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Die Mücke Hellgrid

Als die Mücke Hellgrid sie zum ersten Mal erblickte, war es gerade Mittag geworden. Die Sonne durchflutete das düstere Café und Hellgrid war gerade dabei, sich über ein herrlich verrottetes Stück Käsekuchen herzumachen. Nichts ahnend, mit vollem Rüssel und dicken Backen, schaute er empor, als er auch schon auf der Stelle erstarrte.
Sein Blick wanderte, durch die beschlagenen Scheiben des Zuckerspenders, vorbei an monströsen Türmen aus Zahnstochern, bis hin zum Nachbartisch. Hier hatte sie sich niedergelassen.
Mit vollem Haar und rotem Kleid saß sie einfach da, inmitten der Sonne, streifte ganz sanft, eine winzige Strähne aus dem Gesicht. Das Kleid zurechtgerückt, die Beine übereinander geschlagen, ganz unverfroren, bot sie einen Anblick, der selbst dem Bild einer griechischen Göttin noch schmeicheln würde.
Die Sonne, schien sie nicht einfach nur anzustrahlen, sondern viel mehr ihren gesamten Leib zu umwinden und mit kleinen zärtlichen Küsschen jeden einzelnen Zentimeter ihrer Haut zu liebkosen.
Hellgrids Kinnlade fiel zu Boden und augenblicklich wurde ihm bewusst, dass es sich um das schönste Geschöpf handeln musste, welches ihm je vor seine 425 Augenpaare gelaufen war. Ihr Körper erinnerte ihn an den Grund warum das Leben schön war, das Gesicht an das Streben der Menschen nach dem Glück. Gefangen in den schönsten Liebesversen, verweigerten ihm all seine Sinne den Dienst und ergaben sich dem Anblick dieser Frau.
Daraufhin wurden Hellgrid folgende zwei Dinge auf einmal bewusst:
Erstens, all die Leute die nicht an Liebe auf den ersten Blick glaubten, waren Idioten und zweitens, dies war definitiv nicht der richtige Moment um mit dicken Backen und offenem Mund in ihre Richtung zu gaffen.
Ruckartig versuchte er die letzten Krümel des Kuchens runterzuschlucken, vergaß dabei jedoch die Unverträglichkeit des Schluckens im Bezug auf Atmen und hustete folgerichtig alles wieder heraus.
Gleichzeitig, schien das gesamte Lokal zu verstummen. Spottende Blicke quälten seinen Kopf zu Boden und nichts wünschte er sich mehr, als dass die Fliegenklatsche von heute Morgen, ihn doch erwischt hätte.
Erst traute er sich nicht seinen Blick wieder zu heben, doch dann bekam er es mit der Angst zu tun.
Hellgrid fürchtete dass, wenn er zu lange die Sicht von ihr lassen würde, der Anblick für immer verschwinden würde. Dann käme ganz gewiss, diese Stimme wieder auf, die ihn schon seit Tagesanbruch quälte. Wieder und wieder würde sie ihm Vorwürfe machen. Ihn an die eigene Dummheit erinnern einen solchen Moment vergeigt zu haben. Es hatte keinen Sinn, er musste hinsehen, retten was noch zu retten war.

Mit einem Schritt zur Seite, entledigte er sich aller Sichthindernisse und hatte nun freien Blick.
Keinen Zentimeter war sie von der Stelle gewichen. Nach wie vor saß sie da, gebadet in Eleganz und Anmut, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, sich über die eigene Schönheit überhaupt bewusst zu sein.
Und doch war etwas anders, etwas hatte sich verändert und Hellgrid konnte nicht recht deuten was es war. Sein Blick wanderte langsam die ellenlangen Beine hoch, vorbei an dem dünnen roten Stoff bis hin zu den perfekten Zähnen und strahlenden Augen, die just in diesem Moment ihm entgegenstarrten.
Wie vom Blitz getroffen durchflatterten Armeen von Schmetterlingen seinen mickrigen Leib und brachten jede einzelne Pore zum hyperventilieren.
Jetzt wusste er was anders war. Sie hatte ihn wahrgenommen, unter all den Leuten, ausgerechnet ihn, den Tollpatsch in Person. Nicht nur das, sie schenkte ihm sogar ein Lächeln. Ein Lächeln, welches für den Bruchteil einer Sekunde dafür sorgte, dass seine kleine Seele den Körper verließ und kleine Loopings durch die Gegend schlug.
Wie in Trance versank er in eine perfekte Welt. Eine Welt in der es nur sie und ihn gab. Nackt auf einer einsamen Insel, fernab aller Ungleichheiten in den Tag hinein lebend und nur von Liebe genährt.
Die Leute behaupten, es gäbe in einem jeden Leben genau zwei magische Momente. Den Moment der Geburt, an dem die Seele den Körper betritt und den Moment des Todes, an dem die Selbige den Körper wieder verlässt. An den ersten Moment kann man sich nicht erinnern, weil man noch nichts wahr nimmt, an den zweiten Moment auch nicht, weil es danach keine Erinnerungen mehr gibt.
Hatten die Leute sich etwa schon wieder geirrt? War es ausgerechnet ihm gelungen, in der unbedeutenden Nichtigkeit seines kurzen Seins, einen weiteren Moment der Magie zu erleben?
Jäh wurde er aus seinen Träumen gerissen. Ihre Körperhaltung hatte sich verändert. Schlimmer noch, sie stand auf und lief direkt auf ihn zu. Hormone in Herzform schwirrten umher, winkten ihm mit beiden Händen entgegen.
Hellgrid war hoffnungslos überfordert. Ohne einen Mucks, ohne eine Bewegung, ohne irgend ein Anzeichen dafür dass er überhaupt existierte, ließ er sie auf ihn zulaufen, an ihm vorbeilaufen und langsam Richtung Ausgang verschwinden.
Sie war weg, einfach weg. So wie sie vor ein paar Sekunden in sein Leben trat war sie nun einfach verschwunden.
Plötzlich war er wieder hellwach. Etwas ließ ihn aufsteigen, wild um sich flattern, ganz tollpatschig ihr nach fliegen. Fast so als hätten sich seine Sinne selbständig gemacht. Wie ein Magnet zog sie ihn an, er konnte sich nicht wehren, musste einfach hinterher. Die Tür hinaus auf die belebten Straßen. Hoch runter, nach links, nach rechts, suchen, riechen, fliegen, wo war sie nur?
An einer Schaufensterscheibe ließ er sich nieder. Seine unzähligen Augen wanderten umher, Panik machte sich breit. Er konnte sie doch nicht verloren haben, nicht jetzt wo er doch gerade erst herausgefunden hatte dass sie überhaupt existierte. Seine Sinne verschärften sich wie noch nie zuvor. Es kostete ihn all seine Kraft doch plötzlich konnte er sie sehen. Auf der anderen Straßenseite, von Schildern verdeckt, inmitten von Menschen, eine Ewigkeit weg.
Gerade wollte er sich abstoßen und hinter ihr her, da blieb sein kleinstes Auge an der Scheibe hängen. Was sich da vor ihm spiegelte raubte all seinen Mut.
Wie konnte er sich selbst nur so belügen? Wie konnte er nur zulassen, dass sich solche Hoffnungen in ihm regten? Mit traurigem Blick schaute er auf sich herab. Jetzt wusste er es wieder, er war gar keine Mücke. Er wäre doch so gerne eine gewesen, doch nicht einmal dazu hatte es gereicht.
Eine winzige Träne entglitt.
Hellgrid war nur eine Fruchtfliege, bedeutungslos und klein. Von niemandem beachtet, dazu verdammt zu existieren ohne jemals zu Sein.

Batsch, in diesem Augenblick erlebte Hellgrid seinen dritten magischen Moment.

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Tag der Veröffentlichung: 20.12.2008

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