Der Besuch nach Ostern war meine Rettung. Alle kamen. Die ganze Verwandtschaft. Meine Omi vom Land, die Tanten die Onkels und zu meiner größten Freude auch meine Cousins und Cousinen. Ihre einheitlich schwarze Kleidung schüchterte mich nicht ein. Wichtig war nur, sie waren da. Bei uns, bei mir, in unserem Einfamilienhäuschen.
Tage zuvor herrschte eine unerträgliche Stille. Totenstille. Kein Radio. Kein Lachen. Es wurde nur geflüstert. Meine Mutter, wenn ich sie überhaupt einmal sah, weinte immerzu. Unser Vater legte immer wieder seinen Zeigefinger auf seine schmalen Lippen und ermahnte uns. „Pst!“ Das acht Tage lang, seit Karsamstag 1959. An jenem Tag gingen meine Eltern früh ins Krankenhaus, um unsere Schwester Helga abzuholen. Ihr Bauchweh war geheilt. „Zu Ostern ist ihre Tochter wieder bei Ihnen“, hatten die Ärzte versprochen. Wir, mein Bruder und ich, sollten währenddessen unsere Pflichten erfüllen. Den Hof und ein Stück Straße harken. Es sollte alles bestens sein, wenn unsere Schwester heimkam.
Das Harken benötigte seine Zeit. Immer wieder legten wir Spielpausen ein. Leider gab es Ärger mit dem Nachbarn, Herrn Wichmann. Er regte sich auf und schimpfte mit uns, als hätten wir sonst was getan. Vielleicht hatten wir ein Steinchen aus Versehen zu seiner Grundstückshälfte geharkt. Aber es war wohl eher wegen Recks. Recks, Wichmanns Schäferhund, ärgerte sich auf jeden Fall über uns. Er kläffte. Ich hatte Angst. Er war riesig und bellte immer, wenn er mich oder meinen Bruder wahrnahm. Er rannte an einer langen rasselnden Kette parallel zu unserem Lattenzaun. Kann sein, dass Herr Wichmann annahm, wir hätten Rex geärgert, aber das hatten wir wirklich nicht! Durch das Geschimpfe ließen wir die zusammengeharkten Steinhäufchen liegen und wollten bloß weg, rein ins Haus. Die Haufen konnten wir später noch entsorgen, wenn Herr Wichmann nicht mehr in der Nähe war. Das Harken hatte schmutzig gemacht. Es war Zeit für unser sonnabendliches Bad. Da unsere Eltern noch nicht zu Hause waren, füllten wir uns die Badewanne selbst. Wir nahmen einen kleinen blauen Blechdampfer und ein rotes Segelschiffchen mit in die große eiserne Badewanne und planschten. So heftig, dass einiges überschwappte. Alles dampfte. Die Spiegel und Fliesen beschlugen. Wir öffneten das Fester, um wieder klarer sehen zu können. So hörten wir später, wie Herr Wichmann unsere heimkehrenden Eltern abfing. Meine Eltern schwiegen. Helga hörten wir auch nicht. Unser Vater kam ins Bad. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. Es wirkte verloren, suchend, als ringe er mit sich. Wir rechneten mit dem größten Donnerwetter. „Wir haben nichts getan!“, reagierte mein Bruder. Es wurde schlimmer. „Ich weiß“, sagte unser Vater. Seine Stimme versagte. „Wir haben euch ganz lieb!“ Er weinte. Er schluchzte: „Ihr müsst ganz tapfer sein!“ Noch nie zuvor hatte ich meinen Papa weinen sehen. Er war Panzerkommandant im Krieg und dann Direktor. Ich verstand nichts. Alles fiel aus. Die sonnabendliche Bockwurst. Das Hörspiel vorm Schlafen. Wir mussten stattdessen auf unserem Zimmer bleiben. Selbst mein Bruder blieb stumm. Ich begriff nichts. Alles nur wegen eines verschluckten Drops’. Schokodrops. Die Rolle zu 25 Pfennig. Hart. Braun. Süß. Solche, bei denen die Zunge vom Lutschen wund wurde. Wir waren nahe der Stepenitz spazieren. An der Kaiser-Wilhelm-Brücke, der späteren August- Bebel- Brücke, rannte mein Bruder Kurt die Böschung in den Goethepark hinab. Er wollte Butterstullen werfen. Kleine, vom Bahndamm gesammelte Steinchen, die beim gekonnten Wurf mehrmals auf der Wasseroberfläche aufsetzen. Ich wollte hinterher und es ihm gleich tun, da hörte ich meine Schwester jammern. Sie, noch auf dem Bürgersteig, hatte sich beim Lutschen eines Drops’ verschluckt. Weg war er. Ganz. Mein Vater klopfte ihr auf den Rücken. „Nicht so schlimm!“ „Was ist, wenn er in den Blinddarm rutscht?“, fragte meine Schwester besorgt. Unser Papa lachte nur kurz, denn er sah, dass meine Schwester Angst hatte. „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen! Der Bonbon löst sich in Nullkommanichts auf!“ In der folgenden Nacht hörte ich mehrmals meine Eltern treppauf und treppab gehen. „Helga klagt über Bauchschmerzen“, erklärten sie uns und nahmen sie zu sich, in ihr großes Bett. Ihr Schlafzimmer lag neben unserem Zimmer. Wir hörten Helga weinen. Da sie sechs Jahre älter war als ich, musste sie sehr starke Schmerzen haben. Wenig später sagte mein Vater zu uns Jungs: „Seid schön brav! Mutti und ich bringen Helga zu einem Arzt“. Wie wir beim Frühstück erfuhren, brachten sie Helga in das neue Kreis- Krankenhaus und erzählten, es gebe keinen Grund zur Besorgnis. Verächtlich ahmte mein Vater die Stimme eines Krankenhausangestellten nach: „Es ist nur der Blinddarm und so etwas erledigt heutzutage der Pförtner bei uns“ Es war nicht komisch. Sofort war mir der Schoko- Drops im Sinn und seitdem habe ich riesige Angst etwas zu verschlucken. Todesangst.
Am frühen Sonntagmorgen nach Ostern liefen wir alle über den Busbahnhof zum Friedhof. Nur meine Mutti und ihre Mutti, meine Omi, waren schon vor uns zum Friedhof aufgebrochen. Es war frisch, aber trocken. Der Busbahnhof war menschenleer. Nur zwei Busanhänger parkten. Dazwischen entdeckte ich eine Barriere, die in der Mitte des runden Platzes eine alte tiefer gelegene Kastanie umspannte. Sie lud zum Turnen ein. Aber irgendwer hielt mich ab. „Nicht heute!“
Auf dem Friedhof, vor der Kapelle, im Schatten der Kiefern bildeten sich Gruppen. Die Tanten und Onkels in eine, die Cousinen und Cousins in einer anderen. Es mischten sich die väterlichen mit den mütterlichen Verwandten. Wir Kinder bildeten ein Bindeglied zu einer dritten Gruppe, den Freunden und Kollegen meiner Eltern. Alle tuschelten. Mein Vater nahm uns Brüder an die Hand, führte uns hinter die Backsteinkapelle und sagte: „Wenn ihr möchtet, könnt ihr jetzt Helga noch einmal sehen.“ Das durften nur die engsten Angehörigen. Er führte uns eine steile kurze Treppe in einen kleinen kalten Keller hinab. Unser Kohlenkeller wäre gemütlicher gewesen. Wir gesellten uns zu meiner Mutti und Omi. Der Sarg stand etwas erhöht. Ich erkannte ihn. Den hatte ich einige Tage zuvor schon einmal gesehen. Vor unserem Haus. Auf der Straße. Auf einem Auto. Mein Vater ließ ihn bringen. Meine Mutter sollte ihn begutachten. Für mich war es aufregend. Ein Auto. Ein Auto bei uns vor der Tür. Ein Sarg. Ein weißer Sarg. Ein schöner Sarg. Alle guckten auf mich und meinen Bruder. „Wollt ihr eure Schwester noch einmal sehen?“ Ich schüttelte meinen Kopf und verklemmte mich zwischen den Beinen meines Papas. Der Sargdeckel wurde gehoben. Mein Bruder wagte einen Blick. Einen kurzen. Ich schaute zur Seite. Hatte ich Angst? Nein. Mir war einfach nur unheimlich, weil alle so besorgt auf mich schauten. „Wenn du nicht möchtest, musst du es auch nicht tun“, sagte mein Papa und fuhr mit seiner Hand über meinen Kopf. Der Sarg wurde zugeschraubt. Für immer. Wieder unterm freien Himmel, fragte ich meinen Bruder: „Wie sah sie aus?“ Er sah blass aus und blieb stumm.
Die Kapelle war dicht gefüllt. Der kleine weiße Sarg stand vorn. Wie war er so schnell nach oben gekommen und warum war er auf einmal so klein? Meine Schwester war doch viel größer. Während der Andacht saßen mein Bruder und ich dicht beieinander. Seitwärts hinten auf einer Bank unter den bunten Fensterscheiben. Meine Augen glitten immer wieder zu ihm. Er schluchzte. Er weinte. Er löste sich auf. Warum weinte eigentlich er? Ich war doch Helgas Liebling, ihr Lieblingsbruder. Sie nahm mich überallhin mit. Zu Pioniernachmittagen, ja sogar zum geregelten Unterricht. Ihre Klasse schenkte mir zwei Halstücher, ein blaues und ein rotes. Ich durfte beide zusammentragen. Man, war ich stolz, war ich glücklich! Und jetzt bekam ich nichts zusammen. Alle weinten. Sogar meine Cousins. Nur ich nicht. Vor der Andacht reichte meine Mutter mir und meinem Bruder, jeder eins von Helgas umhäkelten Taschentücher. Alle hielten ein Taschentuch in der Hand. Auch ich. Es half nicht. Keine Träne. Ich senkte meinen Kopf und hoffte, keiner würde es bemerken. Ich schämte mich. Leider wusste ich, dass Gott alles mitbekam und mich es büßen lassen würde. Der Rückweg vom Friedhof war ein anderer. Da gingen wir die Ernst- Thälmann- Straße längs. In ein Lokal allerdings kehrten wir nicht ein. Es war ja eine Kindsbeerdigung. Zuhause wurden alle bewirtet. Da meine Mutter keiner Tätigkeit fähig war, übernahm das eine Haushaltshilfe. Alle sorgten sich um meine Mutti. Sie litt. Sie weinte. Das war mir unheimlich. Es schmerzte. Sie war da, aber nicht für mich. Ich sah sie. Sie mich nicht. Wenn sich unsere Blicke doch einmal trafen, wurde mir kalt. War sie böse auf mich? Gab sie mir die Schuld an Helgas Tod? Hatte ich meine Mutti verloren? Sie fehlte mir. Ich weinte.
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2008
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