DIE EDEN HILL
CHRONIKEN
Die letzte
Hüterin
von
Renate Blieberger
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Leseprobe
Prolog
Obwohl es völlig windstill war, raschelten die Blätter der alten Weide, die den kleinen See überschattete. Jede Ranke, jeder Strauch und jedes noch so kleine Gewächs auf der Lichtung streckten sich der zarten Gestalt am Fuße des Baums entgegen. Die Menschen nannten ihre Art Dryade. Sie war ein Geschöpf mit fast durchscheinend zartgrüner Haut, bodenlangem blassgrünen Haar, elfenhaft zartem Körperbau, ätherisch schönem Gesicht und Augen, deren Farbe ständig in Wirbeln zu wechseln schien. Sie gebot nicht nur über die Pflanzen, sondern verfügte auch über die Gabe der Verzauberung, die es ihr ermöglichte jeden Mann zu verführen. Es sei denn, er wäre wahrhaft verliebt. Durch all dies in früherer Zeit verehrt hatten ihr die Menschen den Namen Lady des Baums gegeben, da ihr eigentlicher Name sich für menschliche Kehlen nicht eignete. Sie verharrte in völliger Regungslosigkeit, was das Rauschen und Wispern noch gespenstischer erscheinen ließ und lauschte den Stimmen der Pflanzen an der Außengrenze ihres Hains und wartete, ob ihre Hoffnungen sich erfüllen würden. Einst hatte ihre Macht sich über den ganzen Landstrich erstreckt, doch nun herrschte sie nur noch über diesen kleinen Hain und war für die meisten Menschen nicht mehr als eine alte Legende. Lediglich die Familie Sullivan, aus der sie seit Jahrhunderten ihre Hüterin erwählte, diente ihr noch treu und selbst diese Gewissheit war in Gefahr. Nur eine weibliche Hexe war als Dienerin geeignet und ihre derzeitige Hüterin Elisa hatte nur Söhne geboren. Falls sie ohne weibliche Nachkommen sterben sollte, war die letzte Verbindung zur Welt der Menschen verloren. Dass dies auch den Untergang der Menschen in Eden Hill verursachen würde, war dabei nur ein geringer Trost. Vor einigen Monaten jedoch hatte die Schwangerschaft der Schwiegertochter der alten Elisa neue Hoffnung geweckt. Nun lag die Frau in den Wehen und die Dryade wartete angespannt, ob sie sich erfüllen würde. Plötzlich drang das leise Flüstern des alten Haselstrauchs, der am Rand von Elisas Garten wuchs, in ihre Gedanken und berichtete ihr vom Schrei eines Babys. Vor Angst und Erwartung gleichzeitig bebend tastete die Dryade nach dem neuen Lebensstrang und erfühlte eine weibliche Signatur, die mit enorm viel Magie verwoben war. Konnte es sein? Konnte das Schicksal ihr so nah am Abgrund die Chance auf einen neuen Zenit gewähren? Mit rasendem Herzen überprüfte sie ihre Wahrnehmung noch mal und Euphorie breitete sich in ihr aus. Sie hatte nicht nur eine neue Hüterin, sondern eine die mächtiger sein würde, als jede vor ihr. Sie war nicht verloren, sondern würde eine neue Blüte erleben. Von Vorfreude erfüllt begann sie trällernd zu singen:
„Eleonore mein Hoffnungskind,
wachse und lerne geschwind.
Dann komm zu mir,
und bleib für immer hier.“
Lachend glitt die Dryade in ihre alte Weide und Ruhe kehrte auf der Lichtung ein.
1. Kapitel
Jahre später
Elly musste ein Schmunzeln unterdrücken, während sie der Touristin vor ihrem Verkaufspult mit ernster Miene lauschte. Die Frau war sichtlich außer Atem und reichlich frustriert, während sie sich beklagte: „Ihre Ansichtskarten sind sicher an einem anderen Ort aufgenommen worden, oder total veraltet.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Ich bin ausgedehnte Wanderungen gewöhnt und komme mit Karten gut zurecht, aber ich konnte den kleinen See von den Postkarten einfach nicht finden“, murrte die Frau.
Elly zauberte ein mitfühlendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Das tut mir leid für Sie, aber er ist ganz sicher da. Ich war erst neulich dort. Sicher sind Sie irgendwo falsch abgebogen. Da wir die Natur achten, ist der Wald eben sehr unzugänglich.“ Dabei war Elly absolut klar, dass weder der Orientierungssinn noch die Kondition der Frau schuld an deren Misere waren. Aber wer hätte ihr die Wahrheit, abgesehen von den paar Eingeweihten, schon geglaubt? Tatsächlich lebte an dem kleinen See im Wald, oder besser gesagt an der Weide neben dem See, eine Dryade. Der Baumgeist bewohnte den kleinen Hain nahe dem beschaulichen Örtchen Eden Hill in den schottischen Highlands schon seit Jahrhunderten und mochte keine Fremden an ihrer Wohnstätte. Aus diesem Grund sorgte sie mit den Pflanzen, die sie kontrollierte, für das „Verschwinden“ der kleinen Lichtung, indem sie den Weg einfach zuwuchern ließ.
„So etwas passiert mir nie.“
„Vielleicht hatten Sie einfach einen schlechten Tag.“
„Unsinn“, schnaubte die Frau, zahlte die Lavendelsäckchen auf dem Tresen und verließ mit beleidigtem Gesichtsausdruck den Laden.
„Eleonore Sullivan, das war eben sehr gemein von dir“, schalt Caleb und drückte sich vom Türrahmen des Hintereingangs ab, von dem aus er das Gespräch mitverfolgt hatte. Allerdings mit einem amüsierten Grinsen auf dem Gesicht, da er die Wahrheit ebenso gut kannte wie Elly selbst. Als ihr Jugendfreund und regelmäßiger Gast im Haus ihrer Großmutter war er mit der Dryade ebenso vertraut wie mit der Hexenkunst in Ellys Familie. Wie immer konnte er kaum die Augen von ihr lassen. Heute floss Ellys rotes Haar in einer dichten glatten Kaskade bis zu den Hüften hinab. Ihr schlanker biegsamer Körper war in eine eng geschnittene Jeans in Kombination mit einer weißen locker fallenden, besticken Bluse gehüllt. Das ließ sie fast wie einen Hippie wirken, einen sehr bezaubernden Hippie. Irgendwann im Laufe der Jahre war seine Freundschaft zu ihr einer tiefen Liebe gewichen, die sie jedoch leider nicht erwiderte und von der sie nicht mal etwas wusste, und ohne Zweifel auch nichts wissen wollte. Schließlich war ihr Herz anderweitig vergeben. Um nicht auch noch ihre Freundschaft zu verlieren spielte er ihr seitdem etwas vor. Er zwang sich, sie kritisch zu mustern. „Du siehst heute wie ein Blumenkind aus den Siebzigern aus. Es wundert mich, dass dich deine Großmutter so aus dem Haus gelassen hat, Eleonore.“
Elly drohte ihm spielerisch mit dem Finger. „Nenn mich gefälligst Elly, oder ich rede nie wieder ein Wort mit dir Caleb Mac Gregor.“
„Aber du heißt doch Eleonore, zumindest behauptet deine Großmutter das immer, wenn du Unsinn machst“, erwiderte er mit Unschuldsmiene. Als Elly unwillkürlich lachen musste, wurde ihm warm ums Herz. Auch wenn es die Hölle war, sie mit Jake zu sehen, er konnte sie einfach nicht aus seinem Leben streichen.
Elly hätte niemals wirklich böse auf ihn sein können, war Caleb doch ihr ältester, liebster und bester Freund. „Sehen wir uns heute auf dem Dorffest?“, fragte er noch immer mit einem Strahlen auf seinem die meiste Zeit so ernstem Gesicht. Was bei allem, was er in seinem Leben schon mitgemacht hatte, kein Wunder war. Nicht zuletzt wegen der Taten seines verstorbenen Großvaters, des Selbstmords seines Vaters, den ärmlichen Verhältnissen seiner Familie und seinem zurückhaltenden Wesen galt er in der kleinen Gemeinschaft als Außenseiter. Elly kannte ihn jedoch zu gut um die Vorurteile der Leute zu teilen. Sie liebte den hochgewachsenen etwas schlaksigen jungen Mann mit der immer etwas außer Form geratenen Frisur seit Kindertagen als Freund heiß und innig und wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Nicht zuletzt, weil er die treueste Seele war, die man sich vorstellen konnte. Leider hatte sich die Eifersucht ihres Liebhabers inzwischen zu einem echten Problem entwickelt. Es wurde immer schwieriger ihre Beziehung und ihre Freundschaft unter einen Hut zu bringen, vor allem bei Ereignissen wie dem Fest heute.
Sie fühlte ihre Wangen heiß werden. „Es tut mir leid, ich habe Jake den Abend versprochen und er ist in letzter Zeit so eigenartig, wenn es um dich geht. Es ist verrückt, aber er scheint eifersüchtig auf dich zu sein.“
Das Lächeln verblasste auf Calebs Lippen, bevor es einen Moment später wieder zurückkehrte, diesmal jedoch gezwungen. „Ja völlig verrückt. Wer würde auch annehmen, dass ein Mädchen sich für mich interessieren könnte?“ Der Ton seiner Worte war bemüht scherzhaft gewesen, doch Elly kannte ihn zu gut, um auf die Täuschung hereinzufallen. Sie hatte ihn verletzt.
„Caleb nein, so habe ich das nicht gemeint“, stieß Elly betroffen hervor. „Ich wollte nur sagen, dass es verrückt ist, weil ich doch so in Jake verliebt bin. Wie kann er da annehmen, ich würde Interesse an einem anderen Mann haben?“
„Vergiss es, ich verstehe das schon. Verliebte wollen eben auch mal unter sich sein.“
Elly legte sanft eine Hand auf seinen Arm. „Ich meine es ernst Caleb. Jedes Mädchen könnte sich glücklich schätzen, einen so treuen und zuverlässigen Mann wie dich zu bekommen. Wer würde dir denn gefallen? Vielleicht kann ich deine Vorzüge bei ihr ins rechte Licht rücken.“
„Lass es gut sein. Ich fühle mich wohl in meinem Leben, wie es ist. Es ist schon spät. Mach den Laden zu, und lass mich dich wenigstens nach Hause bringen.“ Calebs Herz krampfte sich bei diesen Worten wieder mal zusammen. Es brachte ihn fast um, ihr den verständnisvollen Freund vorzuspielen, aber sie ganz zu verlieren, wäre noch schmerzhafter gewesen. Er trat ins Freie und wartete, bis Elly ihm folgte. Sie musterte ihn kurz besorgt, zauberte dann aber ein Lächeln auf ihre Lippen und hakte sich verspielt bei ihm unter. Ohne Zweifel, um ihn aufzumuntern. Nur leider änderte das nichts an seinem Dilemma. Wie auch, da er damit nur einen Vorgeschmack auf das bekam, was er nie haben konnte?
Während sie an Calebs Arm die Hauptstraße entlang schlenderte, seufzte Elly innerlich gequält auf. Sie kannte Caleb ihr ganzes Leben lang und wollte ihn auch in Zukunft in ihrem Leben haben. Bei ihm hatte sie ein warmes geborgenes Gefühl wie bei sonst niemand. Aber wie zum Teufel sollte sie ihre Freundschaft und ihren zukünftigen Ehemann nur zusammenbringen, wenn Jake sich so verrückt benahm, wenn es um Caleb ging? Es war wirklich ein Jammer, dass es dafür keinen Zauber gab. Zumindest keinen, den ihre Großmutter gebilligt hätte.
Wenn jemand Elisa Sullivan in diesem Moment beobachtet hätte, wäre sie ihm als eine alte Frau erschienen, die konzentriert die unzähligen Kräuter in ihrer Hütte sortierte, bündelte und bearbeitete. In Wahrheit jedoch kreisten ihre Gedanken um düstere Dinge. Sie war nun fünfundsechzig Jahre alt und immer noch lag die Last, das Gleichgewicht zwischen den Geschöpfen der anderen Welt und den Menschen zu bewahren, auf ihren Schultern. Ihr jüngerer Sohn Brian hatte zwar ihr magisches Talent geerbt, sich jedoch schon früh von der Naturmagie und dem Gleichgewicht ab und der dunkleren Blutmagie zugewandt, zumal die Lady ohnehin nur weibliche Hüterinnen akzeptierte. Ihr zweiter Sohn, Ellys Vater, hatte keinen Funken Magie in sich. Ohne jemals von diesen Dingen erfahren zu haben, war er nach dem tragischen Tod seiner Frau in die Stadt gezogen, um dort eine Kunstschmiede zu eröffnen. Zum Glück hatte sie ihn überreden können, Elly hier bei ihr in Eden Hill zu lassen. Das Mädchen war außerordentlich begabt und zeigte auch großes Interesse an den Lektionen in Kräuterkunde und den alten Mythen, welche sie ihrer Enkelin seit deren Kindheit immer wieder erzählte. Demnächst hatte sie ihr auch noch die höhere Magie beibringen wollen, aber ihre Beziehung zu diesem Jake Erikson bereitete der alten Hexe Sorgen. Er war der Sohn des Tierarztes und studierte dieses Fach auch selbst. Das wäre kein Problem gewesen, aber unglücksseligerweise hielt er die ganzen alten Legenden und Brauchtümer für blanken Aberglauben. Er würde, sobald er sein Studium abgeschlossen hatte, vermutlich, wie die meisten junge Leute in eine der Städte ziehen, um mehr Wohlstand zu erlangen. Erst hatte diese Beziehung Elisa nicht weiter beunruhigt. Ihre Enkelin war immerhin erst zweiundzwanzig und neigte noch zu Schwärmereien und der Bursche war nun einmal gut aussehend und hatte Charme. Das musste selbst sie zugeben. Da die Beziehung der Beiden aber auch nach einigen Monaten nicht zu zerbrechen schien, wuchs ihre Angst auch noch Elly an die Stadt zu verlieren. Ihr Blick schweifte durch den Schuppen, von den Kräutern, die an der Decke hingen, zu dem alten Arbeitstisch mit dem Mörser und den Schüsseln aus Kupfer und blieb schließlich an der verschlossenen Truhe hängen. Der Truhe, in der die magischen Bücher der Sullivan Hexen seit vielen Jahrzehnten verwahrt wurden. Elly war nach Elisas Tod die einzige Chance, das Gleichgewicht zu bewahren, das so überlebenswichtig für Eden Hill und seine Menschen war. Sie musste einen Weg finden, das Mädchen in dem kleinen Dörfchen zu halten. Da ihr selbst trotz aller Grübeleien nichts einfallen wollte, hatte sie beschlossen, die Lady des Baums um Rat zu fragen. Die uralte Dryade kannte das Mädchen ebenfalls seit dessen Geburt, und wie alle ihrer Art verstand sie es, die Menschen zu beeinflussen. Vielleicht konnte sie ihr einen klugen Ratschlag erteilen. Elisa erhob sich schwerfällig, nahm ihren Umhang und ging durch den Kräutergarten zum alten Pfad, der direkt zum kleinen See mitten im Wald und damit zur alten Weide mitsamt seiner Bewohnerin führte.
Wie immer wenn sie den Hain betrat, wurden Elisas Schritte müheloser. Die Magie des Ortes, den sie seit Jahrzehnten behütete, hieß sie willkommen und schien die Jahre wegzuwischen. Noch bevor sie die alte Weide erreichte, konnte sie bereits den Gesang der Dryade hören. Ein Geräusch, das an das Wispern von Blättern im Herbst und das Plätschern des kleinen Sees erinnerte. Zu Elisas Überraschung wartete das Baumgeschöpf nicht bei ihrem Baum auf sie, sondern stand plötzlich vor ihr. „Du trägst Sorgen mit dir Hüterin“, wisperte sie mit ihrer plätschernden Stimme. „Was bedrückt dich so?“
„Lady ich bin alt geworden, und ich fürchte meine gewählte Nachfolgerin könnte unseren Pfad nicht gehen wollen.“
Die Dryade zeigte einen verwirrten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht. „Du musst dich irren. Die kleine Eleonore liebt den Hain und unsere Bräuche. Wieso sollte sie deine Rolle nicht übernehmen wollen?“
„Sie liebt dieses Leben tatsächlich, aber sie ist nicht mehr klein, sondern eine junge Frau und der Mann, den sie erwählt hat, will nichts von den alten Bräuchen wissen. Er wird sie uns wegnehmen.“
„Sie darf uns nicht verlassen. Sie ist die Letzte deiner Linie.“
„Ich weiß, aber wie soll ich sie halten? Ich kann sie nicht zwingen zu bleiben meine Lady. Ich hatte auf Euren Rat gehofft.“
Die Lady vom Baum schwieg kurz, und dann nahm ihr Gesicht einen ungewohnt ernsten Ausdruck an. „Schick deine Enkelin heute bei Dämmerung zu mir. Ich werde mich um das Problem kümmern.“
„Kümmern? Was habt ihr vor Lady.“ Für gewöhnlich wäre es Elisa nie in den Sinn gekommen, eine Anweisung der Dryade zu hinterfragen. Doch so resolut hatte sie den alten Baumgeist noch nie erlebt und etwas in ihr sorgte sich um ihre Enkelin.
„Vertraue mir alte Freundin, wie auch bisher. Ich werde das Beste für dich und deine Enkelin tun“, flötete die Dryade und verschwand.
2. Kapitel
Caleb hatte Elly zu dem alten Cottage ihrer Großmutter begleitet, und sich dann auf den Weg zum Pub gemacht, über dem er und seine Mutter ein kleines Apartment bewohnten. Auf dem Weg dorthin machte er sich nicht die Mühe, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen. Warum auch, wenn er am liebsten auf etwas eingeschlagen hätte? Er brauchte Elly wie die Luft zum Atmen und gleichzeitig schien ihre Beziehung mit Jake Erikson ihm die Luft abzudrücken. Als ob das nicht gereicht hätte, war da auch noch die Wut auf sich selbst, weil er nicht vor Jake über seine Gefühle gesprochen hatte. Aber er war zu unsicher gewesen und hatte gedacht mehr Zeit zu haben, immerhin waren Elly und er schon seit ihrer Schulzeit unzertrennlich. Der Außenseiter, dessen Vater sich wegen des Verlusts des Familienvermögens und des guten Klangs seines Namens das Leben genommen hatte und die Halbwaise, deren Mutter tot war und deren Vater sie verlassen hatte, waren wie füreinander geschaffen gewesen. Irgendwie hatte er deshalb immer gedacht sie müsse seine Gefühle irgendwann von selbst erkennen, ohne das er sich zum Narren machen musste. Jake hatte ihn unsanft aus diesem Traum erwachen lassen und nun war es zu spät. Gegen den blonden Adonis, dessen Vater ihm ein Studium ermöglichte, war Caleb ein Nichts. Der kleine Ort eröffnete einem jungen Mann ohne nennenswerte Ausbildung, die er mangels Familienvermögen nicht hatte, nicht viele Möglichkeiten. So half er mal seiner Mutter im Pub, mal der alten Elisa im Laden oder er verdingte sich bei der Schur bei einem der Schafbauern außerhalb der Ortsgrenzen. Er hätte sein Glück in der Stadt versuchen können, wie so viele andere auch, aber dafür hätte er seine Mutter im Stich lassen und Elly aus seinem Leben streichen müssen. Caleb ging durch den Hintereingang zur kleinen Wohnung hinauf, direkt in sein Zimmer. Dort schlug er frustriert mit den Fäusten auf den Schreibtisch und fluchte: „Verdammt, verdammt, verdammt.“
„Caleb was ist los?“, hörte er die Stimme seiner Mutter vor dem Zimmer.
Er zuckte ertappt zusammen, versicherte hastig: „Nichts Mum“, und öffnete ihr die Tür. Abby Mac Gregor war, trotz allem was sie durchgemacht hatte, eine sanfte freundliche Frau geblieben.
So war auch jetzt ihr Gesichtsausdruck warm und besorgt. „Es ist wegen Elly, nicht wahr?“
„Wovon sprichst du? Mit Elly läuft alles prima, wir sind schließlich beste Freunde.“
Ein mitleidiges Lächeln erschien auf den Lippen seiner Mutter. „Mein Sohn ich bin nicht blind und ich kenne dich. Du liebst dieses Mädchen. Sag es ihr endlich, oder schlag sie dir aus dem Kopf. So kann es nicht weitergehen.“
„Das muss es Mum“, erwiderte er bitter. „Sie liebt Jake, und ich würde es nicht ertragen, sie ganz zu verlieren.“ Als seine Mutter zu einem Widerspruch ansetzte wechselte er das Thema: „Lass uns nach unten gehen. Ich helfe dir alles für das Fest vorzubereiten.“ Er floh aus dem Zimmer, ehe sie noch weiter in seinem wunden Herzen wühlen konnte.
Im Gastraum des kleinen Pubs angekommen begann er die Tische aufzudecken, wobei sein Blick unwillkürlich aus dem Fenster wanderte und von dort zum Hügel am Stadtrand und zu dessen Kuppe, auf der die Burgruine stand. Burg Mac Gregor war einst eine stolze Burg gewesen und der Sitz seiner Familie. Selbst nach dem Brand vor langer Zeit, der nur den Wehrturm verschont hatte, hatten die Mac Gregors dort ein gutes Leben geführt. Das hatte jedoch an jenem verhängnisvollen Tag zu bröckeln begonnen, an dem sein Großvater der Spielsucht verfallen war und binnen eines Jahrzehnts das gesamte Vermögen der Familie durchgebracht hatte. Die vom Brand verschonten Reste der Burg waren im Besitz einer Bank jahrelang weiter verfallen, bis sie verkauft worden waren, und zwar ironischerweise gerade an Ellys Onkel Brian Sullivan. Der lebte nun seit einiger Zeit dort oben und in Eden Hill machten die wildesten Gerüchte die Runde. Vor allem, nachdem Elisa Sullivan öffentlich verkündet hatte, nichts mehr mit ihm zu tun zu haben. Niemand wusste so genau, wo er das Geld für den Kauf her hatte, und niemand wollte es so genau wissen. Caleb konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob sein Leben anders verlaufen wäre, wenn er heute der Burgherr Lord Mac Gregor wäre. Ohne Zweifel müsste seine Mutter nicht als Kellnerin arbeiten, um die Wohnung zu bezahlen, und er würde nicht von einem Job zum nächsten laufen, damit sie sich das Leben überhaupt irgendwie leisten konnten. An seinem Leid wegen Elly hätte es jedoch nichts geändert, weil sie nicht so oberflächlich war, dass sie Jake nur des Geldes wegen gewollt hätte. Sie hatte sich nun mal in ihn verliebt und daran hätte auch ein Millionenvermögen nichts geändert. Caleb zwang sich an etwas Anderes zu denken und arbeitete weiter.
Elly öffnete die Tür, um ihre Freundin Susan einzulassen, mit der sie gemeinsam zum Fest gehen wollte. Elly hätte sich ja von Jake abholen lassen, aber Großmutter Elisa hatte nichts für ihn übrig. Um Streitigkeiten zu vermeiden, hielt die junge Frau die Beiden also nach Möglichkeit auseinander. Susan Owens war eine Blondine, die man als leicht mollig hätte bezeichnen können. Aber sie strotzte so derartig vor Selbstvertrauen und Lebendigkeit, dass sie nicht wie ein unscheinbares Pummelchen, sondern wie ein Paradiesvogel wirkte. Sie musterte Elly und pfiff anerkennend. „Wow du siehst heute richtig klasse aus Mädchen. Jake sollte besser aufpassen, dass niemand dich ihm wegschnappt.“
„Rede doch nicht so einen Unsinn Susan. Du weißt doch, ich habe nur Augen für ihn.“
Susan seufzte theatralisch auf. „Wie er nur für dich du Glückspilz. Aber solltest du ihn doch irgendwann nicht mehr wollen, würde ich die Bürde, ihn zu trösten, schweren Herzens übernehmen.“ Sie legte sich mit feierlicher Geste eine Hand direkt über dem Herzen auf die Brust, während das ironische Grinsen die Feierlichkeit allerdings Lügen strafte.
Elly musste lachen und drohte ihrer Freundin, spielerisch mit dem Finger. „Such dir besser jemand anderen zum Trösten. Er wird keinen Bedarf dafür haben.“
Das Grinsen der Blondine vertiefte sich. „Dann musst du mir wohl als Entschädigung einen anderen Traummann suchen.“
„Als Entschädigung wofür?“
„Dafür, dass du mich, sobald er auftaucht, schnöde im Stich lassen wirst.“
„Du bist unmöglich“, prustete Elly. Neben Caleb war Susan ihre beste Freundin und schaffte es doch immer wieder sie zum Lachen zu bringen. Ehe sie die Freundin zum Gehen auffordern konnte, wurde die Tür von außen geöffnet und ihre Großmutter kam herein.
„Guten Abend Mrs Sullivan“, begrüßte Susan sie.
„Guten Abend Susan. Ich fürchte ich muss dir meine Enkelin kurz entführen.“ Sie sah zu Elly.„Elly mein Engel ich weiß du wolltest gerade zum Fest aufbrechen, aber du musst zuvor noch dringend zum See gehen. Ich brauche für eine Heilarznei unbedingt das Kraut, das nur dort wächst.“
Elly verzog das Gesicht. „Kann das nicht bis morgen warten? Ich werde doch schon erwartet.“
„Bitte Elly es ist dringend, geh gleich.“
Elly sah Susan bittend an. „Bitte sag Jake, dass ich mich ein wenig verspäten werde.“
Für gewöhnlich wanderte Elly gerne im magischen Wäldchen umher. Sie mochte den Hain, den See und auch die Dryade. Der Baumgeist war stets nett zu ihr und sie liebte deren Gesang. Aber jetzt war sie missgelaunt, weil sie viel lieber bei Jake auf dem Fest gewesen wäre. Aber es half nichts, die Sache mit dem Heilkraut war ohne Zweifel nur eine Ausrede gewesen, weil Susan nichts von der Dryade wusste. Wenn die Lady sie sofort sprechen wollte, war es ohne Zweifel dringend. Obwohl sie sich beeilte und den Weg gut kannte dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich das Plätschern des Sees an ihre Ohren drang. Bevor er jedoch in Sichtweite kam, drang ein lang gezogenes lustvolles Stöhnen an ihre Ohren und ließ sie stehen bleiben. Laut den alten Legenden vergnügten sich Dryaden ab und zu mit menschlichen Männern, die sie mit ihrem Betörungszauber zu sich lockten und umgarnten. Aber warum zum Teufel tat sie es gerade jetzt, da sie Elly zu sich beordert hatte? Sie war nicht prüde, aber jemand beim Sex zusehen wollte sie auch nicht gerade. Wer weiß wie lange warten kam allerdings auch nicht infrage. Jake wartete schließlich am Fest auf sie und einfach wieder zu verschwinden hätte ihre Großmutter ihr ewig vorgehalten. Elly gab sich einen Ruck und schlich langsam näher an den See heran. Vielleicht konnte sie ja die Aufmerksamkeit des Baumgeistes auf sich ziehen, bevor sie sich eine komplette Peepshow ansehen musste. Stück um Stück schob sie sich um die letzte Biegung des Weges und versuchte die lustvollen Geräusche auszublenden, während sie im Stillen die triebhaften Instinkte von Dryaden und sonstigen sirenenartigen Wesen verfluchte. Elly kroch unter einen der Sträucher, um der Aufmerksamkeit des Mannes zu entgehen und flüsterte: „Lady des Baums.“ Die zeigte jedoch keine Reaktion. Elly biss die Zähne zusammen, schluckte einen Fluch runter und schob sich weiter nach vorne, bis die Beiden in ihr Blickfeld kamen. Trotz der Dämmerung konnte Elly die ganze Szene recht gut erkennen. Die Dryade lag am Rücken und hatte ihre Beine um die Hüften ihres Liebhabers geschlungen. Ihr Kopf war lustvoll zurückgeworfen und ihre Hände in dem blonden Haar des Mannes vergraben, der sie mit kräftigen Stößen verwöhnte, die ihm den Schweiß auf den muskulösen Rücken trieben. „Fast wie Jakes Haar“, schoss es Elly irritiert durch den Kopf. Sie versuchte den Gedanken zu verscheuchen, immerhin war es dämmrig und es gab viele Männer mit blondem Haar in Eden Hill. Aber die Vorstellung hatte sich in ihr verfangen, wie ihr Blick an der Szene. Um ihren Verdacht loszuwerden, ließ sie ihn von den muskulösen Schultern des Mannes, über seinen schweißglänzenden Rücken, der ebenso gut trainiert war wie Jakes Rücken, bis zu seiner rechten Hüfte gleiten, wo er sich an dem großen Muttermal festsaugte, das sie so gut kannte. Das Muttermal, das sie unzählige Male während ihrer Liebesspiele geküsst hatte. Die bittere Erkenntnis brannte sich wie Säure in ihr Gehirn, es war tatsächlich Jake. Ein entsetzter Aufschrei brach aus ihr heraus, übertönte die lustvollen Geräusche der Beiden und riss Jake aus seiner Versunkenheit. Er fuhr zurück und zu Elly herum, was die entsetzliche Wahrheit endgültig bestätigte. „Wie konntest du nur?“, stieß Elly anklagend hervor. Jake Erikson schüttelte den Kopf, als ob er leicht benommen wäre.
Als sein Blick nach einigen Herzschlägen wieder klar wurde, fischte er verlegen nach seiner Hose, um seine immer noch aufgerichtete Männlichkeit zu bedecken und eilte zu ihr. „Bitte Elly“, begann er und versuchte mit einer Hand nach ihrer Schulter zu fassen.
Elly wich angewidert zurück und kreischte: „Fass mich nicht an.“ Sie taumelte zurück, suchte den Blick der Dryade und klagte sie an: „Wieso gerade er? Du hättest jeden haben können.“
„Siehst du es denn nicht Kind? Er liebt dich nicht wahrhaftig, sonst hätte ich ihn nie bezaubern können. Wahre Liebe ist stärker als jeder Zauber, den ich wirken könnte.“
„Du lügst“, schrie Elly sie an, obwohl sie es besser wusste. Sie spürte Tränen in ihre Augen steigen, warf sich herum und lief weg. Sie rannte so schnell, dass ihr Atem stoßweise kam, nur um möglichst weit von der Dryade und ihren Gemeinheiten wegzukommen. Ihr Herz fühlte sich an, als ob jemand es herausgerissen hätte. Noch nie in ihrem jungen Leben hatte Elly sich so verraten gefühlt, da die Dryade für sie immer ein Teil ihrer Familie gewesen war. Tränen aus Schmerz und Zorn liefen über ihr Gesicht, während ihre Gedanken rotierten und das hässliche Puzzle zusammenfügten. Ihre Großmutter hatte Jake nie akzeptiert und die Dryade half ihrer Hüterin stets, so wie diese dem Baumgeist immer zu Diensten war. Die Beiden steckten unter einer Decke, um ihr ihren Jake wegzunehmen. Ihr Jake, der nie wieder ihr gehören würde, weil er sie nie wirklich geliebt hatte. Sie blieb abrupt stehen und sank völlig erschöpft und verzweifelt auf die Knie. Sie konnte ihm nie wieder vertrauen, ebenso wenig wie der Dryade oder ihrer Großmutter. Sie hatten sie alle hintergangen und verraten. Die junge Hexe schluchzte auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so verharrt war, aber schließlich quälte sie sich auf die Beine und taumelte mit zitternden Gliedern aus dem Wald. Vor dem Kräutergarten jedoch stockten ihre Schritte, weil allein der Gedanke sich jetzt ihrer Großmutter zu stellen, unerträglich war. Die Tränen begannen wieder zu fließen, weil dieser Verrat am meisten wehtat. Sie wankte fort vom Cottage, ohne darauf zu achten wohin sie lief.
Als sie irgendwann aufsah stand sie vor dem Hintereingang des Pubs. Ihr verwundetes Herz hatte sie offenbar zu dem Menschen geführt, dem sie nun am meisten vertraute. Sie betrat das Gebäude und huschte in die Küche, wo sie Caleb vermutete. Der saß am Tisch und trank gerade Kaffee, sprang bei ihrem Anblick aber auf und fragte betroffen: „Du lieber Himmel, was ist passiert?“
Elly warf sich in seine Arme und schluchzte: „Bitte Caleb lass mich hierbleiben, ich kann nicht nach Hause.“
Caleb hielt Elly fest und strich mit langsamen Bewegungen sanft über ihren Rücken und ihr Haar. Er hatte dabei alle Mühe, nach außen hin ruhig zu bleiben, weil heißer Zorn auf den Schuldigen an ihrem Schmerz in ihm hochstieg und ihn fast erdrückte. „Bitte sag mir, was passiert ist. Hat dich jemand verletzt? Oder ist deiner Großmutter etwas passiert?“ Ihre Antwort war nur ein noch heftigeres Schluchzen. „Elly bitte, ich will dir doch helfen.“
Endlich sah sie zu ihm hoch und schluchzte: „Sie haben mich alle betrogen Caleb.“
„Wer denn?“
Sie lachte bitter auf. „Abgesehen von dir, jeder, der mir jemals etwas bedeutet hat. Du bist alles, was ich noch habe. Bitte lass mich hierbleiben.“
Calebs Gedanken überschlugen sich und suchten nach den Fakten hinter ihren Worten, um ihr helfen zu können. „Du kannst natürlich hierbleiben. Aber ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, wer dir etwas angetan hat. Bitte sag mir, was passiert ist.“
Ein erneuter Tränenstrom ergoss sich über ihre Wangen. „Die Dryade hat Jake verführt und meine Großmutter hat es gewusst.“ Der Drang alle Drei zu verprügeln, stieg in ihm auf. Wie konnten ihre Großmutter und die Dryade ihr das nur antun? Aber Jake war am schlimmsten. Der Mistkerl hatte alles, was Caleb sich jemals gewünscht hatte und wusste es nicht mal zu schätzen.
Er knurrte: „Er hat dich nicht wirklich geliebt, sonst hätte der Zauber der Dryade ihn nicht beeinflusst. Das weißt du doch. Sei froh diesen undankbaren, aufgeblasenen Wichtigtuer los zu sein, ehe du noch mehr Zeit an ihn verschwendet hast.“ Elly zuckte in seinen Armen zusammen und er fühlte sich völlig nutzlos, weil er sie nicht mal trösten konnte. „Bitte Elly beruhige dich doch. Du kannst hierbleiben, solange du möchtest. Ich bin immer für dich da, egal was passiert. Das schwöre ich dir.“ Er begann wieder sanft ihren Rücken zu streicheln und nach einem Moment schmiegte sie sich wieder in seine Arme. Zärtlichkeit stieg in ihm auf und er schwor sich, immer für sie da zu sein, egal was es ihn kosten mochte. Er bugsierte sie sanft in sein Zimmer hoch, ließ sich mit ihr auf der kleinen Couch nieder, hielt sie einfach weiter fest und ließ sie weinen.
Niemand der die halb verfallene Ruine der einst so stolzen Burg der Mac Gregors von Weitem sah, hätte in den unteren Geschossen des Wehrturms die komfortable, moderne Wohnung vermutet, die Brian Sullivan dort eingerichtet hatte. Noch weniger allerdings sein Labor, das er im ehemaligen Kerker unter der Erde geschaffen hatte. Es lag hinter meterdicken Mauern verborgen, durch die niemals ein Sonnenstrahl drang, und wurde nur von flackernden Kerzen erleuchtet. Eingerichtet war es lediglich mit einer alten stabilen Werkbank, zwei Sesseln und vielen Regalen. Regalen, die mit Büchern, Kesseln und Gläsern bestückt waren, die mit Kräutern, toten getrockneten Insekten und noch grausigeren Inhalten gefüllt waren. Der dunkle Magier stand an der Werkbank und starrte konzentriert in einen kleinen Spiegel, dessen Verzauberung ihn als Spion dienen ließ. Der Hain und das Haus seiner Hüterin waren leider durch die Magie der Dryade geschützt, also hatte er den Spiegel auf den Pub ausgerichtet, um auf dem Laufenden zu bleiben. Eine gute Wahl wie Brian fand. Erstens wurde dort der ganze Dorftratsch breit getreten, und zweitens befand sich dort die Wohnung von diesem Trottel Caleb Mac Gregor. Der war nicht nur der beste Freund seiner Nichte Elly, der zukünftigen Hüterin, sondern schmachtete ihr auch noch seit Jahren hinterher. Nützliche Informationen hatte er allerdings in den vergangenen Monaten nicht bekommen, seit er nach Eden Hill zurückgekehrt war. Aber Geduld war schließlich eine der wenigen Tugenden, die er für erstrebenswert hielt und amüsant war es allemal gewesen, dabei zuzusehen, wie der junge Mann sich quälte, während seine Nichte mit diesem blonden Adonis herumflirtete. Ebenso wenig wie jemand die Burg für eine Zauberstätte gehalten hätte, wäre jemand auf die Idee gekommen, ihn für einen dunklen Magier zu halten. Brian war inzwischen fünfunddreißig, von schlanker aber nicht hagerer Gestalt und er nannte gepflegte schwarze Haare und ein gut geschnittenes Gesicht sein eigen. All das zusammen mit den geschliffenen Manieren, die er mühelos zum Vorschein bringen konnte, wenn er es für angebracht hielt, wirkte er eher wie ein Geschäftsmann oder Anwalt, denn wie ein Hexenmeister. Dies war das Bild, das er der Welt außerhalb seines kleinen Labors vermitteln wollte. Ein Glück, das dem jungen Mädchen, das auf einem der Sessel kauerte, nicht vergönnt war. Er hatte ihr den Namen Coco gegeben, als er sie in dem kleinen miesen Gotik Café in Paris aufgelesen hatte. Sie war eine der närrischen Seelen, die dachten, mit genug Ergebenheit zur magischen Welt gehören zu können, obwohl sie selbst nicht den Funken einer Gabe ihr eigen nannten. Sie war neunzehn, hatte eine etwas knabenhafte aber dennoch feminine Figur, ein hübsches Gesicht, kinnlange gelockte schwarze Haare und war daher sehr anziehend. Aber vor allem war sie sehr ergeben und tat alles für ihn. Das machte sie zu einem nützlichen Werkzeug samt Freizeitunterhaltung. Die hatte er auch nötig, da außer der Häme über Mac Gregors Leid sein Umzug nach Eden Hill bisher nicht viel gebracht hatte. Seinem eigentlichen Ziel, seiner Mutter und der Dryade zu schaden, war er immer noch keinen Schritt näher gekommen, so auch heute. Er hatte sich schon gelangweilt vom üblichen nutzlosen Geschwätz der Dörfler, vom Spiegel abwenden wollen, als der Anblick seiner völlig aufgelösten Nichte seinen Blick gefesselt hatte. Brian hatte den Spiegel fokussiert, um ihr in die Küche zu folgen, wo sie sich bei diesem Trottel ausgeheult hatte. Nachdem dieser sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zum Sprechen gebracht hatte, erfuhr der Magier endlich den Grund für ihre Verzweiflung. Die Dryade und seine werte Mutter hatten sich in ihr Liebesleben eingemischt. Zu Brians Glück war die Kleine bei Weitem nicht so fügsam und schicksalsergeben, wie die Zwei wohl gemeint hatten, und dachte nicht daran, einfach mitzuspielen. Das war doch mal eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen durfte. „Komm her“, schnauzte er das Mädchen an.
Die Französin sprang sofort auf und eilte zu ihm. „Was kann ich für Euch tun Meister?“
„Gib mir deinen Arm.“ Sie streckte ihm gehorsam ihren schlanken bereits von Narben gezeichneten Arm entgegen. Brian nahm seinen Ritualdolch und fügte einen weiteren Schnitt zu den bereits vernarbten auf der Innenseite ihres Unterarms hinzu. Er hielt ihn über den Spiegel und rezitierte einen Beeinflussungszauber, während das Blut auf den Spiegel tropfte. Ohne einen persönlichen Gegenstand seiner Nichte und bei deren Magie würde der Zauber nur geringfügig wirken, aber es würde ausreichen, um ihre Wut zu schüren und Zweifel an den Lehren der Dryade zu säen.
„Habe ich euch zufriedengestellt Meister?“, raunte das Mädchen neben ihm mit ängstlicher Stimme.
Brian tätschelte ihr den Kopf wie einem Hund. „Ja meine liebe Coco, du hast deinen Meister sehr zufrieden gestellt. Geh jetzt nach oben und bereite unser Essen zu.“ Nachdem sie ihm den Rücken zugewandt hatte, glitt ein Grinsen auf seine Lippen. Wie leicht sie doch zu gängeln war. Ein wenig Zuneigung dann und wann, und die Hoffnung zu ihm zu gehören und sie tat einfach alles für ihn. Wären doch alle Menschen nur so leicht zu beherrschen gewesen.
3. Kapitel
Die Wärme der herbstlichen Sonnenstrahlen weckte Elly aus ihrem unruhigen, von Albträumen geprägten Schlummer. Für einen winzigen Moment klammerte sie sich an die Hoffnung, nur einen besonders einprägsamen, scheußlichen Albtraum gehabt zu haben. Als ihr Blick jedoch nicht auf die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Renate Blieberger
Cover: Photodesign Rene` Brandes Zur Lustgartenbreite 4a 39365 Harbke Deutschland www.renebrandes.de
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2592-2
Alle Rechte vorbehalten