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Kapitel 6 - Amelia



Amelia hatte beschlossen, das Mädchen mit nach Hause zu nehmen. Sie konnte es schließlich nicht einfach dort liegen lassen, einsam in der Wildnis. Behutsam hatte sie das immer noch schlafende Mädchen auf den Rücken ihres Pferdes gesetzt. Dann hatte sie sich hinter ihm auf den Sattel gesetzt und war los geritten, nicht so schnell wie auf dem Hinweg, selbst die Stute lief vorsichtiger, als ob auch sie versuchen würde, das Mädchen nicht zu wecken. Der Rückweg dauerte weitaus länger als der Hinweg und auch der Sonnenaufgang kam schneller, als Amelia gedacht hatte, sodass sie erst am späten Vormittag beim Schloss war. Alle, denen sie auf den Straßen begegnet war, hatten sie und das schlafende Mädchen, dass so fremdartig aussah, angesehen, ihren Blick aber schnell wieder abgewandt, sodass Amelia halbwegs unbehelligt den Schlosshof erreichte. Die Wachen, inzwischen andere als vor dem Morgengrauen, warfen ihr einen noch verwirrteren Blick zu als ihre Vorgänger, allerdings mehr wegen des Mädchens als wegen ihrer Erscheinung, anscheinend waren sie über ihren Ausflug informiert worden. Amelias Herz zog sich zusammen. Was, wenn die Wachen ihren Vater ebenfalls informiert hatten? Ihr Verhalten würde ihm nicht gefallen, soviel stand fest. Würde er die Hochzeit absagen? Wortloser Schrecken durchfuhr sie, dann jedoch Erleichterung und Verzweiflung. Nein, das würde er nicht. Schließlich war es sein Wille, dass sie verheiratet wurde. In gemäßigtem Tempo ritt sie weiter, auch, wenn sie es plötzlich sehr eilig hatte. Sie hatte ihre Hochzeit vergessen! Im Stall angekommen rief sie einen Stallburschen und befahl im, das Pferd zu versorgen, während sie das schlafende Mädchen auf die Arme nahm. Sie trug sie bis zur Mitte des Hofes, dann wurde sie zu schwer und das Mädchen drohte zu fallen. Plötzlich griffen starke Arme nach der Fremden. Amelia blickte erschrocken auf und sah in Nedans Gesicht. „Um diese Zeit am Tage ihre Hochzeit noch hier draußen, Prinzessin? Und dann noch in so ungewöhnlicher Begleitung...“. Neugierig blickte Nedan auf das Mädchen herab und Überraschung war auf seinem Gesicht zu erkennen, als er ihre Andersartigkeit wahrnahm. „Nedan“, keuchte Amelia. Die Anstrengung ließ sie nach Luft schnappen während sie dem Kriegsherren das Mädchen übergab. „Könntet Ihr sie in mein Gemach bringen? Wie ihr schon gesagt habt, ich... muss mich beeilen.“ Nedan grinste und salutierte. „Natürlich, Prinzessin, wie Ihr wünscht, Prinzessin.“ Amelia musste sich ein Lächeln verkneifen. Selbst jetzt brachte er sie mit seinem Spott noch zum Lachen. „Danke.“, sagte Amelia im Weggehen. Dann jedoch drehte sie sich noch einmal um und ein besorgter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. „Aber... sagt es bitte nicht...“ Nedan zwinkerte ihr zu. „Keine Sorge, Prinzessin, Eure Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben. Es war offensichtlich, dass er an jenen Tag auf dem Markt, an dem sie dem Prinzen das erste Mal begegnet war, zurückdachte. Beruhigt nickte Amelia noch einmal, dann eilte sie in das Schloss, wo Birgit schon nervös auf sie wartete.
Es wurde eine kurze Zeremonie unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne viele Gefühle. Der Prinz, wieder einmal zu höflich, um es ernst zu meinen, sprach nur so viel wie er musste und auch, wenn er Amelia ansah, war sein Blick immer distanziert. Amelia, die seine Blicke sonst immer entweder verzweifeln ließ oder sie in Ekstase versetzten, war auch nicht wirklich bei der Sache. Ständig dachte sie an das seltsame Mädchen, dass nun in ihrem Bett weiterschlief und jeden Moment aufwachen konnte. Amelia wollte dabei sein, wenn das passierte, deswegen sehnte sie sich auf das Ende der Vermählung hin, was jedem, einschließlich Rowan und ihrem Vater auffiel. Sie wusste, das Rowan sich über ihren Sinneswandel wunderte. Ihre Bewunderung ihm gegenüber konnte ihm auf keinen Fall entgangen sein, er musste sich also fragen, warum sie ihn nun nahezu komplett ignorierte, aber das interessierte Amelia kaum. Als die Zeremonie vorüber war, gingen sie in den großen, festlich geschmückten Speisesaal. Der Tisch war reichlich gedeckt und sah sehr verlockend aus. Amelia wollte sich gerade verabschieden, als ihr Magen knurrte. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Also setzte sie sich neben Rowan an die Spitze des Tisches und verschlang ein Stück Hasenfleisch. Als sie die neugierigen und verwunderten Blicke der anderen bemerkte, riss sie sich etwas zusammen. Sie musste das hier jetzt hinter sich bringen. Es würde zu sehr auffallen, wenn sie nun schon gehen würde. Also aß sie nun geziemter und tanzte nach der Mahlzeit sogar noch mit Rowan, was ihr Herz wieder schneller schlagen ließ, und sogar mit ihrem Vater, der ausnahmsweise einmal nichts an ihr zu bemängeln hatte. Nach den Festlichkeiten ging sie gemeinsam mit Rowan auf ihr gemeinsames Schlafgemach, so wie es Tradition war, und allein beim Gedanken daran verzog sich ihr Magen vor Anspannung. Rowan schien das zu spüren und nahm ihre Hand, um sie etwas zu beruhigen, was aber eher den Gegenteiligen Effekt hatte. Schließlich war sie so aufgeregt, dass sie am liebsten hin- und hergehüpft wäre, aber nach außen behielt sie ihre Fassung. Dann standen sie vor der großen Tür. Rowan öffnete sie für Amelia und sie trat ein. Der Raum war groß und wurde von einem riesigen Doppelbett dominiert, wirkte auf der anderen Seite mit dem Kerzenlicht kuschelig und gemütlich. Die Tür schloss sich hinter ihr und Amelia drehte sich langsam um. Rowan war an der Tür stehen geblieben, den Blick nur auf sie gerichtet. Er schien auf etwas zu warten, aber als Amelia sich nicht rührte trat auf sie zu. Langsam näherte er sich ihr, bis er in Reichweite vor ihr stand. Dann streckte er seinen Arm aus und umfasste ihre Hand. Amelia konnte sich nicht mehr rühren, so angespannt war sie. Einen Moment hielt sie seinem durchdringenden Blick noch stand, dann senkte sie ihren Kopf. Seine Hand hob ihr Kinn, sodass sie ihm wieder in die Augen sehen musste. „Amelia...“, flüsterte er. „Ich weiß, dass das hier für dich genau so... merkwürdig ist wie für mich. Und ich kann verstehen, wenn du diese Nacht noch nicht gemeinsam mit mir in diesem Bett hier schlafen möchtest. Vielleicht sollten wir die Tradition ab hier brechen? Es schadet doch niemandem. Ich will nur nicht, dass wir etwas tun müssen was wir nicht wollen.“ Er blickte sie weiterhin an, sein Blick war durchdringend. Amelia wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Dachte Rowan wirklich, das hier wäre etwas, wozu man sie zwingen musste? Sie nickte schwach, ihr Widerstand war gebrochen. Rowan löste seine Hand von ihrer, strich ihr einmal mit den Fingern über ihr Haar, dann zögerte er. Schließlich beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Stirn. „Ich werde heute Nacht hier schlafen, wenn du nichts dagegen hast. Es ist zu auffällig, wenn ich zurück in das Gästezimmer gehe, aber dein Zimmer wird immer deines bleiben also...“ Er brauchte nicht weiter zu sprechen, sie verstand auch so, dass er wollte, dass sie ging. Wollte sie es auch? Sie knickste einmal leicht, eine Geste, die Rowan sicherlich verärgerte. Wenn sie es früher getan hatte, hatte er immer gelacht und ihr mit den Fingern die Haare zerzaust, bis sie versprach, es nicht mehr zu tun. Nun jedoch blieb er stumm und rührte sich nicht vom Fleck. Amelia nahm ihre ganz Kraft zusammen, blickte ihm noch einmal in die Augen und lächelte ihm kurz zu, dann wandte sie sich zur Tür und entfloh dieser unangenehmen Situation.
Sie lief in ihr Zimmer und setzte sich neben Birgit, um darauf zu warten, dass das Mädchen aufwachte. So saßen sie schweigend da und beobachteten, wie sich die Brust des Mädchens gleichmäßig senkte und hob. Amelia musste eingeschlafen sein, denn als Birgit sie weckte, war die Sonne bereits hoch am Himmel. Zuerst wusste Amelia nicht, was geschehen war und warum sie in einem Sessel geschlafen hatte und nicht wie sonst in ihrem Bett. Dann wanderte ihr Blick zu der Fremden und alles war wieder da, der Ritt des vergangenen Tages, das Versprechen von Nedan, ihre Hochzeit, das lange Warten in der Nacht. Aber etwas war anders als vergangene Nacht. Das Mädchen lag nicht mehr ruhig da, sie hatte sich im Bett aufgerichtet und starrte Amelia nun mit großen, weit aufgerissenen, meergrünen Augen an.

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Tag der Veröffentlichung: 03.06.2010

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