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Gesamtwerk

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unterwegs

 

Bus- und Straßengeschichten

Im Bus zu lesen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von

 

Paulina Panther

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unterwegs

 

Bus- und Straßengeschichten

Im Bus zu lesen

von

 

Paulina Panther

 

 

 

 

Meiner Mutter gewidmet

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog 7

Verschwunden 9

Begegnung (I) 11

Fragen, Vermutungen 12

Gelaufen 14

Die beiden Jungs im Bus 16

Die beiden Kollegen – Part I: Der Schweiger 17

Die beiden Kollegen – Part II: Der Schwätzer 18

Die alte Klassenkameradin 19

Die alte Dame an den Krücken 21

Die Frau mit dem wehenden Mantel 22

Angemotzt 23

Die Dozentin 24

Die Dozentin – in eigener Sache 25

Wo ist SIE? 26

Verwunderung, Staunen 27

Wo ist sie? 29

Wölfe! 30

Gelächelt 31

Begegnung (II) 32

Verflüchtigt 33

Begegnung (III) 36

Die Buchhändlerin 38

Ausgestiegen 40

Angeschlossen 42

Schlussbetrachtung 43

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

 

Unterwegs - - -

 

Sie war eigentlich dauernd unterwegs. Wenn man zur Arbeit will, ist man das zwangsläufig. Auch sonst ist man ziemlich viel unterwegs.

 

Alle ihre besten Ideen hatte sie unterwegs.

War es das Gefühl des Sich-Vorwärts-Bewegens, des Fahrens an sich, das die Gehirnzellen so anregte? Oder war es das angenehme Gefühl, zu fahren, aber nicht auf die Straße achten zu müssen, sondern, - und sogar mit dem Rücken zur Fahrtrichtung - chauffiert zu werden? Das einzige, worauf man zu achten hatte, war, an der richtigen Haltestelle auszusteigen.

 

Auf der Fahrt hatte sie Zeit und Muße. Sie las sehr gern, aber sie blickte auch öfter von ihrem Buch hoch, allein auch deswegen, um immer wieder mal einen prüfenden Blick auf die Stelle zu werfen, wo sich der Bus gerade befand. Oder sie betrachtete kurz, aber interessiert die anderen Fahrgäste. Manchmal konnte sie auch nicht umhin, der Unterhaltung zu folgen, die einige miteinander führten. Und sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre eigenen Gedanken selbständig machten und anfingen, Spekulationen anzustellen. Was waren das für Menschen, die da beinahe jeden Tag mit ihr zur selben Uhrzeit im Bus mitfuhren? Was dachten sie ihrerseits, über ihre Arbeit, über ihre Mitmenschen, nahmen sie die übrigen Mitreisenden überhaupt wahr oder waren sie durchaus ichbezogen?

 

Und die Leute, denen sie auf der Straße zur Arbeit begegnete. Was bewegte diese Mitmenschen? Waren sie zufrieden mit ihrem Leben, oder ängstigten sie sich, waren sie gleichgültig, waren sie zornig, - was bewegte sie?

 

Was mochten sie denken, alle diese Zeitgenossen? Hatten sie Pech gehabt im Leben, oder hatten sie es gut getroffen? Fragen über Fragen, dachte sie. Und weil sie diese vielfältige Fragenstellung und ihre noch viel vielfältigeren Möglichkeiten der Antworten so faszinierte, gab sie ihren Gedanken freie Bahn…

 

 

 

 

Verschwunden

 

Wohin, so überlegte sie auf dem Weg zur Arbeit, war Daniela R. verschwunden?

Sie hatte diese nette junge Frau letztes Jahr persönlich kennen gelernt und nach Neujahr nie wieder etwas von ihr gehört.

Frau R. arbeitete in einem großen Hotel an der Messe und war im Bereich der Kundenpflege und Akquisition von Neukunden beschäftigt. Sie hatte telefonisch ihr Unternehmen unter Hinweis auf die Website vorgestellt und zu einer Besichtigung eingeladen.

Leider musste ausgerechnet am Tag der Besichtigung die Mutter ins Krankenhaus. Doch Frau R. zeigte sich sehr verständnisvoll.

Die nächste Woche war sie dauend zum oder vom Krankenhaus unterwegs. Aber da die Besuchszeiten dort auf den Nachmittag festgelegt waren, nahm sie sich an einem Vormittag eine Stunde Zeit und sah sich mit Frau R. das Hotel an. Diese führte sie gern und freundlich in jedes Stockwerk, zeigte ihr den Fitnessbereich, eines der Zimmer, die mit viel Sorgfalt und reichhaltiger Auswahl zusammengestellten Frühstücksbuffets und die bekannten und gut besuchten Restaurants im Erdgeschoß. Anschließend spendierte sie sogar noch einen Kaffee in der Lounge.

Natürlich war diese freundliche Einladung in erster Linie ein Instrument zur Kundengewinnung, das war auch völlig in Ordnung. Doch das Hotel und wie kompetent und freundlich es ihr präsentiert wurde, hatte ihr gut gefallen, und sie würde es gerne ihrem Vorgesetzten oder Kollegen empfehlen. Und da sie eine Frau von Wort war, tat sie auch wie sie versprochen hatte. Dass die Kollegen die Empfehlung nicht wahrnahmen, - so sind die Leute eben!

Die nächste Einladung von Daniela R. führte sie am Nikolaustag wieder in das Hotel. Dort sollte sie sich mit anderen Kunden bei einem schön gestalteten Nikolaus-Essen austauschen können.

Für diesen Anlass hatte sie hatte einen prächtigen adventlichen Blumenstrauß beim Floristen bestellt und sich in ein schickes Kostüm gekleidet, da dies für sie einfach zum guten Ton gehörte. Schließlich repräsentierte sie mit diesem offiziellen Besuch ihr Unternehmen, in dem sie eine zwar kleine aber wichtige Rolle spielte, und ihr Unternehmen war auch nicht irgend eines, sondern eine bekannte Größe im Immobilienbereich!

Als sie im Foyer eintraf, sah sie einige jüngere Damen und Herren teilweise in kleinen Grüppchen schwatzend, teilweise etwas verloren allein in der Nähe des prächtigen Weihnachtsbaumes in der Lobby herumstehen. Alle schienen auf etwas zu warten, und sie gesellte sich dazu. Bis Frau R. auftauchte, hatte sie genug Gelegenheit, die anderen Gäste etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Missbilligend bemerkte sie, dass die meisten von ihnen nicht dem Anlass entsprechend gekleidet waren, und was ihr noch negativer auffiel, kein einziger hatte auch nur einen winzigen Blumenstrauß oder sonst ein kleines Geschenk dabei.

Frau R. begann mit der Begrüßung, erblickte sie schließlich und eilte sofort auf sie zu. Sie lächelte die junge Frau an, bemerkte launig: „Hier sind wir, mein Blumenstrauß und ich – und“, sie überreichte ihr den grün duftenden und golden glänzenden Strauß mit den prächtigen roten Blüten, „der ist für Sie!“

Darauf kam natürlich wieder der Standardspruch, der sie so ärgerte: „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!“ Warum in aller Welt sagten die Leute so etwas? Fühlten sie sich der Gabe nicht wert, dass sie sich selbst so herabsetzten? Darum gab sie auch jetzt ihre Standardantwort, die sie darauf parat hatte: „Doch, das war nötig!“ In Gedanken und mit einem leicht hämischen Seitenblick auf die anderen Gäste setzte sie hinzu: da die anderen ja nicht wissen, was sich gehört…. 

 

Und sie wurde belohnt durch das Lächeln und die freudestrahlenden Augen in Frau R.s gestresst wirkendem Gesicht. „Oooh, ist DER schön!! – Und so groß, den kriege ich ja gar nicht auf meinem Schreibtisch unter.“

„Dann nehmen Sie ihn doch mit nach Hause“, sagte sie augenzwinkernd.

Der Strauß wurde nach hinten in Frau R.s Büro gebracht, und nun führte sie die Gäste in den liebevoll hergerichteten und vorweihnachtlich festlich geschmückten Speisesaal. .

Das erste, was Frau R. anlässlich der Sitzverteilung sagte, war: „Die Dame hier sitzt bei mir!!“- Und sie setzte sich an dem langen Tisch ihr gegenüber und betreute sie die ganze Zeit, so lange das vorzügliche Essen dauerte, und darüber hinaus, mit besonderer Aufmerksamkeit.

Darüber freute sie sich wirklich sehr, und sie dachte anerkennend: Die versteht’s Marketing!

 

Man trennte sich in bester Laune und mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben.

 

Ihrerseits hätte dem auch nichts im Wege gestanden. Sie hatte sich sehr nett unterhalten und bedankte sich per Mail nochmals bei Frau R. für die Einladung.. Zu Weihnachten schickte sie ihr abermals eine Mail mit herzlichen Weihnachtsgrüßen und zwei Spezialrezepten, die sie eigens für die junge Dame aus ihrem Kochbuch herausgesucht hatte.

Danach hörte sie nichts mehr von Daniela R. Nicht nach Neujahr, nicht im Januar, nicht im Februar.

Das kam ihr doch seltsam vor. Erst ein so netter Kontakt, und dann keine Antwort? Gut, da waren die Feiertage, es gab Kongresse und Messen; und es war Winter, Frau R. konnte ja auch durchaus krank geworden sein. Aber zwei Monate langes Schweigen? Kurzerhand griff sie zum Telefonhörer, rief im Hotel an und fragte nach Frau R.

Die Antwort erschütterte sie doch einigermaßen: Frau R., hieß es da, arbeite nicht mehr für dieses Unternehmen. Sie habe überhaupt das Genre gewechselt.

Irgendwie fand sie es schade, diesen netten Kontakt verloren zu haben. Sie hätte gern eine Freundschaft zu dieser jungen Dame aufgebaut; irgendwie hatten sie etwas Verwandtes. Was, sinnierte sie, mochte da geschehen sein. Wohin war Daniela R. verschwunden? Hatte sie einen tollen Typen kennengelernt und war mit ihm durchgebrannt? Oder wollte sie ihre kommunikatives Talent in einer anderen beruflichen Sparte ausleben? Wer weiß, möglicherweise war Daniela R. in den allgemeinen Marketingbereich gewechselt, das konnte sie sich sehr gut vorstellen. Es hieß ja immer, dass man sich zweimal im Leben begegnet. Dann wären sie also demnächst Kolleginnen…falls sie sich wieder begegneten!

Auf dieses zweite Mal war sie jetzt schon sehr gespannt.

Sie gelangte zu ihrem Ziel, ging durch den Eingang der Firma und die Treppe hoch zu ihrem Arbeitplatz in der Marketing-Abteilung des Unternehmens, bei dem sie beschäftigt war.

 

 

 

Begegnung (I)

 

Sie war auf dem Weg, in Eile, gerade aus der U-Bahn ausgestiegen und nahm die Rolltreppen zur Oberfläche, aus den zugigen tiefen Schächten auftauchend in die warme Sonne.

Vor ihr lief ein junger Mann, dem Aussehen nach Afrikaner, hinter dem sie schon auf der ersten Rolltreppe wartend gestanden hatte. Ihr fiel die kleine Flasche Cola Zero auf, die er in der rechten Hand hielt, leer getrunken bis auf einen kleinen Rest, und sie dachte, wie man bei solcher Wärme denn nur auch noch so süßes Zeug trinken könne, was noch mehr Durst verursachte. - Weiter oben, auf der zweiten Treppe, brüllte ein Baby im Kinderwagen seinen Frust in die Welt hinaus.

Der junge Mann vor ihr hörte wohl am Klacken ihrer Absätze, dass jemand hinter ihm sei, drehte sich halb zu ihr um, entblößte ein strahlend weißes Gebiss mit einem freundlichen Lächeln und meinte: „Ach, das Baby hat aber wohl Kummer?!“

„Hat wohl keine Lust“, antwortete sie.

„Keine Lust, worauf?“ fragte er sichtlich irritiert zurück.

„Kein‘ Bock, keine Lust auf nix“, versuchte sie flapsig und mit leichtem Grinsen zu erklären.

Er meinte: „Oh, das klingt aber nach Weltschmerz…haben Sie keine Kinder?“

„Nein.“ Sie sagte es rein sachlich, ohne Bedauern.

„Das wundert mich aber“, meinte er. Wieso, fragte sie sich belustigt, mache ich etwa so einen mütterlichen Eindruck? – aber dann kam schon die nächste erstaunliche Feststellung.

„Sie haben ja gar keine Angst vor mir?!“

Das war richtig, und sie antwortete selbstbewusst und auch etwas erstaunt: „Warum sollte ich?“

Er strahlte sie an, sie sah das lachende hübsche Gesicht, ein alter Kinderreim kam ihr in den Sinn. Sie fuhr sanft mit dem Zeigefinger über seine Wange und zitierte: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? – Alles Blödsinn!“

Plötzlich, in einer spontanen Geste, neigte er den Kopf und legte die Wange an ihre Seite, unter dem Arm, in der Nähe des großen Rückenmuskels, und küsste ihre Bluse an dieser Stelle.

Diese Geste hatte etwas tief Anrührendes, da sie so respektvoll und ehrfürchtig war, und wurde sie sonst nur den Matriarchinnen bei manchen afrikanischen Völkern zuteil (sie hatte das schon an anderer Stelle gesehen), dass sie über diese doch sehr vertrauliche Art der Annäherung nicht im mindesten ungehalten war; höchstens etwas verwirrt, und sie fragte sich, ob es ihn denn gar nicht störe, dass ihre Bluse verschwitzt war und sicher auch etwas roch – offenbar nicht – sie selbst fand es peinlich, nach einem anstrengenden Arbeitstag im Sommer und nach Versagen des Deos jemandem so nahe zu kommen.

Anscheinend störte ihn das aber nicht weiter. Anscheinend freute er sich so, dass sie nicht schimpfte und auch nicht zurückwich, wie manch andere Frau es wohl getan hätte. Er neigte wieder den Kopf und küsste leicht ihren Unterarm und fragte dann: „Gehen wir einen Kaffe trinken?“ 

Wieder empfand sie diese Geste als tief anrührend, in Anbetracht ihres eigenen Alters von Ende Vierzig nicht als Anmache sondern als Respektbezeugung. Um so mehr, als sie diesen jungen Mann doch gar nicht kannte und er ihr so ehrerbietig entgegenkam. Was hatte sie denn getan, das zu verdienen? Hatte man ihn, oder seine Familie, so herablassend behandelt, daß er über eine einfache Freundlichkeit so dankbar war? Und fast schämte sie sich für ihr die weißen Landsleute, denen sie selber angehörte. Denn so was wie Rassen gab es für sie nicht. Jeder Erdenbewohner gehörte der Rasse der Menschen an, jeder Außerirdische würde das auch so sehen, also war das sonnenklar.

Sie antwortete: „Ich muss leider zur Abendschule – jetzt – aber vielen Dank für das Angebot!“

Er sagte betroffen: „Oh wirklich, wie schade, so schade!“ Sie antwortete nicht, reichte ihm aber die Hand zum Abschied, sie traten von der Rolltreppe, auf der sie nun oben im Licht angelangt waren, und sie eilte mit klappernden Absätzen eiliig davon.

Er rief ihr noch hinterher, doch sie drehte sich nicht um, nur um kurz zu winken, sie hatte wirklich keine Zeit, musste weiter, wollte sie nicht zu ihrem Unterricht zu spät kommen. Wenn sie etwas hasste, war es Unpünktlichkeit, sowohl an sich und erst recht an anderen.

Diese Begegnung hallte noch lange in ihr nach, war sie doch eine tief emotionale Episode in ihrem Leben, eine Berührung zwischen zwei Kulturen, wichtig für ihr Verständnis von der Welt und von sich selbst.

So etwas Ähnliches hatte sie schon einmal erlebt, entsann sie sich dunkel. Damals hatte sie auch nicht abgewehrt, es war ihr nur ein bisschen peinlich gewesen, derart für ein paar einfache freundliche Worte geehrt zu werden. Und sie kam speziell mit Afrikanern gut klar. Was, so überlegte sie, habe ich als Weiße an mir, was strahle ich aus, das diese Menschen so anzieht? Sonderbar…

Sie bog um die Ecke, der Ort ihrer Weiterbildung war erreicht, die Schulstunde konnte beginnen.

 

 

Fragen, Vermutungen

 

Jeden Morgen marschierte sie nicht zur nächst gelegenen, sondern zur vorherigen oder noch einer weiter zurück stationierten Bushaltestelle, um ihren Lieblings-Sitzplatz zu ergattern. Dabei hörte sie gern ein wenig Musik. Im Bus selbst jedoch schaltete sie ihren Player meist ab, um sich diese halbe Stunde in ihr Buch zu versenken. Aber auch beim Lesen blickte sie, wenn sie eine gerade gelesene Aussage überdenken wollte, auf. Und dann hatte sie Gelegenheit zu sehen, wer auf den folgenden Stationen einstieg.

Beinahe jeden Morgen waren es dieselben Leute. Einige waren mehr oder weniger uninteressant, beinahe schon gesichtslos, denn ihr Gesichtsausdruck war beinahe gleich: gelangweilt, genervt, müde, die wenigsten erwiderten ihren Blick. Die jungen Leute hörten sowieso nur noch ihren mp3-Playern zu und unterhielten sich nicht oder wenn, war es manchmal dergestalt, dass sie die Ohrstöpsel ihres eigenen Players fester in die Gehörgänge drückte, um das seichte Geschwätz nicht mit anhören zu müssen.

Es gab aber durchaus einige Fahrgäste, die sich von der üblichen Masse abhoben.

 

Da war die alte Klassenkameradin aus der Parallelklasse. Aber bei dieser mochte sie nicht sitzen. Sie war zwar nett, aber ihre Gesprächsthemen bewegten sich immer in den gleichen Bahnen, und außerdem sprach sie ein breites Frankfurterisch und dieses mit einer äußerst unangenehm kreischenden Stimme in einer Lautstärke, die durch den ganzen Bus schallte. Nach zwei-, dreimaliger gemeinsamer Fahrt hatte sie genug und zog es vor, sich lieber allein auf einem Rückwärts-Sitz niederzulassen. Der war optimal, wenn der Bus einmal scharf bremste, dann flog sie nicht nach vorn. Die Klassenkameradin dagegen wollte vorwärts fahren und im Winter an der Heizung sitzen, - nun, jeder wie er mag.

 

Da war die schlanke dunkelhaarige Frau mit den zwei großen Taschen, die, wie sie wusste, ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte, aber an einer anderen Haltestelle einstieg. Die Frau trug im Winter einen langen schwarzen weiten, ihr nachwehenden weil offenen Wintermantel und einen alten verblichenen rosa Schal, vielleicht auch fliederfarben, das ließ sich nicht so genau feststellen. Im Sommer trug sie einen langen schwarzen weiten, ihr nachwehenden weil offenen Regenmantel, er konnte auch dunkelblau sein, so genau ließ sich das nicht feststellen. Ihre Haare waren, wenn überhaupt, nur flüchtig gekämmt, sie hatten keinen Stand und lagen platt am Kopf an. Sie trug eine Brille mit leicht blaurosa getönten Gläsern und machte stets ein etwas gehetztes Gesicht. Manchmal saß sie mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Sitz ihr gegenüber. Selber hätte sie nie so im Bus sitzen können, dachte sie, wenn der um eine scharfe Ecke bog oder plötzlich bremste, hatte man keinen Halt. – Wenn die Frau an der Station, an der sie immer ausstieg, den Bus verließ, eilte sie mit ihrem wehenden Mantel wie Zorro oder mit gleichsam fliegenden Fahnen zu der dort bereits wartenden Straßenbahn. Und ihre riesige Sporttasche sowie ihre riesige Handtasche, die sie jeden Tag mitschleppte, trug sie dabei sonderbarerweise nicht umgehängt, sondern in je einer Armbeuge, die Unterarme nach oben gereckt wie Hilfe suchend. Hatte sie ein Hals-Wirbel-Syndrom? Oder hatte sie chronische Sehnenscheidenentzündung in den Unterarmen? Was in aller Welt mochte sie in den großen Taschen mit sich herumschleppen, das sie nicht an ihrem Arbeitsplatz aufbewahren konnte?? Vielleicht hatte sie dort, wo sie arbeitete, keinen Spind für ihre Kleidung oder Sportgeräte. Sie vermutete, dass die eilige Frau vielleicht eine Sportlehrerin oder eine Servicekraft war, auf jeden Fall jemand, der immer unterwegs war (sie schmunzelte: so wie ich).

 

Oder die beiden Herren, ganz offensichtlich Kollegen, die auch immer zusammen einstiegen. Sie waren beide etwa im gleichen Alter und sahen sich sogar wegen ihrer Bärte äußerlich ein wenig ähnlich. Da hörte die Ähnlichkeit aber schon auf. Denn der eine war ganz offensichtlich so ein Vogel, der am frühen Morgen schon anfangen muss zu schwatzen und einfach nicht aufhören kann. Auch er redete des langen und breiten über Themen, die sie selbst in vier, fünf Sätzen abgehandelt hätte, aber dieser gesprächige Herr konnte geschlagene zwanzig Minuten z.B. über die Kunst des Fahrradfahrens und die öffentlichen Radwege referieren. Und so tat er es mit allem, was er beredete. Sein Kollege saß mehr oder weniger stumm neben ihm und ließ mit stoischem Gleichmut das Geschwätz über sich ergehen. Vielleicht brauchte er das ja, um seinen Morgenfrust zu beruhigen, überlegte sie belustigt. Sie selbst konnte es gar nicht haben, wenn sie jemand gleich am frühen Morgen derart zutextete. Der Mensch hatte auch so einen durchdringenden Ton an sich, dass sie durch die störende Lautstärke sehr oft aus ihrer Lektüre gerissen wurde, und auch das konnte sie nicht leiden und war darum froh, wenn die beiden Herren endlich ausgestiegen waren. War dieser Schwätzer auf seiner Abteilung ein armes Würstchen in einer so buchstäblich nichts-sagenden Position, dass er sich immer im Bus produzieren musste? Oder war er Kundenakquisiteur? Sie hatte den einen früher schon einmal in der Nähe einer bekannten Versicherung aussteigen sehen, als der Bus noch eine andere Route fuhr, und vermutete daher, dass die beiden dort arbeiteten.

 

War sie nun selbst endlich am Ende ihrer morgendlichen Reise angekommen und ging die Straße hoch zu ihrer Firma, so begegnete ihr sehr oft die alte Frau an Krücken. Diese konnte sich nur noch mit Gehhilfen fortbewegen, also musste sie wohl auch Schmerzen haben. Erstaunlicherweise war aber in ihrem glatten, gepflegten Gesicht, umrahmt von sauber geschnittenem und gut gekämmten weißen Kurzhaar, nichts davon zu sehen. Sie trug im Gegenteil immer ein Lächeln zur Schau und zeigte gut geschminkte Lippen und gepflegte Zähne. Vielleicht war das Lächeln ja aber auch nur aufgeschminkt, vielleicht zeigte sie dem Schmerz und der Welt die Zähne: seht, mich kann nichts niederzwingen!

 

Oder da stand diese Frau mitten auf der Straße, gekleidet wie eine Altstudentin, etwa aus der Zeit der 68er, in Parka und mit einem dicken Zopf in ihren schwarzen Haaren. Sie war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Mit großer Ernsthaftigkeit stand sie da, manchmal auch an den Ecken, und hielt einer imaginären Zuhörerschaft wissenschaftliche Vorlesungen, die aber meist mit derart unflätigen sexuellen Anspielungen gespickt waren, dass man sofort merkte, mit ihr müsse etwas nicht stimmen. Die Geisteswissenschaftliche Abteilung der Universitätsbücherei war in dieser Straße angesiedelt, - hatte sie zuviel studiert? War sie Patientin einer Praxis in der Nähe? Wenn man sich auch zuerst ein wenig vor ihr erschreckte, so konnte man doch nach einer Weile ganz deutlich sehen, dass sie in einer anderen Welt lebte und bis auf ihr „dirty talking“ ganz harmlos war. Mein Gott, heute zutage wurde überall so schamlos geredet, wer regte sich darüber noch auf.

 

Kommunikativ war meist auch die Heimfahrt. Jugendliche trompeteten miteinander in ihrer abgehackten, gutturalen Sprechweise, die wohl nur sie allein verstanden, so als benutzten sie diese als eine Art Geheimsprache den Älteren gegenüber. Oder es wurde ausgiebig mit dem Handy telefoniert, Kinder in Kinderwagen plärrten die ganze Fahrt über, so dass sie manchmal buchstäblich zu Hause völlig entnervt aus dem Bus „fiel“.

Früher war auch noch ein junger Mann mitgefahren, ganz offensichtlich geistig behindert, der augenscheinlich ein Faible für die Sammlermodelle des öffentlichen Bus- und Bahnverkehrs hatte und sich ungeniert und lautstark mit dem Busfahrer darüber unterhielt. Der kannte auch kein anderes Thema. Aber ihn hatte sie auch schon lange nicht mehr gesehen. Was mochte aus ihm geworden sein? Nahm er einfach nur eine andere, spätere Route oder hatte man ihn doch in eine geschlossene Betreuung gesteckt?

 

Fragen, Vermutungen……

 

 

Gelaufen

 

Die älteste Teilnehmerin unter den Frauen im diesjährigen JPMorgan Chase Lauf meldet sich mit der langsamsten Bestzeit von 53 Minuten für 5,6 km zurück! .-)) – in Gedanken rief sie diesen Satz in die Menge und grinste.

War mal ganz interessant, so mitten drin unter dem Volk, Bad in der Menge. Schön einen netten Kollegen an der Seite zu haben, der unterwegs für Bananen und Getränke sorgte. Danach die schier endlose Warterei, bis man wirklich an den Start gelangte, Anlauf, los geht’s!

 

Von Anfang an war sie darauf bedacht, nicht zuviel Tempo vorzulegen. Ihr ging es nicht um die Einhaltung von irgendwelchen Zeitvorgaben. Sie wollte die persönliche Herausforderung bewältigen, der sie sich schon im Frühling gestellt hat, als sie ihre neuen quietschblauen Sportschuhe kaufte. Diesen hatte sie im Grunde zu verdanken, dass sie nun hier unter über 80.000 Läufern den Asphalt mit Fußtritten quälte. Die Schuhe vorher einzulaufen, hat sie aus vielfältigen Gründen (der gewichtigste Grund war natürlich die eigene Trägheit) nicht geschafft. Darum musste sie nun ohne jegliches Training kopfüber in dieses kalte Wasser springen. Aber solche Kopfsprünge hatte sie noch nie gescheut.

 

Eine Weile traben, eine Weile gehen, wieder traben, wieder gehen. Sie war keinen Moment wirklich außer Atem. Etwas weiter vorne ging ein dreiköpfiges Grüppchen Walkerinnen, an die hielt sie sich. Waren die vorne, trabte sie wieder an, bis die Beine sich meldeten und wieder einen Schongang nötig hatten. Sie ließ die Walkerinnen ein Stück aufholen und trabte dann wieder an. Dass ständig schnellere Läufer an ihr vorbeiziehen oder sogar –spurteten, störte sie nicht im Geringsten.

Dass sie einen allerdings dauernd mit den Ellbogen anstießen, fand sie nicht so toll. Manche „Seitenhiebe“ taten ausgesprochen weh. Und sie fand es sehr ungezogen, die leeren Getränkeflaschen und –becher einfach auf die Straße zu schmeißen, was sollte das?? Wer da unversehens drauftrat, konnte umknicken oder Schlimmeres, und dann war es aus mit dem Lauf!

Ausgesprochen gut dagegen fand sie die diversen Fanmeilen, manche hatten richtige Sambabands aufgezogen! Auch "ihre" Fanmeile motivierte beispielhaft, so dass der berühmte Durchhänger im letzten Drittel der Strecke schnell vorbei war. Dieses letzte Drittel allerdings ging etwas an die Substanz, sie merkte wie ihre Kräfte deutlich nachließen, die Oberschenkel protestierten.

Sollte sie jetzt noch aufgeben? - Kommt überhaupt nicht in Frage! –dachte sie. Jetzt war also doch noch ihr sportlicher Ehrgeiz erwacht, sie hat ja auch zu Anfang des Laufs ihr Stoppuhr gestartet, nur mal so, mal sehn wie schnell oder langsam wir sind.

Nach Überschreiten der Ziellinie war sie aber sehr froh, es geschafft zu haben; sie fühlte sich jetzt doch einigermaßen erschöpft, schwankte ein wenig. Ausgepowert, kein Wunder. Unterwegs nicht halt gemacht, kein Wasser getrunken, nur Augen zu und durch. Sie fühlte sich richtiggehend bescheuert und spazierte, dem Zug der Masse folgend, sogar noch eine Weile in die falsche Richtung mit. Ach nein, sie sollte ja direkt zum Lokal kommen, in dem anschließend die Sommerparty ihrer Firma stattfand und das sie selbst mitorganisiert hatte.

 

Das Fest war bereits im vollen Gange, als sie endlich ankam. Als Vorletzte von allen mitgelaufenen Kollegen. Na und, das muss man auch mal schaffen, irgendwo als Vorletzter anzukommen, rechtfertigte sie sich humorig vor sich selbst.

Sie machte sich ein wenig frisch und ging dann zum wohlverdienten Essen. Zuerst ein großes Glas Wasser – ah, das tut gut, jetzt erst merkte sie, wie durstig sie doch war. Die kleine Vorspeise genügte schon für den kleinen Hunger. Sie fühlte sich viel zu kaputt, um noch viel essen zu können.

Die Band spielte heiße Tanzrhythmen. Da musste sie einfach, ob sie wollte oder nicht, dem Rhythmus folgen, die Anstrengung des Laufs aus den Glieder schütteln, und tanzte noch einmal geschlagene 20 Minuten ab! - Aber danach war sie wirklich müde und wollte nur noch nach Hause.

 

Das war aber auch nicht so leicht.

Die Taxi-Hotline spielte nur noch Warteschleife, also hinkte sie zur U-Bahn. Diese war völlig verstopft mit den letzten Chase-Läufern, die nach Hause wollten; nun, um 22.45 Uhr war das wohl so. Sie wußte, dass an der nächsten Haltestelle ein Taxistand war, schlurfte mit schmerzenden Füßen hin und konnte gerade noch den letzten freien Wagen ergattern, in den sie sich mit einem Aufseufzen neben den Fahrer sinken liess.

Als sie losfahren wollten, blockierten Studenten die Weiterfahrt, saßen und stellten sich auf die Fahrbahn, Demo gegen Studiengebühren, mitten in der Nacht?? und verteilten großzügig Bananen, die sie vermutlich beim Chase Lauf abgegriffen hatten. Einer der Autofahrer vor ihnen fuhr rücksichtslos weiter, obwohl da ein junger Mann vor seinem Auto stand. Dieser flog regelrecht beiseite. Sie regte sich auf: „Also das muss man doch wirklich nicht machen, beide nicht, und so was wollen erwachsene Leute sein!“

Irgendwie und irgendwann wurden sie doch durchgelassen, und sie kam wohlbehalten zu Hause an und konnte endlich, endlich ihre schmerzenden Füße kühlen und die müden Glieder wohlig im Bett ausstrecken.

Der Tag klang noch eine Weile in ihrem Gedächtnis nach, es war schließlich ein außergewöhnliches Erlebnis; aber nein, jetzt war sie einfach zu müde, sie würde sich morgen noch einmal damit beschäftigen. Der Tag heute war im wahrsten Sinne des Wortes für sie gelaufen.

In Gedanken lobte sie sich schmunzelnd für dieses Bonmot – hin und wieder nahm sie sich gern selber auf den Arm – und schlief ganz unvermittelt ein.

 

 

Die beiden Jungs im Bus

 

Wieder einmal hatte sie im Bus gesessen, um nach Hause zu fahren. An einer Station stiegen zwei Halbwüchsige ein, zwei Jungs von etwa 15 Jahren. Der eine war afrikanischer Herkunft und trug trotz der schwülen Hitze seine – was? Rastazöpfe? oder Wuschelmähne? – jedenfalls seine Haarpracht unter einer gestrickten Wollmütze. Puh, dachte sie, mit so etwas auf dem Kopf würde ich eingehen! – Die beiden setzten sich auf die letzten hinteren Plätze, und der Afrikaner zog sein Handy hervor und begann, in voller Lautstärke sämtliche Klingeltöne durchzuprobieren. Sie versuchte zu lesen, aber das Gedudel störte doch erheblich. Ihre anklagend entnervten Blicke interessierte die beiden nicht im geringsten…

 

.ich hab mein neues Handy gerade angestellt und probier alle Klingeltöne nacheinander durch, da steht doch so ein Affe auf und fragt blöd, ob ich das leiser machen könnte…..

 

Ein Fahrgast war aufgestanden und bat höflich, die Klingeltöne etwas leiser zu machen. Aber weil er die „können“ Form der Frage gestellt hatte, kam genau die Reaktion, die auf eine solche Frage kommt: die Antwort Ja, und dann – nichts.

 

na klar kann ich, was ne Frage Mann! Mein Kumpel sagt ja auch, mach aus, lass aus, aber ich will nicht, und ich hör mir das jetzt an, ich will ja einen Klingelton auswählen. Was glotzt die Alte mit der Brille mich so an, guck in dein Buch!! - Was sagt die Zicke da vorne???....

 

Eine Frau weiter vorne im Bus bemerkte: „Das hat jetzt gar nichts gebracht.“ Ihre Sitznachbarin ergänzte: „Nein, das nutzt bei denen gar nichts, diese Jungs sind einfach nicht erzogen.“ Dann erhob die andere sich, um an der nächsten Station auszusteigen, und kam zur hinteren Tür, bedachte die beiden noch einmal mit einem strafenden Blick und einem Kopfschütteln. Selbst war sie zwar sauber, aber ohne jeden modischen Pepp gekleidet, so etwa wie im Stil der beiden jungen Herrschaften. In der Hand hielt sie eine angebrochene Tafel Schokolade. Einer der Jungen machte wohl einen Witz darüber, der im Motorengedröhn des Busses unterging. Sie öffnete den Mund, noch schokoladenverschmiert, und was da nun herauskam, gefiel der stillen Zuhörerin gar nicht. Sie sagte nämlich beim Aussteigen…

 

.eh Mann, ich glaub mich laust der Affe, da sagt die alte Schekel doch zu mir: Ein Stück Schokolade ist mir lieber als dein Arsch. Was will die überhaupt, hat die sie noch alle oder was, was will die denn von meinem Arsch??? Da kann ich doch nur lachen, so eine blöde alte Ziege, die hat wohl lange keinen-----

 

Sie, die da mit ihrem Buch in der Hand dasaß, war gerade noch dabei, das soeben Gehörte zu verarbeiten. In Ordnung, die Dame hat sich als keine Dame entpuppt und die jungen Herren, nun die waren eben in einem Alter, in dem man gern provoziert. – Darum wurde ja auch ungerührt weitergemacht mit der Klingelei, obwohl der Kumpel nebenan nun auch schon seinen Freund bat, das Gerät auszulassen.

 

.ihr habt mir alle gar nichts zu sagen, ich mach was ich will, ihr alten---

 

Irgendwann stiegen die beiden endlich aus samt ihrem Gedudel. Alle waren erleichtert, dass dieser Krach endlich nach draußen verschwand. Da erwartete sie schon der nächste Schock. Es sagte nämlich die Frau, die sitzen geblieben ist:„Gleich abschlachten so was.“ Und auf die Einrede eines anderen Fahrgasts, dass diese Kinder doch nur einfach nicht erzogen wären: „Das wird nicht mehr besser mit denen. Gleich abschlachten.“

Die ganze restliche Fahrt herrschte im Bus betroffenes Schweigen.

Die beiden Kollegen – Part I: Der Schweiger

 

Jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit steige ich zusammen mit meinem Kollegen in den Bus, der uns zu unserer Arbeit bringt.

Wir wohnen nur ein paar Straßen weit auseinander, und wir arbeiten im gleichen Unternehmen, einer namhaften Versicherung, und auch da nur ein paar Büros weit auseinander.

Ich steige am liebsten hinten ein, weil da noch die meisten freien Plätze sind.

Sehr oft, fast jeden Morgen sogar, sehe ich die Frau mit der Brille und der auffälligen goldenen Tasche auf dem Rückwärtssitz. Meist schaut sie von dem Buch, indem sie immer ihre Nase stecken hat, hoch, wenn wir einsteigen. Ihr Blick wandert nur kurz über uns, und schon ist sie wieder in ihren Lesestoff vertieft. Ich könnte das nicht, ich muss zum Lesen absolute Ruhe um mich haben. Das Höchste, was ich im Bus zu lesen imstande bin, ist eine Tageszeitung.

Wir sitzen nebeneinander, weil mir mein Kollege immer viel zu erzählen hat. Das beginnt schon gleich nach der Begrüßung an der Haltestelle. Er gehört offensichtlich zu den Leuten, die schon am frühen Morgen ein hellwaches Gehirn haben, während meines eher langsam anspringt und eine Weile braucht, bis es auf der richtigen Betriebstemperatur ist.

Ich sitze im Bus neben ihm und lausche seinem Geplauder. Er kann über Gott und die Welt erzählen, und das tut er dann auch ausgiebig in aller Breite. Er textet mich regelrecht zu. Meistens finde ich seine Erzählungen durchaus amüsant; manchmal auch lasse ich seine Reden einfach nur über mich ergehen oder vernehme sie vor meinen eigenen Gedanken wie das Geplätscher eines Brunnens, vor dem ich manchmal sitze, oder das Gemurmel des Bachs, an dem ich am Wochenende meine Angel auswerfe, um in aller Ruhe die Frische des Morgens und die Stille der Natur zu genießen.

Wenn wir zusammen an der Haltestelle aussteigen und den kurzen Weg zur Arbeit laufen, bin ich derjenige, der aufpasst dass er vor lauter Schwätzen nicht noch unter die Räder gerät, denn er gibt natürlich nicht auf den Verkehr acht. Und in den Kaffe- und Mittagspausen in der Firma fühlt er sich auch jedes Mal zum Alleinunterhalter berufen.

Ich frage mich manchmal, ob meinem Kollegen bewusst ist, dass er mit seiner äußerst kommunikativen Art möglicherweise in einem anderen Genre weiter kommen könnte. Meiner Meinung nach gehört er in die Abteilung für Public Relations oder in die EDV. Aber ich fürchte, sein unkontrolliertes Geschwätz verhindert genau das, darum spreche ich ihn auch nicht darauf an. Er arbeitet in unserem Unternehmen als Sachbearbeiter, genau wie ich.

Ich fühle mich in dieser Position durchaus wohl, vieles Reden liegt mir nicht, und ich bin es ganz zufrieden, meinen Stoß an Unterlagen abzuarbeiten, der täglich auf meinem Schreibtisch landet. Natürlich hätte ich lieber meinen alten Beruf, den ich vor der Umschulung zum Versicherungskaufmann ausgeübt habe, weiter ausgeübt. Aber ich hatte als Maler und Tapezierer mit so starken allergischen Reaktionen auf diverse Farben und Lösungsmittel zu kämpfen, dass ich wegen dieser gesundheitlichen Schwierigkeiten meine Erwerbstätigkeit auf etwas ganz anderes verlegen musste. Ich sage mir jedoch immer, wenn ich einmal mit der Arbeit in der Versicherung unzufrieden bin, dass wohl die wenigsten Menschen heute zutage in der Lage sind, in ihrem einmal erlernten Beruf das ganze Erwerbsleben verbringen. Die meisten haben nicht mal eine Arbeit.

So gesehen habe ich es ganz gut getroffen.

 

Die beiden Kollegen – Part II: Der Schwätzer

 

Ich fahre jeden Morgen zusammen mit meinem Kollegen im gleichen Bus zur Arbeit.

Wir wohnen in einem Stadtteil, nur ein paar Straßen weit auseinander, und wir arbeiten in der gleichen Firma, einer namhaften Versicherung, auch da nur ein paar Büros weit auseinander. Was liegt also näher, als auch zusammen zur Arbeit zu fahren?

 

Wir steigen immer an der gleichen Haltestelle ein, und meist sitzt uns eine Frau mit einer auffälligen goldenen Tasche auf dem Rückwärtsfahrer-Sitzplatz gegenüber. Sie blickt kurz hoch von dem Buch oder Heft, in das sie meist vertieft ist, und liest weiter. Also ich könnte ja im Bus gar nicht lesen, ich muss sehen was um mich herum passiert, und ich will mich auch viel lieber mit meinem Kollegen unterhalten.

 

Er ist ein eher schweigsamer Typ und wirkt manchmal sehr in sich gekehrt, so dass die Unterhaltung meist eher einseitig, nämlich von meiner Seite aus, verläuft und also ich ihn unterhalten muss, anstatt dass wir uns unterhalten. Ich selbst dagegen würde mich als kommunikativ und aufgeschlossen bezeichnen. Mich interessiert alles und jedes, ich halte die Augen und Ohren offen. Ich liebe es zu reden, mich mit Menschen zu unterhalten, und ich mag es auch sie zu unterhalten. Ich freue mich, wenn jemand über meine Späße lacht – wen ich zum Lachen bringe, bei dem habe ich schon gewonnen!

Wahrscheinlich komme ich darum auch so gut mit meinem Kundenkreis klar – ich bin Sachbearbeiter im Bereich Neukundengewinnung -, und wenn ich wieder einen neuen Abschluss tätigen konnte, ist das nur meiner eleganten und geschmeidigen Art zu überzeugen, also im Allgemeinen meiner ausgeprägten Beredsamkeit, zu verdanken. Darum denke ich, dass ich auch im Bereich Public Relations oder im Bereich Kommunikation gut aufgehoben wäre. Leider sind meine diesbezüglichen Anfragen an die betreffende Abteilung bisher ins Leere gelaufen. Sie haben angeblich keine Vakanzen; dabei weiß ich, dass sie zum nächsten Ersten einen Kommunikationsmanager in der EDV suchen, das wäre doch etwas für mich!! Aber es ist überall gleich, zuerst kommen die Kollegen vom Fach, wer hat da als Seiteneinsteiger noch eine Chance?? – Nun, ich weiß auch so, dass ich gut bin. Ich bin mit mir und meiner Arbeit zufrieden, und mein Chef ist es auch, ich verdiene gut. Ich sehe gut aus, meine Frau betet mich an, meine Kinder spielen am liebsten mit ihrem Papa, und meine Freunde schwören auf mich – überall wo eine Feier steigt, laden sie mich ein.

Eigentlich habe ich es ja ganz gut getroffen. Wenn da nicht dieser kleine Mann in meinem Ohr säße, der mir immer einflüstert: Du kannst noch mehr…..

Gebe ich ihm nach, oder bleibe ich was ich bin?

Wenn ich nach Höherem strebe, hätte ich vielleicht mehr dranzugeben, als was mir zurückgegeben würde. Es würde mir sicher mehr Verdienst, aber dafür auch mehr Arbeit, mehr Sorgen, längere Arbeitszeiten und todsicher Einschnitte in mein Privatleben einbringen. Aber bringt es mir auch das höhere Maß an Anerkennung, das ich mir wünsche?

Was ich jetzt habe, weiß ich wenigstens. Vielleicht hat es seinen tieferen Sinn, dass alle meine Eingaben an die PR-Abteilung abgelehnt wurden. Vielleicht ist es besser, ich bleibe der nette, überzeugungskräftige Berater und der allseits beliebte Kollege und Freund, um den sich alle reißen, wenn es gilt eine Show abzuziehen.

Ja, ich denke mir, ich kann doch ganz zufrieden sein.

 

Die alte Klassenkameradin

 

Ich steig jeden, oder fast jeden Morgen zur gleichen Zeit in den Bus, der mich ein gutes Stück zu meiner Arbeit bringt. Wenn er seine Endhaltestelle erreicht hat, muss ich noch ein Stück mit der U-Bahn fahren. Aber das ist mir am bequemsten so, weil ich dann direkt von der Haltestelle aus in meine Firma komme und nicht so weit laufen muss. Ich arbeite bei einer bekannten Kaufhauskette.

 

Nicht dass ich da Verkäuferin oder so was wäre. Nein, ich bin von Geburt an durch einen Hüftschaden gehbehindert und kann kaum laufen, geschweige denn stundenlang stehen. Außerdem seh’ ich auch noch schlecht, und das ziemlich gut! – Meine Brille ist so dick wie die berühmten Glasbausteine, aber ich kann immerhin noch Zeitung lesen, und bei meiner Arbeit kann ich sitzen und Zeitungen auswerten. Und ich unterhalt’ mich gern. Darum haben sie mich ja in die PR-Abteilung gesteckt. So gesehen habe ich es ganz gut getroffen.

 

Wenn ich mir’s so überlege, und wenn ich mir die anderen aus meiner Klasse so angucke, wenn sie beim vierwöchentlichen lockeren Klassentreffen in der Gartenwirtschaft sitzen, die wir uns dafür ausgesucht haben (die Preise sind nicht zu hoch, und im Garten ist es ruhig, da kommen am Freitag Abend nicht so viele Gäste hin), was die sich abschaffen mit ihren Jobs, und wie sie rennen und tun, wie der Hamster im Rad, und was sie für Knatsch haben mit ihren Ehegatten und ihren Kindern, also ich beneid’ die nicht.

 

Ich bin ja nie verheiratet gewesen, es hat sich einfach nicht ergeben. Meine Mutter starb schon früh, und mein Vater hat sich dann um mich gekümmert. In der Schule wurde ich, wie das eben so ist, fleißig wegen meines Hinkens und meiner dicken Brille von den anderen Kindern gehänselt, Kinder sind grausam. Als ich erwachsen war, war es dann meine Behinderung, die einer näheren Bindung immer im Weg stand. Sicher, ich hab mal hier und da jemanden kennen gelernt, aber es ist nie was Ernsthaftes draus geworden. Sei’s drum. Ich komm’ auch so zurecht. Man muß sich nur arrangieren.

Mein Vater kam dann auch in die Jahre, und es war dann an mir, mich um ihn zu kümmern.

Seit mein Vater gestorben ist – immerhin hat er meine Mutter um 20 Jahre überlebt – habe ich niemanden mehr, den ich umsorgen könnte, es würde mir auch jetzt, da ich selbst älter werde, ganz schön schwer fallen. Er fehlt mir immer noch sehr, ich hab sehr an ihm gehangen. Er war der einzige, der mir immer wieder Mut gemacht hat, wenn ich den Kopf mal hängen lassen wollte. Er hat mich nie ausgelacht und immer zu mir gehalten.

 

Nun ja, vielleicht wirke ich ein bisschen merkwürdig auf die anderen Leute. Man kriegt halt so im Laufe der Zeit seine Marotten, wer hat die wohl nicht??

 

Meine eine Klassenkameradin zum Beispiel, die mit dieser komischen goldenen Tasche, treffe ich fast jeden Morgen an der Haltestelle, und wir fahren mit dem gleichen Bus, aber sie steigt nicht mit mir zusammen sondern immer hinten ein, weil sie sich auf dem Rückwärtsfahrer-Sitz am sichersten fühlt, - sagt sie zumindest. Dabei unterhalt’ ich mich doch so gern! –

Manchmal rennt sie überhaupt vorbei und zur nächsten, also eher der vorherigen Haltestelle, weil sie da noch einen vernünftigen Sitzplatz kriegt, sagt sie. Das hat mich interessiert, und ich hab’ das auch ausprobiert. Natürlich bin ich nicht gelaufen, sondern mit dem Gegenbus runtergefahren. Aber es stimmt schon, man hat tatsächlich Chancen, seinen Lieblings-Sitzplatz noch zu kriegen.

 

 

 

Sie ist aber auch schon mir gegenüber gesessen, mit der Nase im Buch, und hat mich nicht mal geseh’n. Wenn ich sie nicht grad’ ansprech’, rafft sie eh nicht dass ich überhaupt da bin. Viel war aus ihr nicht rauszukriegen, sie geht wohl einem sehr stressigen Beruf nach, Immoblienmarketing wenn ich sie richtig verstanden hab’. Manchmal denk’ ich, die will womöglich gar nicht mit mir reden??? Na, dann muss sie’s lassen! Jedem das Seine, sag ich immer.

Manchmal seh’ ich sie auch am Wochenende, da steigt sie mit ihrer Mutter am Markt in den Bus ein, mit dem ich heimfahre, und zerrt den schweren Einkaufsrolli hinter sich hoch. Sie setzen sich meist auf die Plätze meinen rechts gegenüber, die gehen aber nicht rückwärts sondern vorwärts! Weil sie auch miteinander schwätzen, das heisst, eigentlich sagen sie nicht viel, rennen sofort auf die Sitzplätze zu und lassen sich da stöhnend nieder, sehen sie mich oft gar nicht oder erst, wenn ich aussteige, oder ich seh sie auch nicht, weil ich aus dem Fenster gucke.

 

Eine Weile lang kam sie mal zu unseren Freitagstreffs, aber dann auch nicht mehr, und so bin ich ziemlich die einzige unter den Stammgästen, die immer da ist, ach ja, es wird auch immer weniger an Klassenkameraden was da so kommt, einige sind weggezogen, ein paar sind schon

gestorben. Wie das halt so geht. Unser alter Lehrer kam früher auch viel öfter, aber seit er seinen Herzinfarkt hatte und nun dauernd irgendwelche Stents in die Adern kriegen muss, bekommt man ihn auch kaum noch zu sehen. Irgendwann werd’ ich wohl alleine da sitzen!!

 

Ich weiß nicht wie es mir noch ergehen wird, wenn ich erst mal in Rente geh. Aber irgendwie wird’s schon weiter gehn, es geht ja immer weiter. Bislang fühl’ ich mich noch ganz zufrieden.

Ja, ich denk’, auch wenn ich keine Familie hab’, oder keine mehr hab, hab ich’s auch so noch ganz gut getroffen.

 

Die alte Dame an den Krücken

 

Es ist mir nicht gut gegangen in letzter Zeit.

Meine Bewegungsfreiheit ist infolge der Schmerzen, die ich an meinen Hüften, meinen Knien, meinen Knöcheln leide, stark eingeschränkt. Eine Besserung scheint nicht in Sicht.

Gegen die Schmerzen nehme ich Medikamente, die ganz gut wirken, aber hier und da und besonders am Morgen, wenn sie noch nicht ihre ganze Wirkung entfaltet haben, bekomme ich das ganze Ausmaß zu spüren. Die Bedeutung des Wortes SCHMERZ ist mir bis ins kleinste Detail bekannt!

Trotzdem will ich mich nicht unterkriegen lassen. Ich bin immer gern gelaufen und gedenke dies auch jetzt beizubehalten. So weit es geht, - so lange es geht! - will ich meine mir übrig gebliebene Beweglichkeit erhalten. Mein Arzt hat mir angeraten, ein sanftes Gelenktraining durch vorsichtige Belastung zu betreiben, damit ich nicht völlig steif werde.

Darum nehme ich mir jeden Morgen meine Krücken, nachdem ich mich ausgehfertig angezogen habe, um mich zu meiner Therapiestunde zu begeben, und ziehe einen Fuß vor den anderen, stütze mich in meine Krücken und beisse zuweilen die Zähne aufeinander, wenn es wieder so schmerzt, dass es schier unerträglich ist. Von außen muss es wegen meiner geschminkten Lippen aussehen, als ob ich lachte. Ich schminke meinen Mund mit Absicht etwas überakzentuiert, will nicht, dass mir jeder meinen Schmerz gleich ansieht, es reicht, wenn er an meinem zögerlichen Gang zutage tritt.

Ich setze die Füße vorsichtig und in sanften Bögen auswärts wie ein Schlittschuhfahrer. Einen Gehwagen wil ich nicht benutzen, die Straße ist so eng und der Fußweg wie üblich halb von Autos zugeparkt; mit Krücken bin ich viel beweglicher. Außerdem hat man ja auch im Alter noch seinen Stolz, nicht wahr?!

Seufzend denke ich manchmal daran, wie ich damals, in der Blüte meiner Jugend, durch die Straßen getänzelt war. Mein Gang war so fröhlich und beschwingt, wie ich mich auch fühlte, und mein schön frisiertes Haar wehte im Wind; meine vollen Lippen lachten den ganzen Tag, und die Männer machten mir die freundlichsten Komplimente oder pfiffen mir sogar – ei, ei – auf der Straße nach.

Von meiner früheren Schönheit ist mir nicht viel geblieben; Schönheit ist vergänglich. Aber auch dieses Bisschen versuche ich noch ein wenig festzuhalten. Ich schminke mich stets, bevor ich das Haus auch nur verlasse, kämme mein zu einer schicken Kurzharrfrisur geschnittenes weißes Haar sorgfältig und - ich zwinkere meinem Spiegelbild zu – lege auch Lippenrot auf, ein kräftiges Rot, das gehört zu meinem Stil. Heute sagen sie ja wohl Corporate Identity dazu, solche neumodischen Worte hatte man früher nicht gebraucht, eine Frau weiss instinktiv womit sie ihren Typ unterstreichen kann. Gerade wenn man älter wird, muss man auf sich halten, hatte meine Mutter schon immer gepredigt.

Sehr oft begegnet mir just morgens auf meinem Weg diese junge Frau, die mich mit ihren ungewöhnlichen hellen Augen fragend ansieht. Nun, so ganz jung scheint sie nicht mehr zu sein, aber auch noch nicht das, was man alt nennt. Sie ist mit zwei Taschen bepackt und hat diese furchtbaren Stöpsel tief in die Ohren gedrückt, über die die jungen Leute ihre Musik auf tragbaren Radios oder sonstigen Abspielgeräten hören. Narrenkram, alles Narrenkram! – Obwohl sie aber anscheinend ganz ihrer Musik hingegeben lauscht (manchmal höre ich sie auch leise mitsingen) nimmt sie mich doch sehr wohl wahr. Sie weicht mir an der engsten Stelle des Fußwegs aus, um mich mit meinen Krücken vorbeizulassen, nickt mir freundlich zu, scheint keinen Dank zu erwarten, spaziert einfach weiter. Wo mag sie hinwollen, vermutlich arbeitet sie in einer der Firmen, die in der Straße ansässig sind, der Straße, die ich mich beinahe jeden Morgen entlang quäle. Ja, die Frau kann noch laufen! Manchmal zieht sie auch ein wenig das eine Bein nach, vermutlich schmerzt ihr die Hüfte. Leute wie ich, die selbst krank sind, entwickeln ein feines Gespür für die Schmerzen anderer Leute. Hoffentlich ergeht es ihr nicht eines Tages so wie mir...

Die Frau mit dem wehenden Mantel

 

Ich steige jeden Morgen um die gleiche Zeit in den Bus ein, mit dem ich dann zur Arbeit fahre.

Im Sommer trage ich einen leichten dunklen Regenmantel, den ich vorne offen lasse und der dann hinter mir herweht; und im Winter habe ich meinen langen schwarzen Wintermantel an, auch meist offen, weil mir wegen der Eile die Zeit fehlt, ihn richtig zuzuknöpfen; und darum weht er hinter mir her. Irgendwie mag ich das, es gibt mir ein Gefühl von offenen Segeln und Freiheit und erinnert mich an die schönen Tage in meiner jugoslawischen Heimat, als ich noch ein Kind war. Oder ein wenig auch wie Batman oder Zorro, ihr Markenzeichen ist der wehende Umhang, und wie ich haben sie schwarzes Haar.

 

Aber da hört die Ähnlichkeit auch schon auf; ich bin schließlich eine Frau, und ich trage eine Brille. Da ich sie nun mal brauche, habe ich mir auch eine ausgesucht, die mich ein wenig von der Mehrheit der Brillenträger abhebt: sie hat gelbe Gläser!

Beinahe jedes Mal sehe ich dann, wenn ich mir einen Sitz gesucht habe, auf dem ich mit meinen beiden großen Taschen auch genug Platz habe, die gleichen Leute im Bus.

Wenn er recht voll ist und ich darum hinten sitzen muss, lasse ich mich gern auf dem letzten Platz in der Nähe der Tür nieder, schlage die Beine übereinander und mache es mir mit meinen Taschen so gemütlich wie es geht. Manche Leute gucken ein bisschen komisch, so wie die Frau mit der goldenen Tasche, die sich manchmal auf dem Rückwärtsfahrersitz mir gegenüber ausbreitet. Auch sie ist mit zwei Taschen unterwegs….was sie wohl in ihrem komischen blauen Sack drin hat?

Meine große Sporttasche immer mitschleppen zu müssen nervt mich manchmal schon, sie ist unhandlich und meist auch recht schwer. Ich kann sie nur in der Armbeuge eingehängt tragen, wenn ich in die Straßenbahn umsteige. Man könnte wirklich meinen, ich hätte Sportgewichte zu transportieren.

Nun, so etwas in der Art ist es auch. Ich bin Physiotherapeutin, und mein Arbeitsplatz ist mitten in der Stadt. Die beiden Chefs, für die ich arbeite, teilen sich winzige Räume, in denen kaum Platz für die ganzen Gerätschaften ist, und so muss ich meine Arbeitskleidung zu Hause waschen und bringe sie dann immer wochenweise auf einmal, den ganzen Stoß, mit. Manchmal habe ich auch noch ein kleines Gerät drin, von dem ich denke, dass es für meine Arbeit mit den Patienten nützlich sein könnte. Ich habe überhaupt noch sehr viele meiner Utensilien aus der alten Heimat, in der ich so lange gelebt habe, wo ich zur Schule ging und meine Ausbildung gemacht habe, zu Hause aufbewahrt.

 

Wenn ich daran denke, wie drunter und drüber es in meiner alten Heimat geht, so gefällt es mir hier ganz gut.

 

Ja, ich denke, ich kann zufrieden sein. Ich habe es ganz gut getroffen.

 

Angemotzt

 

Sie war gerade in der Innenstadt auf einem Arztbesuch gewesen und stieg nun auf dem Heimweg in der U-Bahnstation Westend aus.

So ganz gut fühlte sie sich nicht, ihr war etwas schwindlig, und sie fühlte sich benommen. Aber zum Arzt muß man ja schließlich, und man muß auch wieder nach Hause, egal wie.

 

Da stieg sie nun also mit etlichen anderen Fahrgästen aus und ging zur kleinen Rolltreppe, die auf die erste Ebene des Ausgangs führte, als sie einen Fahrgast weiter vorne einen anderen etwas fragen sah. Sie bekam auch mit, dass der Angesprochene die Frage nicht beantworten konnte, und der Mann der gefragt hatte, wandte sich nun an sie: „Wissen Sie’s?“

Automatisch antwortete sie: „Was möchten Sie wissen?“

„Ich suche den richtigen Ausgang zur XXXStraße, muß ich da hier links oder rechts hoch?“

Normalerweise hätte sie das gewusst, es stand nämlich auf Hinweisschildern ganz groß unter der Decke. Aber sie war so benommen, dass sie tatsächlich einen Moment überlegen musste. Dieser eine Moment war ihm offensichtlich schon zu lang, denn er nahm das zum Anlass, mit leichter Häme zu bemerken:

„Ich sehe, Sie wissen’s auch nicht. Lassen Sie nur, ich guck’ selber“ – und fort war er – in Richtung nach dem rechten Ausgang. Der übrigens der falsche war.

Normalerweise wäre sie bei so einer Frechheit – denn so empfand sie das – in die Luft gegangen. Sie hasste es sowieso, wenn man sie zu einer Antwort wie aus der Pistole geschossen nötigte und ihr nicht die Zeit zum Überlegen ließ, die sie für eine kompetente Antwort brauchte.

Normalerweise hätte sie mit einem launigen Scherz, wie „na wunderbar“ oder so etwas in der Art geantwortet. In ihrem gegenwärtigen Zustand aber fühlte sie sich angegriffen und erwiderte mit einer Schutzbehauptung: „Ich fahr’ die Strecke nicht so oft.“

Der Ungeduldige war in die falsche Richtung gerannt und wurde nun von den nächsten Passanten prompt wieder zurückgeschickt, nach links. Er entdeckte nun auch die Hinweisschilder, wies triumphierend nach oben und rief anklagend zu ihr hin: „Nach links, da oben steht’s!“

Sie wiederholte, diesmal etwas ärgerlicher: „Ich fahr’ die Strecke nicht jeden Tag!“ – Und das stimmte ja auch, sonst fuhr sie nämlich überwiegend mit dem Bus, den sie auch jetzt zu erreichen versuchte, indem sie die nämliche Treppe links hinauf musste.

Er wurde aggressiver: „Aber ich habe SIE gefragt, und Sie haben’s nicht gewusst!“ und eilte, haste was kannste, die Treppe hinauf und fort.

Nun wurde sie richtig ärgerlich und rief ihm hinterher: „He, was machen Sie MICH denn eigentlich an??!!“

Aber natürlich war der, als sie die Treppe hinaufgekeucht war, längst weg.

Den kurzen Moment, den sie ihn näher betrachten konnte, hatte er auch schon so oberlehrerhaft ausgesehen. Wahrscheinlich war er das auch, so wie er sich benahm. Arrogant, rechthaberisch, rücksichtslos. War bestimmt eine männliche Superzicke.

Solche Typen hatte sie gerade gefressen.

Und sie fragte sich bis heute, warum sie sich das eigentlich hatte gefallen lassen.

Nein, das war keine nette Begegnung gewesen.

 

Die Dozentin

 

Da stand, vorzugsweise in der warmen Jahreszeit, so eine Frau mitten auf der Straße und hielt Vorträge vor einer unsichtbaren Zuhörerschaft.

 

Sie, die jeden Morgen diese Straße auf dem Weg zur Arbeit entlangging, hatte sich schon oft gefragt, aus welchen Motiven diese Frau wohl da stand und ihre Reden hielt. Die Passanten, die vorüber eilten, interessierten sich ganz augenscheinlich nicht für das, was die Frau mitzuteilen hatte, störten sich aber auch ganz augenscheinlich nicht daran. Denn was da an Themen zur Sprache kam, war so absonderlich und klang so verworren, dass man den Eindruck gewann, die selbst ernannte Dozentin sei aus einer Anstalt entsprungen. Offensichtlich war sie in der Nachbarschaft als zwar lästiges, aber sonst harmloses Unikum geduldet. Schließlich griff sie niemanden tätlich an und richtete ihre Ansprachen auch an keine bestimmte Person.

 

Sie überlegte, was wohl im Kopf dieser Frau vor sich ging, welchen Ideen sie folgte, warum sie ausgerechnet auf der Straße stand, die die Bibliothek des Freud-Institutes beherbergte? Es wäre sicher interessant, sich einmal versuchsweise in ihre Gedankengänge zu versetzen….

 

War sie tatsächlich eine Dozentin für Psychologie und/oder Soziologie, und hatte sie vielleicht eine schwere Krankheit durchgemacht, die zu ihrer geistigen Verwirrung geführt hatte? Eine Hirnhautentzündung vielleicht?

War sie selbst eine Psychologin, die sich zu sehr mit allen möglichen psychosomatischen Krankheitsbildern beschäftigt und nun der Überzeugung war, die Ursache aller Geisteskrankheiten gefunden zu haben? Sich in eine Art übersteigertes Selbstwertgefühl, in ein messianisches Sendungsbewusstsein katapultiert hatte?

Oder war sie gar nichts von alledem, sondern einfach die Patientin eines Psychiaters oder einer psychiatrischen Anstalt in offener Behandlung, der die ihr zuteil werdende Betreuung nicht gefiel und die sich auf ihre Art zu rächen versuchte, indem sie sich vor die Bibliothek des Instituts stellte und dort lautstark ihre Meinung kund tat?

 

Sie stand nicht immer am Morgen da, manchmal schrie sie auch am Nachmittag auf der Straße herum, provokante Sätze, obszöne Sätze, wie man sie normalerweise auf der Straße und im allgemeinen Miteinander nicht gebraucht. Litt sie vielleicht unter dem Tourette-Syndrom, da war sie in guter Gesellschaft, auch Mozart sollte ja diese Krankheit gehabt haben. Oder war da doch eine Hirnhautentzündung gewesen? Was genau dieser Frau fehlte, würde man als Passant wohl nie erfahren.

 

Alles in allem war diese Frau einerseits zu beneiden: sie machte genau das, was sie wollte, sie tat wonach ihr zumute war, sie brauchte keinerlei Rücksichten auf irgendjemand mehr zu nehmen. Und anscheinend schien sie ja ganz glücklich dabei. Andererseits aber war sie bedauernswert. Warum stand sie so allein auf der Straße herum, hatte sie niemanden, der sich um sie kümmerte? Oder riss sie ganz einfach von zu Hause aus und musste jedes Mal wieder gesucht und zurückgebracht werden?

 

Wenn sie so die Straße langging und diese bedauernswerte Kranke sah, fasste sie automatisch ihre goldene Tasche fester, hielt sich gleichsam am Normaldasein fest und war froh, trotz eigener kleiner Wehwehchen einigermaßen gesund und in annäherndem (sie schmunzelte) Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein.

So gesehen hatte sie es gut getroffen.

Die Dozentin – in eigener Sache

 

 

 

Also man muss den Leuten sagen, was Sache ist, man muss es ihnen einfach sagen!

 

Ich als Professorin für Psychologie und Soziologie kenne mich da bestens aus. Die Leute müssen gewarnt werden, man muss sie einfach warnen. Sie sind einfach in ihrer sozialen Einbindung zu ignorant, sie wissen nicht wie man miteinander umgeht und dass man nicht die Entscheidungen nur mit dem (unaussprechliches Wort) treffen kann.

 

Ihnen fehlt etwas, sie sind nicht in der Alltagspsychologie bewandert, man muss Nachsicht mit ihnen haben. Sie sind alle gierig, gierig sind sie, egal in welchen Bereichen, ist ja kein Wunder, wenn die Hirndrüsen nicht richtig ausgebildet und gestärkt wurden, können sie nicht richtig denken. Alle denken nur an Geld oder (unaussprechliches Wort), alle wollen nur (unaussprechliches Wort), keiner will die soziologischen Gesichtspunkte berücksichtigen. Sie wollen sich Macht erkaufen, sie wollen sich alles kaufen, sie wollen nichts selber tun, sie denken das geht so wie sie wollen, aber das geht so nicht, wie sie sich das denken.

 

Ich habe in jahrzehntelangem Studium die Lösung gefunden. Ich weiß wie es geht. Man kann die Menschen heilen. Man muss es ihnen nur sagen, immer wieder muß man ihnen es sagen. Die Hörsäle platzen, aber sie lernen nichts, sie müssen hinaus und dem Mann auf der Straße zuhören.

 

Ich stelle mich auf die Straße und predige, weil die Hörsäle so voll sind und mir dort keiner zuhören will Ich weiß schon, warum sie mich nicht hören wollen. Wer die Wahrheit sagt, dem hört man ja nie zu. Dabei kann ich allen helfen. Ich bin die Stimme des Predigers in der Wüste, hört mich, die Oberen sind nichts gegen die Unteren, die Großen sind nichts gegen die Kleinen, es sind falsche Voraussetzungen, diese Soziologie funktioniert nicht. Man muss es ihnen einfach sagen, vielleicht kann man sie noch retten, vielleicht….

 

Wo ist SIE?

 

Nun war sie schon seit einigen Wochen wieder auf ihrem Weg, aber sie eilte morgens immer die Straße zur Arbeit hinauf, ohne dass sie die alte Dame an den Krücken sah.

Irgendwie war sie schon wie eine liebe Bekannte geworden, die man vom Sehen her kennt und bei deren Fehlen etwas am gewohnten Bild im Kopf nicht stimmt.

Irgendwie vermisste sie die Seniorin. Ob es ihr wohl nicht gut ging?

Vielleicht ging es ihr ja auch im Gegenteil besser, so dass sie nicht mehr so oft zur Behandlung musste. Das würde sie freuen, auch wenn sie es bedauern würde, dieses interessante Gesicht nicht mehr zu sehen.

Oder womöglich war ihr Leiden schlimmer geworden, so dass sie gar nicht mehr laufen konnte?

Oder war sie am Ende gar gestorben? Gehörte das alte Zeug, das neulich am Straßenrand gestanden hatte, etwa ihr?

Es standen oft die armseligen Reste einer Wohnungseinrichtung an Straßenrändern, alte Möbel und sonstige Gebrauchsgegenstände, an denen man genau erkennen konnte, dass sie im Besitz einer älteren Person gewesen waren, die nun entweder ins Heim gezogen war oder das Zeitliche gesegnet hatte. Die Gegenstände sahen so traurig und verloren aus, irgendwie…ja, das war das richtige Wort, ausgesetzt. Wie manche Leute ihre Tiere einfach irgendwo abladen, wenn sie alt oder im Weg sind.

Oder wie heute zutage auch die alten Leute einfach in irgendein Heim abgeschoben – abgeladen – werden, wenn sie unbequem werden, wenn sich keiner mehr um sie kümmern will. Und dann werden die armen Alten nicht mal besucht, weil angeblich auch keiner mehr Zeit dafür hat.

Sie hatte gar keinen persönlichen Bezug zu dieser alten Dame. Sie wusste nicht mal ihren Namen, wusste nicht wo sie wohnte, kannte ihre Lebensumstände nicht. Aber sie hatte inzwischen selbst erfahren, was Schmerz heißt, und wünschte der alten Lady nur das Allerbeste. Wenn sie sie wieder die Straße entlangkommen sehen würde, wüsste sie, dass alles wieder in Ordnung war.

 

Auch die Frau im wehenden Mantel hatte sie einige Zeit nicht im Bus gesehen. Vielleicht war auch sie krank, vielleicht hatte sie Urlaub, vielleicht dies, vielleicht das. Wer wollte dahinter schauen, wenn er nur eine kleine Facette des Kristalls sah, nur einen winzigen Reflex dessen, was das Leben all dieser Leute, einschließlich ihres eigenen, nach außen spiegelte? Wie wohl alle diese Leute, die sie hier beschrieb und denen sie letztendlich ihre eigenen Gedanken untergeschoben hatte, sie, die Beobachterin selbst, wahrnahmen? Hielten sie sie für verrückt, wenn sie erführen, was sie sich da für Geschichten über sie ausgedacht hatte? Wären sie empört, fühlten sie sich entlarvt, oder wären sie einfach nur amüsiert? – Sie hoffte im Grunde, dass ihre Protagonisten ihre Überlegungen nicht zu Gesicht bekamen, denn dann würde sie sich unter Umständen auf etwas gefasst machen können. Sie hoffte das nie erfahren zu müssen. Letztendlich war alles nur eine gedankliche Spielerei, eine hübsche Übung in Linguistik, ein Märchen aus dem Alltag.

Aber alle Märchen haben einen wahren Kern…

 

Verwunderung - Staunen

 

Ja, das gab es noch, dieses Staunen und Wundern über eine Neuentdeckung in etwas alt Bekanntem, etwas, auf das sie früher nicht geachtet hätte, das ihr nicht mal aufgefallen wäre.

 

Diese Sache, über die sie so erstaunt war, die Neuentdeckung erlebte sie in einem alten Buch mit den noch älteren deutschen Heldensagen.

Das Buch war sehr alt, noch in der, wie man damals sagte, „deutschen“ Schrift gedruckt.

Nicht viele von den heute jungen Leuten konnten diese Schrift überhaupt noch lesen. Dabei war die gedruckte Variante noch besser zu entziffern als die geschriebene Schrift, die damals, bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts, noch gelehrt und geschrieben wurde, die Sütterlin-Schrift. Nur ganz, ganz alte Leute kannten und schrieben sie noch, lesen konnte sie kaum noch jemand, einschließlich ihr selber.

Sie hatte noch einen Anfang mit dieser Schrift in der Schule gemacht, weil ihre damalige Klassenlehrerin sehr bemüht war, den ihr anvertrauten Kindern auch noch etwas von dem alten Schriftgut zu vermitteln. (Anfangs hatte sie sogar noch mit Griffel und Schiefertafel schreiben gelernt, später der Wechsel auf Griffel und Tinte (furchtbare Schweinerei), und wie froh war sie, als es endlich die Patronenfüller gab!) Sie hatte es jedoch ganz gut gelernt, diese alte Schrift zu schreiben und auch zu lesen.

Auch die Lesebücher für das 6. Schuljahr waren im ersten Teil mit der moderneren Schrift, wie wir sie heute kennen, und im zweiten Teil mit der „deutschen“ Schrift gedruckt. Viele ihrer Klassenkameraden gaben auf, hatten kein Interesse, konnten oder wollten die visuelle Fähigkeit nicht entwickeln, die dafür erforderlich war.

Sie dagegen, die immer gleich in jedem neuen Schuljahr als erstes das Lesebuch gründlich verschlang, wollte wissen, was hinter den so fremd aussehenden Buchstaben für eine spannende oder schöne Geschichte steckte. Und sie gab keine Ruhe, bis sie den Sinn der Buchstaben enträtselt hatte. Besonders mit dem S und dem G oder dem kleinen s in einem Wort und dem f tat sie sich anfangs recht schwer, bis sie bemerkte, dass sie auch hier nur den Sinn im Wort mit dem übrigen Satz im Zusammenhang lesen musste. Ab da ging es wie geschmiert.

 

Noch heute las sie gern alte Bücher mit dieser Schrift. Diese Schriftart zwang sie zu einem langsameren Lesetempo, als sie es sonst an den Tag legte. Von dem meist etwas anderen, sozusagen behäbigeren Stil mal abgesehen, der auch ein anderes Lesebewußtsein forderte. Solche alten Bücher konnte man nicht einfach verschlingen, die wollten wirklich „erlesen“ sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Damals hatte man eben einfach mehr Zeit, sowohl zum Schreiben als auch zum Lesen. Und zum Vorlesen sowieso.

 

Für ihre Ausspracheübungen nun hatte sie sich unter anderem dieses alte Sagenbuch erkoren, weil es ihr nach langer Zeit einfach beim Aufräumen mal wieder in die Hände gefallen war. Sie hatte es aufgeschlagen, die alten Illustrationen von den wackeren Kämpen und den schönen Frauen und holden Maiden (sie lächelte bei diesen altmodischen Begriffen) gesehen und ein paar Sätze in dieser alten Schrift gelesen, und meinte, dass sich diese Texte sehr gut für die Übungen im Vorlesen eigneten, da sie sie nämlich zwingen würden, langsam zu lesen, denn das Auge musste sich komplett auf die andere Schriftart umstellen.

 

Sie nahm also das Buch mit, und kaum hatte sie angefangen vorzulesen, da geschah etwas Seltsames, etwas Wunder-bares.

 

 

Als sie sich nämlich Sätze wie : König Etzels Hunnenheer zog in langer Heerschar gen König Hisserichs Hof…laut aussprechen hörte, fiel ihr zum ersten Mal der Rhythmus in diesen Sätzen auf, wie sie ihn beim Lesen dieser ihr doch so gut bekannten Geschichten noch nie wahrgenommen hatte. Sie fühlte sich an die Reime der Edda erinnert. Es klang gewichtig, wuchtig, wie rollende Brecher, die an einem Meeresstrand an die Felsen donnerten, man hörte gar schon von fern das Schwerterklirren und das Gebrüll einer Schlacht darin.

 

Da las sie doch schon seit ihrer Kindheit, seit sie überhaupt imstande war, diese komischen schwarzen Zeichen mit Auge und Hirn in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Und vornehmlich waren es spannende Märchen und abenteuerliche Rittersagen. Aber nie, nie zuvor hatte sie wahrgenommen, wie wort-gewaltig Sprache doch sein konnte!

 

Das brachte sie wirklich zum Staunen.

 

So mögen die Kinder staunen, wenn sie wieder etwas Neues in ihrer Umgebung entdecken. Dass sie hier das Neue in alt Vertrautem entdecken konnte, in etwas, das sie in- und auswendig zu kennen glaubte, das fand sie so bemerkenswert.

Selber kein Kind mehr, aber staunen wie ein Kind, staunen können wie ein Kind, toll.

 

Wer hat schon so ein Erlebnis in seinem Alltag?

 

Wo ist sie?

 

Der Schwatzhafte

 

Ich fahre ja jeden Tag mit meinem Kollegen zusammen im Bus, und meist achten wir nicht auf die Leute, die sonst noch so mit drinsitzen. Aber ich habe diese Frau, die immer auf dem Rücksitz neben der Tür Platz genommen hat und liest, lange nicht gesehen. Was mag mit ihr sein? Na, vielleicht hat sie Urlaub. Obwohl jetzt nicht unbedingt Urlaubszeit ist, es sind noch keine Herbstferien. Komisch, irgendwie fehlt mir das, wie sie mich immer so kurz bewundernd anschaut und dann verlegen wieder wegguckt. Ich habe ja auch sehr schöne Haare! An Glanz und Fülle kann ich meine Mähne mit der jeder Frau vergleichen, nur dass ich sie nicht so lang trage, haha! – Na, irgendwann wird die Leserin schon wieder mal mitfahren….

 

Der Schweigsame

 

Mein Kollege sorgt ja jeden Morgen bestens für meine Unterhaltung, wenn wir in den Bus einsteigen. Aber irgendetwas fehlt in letzter Zeit, und nun weiß ich auch was: diese Frau, die da immer auf dem Rücksitz neben der Tür hockt und liest und ihre –zig Taschen neben sich deponiert hat. Komisch, sonst achte ich eigentlich kaum auf die anderen Passagiere im Bus, aber diese fällt mir jedes Mal auf, wenn wir einsteigen. Vielleicht ist es die auffällige goldene Tasche oder diese komischen Heftchen, die sie da immer liest…ob sie wohl einen Bus früher oder später nimmt, oder ob sie krank ist? Statt ihrer sitzt nun immer eine andere Frau an diesem Platz, die auch zwei Taschen bei sich hat, eine riesige und eine Handtasche, und sie trägt sommers wie winters einen schwarzen Mantel und einen Schal. Also irgendwie ist das nicht das gewohnte Bild. Nun, vielleicht fährt die andere bald wieder mit, und das Bild in meinem Kopf ist wieder in Ordnung…

 

Die Frau im Mantel

 

Seit ein paar Tagen ist der Rücksitz neben der Tür frei, auf dem sonst immer die Frau mit der goldenen Handtasche und dem dicken blauen Sack (was mag sie wohl da drinhaben?) sitzt und liest. Was wohl mit ihr sein mag, ob sie vielleicht krank ist?

Ich brauche auch viel Platz für meine Utensilien, die ich immer dabei haben muss, und setzte mich da hin, wenn die hinteren Sitze schon besetzt sind…So lange sie nicht da ist, kann ich ja ganz bequem diesen Platz einnehmen. Obwohl ich sagen muss, dass es mir nicht so angenehm ist rückwärts zu fahren, das verursacht mir eine gewisse Beklemmung in der Magengegend. Außerdem kann ich nicht lässig die Beine übeeinander schlagen wie auf den hinteren Sitzen. Für eine Weile jedoch wird es sicher eine Abwechslung sein.

Wann sie wohl wieder mitfährt…?

 

Die alte Klassenkameradin

 

Ich habe meine Klassenkameradin XY lange nicht gesehen. Ob sie wohl krank ist? Oder fährt sie neuerdings einen Bus später? Na gut, ich fahre ja selbst sehr oft jetzt einen später, mir geht es gerade auch nicht so gut; meine Hüfte macht mir doch sehr zu schaffen, überhaupt jetzt, wo es auf den Winter zugeht. Jaja, man wird halt älter…

Na, irgendwann werde ich sie wohl wieder am Bus sehen, sie muß ja auch noch ein paar Jährchen arbeiten…auch wenn sie nicht bei mir mit an der Heizung sitzen will, das ist doch ein schöner warmer Platz?! Also wenn ich den habe, habe ich es gut getroffen.

Wölfe!

 

 

Ihre Sprachtrainerin hatte ihr beim letzten Coaching von einem sehr aufwühlenden und schreckenerregenden Erlebnis erzählt, das sie eines späten Abends auf dem Heimweg beim Umsteigen hatte.

 

Jugendliche hatten sie in der Straßenbahn schon anzüglich gemustert, stiegen mit ihr aus und begannen, ohne dass sie sich irgendwie abgesprochen hatten, sie einzukreisen! Und ihre Augen hatten gefunkelt, sie sagte ganz entsetzt: wie die von Wölfen! Jetzt weiss ich, was ein Wolfsrudel ist!!-

 

Es musste eine sehr beängstigende Erfahrung gewesen sein, so in der schwarzen Nacht plötzlich von vier kräftigen Jungens, denen die nackte Gier – die Gier nach einer Frau!! – aus den wölfischen Augen sprang. So jung sie noch sind, junge Wölfe sind gefährlich.

Rutschten diese junge Leute derart ins Animalische ab, weil sie mit ihren eigenen Trieben noch nicht umgehen konnten oder weil sie gerade kein geeignetes Ventil dafür hatten? Was trieb sie dazu, zu tun, was sie da taten, nämlich eine harmlose Frau derart zu ängstigen? Vielleicht hatten sie ursprünglich gar nichts dergleichen vorgehabt, vielleicht war es nur der Kick, das Jagdfieber, die Erregung in der Aussicht auf Beute?

 

Sie hatte versucht, die Hochspannung in mit ein paar Allgemeinplätzen in ganz normalem Tonfall, oder was sie dachte dass es normaler Tonfall sei, etwas zu mildern, die Schärfe herauszunehmen. Ob es verfing, sie wusste es nicht. Wer weiss, was noch passiert wäre, wenn – ja wenn -

 

- Wäre da nicht noch plötzlich noch eine kleine Gruppe junger Mädchen in der Dunkelheit aufgetaucht, die sie sofort anrief und winkte und so tat, als ob sie sie kennte: Na, wo kommt ihr denn her?

 

- Unglaublich, die Mädels reagierten sofort, sie winkten zurück und antworteten: Na, und was machen Sie denn noch so spät hier?? Und lachten und riefen in einem fort weiter.

 

Die jungen Wölfe schienen sichtlich irritiert, das waren ihnen denn wohl doch zu viele Schafe. Einer aus der Rotte schien auch etwas vernünftiger zu sein als die anderen, er hatte vorher schon seinen Kumpanen zugeraunt, dass man das nicht machen könne. Nun aber schaute er beruhigend die Verängstigte an und sagte begütigend: Es ist o.k.

 

Sie konnte ihren Heimweg fortsetzen. Aber sie zitterte am ganzen Körper und war froh, als sie endlich zu Hause angelangt war.

 

Dieses Erlebnis hallte noch lange in ihr nach, und es beschäftigte sie noch immer. Ihre Schülerin meinte, dass diese Geschichte es wert sei, sie aufzuschreiben. Sie wühlte in ihrer auffälligen goldenen Tasche, holte einen kleinen Notizblock hervor und warf mit einem silbernen Kugelschreiber ein paar Stichworte aufs Papier.

Morgen, sagte sie ganz trocken, hast du die Geschichte deiner Geschichte. Denn dieses Erlebnis ist eine Geschichte wert.

 

Gelächelt

 

Sie freute sich ja immer, wen sie die alte Dame an den Krücken wieder die Straße entlang laufen sah. Warum eigentlich, fragte sie sich, sie kannte sie doch gar nicht!?

 

Wahrscheinlich, weil sie im tiefsten Innern die Tapferkeit dieser Frau bewunderte, die ihr da scheinbar mühelos an ihren Gehhilfen entgegen kam, eine Krücke immer flott im Wechsel mit der anderen, rechts – links, rechts – links…..manchmal ging es auch nicht so schnell, da hatte sie wohl Schmerzen.

 

Und sie bewunderte es, dass die alte Dame immer so gut zurechtgemacht war. Sie war gut gekämmt, und ihre Lippen waren geschminkt. Früher, als sie noch jung war, musste sie eine ausgesprochene Schönheit gewesen sein. Wahre Schönheit besteht eben auch noch im Alter!

 

Den Beweis dafür trat die Lady an, als sie, die Frau mit der goldenen Tasche, ihr eines Morgens (die Sonne schien, und sie hatte gerade genauso strahlende Laune) ein freundliches „Guten Morgen!“ bot, nicht gerufen aber herzlich, und sie erntete ein strahlendes Lächeln von der alten Lady, das sie verjüngte und ihre Schönheit unter der Oberfläche ihres alten Gesichts zutage treten ließ.

Da blieb wieder zu fragen, warum sie lächelte, sie kannte Ihr Gegenüber doch gar nicht!?

Bis auf die Tatsache, dass sie sich eben ab und zu auf der Straße begegneten.

 

Neulich fand die Begegnung nicht am Morgen, sondern am Mittag statt, und wieder bot sie der Lady ein freundliches Hallo! Und wieder das strahlende Lächeln zur Antwort. Da fasste sie sich ein Herz und sprach sie an: „Wie geht es Ihnen?“ – und weiter: „Wir begegnen uns ja hier ganz oft, ich auf dem Weg zur Arbeit und Sie…?“

Sie hatte gar keine Antwort erwartet, aber die Lady sagte bereitwillig: „Zum Rewe.“ Der Laden lag gerade am Anfang der Straßenkreuzung.

„Zum Rewe, aha. – Sagen Sie, ich wollte Sie schon lange mal was fragen…“begann sie. Aber kaum hatte sie das gesagt, verschwand das Lächeln wie weggewischt. Um Gottes willen, dachte sie, was mag sie jetzt denken, glaubt sie ich will ihr was aufschwatzen?? Schnell fuhr sie fort: „Ich habe vor einigen Wochen einen kleinen gefältelten Schal mit Blumenmuster gefunden und aufgehoben, und ich dachte, es ist vielleicht Ihrer?“

„Nein“, sagte die alte Dame und wandte sich abrupt zum Gehen.

„Also nicht. Na gut! Dann einen schönen Tag noch!“

Die Lady war schon ein paar Schritte losgestapft, rief aber noch: „Tschüss!“

 

Da drehte auch sie sich um und ging wieder weiter, die Straße hinauf.

Na so was, dachte sie.

 

Was in aller Welt mochte die alte Dame gedacht haben??

 

Begegnung (II)

 

 

Wieder mal war sie unterwegs. Ausnahmsweise war sie diesmal nicht mit dem Bus wie sonst, sondern mit der Straßenbahn on the road, denn zu ihrer Musikschule war das der schnellste Weg.

 

Schon als sie an der Umsteige-Haltestelle von der U-Bahn in die Straßenbahn einstieg und sich einen freien Platz suchte, fiel ihr die allein sitzende ältere Frau am Fensterplatz auf, die quasi ganz allein vier Plätze belegte. Nicht etwa dass sie so umfangreich gewesen wäre – im Gegenteil war sie sehr schlank, sogar dürr zu nennen – oder viele Gepäckstücke bei sich gehabt hätte. Nein, es war sie selbst, die die Sitze und den ganzen Raum um sich mit ihrer Anwesenheit okkupierte.

 

Die Reisende sah sich die Sitzbesetzerin genauer an, nachdem sie ostentativ ihr gegenüber Platz genommen hatte, gerade neben den trotzig auf den Gegensitz hochgelegten Füßen der Frau.

Die Frau sah sehr, sehr traurig aus, und sie hatte offensichtlich eine schwere Hautkrankheit, denn ihr Gesicht war rot und aufgedunsen, mit schorfigen Lippen und einem dunkelroten riesigen Fleck auf der rechten Gesichtshälfte. Tränen liefen ihr fortwährend die Wangen herunter, die sie trotzig laufen ließ und nur gelegentlich abwischte. Und es machte sich ein recht unangenehmer Geruch um sie herum bemerkbar, durchdringend säuerlich wie alter Handkäse oder als ob sie sich in Apfelwein gewälzt hätte. Der Gestank nahm einem wirklich fast den Atem.

 

Zuerst wollte sich unsere Musikschülerin über die Rücksichtslosigkeit der anderen ärgern. Aber dann empfand sie eher Mitleid mit dieser heruntergekommen Gestalt.

Wie konnte es wohl so weit kommen, überlegte sie, was muss dieser Frau passiert sein, dass sie sich derart gehen lässt? Ist sie wirklich sternhagelvoll, wie es den Anschein hat? Dafür sitzt sie noch ganz schön und mit vollendeter Körperbeherrschung gerade.

 

Oder ist es die Ausdünstung einer schweren Krankheit, die sie umgibt? Dann ist es ganz schön mutig von ihr, sich so unter die Leute zu wagen – immerhin muss sie ja damit rechnen, angepöbelt zu werden. Es gibt Zeitgenossen, die beherrschen das aus dem Effeff. Aber die Frau hatte gleichzeitig etwa so Unnahbares an sich, dass sie sich lieber auf die Zunge gebissen als sie gefragt hätte, ob sie ihr irgendwie helfen könne. Sie hatte die unbedingte Gewissheit, dass sie harsch angefahren würde, wenn sie auch nur irgendeine Art Frage stellte, oder sich die Schleusen öffnen und ein stundenlanges lautes Lamentieren über alle ergießen würde. Das war ihr mit Betrunkenen und auch mit Kranken schon passiert. Wahrscheinlich saßen auch darum die anderen Passagiere mehr oder weniger stumm um sie herum und sagten, so lange sie mit fuhr, kein Wort.

 

Lange Zeit zum Sinnieren hatte sie nicht mehr. Die Bahn näherte sich ihrem Fahrtziel, sie nahm ihre Sachen und stieg aus. Aber die arme Frau nahm sie in ihrem Kopf mit sich.

 

Verflüchtigt

 

 

Seit einiger Zeit fuhr sie einen Bus früher, um eher zur Arbeit zu kommen. Das verschaffte ihr mehr Zeit für die Mittagspause.

 

Natürlich waren ihre „Mitfahrer“ im Bus nun auch andere als diejenigen, mit denen sie sonst immer zusammen gefahren war. Wie üblich, waren anfangs alle nur irgendwelche Personen, junge, alte, und welche im mittleren Alter, die an den verschiedenen Stationen einstiegen, um von A nach B zu gelangen. Und wie üblich kristallisierten sich schon nach ein paar Tagen die einzelnen Charaktere derjenigen, die immer zur gleichen Uhrzeit fuhren, heraus.

So vielschichtige wie im zweiten, späteren Bus waren sie jedoch nicht. Bis auf die zwei, drei, die immer meinen, sie müssten die ganze Fahrt lang telefonieren oder sich mit ihren Sitznachbarn streiten, gab es keine große Abwechslung.

 

Einmal hatte sie eine Woche lang versucht, ohne ihren MP3 Player auszukommen, weil sie ihren Ohren wieder einmal den Genuss des freien Atmens und des relativ stresslosen Hörens verschaffen wollte. Stattdessen musste sie sich darüber ärgern, dass immer die gleiche junge Frau an der nächsten Station einstieg, bereits mit dem Handy am Ohr, und die ganze Fahr über bis zur vorletzten Haltestelle vor Fahrtende endlos weiterredete. Wie das Leben so spielt, sie saß auch immer hinten und nötigte ihren Mitreisenden ihre Familiengeschichten am Telefon auf.

Warum müssen sich eigentlich so viele Leute so wichtig machen, überlegte sie. SO viel kann man doch gar nicht am Telefon zu erzählen haben, das sich nicht auch in einer persönlichen Unterhaltung klären ließe.

Sie selbst jedenfalls hasste es, wenn sie einmal genötigt war, aus dem Bus oder auf der Straße zu telefonieren. Immer hatte sie dann das Gefühl, dass jeder aus der Umgebung die Ohren spitzte, um alles mitzubekommen, was sie sagte. Vermutlich war es gar nicht so, aber sie mochte dieses Gefühl der Öffentlichkeit ihres Telefonats nun einmal nicht. Die schöne Diskretion eines Telefonhäuschens fehlte ihr. Wobei diese durchaus auch relativ war. Manche Leute brüllten auch darin so, dass man es draußen hörte, oder rissen beim Telefonieren die Tür auf. Nun, manchmal war es auch zu heiss da drin, oder es stank, oder sonst etwas.

 

Ob es ihren Mitreisenden aus dem nächsten Bus wohl aufgefallen war, dass sie nicht mehr mitfuhr? So wie es momentan aussah, würde sie auch in nächster Zeit nicht mehr später fahren, sondern diesen früheren Bus nehmen. Ob einigen von den „anderen“, „späteren“ wohl bewusst war, dass sie sich sozusagen verflüchtigt hatte?

 

Verflüchtigt hatte sie sich auch für die alte Dame an den Krücken und die beiden Kollegen; die Frau im wehenden Mantel jedoch lief ihr nun am Wochenende auf einer anderen Strecke über den Weg, sogar ohne Mantel, jedoch trug sie immer einen kleinen Strickpullover aus Baumwolle, es war ja auch Sommer, doch die Morgen waren noch recht kühl. Die alte Klassenkameradin sah sie gelegentlich auch um die frühere Uhrzeit an der heimischen Haltestelle stehen, aber nach wie vor lief sie an dieser mit einem kurzen, jedoch freundlich-forschen „Moin!“ an ihr vorbei. Die Arme guckte sie immer vorher an, wenn sie kam, und gab kein Zeichen des Erkennens, obwohl sie, die Forsche, ihr doch direkt in die Augen sah und ihr zunickte. Was sie manchmal zu der Überlegung veranlasste, ob die andere sie etwa nicht erkannte oder am Ende auch nicht erkennen wollte?? Nun, wer weiß, was sie anfocht, sie jedenfalls drängte sich nicht auf. Nach wie vor stieg sie hinten ein und nahm auf dem Rücksitz neben der Tür Platz, wenn er noch frei war.

 

Nicht immer hatte sie da gesessen, es kamen ihr auch noch Episoden aus früheren Fahrten in den Sinn, in denen sie auf vorwärts gerichteten oder sogar gleich den vorderen rechten Platz gleich hinter dem Fahrer beschlagnahmt hatte. Das war eigentlich der für Behinderte reservierte Platz. Er war, da auf dem Rad gelegen, mit einer breiten Seitenbank ausgestattet, auf der sie wunderbar ihre Taschen deponieren und dann in Ruhe bis zu „ihrer“ Haltestelle lesen konnte.

Nachdem sie ein paar Mal von einer alten Dame an Krücken (nein, nicht diejenige aus der Straße zu ihrer Firma!) von diesem Platz heruntergejagt worden war und ein anderes Mal sich infolge einer Vollbremsung ziemlich die Nase angestoßen hatte, verzog sie sich auf die etwas weiter unten gelegenen Sitze.

 

Da hatte sie auch so eine Geschichte erlebt, in der es um schlechtes Betragen auf zwei Seiten ging. Eigentlich merkwürdig, dass ihr das jetzt wieder einfiel. Man sollte meinen, solche relativ unbedeutenden Ereignisse hätten sich schon längst aus dem Gedächtnis verflüchtigt.

 

Eine ausländische Familie –Mutter, Vater, kleiner Sohn – war irgendwo eingestiegen, und der Junge konnte nicht stillsitzen, sondern sprang mit den Schuhen auf dem Sitz herum. Das allein war schon sehr ungezogen, doch die Eltern rügten ihn nicht. Eine ältere Frau regte sich jedoch darüber auf, dass die Eltern dies durchgehen ließen und sie sich nicht auf diesen Platz setzen würde, auch wenn sie denn da sitzen wollte (sie stand noch).

Eine junge Frau stand auf und bot ihr ihren Platz an, gleichzeitig beschimpfte sie die Ausländer, dass sie ihre Kinder nicht im Griff hätten und zuließen, dass der Junge „mit so was von dreckigen Schuhen“ auf dem Sitz herumsprang, und noch nicht einmal den Platz freimachten, wo sie doch hätten sehen müssen, dass die alte Dame sich setzen wollte. Der Vater gab contra, leider, wie manche Leute eben so sind, gleich ausfallend und lautstark.

Der Streit setzte sich noch eine Weile fort, bis die Familie ausstieg und wieder Ruhe in den Bus einkehrte. Der Busfahrer, den die junge Frau auch noch dazu angesprochen hatte, meinte nur begütigend: „Also junge Frau, Ihre Zivilcourage in allen Ehren, aber bei solchen Vorkommnissen wenden Sie sich bitte in jedem Fall zuerst an mich.“

 

Dann tat die junge Frau etwas sehr Unschönes. Sie fing nämlich an, lautstark zu telefonieren. Und sie erzählte genau die Geschichte, die sich soeben abgespielt hatte, brüstete sich damit, dass im ganzen Bus alle nur geguckt aber nichts unternommen hätten und sie die einzige gewesen sei, die etwas dagegen gesagt hätte, dass „dieser Junge mit so was von dreckigen Schuhen auf dem Sitz rumspringt“. Dabei schaute sie sich nach allen Seiten um, als wollte sie den Umsitzen zu verstehen geben, wie feige sie doch seien und dass sie bewundert werden wollte.

Damit hatte sie zwar recht. Unsere Busfahrerin musste sich selbst etwas beschämt eingestehen, dass sie auch nichts gesagt und erst recht nichts unternommen hatte. Vermutlich lag es daran, dass sie meist die Rolle des Beobachters einnahm. Ihr Grundprinzip war sich nirgendwo einzumischen, solange sie nicht selbst direkt dazu aufgefordert wurde. Es war ja auch ganz interessant zu sehen, wie die Leute in verschiedenen Situationen reagierten. Aber den mutig-engagierten Eindruck, den die junge Frau anfangs hinterlassen hatte, zerstörte sie nun selbst wieder durch ihre lautstarke Angeberei. Dieses Benehmen fand sie genauso schlecht wie das des kleinen Jungen. Schlimmer sogar. Denn der war noch ein unmündiges dummes Kind; aber die junge Dame wollte doch wohl erwachsen sein. Das würde wohl noch eine Weile dauern.

 

Oder die Episode, bei der sie sich die Nase gestoßen hatte.

 

Wie üblich hatte sie auf dem rechten Platz hinter dem Fahrer gesessen und gelesen, als dieser laut zu schimpfend begann. Sie sah kurz von ihrem spannenden Buch auf und sah, dass sie sich neben der Taxispur befanden. Wahrscheinlich wollte wieder einmal einer auf die Fahrbahn ohne in den Rückspiegel zu schauen, folgerte sie. Der Fahrer würde das schon auf seine Weise meistern, sie meisterten das immer, darum musste sie sich nicht sorgen. Sie versenkte die Nase wieder ins Buch, als der Busfahrer eine Vollbremsung hinlegte. Der Ruck schleuderte sie nach vorn, mit der Nase an die Haltestange. Eine Frau, die bereits aufgestanden war und an der nächsten Haltestelle aussteigen wollte, wurde durch den Ruck herumgerissen, fiel hin und begann sofort schmerzlich zu stöhnen. Der Fahrer war erschrocken und rief sofort einen Krankenwagen. Er fragte unsere Mitfahrerin, ob sie bereit sei, den Zeugen zu machen, dass ein Taxi ihm den Weg abgeschnitten habe. Sie gab ihre Bereitschaft zu erkennen, beteuerte aber gleichzeitig, nichts sagen zu können, da sie gelesen und den Vorfall nur am Rande mitbekommen habe.

 

Warum hatte sie nicht genauer hingeschaut? Was nützt die Bereitschaft, wenn man doch nicht helfen kann?

 

Der Fahrer meinte, dass es ihm schon sehr helfen würde, wenn er wenigstens zwei Zeugen für die Nötigung durch den Taxifahrer habe, die Aussage selbst sei erst mal nebensächlich. Eine weitere Frau erklärte sich bereit, und da wollte auch unsere Reisende nicht zurückstehen. Sie gab ihren Namen zu Protokoll – und das was sie gesehen hatte – nämlich nichts – aber dass die Behinderung und die Folge davon wirklich geschehen war, das konnte sie zu Protokoll geben und tat das auch.

 

Ihre Nase schmerzte noch ein paar Stunden; und die Frau, die den Unfall im Bus erlitten hatte, würde gewiss auch noch eine gute Weile Schmerzen leiden. Doch die Schmerzen würden sich irgendwann verflüchtigen.

 

Würden die Taxifahrer ihr Verhalten aber nun ändern? Ganz sicher nicht.

 

Würden die Eltern, die ihre Kinder nicht im Griff hatten, ihr Verhalten ändern?

 

Würde sie ihr eigenes ändern?

 

Begegnung III

 

In letzter Zeit hatte sie wieder Begegnungen gehabt, die sie so nie vermutet hätte.

 

Da war die neue Managerin in dem Hotel, aus dem Frau R. so abrupt verschwunden war. Sie hatte sie zu einem Kennenlern-Abendessen eingeladen. Dem Hotel angegliedert war ein stadtbekanntes Sushi-Lokal, und zum erstenmal in ihrem Leben kam sie in den Genuss und zu dem Vergnügen, mit Stäbchen zu essen. Zu ihrer Überraschung ging es ganz gut, obwohl der Kellner fürsorglich europäisches Besteck gebracht hatte.

 

Während sie sich vergnügt mit den kleinen faszinierenden Häppchen und den Stäbchen balgte, erzählte ihre Gastgeberin noch einmal von den neuen tollen Veränderungen im Hotel. Dabei erwähnte sie auch, dass Frau R. in ein anderes Hotel ins Ausland versetzt worden war. Also waren die ganzen Sorgen und Vermutungen, die sie angestellt hatte, nicht nur null und nichtig, sondern sogar unnötig gewesen. Aber etwas befremdlich fand sie den abrupten Wechsel schon. Jedoch war dies nicht ungewöhnlich in dieser Branche, erfuhr sie.

 

Mit dieser Managerin ergab sich kein so guter Kontakt wie mit Frau R.

 

Natürlich konnte sie das durchaus nachvollziehen; Kontakte, denen kein Auftrag nachfolgt, lohnt es keinem Unternehmen weiterzupflegen. Dafür konnte sie jedoch nichts; mehr als ihrer Fima dieses Hotel wärmstens zu empfehlen konnte sie schließlich auch nicht. Kaum hatte sie dies ihrer Gastgeberin zu verstehen gegeben, so fiel dieser buchstäblich das Lächeln aus dem Gesicht, und die aufgesetzte Herzlichkeit kühlte merklich ab. Nun – sie nahm ihr das nicht weiter übel. So ist das halt in der Geschäftswelt. Sollte sich doch noch überraschend Bedarf ergeben, wo würde sie sich ganz sicher melden, versprach sie, und es war ihr ernst damit.

 

 

Die Professorin auf der Straße? Die sah und hörte sie mittags noch immer ihre Vorträge an eine unsichtbare Zuhörerschaft halten. Beruhigend, dass es sie noch gab, die gehörte mit zum Straßenbild. Wenn sie mal eine Weile nicht zu sehen oder zu hören war, fragten sich alle Kolelgen, die sie auch vom Sehen kannten, ob sie wohl krank sei oder nun endgültig in einer geschlossenen Anstalt gelandet war.

 

 

Die alte Dame an den Krücken hatte sie lange nicht gesehen, war aber fest davon überzeugt, dass es ihr gut ging. Der junge Kollege, der die Lady auch öfters begegnete, hatte ihr schon bestätigt, dass sie ihm sehr oft entgegenkäme und jedes Mal freundlich grüßte. Und dass sie auch in Begleitung eines distinguierten älteren Herrn gesichtet wurde, der mit ziemlicher Sicherheit der Gatte sein müsse. Wie lustig, dachte sie, mir begegnet sie immer alleine. So bekommt man manchmal einen ganz falschen Eindruck von den Leuten. Ich dachte ja auch immer, dass sie vielleicht schmerzgeplagt und mürrisch sei, und dabei ist das gar nicht wahr.

 

 

 

Und last not least die wichtigste und beeindruckendste Begegnung mit dem neuen Kollegen.

 

Sie war wieder leise – nun ja, nicht so ganz leise – mit ihrem mp3 Player vor sich hin singend die Straße hinaufgegangen und hatte darum nicht gleich gemerkt, dass er hinter ihr herkam.

Als sie zusammen vor die Tür gelangten und sie aus dem Augenwinkel sah, dass sie nicht allein war, sagten sie hallo, und da sie schon vor der Tür stand, wollte sie sie öffnen und dann für den Nachfolgenden aufhalten, wie alle Kollegen und Kolleginnen (oder die meisten jedenfalls) das höflicherweise in ihrer Firma taten.

Aber was tat er?

Er sagte: „Einen schönen guten Morgen, und nun lassen Sie mich bitte mal vorgehn.“

Völlig verdutzt ließ sie ihm den Vortritt. Er ging also an ihr vorbei, öffnete die Tür, stellte sich daneben und hielt sie ihr gentlemanlike auf, um sie nun seinerseits eintreten zu lassen: „So bitte, treten Sie ein.“

Ihr blieb erst mal der Mund offen stehen vor Staunen, und sie dachte gerade noch rechtzeitig daran, ihn auch wieder zuzuklappen. Sie trat also ein, dankte ihm und fragte ihn, immer noch erstaunt, während sie in den Fahrstuhl traten und hochfuhren: „Haben Sie das jetzt nur gemacht, um mich vorzulassen?“

„Ja.“

„Wow“, sagte sie beglückt, „das gefällt mir gut! Ich LIEBE solche altmodische Höflichkeit!“

Er lächelte zum Dank zurück.

Der Aufzug hielt am Stockwerk, an dem sie aussteigen musste, und sie stieg aus, mit beiderseitigen Wünschen für einen guten Tag.

Der nach so einem freundlichen Anfang auch gut verlief.

 

 

Dieser Begegnung folgten noch weitere, und immer war er der perfekte Gentleman. So etwas hatte sie bisher noch nicht erlebt. Auch Kolleginnen berichteten von ähnlichen positiven Begegnungen mit dem Neuen,

 

Das versprach eine interessante Zusammenarbeit zu werden.

 

Der neue Kollege war der neue Geschäftsführer des Unternehmens!

 

 

Die Buchhändlerin

 

Neulich hatte sie ja die Uhrzeit gewechselt und fuhr mit einem früheren Bus zur Arbeit. Auch hier kristallisierten sich allmählich Charaktere aus den vielen Mitreisenden heraus.

 

Da war z.B. eine Dame mittleren Alters, die jeden Morgen eine Station vor der Haltestelle „Messe“ einstieg. Sie war immer leger-sportlich gekleidet, also Jeans und Windjacke oder im Sommer leichtere Beinkleider und ein Shirt. Das passte auch gut zu ihren kurz geschnittenen Haaren, in die wohl keine rechte Facon mehr zu bringen war, denn sie waren sehr fein und hingen etwas traurig herunter.

Über der Schulter trug sie einen City-Rucksack, aus dem sie sofort, nachdem sie sich gesetzt hatte, ein Buch zog und sich hinein vertiefte.

 

Das fand unsere Busfahrerin sehr bemerkenswert. Handelte es sich doch bei der Entfernung zwischen den zwei Haltestellen, denn an der nächsten stieg die sportliche Leserin wieder aus, um einen relativ kurzen Weg, der höchstens durch den allmorgendlichen Stau auf eine Zeitdauer von ca. 5 Minuten gestreckt wurde. Sich trotz des kurzen Aufenthalts im Bus in ein, manchmal ein recht dickes, Buch zu vertiefen, zeichnete einen passionierten Leser aus. Genauso, überlegte sie belustigt, wie sie selbst einer war.

 

Ohne ein Buch unterwegs zu sein, war für sie einfach unmöglich Dann fehlte etwas an ihrer Grundausstattung. Man denke nur an die Wartezeiten, die einem überall entstehen, egal ob auf der Fahrt, an Haltestellen, in Ämtern, beim Arzt. Sie selbst nutzte jede freie Minute, um ihren Lesestoff in sich aufzunehmen – sie las sogar vor der Waschmaschine, während die Spülgänge liefen!

Ob diese eifrige Leserin auch so geartet war? Vielleicht hatte sie ja sogar von Berufs wegen mit vielen Büchern zu tun. Vielleicht war sie Buchhändlerin oder arbeitete in einem Verlag. Vielleicht war sie auch Lehrerin, Deutschlehrerin an einem Gymnasium. Oder etwas ganz anderes von Beruf??

 

Auf jeden Fall freute es die Reisende immer, wenn sie andere Mitpassagiere, egal in welchem Transportmittel, hingegeben in einem Buch lesen sah. Egal was sie gerade lasen, egal ob leichten Liebesroman oder furchtbar kompliziertes Fachwerk. So lange die Leute die Bücher wirklich lasen, brauchte man sich um die Zukunft des gedruckten Buches keine Sorgen zu machen.

 

Auch dass die Leute immer weniger lesen oder immer weniger Leute überhaupt lesen würden, hielt sie für ein Gerücht. Wie man leicht sehen konnte, wenn man nur die Augen ein wenig weiter öffnete als bis zur Nasenspitze, gab es durchaus Leseverrückte wie sie selbst eine war – würde es hoffentlich immer geben. Sie konnte sich noch gut erinnern, mit welcher Ehrfurcht sie als Kind ihr neuestes Buch, das sie von den Eltern geschenkt erhielt, behandelte. Der Vater hatte ihr sogar beigebracht, vorher die Hände zu waschen und die Seiten vorsichtig am Rand umzublättern, ein Lesezeichen zu benutzen und ja keine Eselsohren in die Seiten zu knicken! Und mit welcher Spannung hatte sie am Anfang eines jeden neuen Schuljahres immer sofort als erstes das Lesebuch verschlungen.

 

So lange es Autoren gab, die sie schrieben, so lange würde es auch Bücher geben. Nicht jeder begnügte sich mit den neuen Medien; die echten Bibliophilen liebten es, ein Buch in der Hand zu halten, über den Einband zu streichen, mit den Fingern über den glatten Beschnitt zu fahren, die Seiten zu öffnen und die Augen genüsslich über die gedruckten Sätze gleiten, eilen, fliegen zu lassen, tief den Duft des frischen Drucks einsaugend, oder wenn es eine antiquarische Rarität war, tief den Duft des alten Papiers einsaugend. Manchen war sowohl das eine als auch das andere ein Rauschmittel. Nicht zu unrecht war einmal plakativ behauptet worden, Bücher machten süchtig.

 

Sie wusste nicht wie andere Leser da sahen, aber auf sie selbst traf das voll und ganz zu. Wenn sie ein Buch öffnete und der Inhalt der aufgezeichneten Worte in sie einsickerte, lief er als Film vor ihrem inneren Auge ab. Wie Kino im Kopf, das sie beliebig oft abspulen, anhalten, wiederholen konnte, wann und wo sie wollte. Man brauchte keinen Fernseher und keinen DVD-Player dazu. Und das fand sie einfach wunderbar.

 

Aber am wunderbarsten fand sie, dass Bücher auch echte Freunde sein konnten.

 

Gerade wenn es einem nicht so gut ging, wenn einem etwas auf der Seele lag und Kummer fast das Herz abdrückte, konnte ein zur Stimmungslage passendes Buch ein richtiger Helfer und Tröster sein.

 

Als ihr Vater gestorben war, zum Beispiel. Da hatte sie nach etlichen Wochen des verzweifelten Fragens nach dem Warum und der Fassungslosigkeit Trost in einem ganz alltäglichen Kriminalroman gefunden, in dessen Handlung der Familienvater unverhofft umkommt und der Autor den Schmerz und die Bestürzung der Familie so einfühlsam und eindringlich geschildert hatte, dass sie sich in der Erkenntnis, nicht allein mit ihrem Kummer zu sein, sondern dass andere Leute genau das gleiche wie sie erleben und fühlen mussten, verstanden und getröstet fühlte. Ab diesem Zeitpunkt hatte sie aufgehört, sich in schmerzerfüllten Kreisen um sich selbst zu drehen und wieder in die Normalität des Lebens zurückgefunden.

Und sich in heiterer Stimmung bei Sonnenschein bequem im Sessel auf der Terrasse oder auf der Couch im Wohnzimmer zu räkeln, ein bis zwei Kissen wo sie nötig waren, und das Lieblingsbuch vor den Augen, ja, das war schon schön.

 

Bücher warteten still und unaufdringlich, bis man sie zur Hand nahm und sie zu einem sprechen konnten. Sie telefonierten einen nicht an, wenn man seine Ruhe haben wollte, und schrien einen auch nicht voll, wenn man anderer Meinung war als sie.

 

Manchmal sprachen Bücher auch nicht von selbst. Manche wollten richtiggehend erobert sein. Da musste man sich den Weg zum Herzen des Buches buchstäblich erarbeiten, dranbleiben, weiterlesen, um den Sinn des Ganzen zu begreifen. Manchmal lohnte sich die Mühe und die aufgewendete Zeit. Manchmal auch schüttelte sie den Kopf, wenn sie das Buch durchgelesen hatte und zuklappte. Aber wirklich „gute“ oder wirklich „schlechte“ Bücher gab es bei ihr nicht. Auch hier lag für sie, wie bei so vielen Dingen, die Schönheit buchstäblich im Auge des Betrachters. Pauschal über den Inhalt eines Buches zu urteilen fand sie genauso unfair wie pauschal über einen Menschen zu urteilen. Beide, so fand sie, sollten nur von Menschen beurteilt werden, die sie wirklich kannten.

 

Wer so einen Rezensor hatte, der hatte es gut getroffen.

 

Ausgestiegen

 

Da saß sie wieder mal im Bus auf der Fahrt nach Hause. Das Buch, das sie immer für die Fahrt dabei hatte, war aber diesmal in der Tasche geblieben. Sie war gerade dabei, den Text für einen Rocksong einzuüben, den sie gerne vollständig mit dem MP3 Player mitsingen wollte.

Sie saß ganz vertieft auf dem Rückwärtsfahrersitz hinten neben der Tür, ihren Zettel mit dem Text vor sich, ihre Augen flogen über die Zeilen, ihre Lippen bewegten sich mit der Musik, sie sang sozusagen lautlos mit. Ab und zu warf sie den prüfenden Blick durchs Busfenster nach draußen, um zu sehen, an welchem Ort der Fahrstrecke sie sich gerade befand.

 

Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass ein Fahrgast aufstand und nach vorne ging, und der Bus hielt. Noch dachte sie sich nichts dabei, aber dann ging es nicht weiter, und der Fahrer stellte sogar den Motor ab und ließ die Türen offen.

 

Verwundert schaltete sie ihren Player aus und nahm die Stöpsel aus den Ohren. Das ist der Nachteil, dachte sie, wenn man sich von der Umwelt so abschottet, kriegt man nichts mehr mit. Fragend sah sie die anderen Fahrgäste an, um zu erfahren was los sei, doch die in ihrer Nähe saßen, wussten auch nichts. Erst langsam sickerte von vorne nach hinten durch, dass es zwischen einem Passagier und dem Busfahrer mächtig Krach gegeben haben musste, der Passagier den Fahrer sogar beschimpft hatte und dieser nun auf die Polizei wartete.

 

Der Fahrer war ausgestiegen, gefolgt von einigen Passagieren, die erfahren wollten, wie sie denn nun nach Hause kommen sollten. Offensichtlich war ihm das völlig egal. Er entschuldigte sich zwar wortreich, aber trotzdem fuhr er nicht weiter. Er spielte die gekränkte Leberwurst und ließ seine ihm anvertrauten Fahrgäste einfach sitzen.

 

Ein Mitreisender sprach unsere Reisende an: „Das ist nicht in Ordnung. Wir haben schließlich bezahlt für diese Fahrt, wir wollen JETZT fahren. Auch wenn er nicht weiterfährt, muss er einen anderen Bus ordern und uns dann Bescheid geben.“

„Völlig richtig“, antwortete sie dem jungen Mann. Seltsamerweise war es wieder ein Afrikaner. Diese Erfahrung hatte sie ja schon öfter gemacht, dass diese Landsleute gern mit ihr sprachen, sie wusste nicht warum. Vielleicht hatte sie ja so ein Erzähl-Mir-Alles-Ich-Hör-Zu-Gesicht?

Noch mehr Leute beschwerten sich, aber der Fahrer hielt nur eine Karte mit einer Telefonnummer hoch. Eine Frau fragte: „Was soll ich damit?“

„Da können Sie sich beschweren.“

„Und was hab ich da jetzt davon? Ich will nach Hause!“

 

Den Rest der Diskussion beendete die Ankunft des nachfolgenden Busses, in den alle dann umstiegen. Eine Frau bemerkte noch: „Und wo ist der Kerl jetzt? Abgehauen!“

Ja, derjenige, der den ganzen Aufruhr verursacht hatte, war fort. Der Busfahrer stand nun da mit seinem leeren Bus und wartete auf die Polizei.

Sie versuchte, eine der Frauen anzusprechen und zu erfahren, was denn überhaupt passiert war, aber die hörte gar nicht hin. Sie unterhielt sich mit ihrer Begleiterin, die feststellte, dass dieser Fahrer wohl ein besonders zartes Gemüt habe.

 

 

Was sie selbst betraf, so fand sie es nur ärgerlich, nun doch später heim zu kommen als geplant. Dafür war sie nun überpünktlich zur Haltestelle gegangen, an der dieser Bus schon um fünf Minuten verspätet angekommen war.

 

Was sie selbst für Lehren aus diesem Vorkommnis ziehen sollte, war ihr allerdings nicht klar. Sicher hatte dieses, wie so vieles, einen tieferen Sinn. Vielleicht wäre sie gerade mit diesem Bus auf der Autobahn in Gefahr gewesen. Vielleicht hätte es einen Stau gegeben, der sich bis zur Ankunft des nächsten Busses wieder aufgelöst hätte. Vielleicht , vielleicht –

 

Egal wo nun der tiefere Grund lag, sie hatte es noch ganz gut getroffen. Sie war nicht in das Zeitloch des nachfolgenden Busses geraten, der ab dann statt einer Viertelstunde eine halbe Stunde später fuhr. Sie war gut und unfallfrei nach einer störungsfreien restlichen Fahrt angekommen. Es regnete nicht, als sie an der heimischen Bushaltestelle ausstieg.

Der junge Afrikaner stand noch eine Weile an der Haltestelle und blickte dem davonfahrenden Bus sinnend nach. Was focht ihn noch an? Ärgerte er sich noch immer?

 

Nun, sie wollte sich jedenfalls nicht mehr ärgern. Es gab Schlimmeres und auch so viel Schöneres. Stattdessen ging nun fröhlich vor sich hin singend nach Hause.

Denn während der längeren Fahrt hatte sie so ganz nebenbei ihren Text gelernt.

 

Also hatte die Verzögerung doch ihren Sinn gehabt…

 

Angeschlossen

 

Manchmal, wenn sie der jungen Frau aus Afghanistan begegnete und sie sich freundlich begrüßten, dachte sie daran, wie ihre Bekanntschaft – denn mehr war es eigentlich nicht – begonnen hatte.

 

Sie war eines Morgens, als sie an der Haltestelle stand, von der jungen Frau angesprochen worden, die ganz verzweifelt war, ihren Bus der anderen Linie, mit der sie augenscheinlich immer fuhr, verpasst zu haben und dadurch nun zu spät zu kommen. Mitfühlend fragte sie, wohin diese denn müsse, und empfahl ihr, mit ihrem Bus mitzufahren und umzusteigen. Die junge Frau war mit ihrem Mann erst vor kurzem in den Stadtteil gezogen und kannte sich noch nicht aus.

Der Bus kam, und sie da sie sich nun schon im Gespräch befanden, stiegen sie zusammen ein und unterhielten sich auf der ganzen Fahrt. Das heißt, die junge Frau unterhielt. Sie redete und redete, offensichtlich suchte sie Anschluss und war froh, dass ihr endlich mal jemand zuhörte. Innerhalb von dreißig Minuten hatte sie fast ihre ganze Lebensgeschichte abgespult: dass sie aus Afghanistan komme, dass sie neu hier sei, dass sie so froh über ihren Job als Arzthelferin war. Unsere Reisende war fast ein wenig erschlagen über so viel Mitteilungsbedürfnis am frühen Morgen.

 

Am nächsten Morgen stand die junge Afghanin wieder an der Haltestelle, und wie selbstverständlich stieg sie mit ein, da sie diesen Weg besser fand als den vorherigen. Und wie selbstverständlich setzte sie sich zu der Reisenden und unterhielt sie wieder die ganze Fahrt über. Nun, es war auch interessant, was sie so zu erzählen hatte. Die Mutter ihres Mannes wohnte bei ihnen, der Mann war arbeitslos, und sie war sozusagen ein wenig dazwischen. Diese Situation war nicht einfach, und sie schien einen Rat zu suchen, wie sie sich am besten verhalten solle. Sie dachte daran billig einen Computer zu kaufen, damit ihr Mann seine Bewerbungen nicht immer mit der Hand schreiben müsse. Sie überlegten zusammen Lösungswege, und die Fahrt war um.

 

Die gemeinsamen Fahrten wiederholten sich einige Wochen. Sie verstanden sich gut, und die junge Frau lud sie auch einmal zu sich nach Hause zum Tee ein. Das war eine sehr interessante Erfahrung. Allein die Speisen, die da gereicht wurden, und die Getränke waren ungewohnt, doch es schmeckte ihr alles vorzüglich. Sie bekam einen Einblick in das Leben einer gebildeten afghanischen Familie, obwohl dieser Eindruck ausschließlich von der jungen Frau geprägt war. Die Mutter der Familie tauchte nur einmal kurz auf, hieß sie willkommen und verschwand wieder in den angrenzenden Räumen. Die junge Frau zeigte im Wohnzimmer, wo sie mit ihrem Gast saß, Bilder und auch einen kleine Film von der Hochzeit ihres Bruders; sie verriet, dass sie bisweilen kleine Gedichte auf Persisch schreibe, um sich vom Alltag etwas zu erholen. Das fand unsere Reisende alles sehr bemerkenswert. Wieder einmal stellte sie fest, dass es überall solche und solche gab und man keine Volksgruppe verallgemeinernd in einen Topf werfen durfte. Dagegen hatte sie sich auch für sich selbst immer gewehrt. Sie hatte immer versucht, das Besondere zu finden.

Manchmal gelang ihr das ja sogar.

 

Noch heute begegneten sie sich hin und wieder, meist auf der Straße. Die junge Frau hatte mittlerweile zwei Kinder bekommen, was für sie auch mit Schwierigkeiten verbunden gewesen war. Der Mann hatte Arbeit gefunden, die Mutter war ausgezogen. Nun hatte sie eine Umschulung gemacht und war dabei, sich selbständig zu machen. Das hörte sich alles sehr gut an. Nach Meinung unserer Busfahrerin konnte die junge Frau durchaus zufrieden sein, sie hatte es doch ganz gut getroffen.

Schlussbetrachtung

 

Unterwegs zu sein, kann sehr langweilig oder sehr spannend sein. Die Definition liegt auch hier, wie so oft, im Sinne und im Auge des Betrachters.

 

Wir sind unser ganzes Leben lang unterwegs. Von Geburt an sind wir unterwegs: unterwegs zum Kindergarten, zur Schule, zur Arbeit, in den Urlaub, und zurück. Bis wir die letzte große Reise antreten, auf der wir von unseren Mitmenschen ein Stück begleitet werden.

 

Bis dahin haben wir viele Wegbegleiter. Seien es die Eltern, die Lehrer, die Freunde und Bekannten, die Kollegen, oder uns ganz Unbekannte, Leute auf der Straße und Personen, die jeden Tag in Bussen und Bahnen fahren, sei es zur Arbeit, zur Schule, zur Freizeitgestaltung. Was bewegt sie, wer bewegt sie, was denken sie, was wird über sie gedacht?

 

Diesen einfachen Fragen einmal nachzugehen, fand ich ganz spannend. Sinnieren, spekulieren, jedoch nicht eruieren. Nur gucken, gewissermaßen, nicht anfassen, wie es in der Werbung verkündet wird. Und ich begann, auf ihren täglichen oder außergewöhnlichen Fahrten einmal genauer hinzusehen. Woher sie kamen sie, wohin fuhren sie, auf welchem Weg zu welchem Ziel waren sie?

 

Es sind schon ganze Bücher über das Thema Unterwegs Sein geschrieben worden, von bekannten und weniger bekannten Autoren. Und doch fand und finde ich einen ganz eigenen Reiz darin, meinen Mit-fahrern im wörtlichen Sinne einen zweiten Blick zu schenken, etwas mehr Aufmerksamkeit als jenen flüchtigen, sich wieder in die Ferne verlierenden Augen-Blick, den die meisten Mitmenschen einander zu gönnen gewillt sind. Bei manchen Zeitgenossen lohnt sich der zweite Blick durchaus. Und je öfter man sie sieht, desto mehr schält sich ihr Charakter aus der Ansichtssache Mensch.

 

Eines jedenfalls ist gewiss: Egal woher, wohin, auf welche Weise und wie lange, - jede Reise ist auch eine Reise zu sich selbst. Wann ein jeder wie und wie glücklich oder unglücklich ankommt oder ankommen will, liegt bei jedem ganz allein.

 

 

 

Danksagung

 

Eigentlich hat das Wort Danksagung für mich einen eher traurigen Beigeschmack. Es wird sehr oft dafür verwandt, seinen Dank für die Anteilnahme von Verwandten, Freunden und Bekannten am Heimgang eines lieben Entschlafenen auszudrücken. Aber da es üblich ist, sich nach Fertigstellung eines Buches zu bedanken, komme ich wohl um eine Danksagung nicht herum, in der Hoffnung, dass es sich um mein geistiges Kind nicht um eine sogenannte Totgeburt handeln wird.

 

An der Entstehung dieses Buches hat vor allem meine Freundin Carmen Bayerl wesentlichen Anteil, die mich immer wieder ermuntert hat, weiterzumachen, und bei der ich mich aufs Herzlichste für ihre immerwährende Geduld und ihren wertvollen Tipps bedanke. Weiterhin bedanke ich mich bei meinem Verleger, und ich bedanke mich bei meinen bekannten und unbekannten Protagonisten, denen ich natürlich meine eigenen Gedanken untergeschoben habe – irgendwelche Ähnlichkeiten wären tatsächlich rein zufällig.

 

 

Ffm., im Oktober 2009

 

Paulina Panther

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.06.2015

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