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Wer früher Mathe nicht konnte war ein Mädchen. Wer heute Mathe nicht kann, der hat so exotische Krankheiten wie Dyskalkulie oder ist eben künstlerisch begabt. Fakt ist: Mathe-Hausaufgaben bringen das Schlimmste in einem Menschen zum Vorschein!

Die tägliche Nicht-Bewältigung der Aufgaben wirft Fragen auf, über die man sonst nie nachgedacht hätte: ist die Erziehung falsch? Liegt es am Buch oder am Lehrer oder den Zusatzstoffen in der Nahrung? Haben ausgerechnet wir es mit einem der seltenen Fällen von einseitiger Hochbegabung zu tun? Kann man der Schule verwiesen werden wegen eines schlechten Faches?

Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, vor allem nicht nach dem Genuss des Glases Hochprozentigem nach zwei Stunden „Mathe-Machen“ im Kinderzimmer. Vielleicht liegt es an den Genen? Ich schlucke. Die Gene - das bin ja ich! In der griechischen Tragödie liegen die Ursachen für gegenwärtiges Elend in der Vergangenheit. Lange verdrängte Erinnerungen kommen an die Oberfläche: Mathe fand ich eigentlich nur in der Grundschule schön - da war es ja auch noch kein Mathe, sondern nur Rechnen. Am Gymnasium gab es dann Textaufgaben (meine persönliche Katastrophe), Gleichungen, Geometrie und Funktionen. Mein Unglück wurde beschleunigt durch eine Freundin, die, ohne jemals zu lernen, immer alles sofort verstand und immer eine gute Note hatte und durch Lehrer, die meinten, „man könne sich ja einen Abmeldeschein im Sekretariat holen, wenn man es gar nicht schafft“.

Ich verbrachte meine beste Jugendzeit damit, mir nachts auszudenken, wie ich meinen Eltern beibringe, dass ich zur Hauptschule müsste – wegen Mathe. Das wäre in den 80er Jahren, als der Sozialdarwinismus blühte und noch ein Zusammenhang zwischen Leistung und Erfolg bestand, ein Super-Gau gewesen. Die deutlichsten Zeichen, dass ich von ihnen keinerlei Unterstützung erwarten konnte, waren ein alter Taschenrechner (die anderen hatten Minicomputer, mit denen man Logarhythmen und Funktionen berechnen konnte) und als absolutes Highlight ! ein antiquarischer Zirkelkasten, mit dem noch nicht mal meine Oma 1920 hatte punkten können. Dieses Kleinod brachte mir sogar in Geometrie eine 4 ein. Die einzige Chance auf eine gute Note war dahin.

Aber die allerschlimmsten Komplexe lösten in mir die männlichen Mitschüler aus, die früher beschönigend als „Mathefreaks“ bezeichnet wurden. Schlabberige Cordhose, Köfferchen, mit Frisuren, die keine waren, im Physikleistungskurs und Mitglied der Computer-AG. Meine Mutter fand diese Monster immer ganz toll – wenn wir einen davon sahen, wies sie mich daraufhin, dass „der bestimmt später mal den Nobelpreis bekommt oder am Max-Planck-Institut arbeitet“.

Ansporn wäre nicht nötig gewesen, meine Mathearbeit lief wie ein ständiges DejaVu-Ereignis ab: Hinsetzen, Aufgaben durchlesen, schon den ersten Satz nicht kapieren, der Versuch krampfhaft wenigstens eine Aufgabe zu lösen (dann gabs keine 6). Bei den Mathefreaks: Hinsetzen, lesen und noch vor dem Gong 4 Blätter in einer winzigen, unleserlichen Handschrift abgeben, Note 1+ - Super!

Wie konnte es sein, dass Wesen, die derart hässlich, unkommunikativ und seelisch verarmt waren erfolgreicher waren als ich?

Gerechtigkeit kommt manchmal spät: Auch bis heute hat keiner von ihnen den Nobelpreis bekommen, aufgrund der phänomenalen Mathekenntnisse ein Topmodel geheiratet oder sonstwas positives bewirkt! Die meisten sind in unterbezahlten Jobs tätig wie das gemeine Volk, aber immerin können sie sich die genaue Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wann sie endgültig arbeitslos werden.

Den alten Zirkelkasten habe ich kürzlich verkauft, für 75 Euro – nicht schlecht für jemand, der nicht rechnen kann, oder?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für alle Mitleidenden

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