen zu tun hatten, der dringend eine, seine, Dolmetscherin benötigte. Und alle hatten sich manipulieren lassen und wunschgemäß funktioniert.

Nick blinzelte in das grelle Licht und hob geblendet die Hand an den Kopf.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen zu behaupten, dass du gehörlos bist und eine Dolmetscherin brauchst? Und dich dann auch noch als Rupert auszugeben, geht’s noch?«, fauchte sie wütend.

Nick sank zurück auf die Liege. Er war unnatürlich blass, die Haare hingen ihm wirr in die Augen und auf der Stirn deckte ein Pflaster notdürftig eine Platzwunde ab. Seine blauen Augen lagen tief in den Höhlen und Martina war völlig klar, warum ihn niemand mit diesem Aussehen erkannt hatte. Im Moment sah er so abgerissen aus wie jeder andere Betrunkene auch, der sich nicht mehr alleine auf den Beinen halten konnte. Nichts, aber auch gar nichts erinnerte mehr an den strahlenden Hollywoodstar. Er vermied es tunlichst, sie anzusehen.

»Es ging doch nicht anders. Die haben die beiden Visitenkarten in der Tasche gefunden und ihre eigenen Schlüsse gezogen. Ich hab nur noch gesagt, dass du die Verlobte bist. Du bist die einzige, die ich hier kenne, und wenn ich denen sage, wer ich wirklich bin, dann geht das ab morgen durch alle Zeitungen.« Nick versuchte, sich mit geschlossenen Augen vorsichtig aufzusetzen.

»Das würde dir recht geschehen, oder? Du hast schließlich total betrunken diesen Unfall gebaut.«

»Kannst du mich hier rausholen?«

»Das soll wohl ein Witz sein?«

»Bitte….« Er warf ihr einen flehenden Blick zu.

»Warum soll ich wegen dir Ärger riskieren? Weißt du überhaupt, was die mit mir anstellen, wenn die rausbekommen, dass wir weder verlobt sind noch du der bist, als den ich dich ausgeben soll?«

»Mein Kopf tut weh.«

»Das glaub ich dir gerne. Strafe muss sein.«

Nick ließ den Kopf hängen.

»Ich brauch einen Arzt. Ich glaube, ich hab mir das Gelenk gebrochen oder so was.« Vorsichtig hob er seine rechte Hand,

»Wenn sich das Auto überschlagen hat? Eher den Daumen vermutlich. Haben die das schon geröntgt?«

Wütend machte sich Martina auf die Suche nach der Krankenschwester, um sich nach der weiteren Behandlung zu erkundigen. Eigentlich wäre es gar keine so schlechte Idee, einfach zu sagen, dass Nick nicht gehörlos war und einfach nur auf ihre Mithilfe pokerte. Aber wie sollte sie erklären, dass Nick Cameron ihre Telefonnummer in der Tasche hatte und sie sich offenbar kannten. In dieser Stadt würde sich das bis zum Frühstück herumgesprochen und sich irgendein findiger Journalist der Sache angenommen haben. Sie hatte überhaupt kein Bedürfnis, in den Zeitungen aufzutauchen. Und dass diese Geschichte durch alle Medien gehen würde, war sonnenklar, fand sie.

Die Schwester sah sie abschätzend an und Martina fragte sich, was Nick getan hatte, um diese junge Frau so gegen sich aufzubringen, folgte ihr aber trotzdem zurück in den Erste-Hilfe-Raum. Martina übersetzte Nicks Frage nach einer Schmerztablette.

»Ich bringe ihn gleich rüber zum Röntgten, aber Schmerzmittel kann ihm nicht geben. Bei der Menge Alkohol, die er getrunken hat, kann er froh sein, dass er sich nicht tot gefahren hat. Er könnte sich ein Schleudertrauma zugezogen haben. Das muss sich erst noch ein Arzt angucken!«

›Wenn doch bloß die verdammte Hand nicht so weh tun würde.‹ Er machte eine eindeutige Geste mit der gesunden Hand vor seinem Mund, die sogar die Pflegerin verstand.

»Oh nein, nicht noch mal!« Rasch hielt sie Nick einen Eimer hin, dann guckte sie Martina giftig an.

»Diese Nierenschalen sind viel zu klein. Sag ich immer. War auch vorhin so.« Und Martina wusste endlich, warum die junge Frau so ärgerlich war. Wenn sie in der Nacht schon den Boden gewischt hatte, weil die Pappschalen zu klein waren, dann war das kein Wunder, fand sie. Dann wäre sie auch nicht gut auf Betrunkene in der Notaufnahme zu sprechen zu einem Zeitpunkt, zu dem kein Reinigungspersonal mehr im Dienst war.

Die Schwester verschwand mit dem Versprechen, gleich wiederzukommen für den Abstecher in die Röntgenabteilung. Kalkweiß sank Nick auf die Liege zurück.

»Shit, shit, shit«, stöhnte er. Martina warf ihm einen eisigen Blick zu.

»Halt die Klappe«, zischte sie. »Sonst kannst du deine Diskussionen gleich alleine führen. Die haben dir die Story geglaubt und du strafst mich jetzt nicht lügen, weil du hier laut rumstöhnst! An der ganzen Scheiße bist du alleine schuld. Also nimm dich ein bisschen zusammen und hör auf zu jammern!«

Sie mussten noch einige Zeit warten, bis das Röntgenbild endlich ausgewertet war und die Schwester Nick eine Schiene angelegt hatte.

»Gebrochener Daumen, glatter Bruch, das heilt schnell. Er wird länger mit der Leihwagenfirma und der Polizei zu tun haben.« Sie schob ihr den Arztbericht und die anderen Papiere hin.

Nick sah Martina nur flehentlich an und hob die verbundene Hand etwas und seufzend unterschrieb sie den Entlassungsbogen und gab ihn der Schwester mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück, dass ihr Verlobter wegen seiner Handverletzung offensichtlich zu einer eigenen Unterschrift nicht in der Lage wäre.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie den Erste-Hilfe-Raum verlassen konnten, weil Nick immer wieder zu dem Eimer griff, aber schließlich war er schweißgebadet soweit.

»Kannst du laufen?« Sie dirigierte ihn energisch über den Flur zum Ausgang.

»Ja, sicher. Sicher. Hast du was gegen die Schmerzen?« Er bemühte sich angestrengt, mir ihr Schritt zu halten.

»Sag mal, die haben dir nicht umsonst nichts gegeben, damit du bei deinem Alkoholpegel nicht sofort high wirst.«

»Alles ist besser, als diese Schmerzen.«

»Sei nicht so wehleidig. Bei der Alkoholmenge in deinem Blut dürftest du eigentlich gar nichts merken.«

Martina schloss das Auto auf. »Wenn du mir in das Auto kotzt, hast du noch mehr Probleme, verlass dich drauf.«

Sie stieg ein. Nick mühte sich alleine auf der Beifahrerseite ab.

»Wohin?«

Er sah sie irritiert an.

»Welches Hotel? Wo wohnst du?«

»Radison Blu.«

Na klasse. Martina schloss die Augen. Ein Hotel in der Altstadt. Wieder kein Parkplatz.

»Ich bring dich zum Hotel, du rufst deine Kate an, besorgst dir ein Flugticket für London und siehst zu, dass du so schnell wie möglich hier wegkommst.«

»Catherine ist in L.A.«

»Es wird immer besser. Du wirst doch einen Bodyguard, persönlichen Assistenten oder wie so ein Star-Babysitter sonst heißt, haben. Ruf den an, damit er dich im Hotel oder wo auch immer aufsammelt.« Energisch schob sie den ersten Gang rein und verließ den Krankenhausparkplatz. Sie zog es vor, den Rest des Weges schweigend zurückzulegen.

 

»Okay, wir sind da.« Martina hielt vor der kleinen Zufahrtsstraße zum Hotel an. »Das Stück wirst du ja hoffentlich allein schaffen.«

Auf Nicks Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet und er lehnte sich erschöpft gegen die Kopfstütze. Der veilchenblaue Blick irrte allerdings nicht mehr ganz so unstet hin und her.

»Sicher«, stöhnte er und öffnete mühsam die Beifahrertür. »Danke.«

Benommen sah er dem Auto hinterher, als Martina zügig davonbrauste. Alles verpatzt. Nicht bloß in alle Fettnäpfchen getrampelt, die sich angeboten haben, sondern alles gründlicher zerstört, als es überhaupt möglich ist. Stöhnend drehte er sich um und ging die paar Schritte zum Hoteleingang hinüber.

 

~~~

 

»Du warst gestern ja ziemlich schnell wieder zu Hause.« Hanna warf Martina einen kurzen Seitenblick zu, bevor sie den Tisch weiter abräumte.

»Ja.«

»Was ja

»Ja, ich war schnell wieder zu Hause.« Martina hatte überhaupt keine Lust, irgendetwas von dem letzten Abend oder dem Zwischenfall in der Nacht von sich zu geben.

»Er hat dich doch nicht etwa versetzt?«, fragte Hanna bestürzt.

»Nein.«

»Aber was? Lass dir doch nicht jede Einzelheit aus der Nase ziehen!« Hanna warf ihr einen Blick zu, der sie eigentlich ermuntern sollte, mehr zu erzählen. »Mach’s nicht so spannend!«

»Ja? Willst du wirklich alles wissen, ja?« Martina stemmte die Hände in die Taille und sah ihre Cousine aufgebracht an.

»Ja, er war da. Nein, er hat mich nicht versetzt. Und er hat sich in Salzburg offensichtlich derartig gelangweilt, dass er auf ein schnelles Abenteuer aus war. Bei der Konferenz in München hatte er noch einen Bart, aber der war gestern ab und ich habe in ihm genau das arrogante, egoistische Arschloch erkannt, das er auch ist. Ist deine Neugier jetzt befriedigt oder willst du noch mehr hören?«

»Gibt es denn noch mehr zu hören?«, fragte Hanna erschrocken.

»Ich könnte noch jede Menge Schimpfnamen produzieren, die alle haargenau auf diesen Mistkerl passen würden!«

»Wenn er so schlimm war, dann ist es wohl besser, du vergisst ihn.«

»Worauf du dich verlassen kannst!«

Martina musste sich ziemlich zusammennehmen, damit sie vor Wut mit dem Geschirr nicht lauter als unvermeidbar klapperte, als sie den Tisch abräumte.

 

~~~

 

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang Frank zu der Küche im Philharmonikerhäusl hinauf.

»Hi, Kleines.« Er beugte sich zu Martina hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »So, Schild hängt!«

»Danke dir, du bist mein Held. Du weißt ja, ich und Leitern.«

»Ich weiß!« Frank grinste breit. »Du brauchst mich. Du kannst ohne mich nicht leben!«

Martina lachte. »Du wirst schon recht haben!«

»Ich hab dir deine Post mitgebracht.«

»Vermutlich eh alles nur Rechnungen, Mahnungen oder Werbung.« Martina warf ihm nur einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Abwasch widmete. Frank blätterte rasch durch die wenigen Briefe.

»Kommt so in etwa hin. Ein Brief vom Unfallkrankenhaus? Was wollen die denn?«

Hastig griff Martina nach einem Handtuch, trocknete ihre Hände ab und riss Frank den Umschlag aus der Hand.

»Wann warst du denn da?« fragte er alarmiert.

»Frank, reg dich ab. Ich war zum Dolmetschen dort.« Mit einem Messer öffnete sie rasch das Kuvert. Nachdem sie den kurzen Brief gelesen hatte, sank sie auf das Sofa neben dem Fenster. Frank nahm ihr den Brief aus der Hand.

»Wie, eine Rechnung für eine Erste-Hilfe-Behandlung? Für Rupert? Warum kriegst du die Rechnung?« Frank drehte den Brief um. »Weil er keine österreichische Krankenversicherung hat… und in Washington wohnt. Mr. Mayrhofer hat verabsäumt die Rechnung auszugleichen«, las er laut vor. Er sah kurz auf. »Die wirst du ihm doch hoffentlich schicken! Der soll sich ja nicht einbilden, dass du die einhundertvierzehn Euro zahlst. Seit der Professor ist, hat der kein Verhältnis mehr zu Geld, oder was?«

Martina verdrehte die Augen. Natürlich würde sie Rupert die Krankenhausrechnung nicht schicken können. Sie seufzte.

»Lass dich von dem Mistkerl nicht immer einwickeln.«

»Rupert ist kein Mistkerl!«

»Na klar, und du nimmst ihn immer noch in Schutz.«

»Frank, hör auf, lass ihn in Ruhe!« Martina nahm ihm den Brief wieder ab und stopfte ihn in ihre Hosentasche. Sie wusste schon, wem sie die Rechnung schicken würde. Genau demjenigen, der sie völlig gedankenlos verursacht hatte, weil er im Land der staatlichen Krankenversorgung lebte und keine Krankenhausrechnungen kannte.

»Hey, hier ist noch was. Du kriegst heute aber wichtige Post. Von der Gendarmerieinspektion in Anif.«

»Zeig her!« Sie drehte sich mit einem Ruck um und riss Frank auch diesen Brief aus der Hand.

»Was hast du angestellt? Eine Bank ausgeraubt? Alten Frauen die Handtaschen aus der Hand gerissen?« Er grinste frech, wurde dann jedoch plötzlich ernst.

»Du bist mal wieder Auto gefahren und sie haben dich endlich dabei erwischt!«

Martina ging gar nicht auf ihn ein.

»Scheiße«, murmelte sie.

»Los, gibt her!« Frank nahm ihr den Brief aus der Hand.

»Vorfall vom Oktober… Falschaussage … Beihilfe zur Fahrerflucht … Behinderung von Ermittlungen …Falsche Verdächtigung…« Er warf ihr einen fassungslosen Blick zu.

»Stimmt das etwa alles?«

»Ja, und nein.« Martina sah ihn nur kurz an, bevor sie wieder aus dem Fenster sah.

»Was jetzt: Ja oder nein?«

»Wenn du Polizist bist, sagt du, es stimmt. Aber es stimmt auch wieder nicht, weil ich eigentlich gar nichts Falsches gesagt habe. Ich habe nur etwas nicht richtig gestellt, was mir in den Mund gelegt wurde.«

»Kannst du mir das alles noch mal im Klartext erklären?«

Martina holte tief Luft, ließ dann aber ihre Schultern wieder sinken.

»Hängt das irgendwie mit dem Brief vom Krankenhaus zusammen? War das nicht dasselbe Datum?«

Martina sah betreten zur Seite.

»Kannst du mir mal erklären, warum du immer wieder für Rupert die Kastanien aus dem Feuer holst? Der macht dir das Leben schwer, merkst du das nicht? Du kannst doch nicht so ein schlechtes Gewissen haben, weil du ihn nicht heiraten wolltest, dass du dir immer noch ein Bein für ihn ausreißt.« Frank schmiss den Brief wütend auf den Tisch.

»Du wirst zu Matthias gehen und dir verdammt noch mal helfen lassen bei dem Mist hier. Du wirst keine Strafe für diesen Drecksack riskieren!«

»Rupert ist kein Drecksack!«

»Nein, natürlich nicht. Gedankenlos, egoistisch, und immer darauf bedacht, gerade dich an der kurzen Leine zu halten!«

»Darf ich mich auch alleine um meine eigenen Angelegenheiten kümmern?« fauchte Martina aufgebracht.

»Oh, ja! Reite dich nur noch tiefer rein, lass nicht zu, dass man dir hilft, bitte, hier…«

Aufgebracht riss Frank seine Jacke vom Stuhl und ging zur Tür.

»Ich hatte absolut nicht die Absicht, dir zu nahe zu treten, du Mimose. Hoffentlich bist du wenigstens so schlau und lässt dir von Matthias helfen. Dann hast du wenigstens nicht umsonst Freunde, die Rechtsanwalt sind.«

Aber genau das würde sie nicht machen können, dachte Martina. Anwälte hatten die dumme Angewohnheit, Ermittlungsakten einzusehen. Und spätestens dann konnte jeder in ihrer Akte alles über diese unselige Nacht nachlesen. Einschließlich der echten Namen der Akteure in diesem Stück, denen die Gendarmerie offenbar schon auf die Schliche gekommen war. Während Frank wütend die Treppe wieder hinunterpolterte, öffnete Martina noch einmal den Brief vom Unfallkrankenhaus Salzburg. Die Höhe der Rechnung war gar nicht so entsetzlich wie sie zuerst im ersten Schock erwartet hatte. Aber der Brief von der Gendarmerie in Anif lag ihr quer im Magen.

 

~~~

 

»Frau Bienert, Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass Sie der Meinung sind, die gegen Sie erhobenen Anschuldigungen träfen nicht zu?«

Martina gegenüber saß ein typischer Vertreter der österreichischen Beamtenschaft. Na ja, vielleicht war er nicht so typisch, schränkte sie im Geiste ein, aber er sah halt aus, wie man sich einen typischen Beamten vorstellte. Über einem pastellgrünen Hemd trug er eine graue gestrickte Weste, die über seinem runden Bauch schon etwas spannte. Das schüttere Haar war ordentlich gescheitelt und mit viel Pomade glatt über den Kopf gekämmt. Die kleinen Augen hinter der dicken Hornbrille fixierten sie streng.

»Ja, die Anschuldigung der Falschaussage trifft schon mal nicht zu. Ich habe nie behauptet, dass es sich um Herrn Rupert Mayrhofer handelt, für den ich im Krankenhaus Dolmetscherdienste übernommen habe.«

»Sie haben aber auch nicht widersprochen.«

»Als ich bemerkt habe, dass es nicht Herr Mayrhofer war, hat mich auch keiner mehr gefragt, ob die vom Pflegepersonal anhand der gefundenen Visitenkarte vorgenommene Identifizierung korrekt ist. Ich habe einfach nicht mehr daran gedacht. Ich habe mir Sorgen gemacht um die Gesundheit des Mannes. Immerhin ging es ihm zu diesem Zeitpunkt ziemlich schlecht, wie Sie selbst in dem Bericht nachlesen können.«

»Frau Bienert, wären Sie jetzt bitte so freundlich, mir den richtigen Namen des Betreffenden zu nennen?«

»Diesbezüglich würde ich gerne von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen.«

»Das können Sie nur in Anspruch nehmen in einem Verfahren, das gegen Sie gerichtet ist.«

»Ach, ich dachte, deshalb sitze ich hier?«

»Unter anderem. Aber auch als Zeugin in der Unfallsache.«

»Ich machte von meinem Aussageverweigerungsrecht als Verlobte Gebrauch.«

»Hören Sie doch bitte auf mit diesem Blödsinn. Wir wissen doch beide, dass es sich nicht um Ihren Verlobten handelte. Sehen Sie, ich bin bereit, die ganze Angelegenheit ziemlich schnell einzustellen, sagen wir gegen eine Geldbuße, wenn Sie jetzt endlich bereit sind, als Zeugin in der Sache auszusagen. Sie wären dann auch nicht vorbestraft und Ihre Aufenthaltsgenehmigung wäre auch nicht gefährdet.«

»Soll das eine Drohung sein? Einzug der Daueraufenthaltserlaubnis, wenn ich nicht als Zeugin aussage?« Martina wurde schwarz vor Augen. Als Deutsche durfte sie zwar innerhalb der EU wohnen, wo sie wollte, würde ihr aber die Daueraufenthaltsgenehmigung wegen irgendwelcher Vergehen entzogen werden, könnte man sie eiskalt abschieben.

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen…« Er zuckte leicht mit den Schultern.

»Sie werden mir doch nicht erzählen, dass die Gendarmerie über die Mietwagenfirma noch nicht herausgefunden hat, wer den Wagen gemietet hat!«

»Frau Bienert, können wir uns auf Ihre Aussage beschränken? Versuchen Sie nicht, mich über den Stand der Ermittlungen auszufragen. Also, wie heißt der Mann, den Sie in der Nacht vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Oktober im Unfallkrankenhaus abgeholt haben?«

Martina holte tief Luft. Warum sollte sie eigentlich für diesen Kerl den Kopf hinhalten, fragte sie sich.

»Nick Cameron«, sagte sie.

»Wie schreibt sich das?« Er sah verwirrt auf. Martina griff nach einem Stift und schrieb ihm den Namen auf.

»Anschrift?«

»Weiß ich nicht. Er wohnt in London, vermute ich mal.«

»Sie wissen nicht, wo er wohnt?«

»Nein.«

»Aber Sie kennen ihn?«

»Flüchtig. Wir haben uns auf einer Party kennengelernt. Wie viele Leute kennen Sie, von denen Sie nicht wissen, wo sie wohnen?«

»Und diese flüchtige Bekanntschaft reicht aus, dass Sie sich für ihn strafbar machen? Warum haben Sie ihn mit dem falschem Namen gedeckt?«

»Es war mitten in der Nacht. Ich war müde und ich war sauer. Ich bin zum Krankenhaus gefahren, um für einen meiner Klienten in der Notaufnahme zu dolmetschen und musste feststellen, dass es sich um einen flüchtigen Bekannten gehandelt hat, der die Gutgläubigkeit des Pflegepersonals ausgenutzt hat, um unerkannt zu bleiben.«

»Aber Sie haben ihn erkannt?«

»Ja, natürlich.«

»Warum haben Sie die Herrschaften nicht aufgeklärt?«

»Können Sie sich das nicht denken?« Sie sah ihn fragend an.

»Ich möchte es von Ihnen hören.«

»Ich hatte keine Lust, meinen Namen am nächsten Morgen in allen Klatschblättern der Nation zu finden.«

»Warum sollte das geschehen?«

»Der Name Nick Cameron sagt Ihnen nichts, oder?«

»Sollte er?«

»Nur, wenn Sie öfter ins Kino gehen.«

»Sagen Sie bloß, Sie meinen den Schauspieler!«

Martina rollte resigniert mit den Augen.

»Eben den, können Sie jetzt verstehen, warum ich im Krankenhaus nur noch so schnell wie möglich weg wollte?«

»Ich kann es mir denken.«

»Und jetzt? Was machen Sie jetzt mit mir? Werden Sie mich jetzt wegen Beihilfe zur Fahrerflucht einlochen?«

»Ich erhebe mahnend meinen Zeigefinger und verwarne Sie. Wenn Sie noch einmal so eine Sache wie diese abziehen und die Behörden in die Irre führen, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen die Daueraufenthaltskarte entzogen wird und damit die Aufenthaltsgenehmigung für Österreich. Haben wir uns verstanden?«

»Ich denke schon. Stellen Sie jetzt das Verfahren gegen mich ein?«

»Gegen die Zahlung einer Geldbuße von achthundert Euro.«

Martina hielt entsetzt die Luft an. »So viel?«

»Tja, das berechnet sich nach Tagessätzen. Sie haben eine eigene Firma, da fallen die etwas höher aus. Irreführung der Behörden und falsche Aussage ist teuer. Dazu kommt noch die Förderung der falschen Verdächtigung von Herrn Mayerhofer. Sie segeln hier knapp an einer Freiheitsstrafe von einem Jahr vorbei!«

»So viel hab ich nicht!«

»Sie können in Teilbeträgen zahlen.« Völlig ungerührt schob er ihr das Aussageprotokoll und den Strafbefehl zur Unterschrift hin.

»Unterschreiben Sie gleich beides, dann brauch ich Ihnen den Bescheid über die Höhe der Geldbuße nicht extra zuzustellen.«

Verärgert setzte Martina ihre Unterschrift unter beide Papiere. Dann schob sie sich die Handtasche auf die Schulter und machte Anstalten, aufzustehen.

»Eines noch…« Seine erhobene Hand hielt sie auf.

»Ja?«

»Sie haben nicht zufällig ein Autogramm von ihm?«

»Wie bitte?« Sie sah ihn fassungslos an. Dann drehte sie sich zur Tür. »Nein, wirklich nicht.«

»Komiker«, murmelte sie, als sie draußen auf dem düsteren Flur stand.

Achthundert Euro! Wo sollte sie die bloß hernehmen? So ein Mist, fluchte sie im Stillen vor sich hin. Nicht nur diese dämliche Krankenhausrechnung, die ihr Haushaltsgeld schon strapaziert hatte, jetzt auch noch das. Sie würde das Geld nehmen müssen, das sie für die zwölfsaitige Gitarre, den Traum ihrer schlaflosen Nächte, so nach und nach zu ihren Geburtstagen geschenkt bekommen hatte. Und das alles nur wegen diesem Mistkerl. Gut, dass sie die Rechnung vom Krankenhaus mit ein paar gepfefferten Worten schon nach London geschickt hatte. An die einzige Adresse, die sie im Internet gefunden hatte. Aber wenn Nick Cameron ihren Brief bekam, würde er hoffentlich sofort die Krankenhausrechnung bezahlen.

»Verdammte Scheiße«, murmelte sie vor sich hin.

 

~~~

 

»Kommst du am Wochenende her? Wir könnten dann mal losfahren und sehen, ob wir nicht schon deine Gitarre holen.« Frank sah vom Wasserhahn auf dem Vorplatz kurz zu ihr hinüber. Martina holte tief Luft.

»Ich hatte das Wochenende eigentlich schon verplant.«

»Du hast feste Pläne schon immer über den Haufen geworfen. Warum nicht auch dieses Mal?«

»Außerdem weißt du, dass die Gitarre, die ich haben will, immer noch mehr kostet, als ich überhaupt habe.« Das war noch nicht mal gelogen, fand sie. Vor ein paar Wochen hatten immer noch zweihundert Euro gefehlt, um ihre absolute Traumgitarre zu kaufen. Seit ein paar Tagen fehlten allerdings tausend Euro.

»Ich weiß. Aber ich habe mir gedacht, ich könnte dir vielleicht den Rest zu Weihnachten schenken. Es war ja nicht mehr allzu viel, was noch gefehlt hatte.« Er grinste sie übermütig an, in der festen Überzeugung, dass sie ihm vor Freude um den Hals fallen würde, weil sie die Gitarre doch schneller bekam, als sie sich erhofft hatte.

»Außerdem kannst du ja dann schon mal für Silvester üben.«

»Ist Gesina wieder nicht da?« Martina versuchte krampfhaft, das Thema zu wechseln. »Was ist das überhaupt für eine Band, wenn die Leadsängerin zu den wichtigsten Konzerten nie da ist?«

»Du weißt doch, dass ihre Mutter am Einunddreißigsten Geburtstag hat. Sie wird nie Zeit haben, Silvester bei Iris im Nachtcafé aufzutreten. Und so wichtig sind die Auftritte auch wieder nicht. Von wegen Konzert

Martina gab Frank heimlich recht. So ein Auftritt im Nachtcafé ihrer Freundin Iris beschränkte sich vornehmlich darauf, tanzbare Musik zu spielen, damit die Gäste die Tanzfläche füllten und sich wohlfühlten. Kaum einer nahm die Musiker oder die Qualität der Musik wahr.

Frank ließ sich nicht vom eigentlichen Thema ablenken.

»Also, was ist? Gehen wir übermorgen dein Weihnachtsgeschenk kaufen?«

»Ich kann die Termine wirklich nicht verschieben.«

Er zuckte mit den Schultern. »Okay, sag einfach Bescheid, wenn du wieder Zeit hast. Aber was anderes… was ist eigentlich aus diesem Ding mit der Gendarmerie in Anif unten geworden?« Er bemerkte schon bei seiner Frage, wie sich Martinas Gesichtsausdruck verschloss.

»Sie haben das Verfahren eingestellt«, sagte sie möglichst beiläufig.

»Einfach so?«

Martina rollte mit den Augen. Würde Frank jemals in seinem Leben mit dieser Ausfragerei aufhören?

»Nein, gegen eine Geldbuße«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

»Wie hoch?«

»Achthundert Euro.«

»Soviel? Was hast du wirklich angestellt? Rupert nur aus dem Krankenhaus abzuholen, kann doch nicht so teuer sein, auch wenn es falsch war! Und dieses Mal keine Ausflüchte. Dieses Mal will ich die Wahrheit hören!« Frank hatte seine Hände fertig gewaschen und kam trat zu Martina. Zusammen gingen sie in die große Küche des Bauernhauses.

»Setz dich da hin und beichte!« Frank drückte Martina auf die Eckbank und goss sich einen Kaffee ein. Mit einem sturen Gesichtsausdruck sah sie an ihm vorbei an die Wand.

»Von mir aus kannst du hier die ganze Nacht sitzen. Du kommst hier erst raus, wenn ich weiß, was du angestellt hast.«

Martina verdrehte genervt die Augen.

»Kannst du dich an den Typen aus dem Biergarten in München erinnern?«

»Der, mit dem Lady-Killer-Lächeln? Der dir am Tisch gegenüber gesessen und dich nicht aus den Augen gelassen hat?« Frank runzelte angestrengt die Stirn.

»Genau den!«

»Und? Los weiter! Habt ihr euch nicht noch einmal getroffen?«

»Woher weißt du das schon wieder?« Martina sah ihn mit zusammengekniffenen Augen abschätzend an. Dann verzog sie ihren Mund. »Hanna ist eine alte Petze!«, sagte sie resigniert. »Ja, wir haben uns noch einmal getroffen. Und da hatte er keinen Bart mehr. Aber Hanna wird dir den Rest schon erzählt haben.«

»Nur das gleiche Wischiwaschi-Zeug, das du ihr auch erzählt hast. Warum ist der denn nun ein arrogantes Arschloch? Hat er dich blöd angemacht?«

»Zuerst hat er gar nichts gemacht. Nur der Bart war ab und ich habe mich geärgert, dass ich ihn nicht vorher erkannt habe. Er hat nämlich ein Gesicht, das man durchaus erkennt.«

»Mach’s doch mal spannend!«

»Ich geb mir ja schon alle Mühe!« fauchte Martina. »Welchen Film hast du letztens mit mir zusammen im Kino gesehen?«

»Das ist ein saublödes Ablenkungsmanöver!«

»Welchen Film?« Martina sah ihn streng an.

»Traumtänzer mit Anne Cavanaugh und Nick Cameron…«

»Eben!«

»Was eben?« Frank sah sie ungeduldig an, dann klappte ihm die Kinnlade herunter. »Du willst doch nicht sagen, dass das Nick…«

»Doch, genau das will ich sagen!«

»Und?«

»Was, und? Ich bin weggelaufen. Zum einen ist natürlich prompt ein Fotograf aufgetaucht, der ihn erkannt hat, und ich hatte Angst gehabt, dass sofort ein Blitzlichtgewitter losgeht. Und zum anderen hab ich mich maßlos geärgert, dass ich auf den Bart reingefallen bin. Er hat ja noch nicht einmal einen falschen Vornamen genannt. Ich war nur so dämlich und hab ihn nicht erkannt.«

»Nur weil du weggelaufen bist, musst du wohl keine Strafe zahlen. Du hast ihm doch nicht etwa eine gehauen, dass er ins Krankenhaus musste? Weshalb also diese Rechnung?«

»Na ja, ich war wieder zu Hause und habe versucht, zu schlafen, als das Unfallkrankenhaus angerufen und gemeint hat, sie hätten nach einem Unfall Rupert völlig betrunken und verletzt dort und ich solle für ihn dolmetschen. Und ich bin brav rausgefahren.«

»Warte. Und das war dann dieser Cameron und gar nicht Rupert?«

»Genau!«

»Und du hast denen nicht zufällig erzählt, dass er gar nicht der ist, für den er sich ausgegeben hat, sondern ihn da brav rausgeholt, weil es so schön ist, alle zu linken?«

»Weil ich zuerst viel zu überrascht war und dann zu wütend. Und nachher hat er mir einfach nur leidgetan. Er hat sich bei dem Unfall mit dem Auto den Daumen gebrochen und dazu mindestens eine Gehirnerschütterung und die im Krankenhaus haben ihn einfach gehen lassen.«

»Und dein Helfersyndrom ist wieder angesprungen und du hast ganz die Retterin in der Not gespielt. Und dann haben dir die bei der Polizei die Hölle heiß gemacht, weil sie ganz schnell gemerkt haben, dass es nicht Rupert war, den du abgeholt hast.«

»So ähnlich.« Martina sah ziemlich kleinlaut zu Frank hinüber.

»Darf ich noch mal raten? Du hast das Gitarrengeld genommen, um die Strafe zu zahlen.«

»Ja.« Sie nickte betreten. »Wenn ich den Strafbefehl nicht akzeptiert hätte, hätten die mich ein Jahr einlochen und mir die Aufenthaltsgenehmigung entziehen können.«

»Was soll ich bloß mit dir machen, kannst du mir das mal verraten?« Frank streckte seinen Arm aus und zog sie zu sich heran.

»Hast du ihm wenigstens die Rechnung geschickt? Der hat doch Kohle wie Heu, soll der doch die Strafe zahlen!«

»Hab ich, und die Krankenhausrechnung dazu.«

»Hat er sie bezahlt?«

Martina guckte ihn kleinlaut an.

»Ich hab einen Brief aus seiner Firma zurückbekommen, es täte ihnen ja sehr leid, Mr. Cameron wäre ja immer offen für Spenden, aber in diesem Falle, weil es doch keine gemeinnützige Organisation ist, sondern privat und bla bla bla. Der hat meinen Brief gar nicht gesehen, die Sekretärin hat gedacht, ich bettele da einen Star an, dass der irgendwelche Rechnungen für mich bezahlen soll, und hat mich mit einem nichtssagenden netten Brief abgewimmelt.« Martina seufzte.

»Du hast die Krankenhausrechnung also auch bezahlt.« Frank schüttelte resigniert den Kopf. Martina stand auf.

»Ist die Gerichtsverhandlung jetzt beendet? Darf ich jetzt meine Kinder einsammeln und nach Hause fahren?«

»Komm, ich fahr dich rasch runter. Der Bus fährt hier nicht mehr pünktlich, seit es gestern geschneit hat.« Frank trank hastig seinen Kaffee aus, während Martina schon nach Christopher und Robin rief. Er sah ihr zu, wie sie die Jungs im Flur in ihre warmen Winterjacken verpackte.

»Er hat dir gefallen, Kleines, nicht wahr?« fragte er leise.

»Aber nur solange, wie er lediglich Nick hieß und einen Bart hatte.«

In ihrem Blick, den sie ihm über die Schulter zuwarf, konnte er kurz Enttäuschung aufflackern sehen, bevor sie sich wieder den Schneeanzügen zuwandte.

 

 

4.

Martina stieg aus Franks VW-Bus und atmete tief ein. Oben auf der Passhöhe des Staller Sattels, zwischen dem Defereggental und Südtirol, war es viel kühler und angenehmer als in Salzburg, wo sie am späten Vormittag gestartet waren. Sie ließ ihren Blick über das grandiose Panorama gleiten, das sich ihr direkt an dem Bergsee bot, der in der Sonne glitzerte. Hinter ihr lag die kurvenreiche Straße, die von St.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 03.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1186-0

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