Kapitel 4 - Amelia
Amelia ging langsam durch die Straßen, ihre Haare hatte sie unter einem unscheinbaren Kopftuch verdeckt. Mit ihrem verblichenem Kleid würde sie in dem Gewühle nicht auffallen, dessen war sie sich sicher. Es war Markttag und sie liebte es, unerkannt über den Platz zu schlendern und zu sehen, was angeboten wurde. Sie mochte es nicht, wenn man sie wie etwas besonderes behandelte. Die ständige Aufmerksamkeit war ihr zuwider. Schließlich konnte sie nichts dafür, dass sie die Tochter des Königs war. Sie blieb vor einem Stand mit Schmuck stehen und besah sich ein Armband aus wunderschönen Steinen genauer. Ihr Vater wusste nicht, wo sie war. Es gefiel ihm nicht, dass seine Tochter sich für eine Bürgerliche ausgab. Er fand, es würde seinem Ruf schaden und gerade das wäre nicht sehr förderlich für die Friedensverhandlungen von ihrem Land Verderis mit Irmadin, einem kleinen, aber starken Land an der Küste. Amelias Vater Ronaín wiederholte immer wieder, wie wichtig ein Vertrag zwischen ihnen und Irmadin war. „Wir sind ein Binnenland und brauchen Irmadin, um mit anderen Ländern handeln und wachsen zu können eine Anbindung ans Meer. Wenn Irmadin aufgrund deiner Rumtreibereien den Vertrag nicht unterzeichnet wirst du dich dafür verantworten müssen, dass unser Land immer schwächer werden wird“, pflegte er stets zu sagen und mit diesen Worten war jede Diskussion beendet. Sie legte das Armband zurück auf den Tresen und verließ schnell den Stand als sie den prüfenden Blick eines Mannes bemerkte. Anscheinend war ihre Verkleidung doch nicht so perfekt gewesen, wie sie gedacht hatte. Der nächste Stand bot frische Backwaren an und sie beschloss, sich ein kleines Brot zu kaufen. Sie schlenderte weiter und beobachtete Aufmerksam ihre Umgebung, während sie in das Brot hinein biss. Es war sehr zart und süß, viel besser als das Brot, dass es auf dem Schloss gab. Sie warf einen Blick zurück zu dem Mädchen, die den Stand führte. Amelia prägte sich ihr Gesicht ein um sie später wieder zu erkennen, dann jedoch fiel ihr wieder ein, dass sie ja eigentlich nicht hier war und ihr Vater nicht erfahren durfte, dass sie wieder unterwegs war. Wenn sie nun dieses Mädchen einstellen würde, würde ihr Vater fragen stellen. Und das galt es zu vermeiden, sie würde nur unnötig Ärger bekommen. Ronaín war ein sehr strenger Mann und seit dem Tod der Königin war er auch verschlossener geworden. Amelia dachte zurück an ihre Mutter. Amelia wusste nur noch vage, wie sie ausgesehen hatte. Ihre Mutter war schon vor über sieben Jahren gestorben, trotzdem hatte sich Ronaín nie eine neue Frau genommen. Amelia war sein einziges Kind, die Einzige Nachfolgerin, die Erbin des Throns. Doch sie war kein Mann und deshalb war es ihr nicht gestattet, das Land zu regieren. Amelia wusste, dass sie bald einen Prinzen heiraten musste. Niemand hatte es für nötig gehalten ihr zu sagen, dass sie keine Wahl hatte mit wem sie ihr Leben verbringen würde. Sie hatte nur zufällig von der geplanten Hochzeit erfahren. Ihr Vater hatte mit jemandem darüber geredet, als sie gerade an seinem Arbeitszimmer vorbeiging. „Amelia wird der Hochzeit zustimmen müssen. Sie wurde als Prinzessin geboren und hat daher bestimmte Verantwortungen.“ Am Gleichen Tag hatte er ihre Kammer durchsucht und die Kleider gefunden, die sie anzog, wenn sie sich als bürgerliche verkleidete. Es war ihr nicht mehr möglich, sich wieder ein neues Kleid zu beschaffen. Ihre Zofe hatte ihr eines ihrer Kleider für diesen Tag geliehen. Sie war nicht nur eine Zofe für die Prinzessin, sondern eine Freundin. Während Amelia auf dem Markt war, deckte ihre Zofe Birgit Amelia im Schloss, eine nicht ganz ungefährliche Sache. Deshalb musste sich Amelia nun auch etwas beeilen. Sie hielt Ausschau nach einem Stand, an dem Kleider verkauft wurden. Dabei sah sie jedoch etwas anderes. Der gleiche Mann, der sie vorhin schon beobachtet hatte, starrte sie nun offen an. Und dann wusste Amelia auch, wer er war. Es war Nedan, der oberste Kriegsherr und der Mann, der ihrem Vater am nächsten stand. Und er war kurz davor, sie zu erkennen. Panik durchfuhr sie. Wenn ihr Vater von diesem Ausflug erfuhr, würde er sie vierundzwanzig Stunden am Tag überwachen lassen. Sie wandte sich ab und ging schnell weg, weg von dem Mann, der ihre Freiheit in der Hand hielt. Er war kurz davor gewesen, sie zu erkennen, womöglich hatte er es sogar schon getan. Nun würde er sicher schnurstracks zum Schloss eilen um nachzusehen, ob sie dort war. Sie musste zurück zum Schloss. Und zwar schnell. Sie versuchte, sich einen Weg zwischen den Leuten zu bahnen, aber es war zu voll. Bald achtete sie nicht mehr darauf, wer sie anschaute, sie wollte nur noch weg. Dann jedoch blieb ihr Kopftuch an der Ecke eines Standes hängen und entblößte ihr langes, blondes Haar. Sie lief weiter, trotzdem hörte sie das Raunen und das Getuschel der Leute. Ein kleines Mädchen in schäbiger Kleidung fragte seine Mutter: „Ist das nicht Prinzessin Amelia?“ Mehr und mehr Menschen wurden auf sie aufmerksam. Genau das, was Amelia vermeiden wollte. Ein Pferd drängte sich durch die Menge, direkt auf sie zu. Sie wollte sich verstecken, aber sie fand keinen Ausweg. Der Reiter kam direkt auf sie zu. Wenn er sie nun mit offenen Haaren sah würde es für ihn keinen Zweifel daran geben, wer sie war. Die Menge machte Platz, um den Reiter durch zulassen. Amelia blickte auf den Boden. Der Reiter blieb direkt vor ihr stehen. Langsam hob sie den Blick, doch zu ihrer Überraschung war es nicht Nedan, den sie sah. Es war ein junger Mann, zweifellos gut gekleidet, mit braunen Haaren, die ihm bis zum Kinn gingen und einem fremdländisch wirkendem, leicht spitzen Gesicht. „Steigt auf, Prinzessin. Ich bringe Euch von hier fort.“ Amelia hatte keine Zeit, sich zu wundern, wer der Fremde war oder wieso er ihr helfen wollte. Geschickt sprang sie hinter ihm auf das Pferd und sie galoppierten davon. Sie genoss es, gemeinsam mit dem Fremden zu reiten, der sein Pferd direkt auf das Schloss zusteuerte. Er führte es nicht zum Haupteingang, wie Amelia es erwartet hätte, sondern zu einem kleinen Nebeneingang, einem Pfad, der zur Hinterseite des Schlosses führte. Das Pferd blieb stehen und der Fremde sprang geschickt ab. Er reichte Amelia seine Hand um ihr vom Pferd zu helfen. Sie ergriff sie zaghaft. Sie setze gerade dazu an, ihm zu danken, aber er schnitt ihr mit einer leichten Handbewegung das Wort ab und verneigte sich. Nicht so tief, wie es sich geziemt hätte. Amelia fand dies zwar überraschend, aber auf eine gewisse Art und Weise erfreulich. Es gefiel ihr, wie andere Menschen auch behandelt zu werden. „Es war mir eine Ehre.“, sagte er und sah ihr dabei tief in die Augen. Sie lächelte ihn an. Der Fremde wandte den Blick ab und stieg wieder aufs Pferd. Er nickte Amelia noch einmal kurz zu, dann ritt er davon. Sie blickte ihm einen Moment hinterher, dann eilte sie auf das Schloss zu. Sie musste sich sputen. Zwar hatte sie dadurch, dass der Fremde eine Abkürzung durch den Schlosspark genommen hatte, etwas Zeit gespart, trotzdem hatte sie nicht viel Zeit. Sie eilte den Weg entlang, vorbei an dem Rosengarten. Sie hatte nur selten einen Blick für ihn übrig. Amelia betrat das Schloss. Der Gang, den sie benutze, führte direkt in das Zimmer, das neben ihrem lag. Die Tür quietschte, als Amelia sie öffnete. Sie musste mal wieder geölt werden, dachte sie bei sich und lief die Treppe hoch. Die Tür im zweiten Stockwerk ließ sich leiser öffnen. Sie warf einen prüfenden Blick in den Korridor. Birgit saß auf einem Stuhl vor Amelias Zimmer und strickte. Bei dem Geräusch der Tür blickte Birgit auf. Amelia lächelte ihr kurz zu, dann huschte sie auf sie auf ihre Zimmertür zu. „Verschaff mir soviel Zeit wie möglich“, wies Amelia an. Birgit knickste leicht, dann setzte sie sich wieder und Amelia betrat ihr Zimmer. Sie ging direkt zu ihrem Kleiderzimmer. Sie schlüpfte aus Birgits Kleid und griff nach einem ihrer Kleider. Schnell zog sie es an, sie hatte jedoch keine Zeit dafür, es richtig zuzubinden. Deshalb legte sie sich einen Mantel über die Schultern. Sie hatte zu wenig Zeit… Schnell lief sie in ihr Badezimmer das direkt neben der Kleiderkammer lag. Sie wusch sich das Gesicht, den Hals und die Arme. Dann hörte sie Stimmen im Flur. „Lass mich vorbei, ich muss meine Tochter sprechen – sofort.“ Erschrocken richtete Amelia auf. Sie lief zurück in ihr Zimmer. Dort blieb sie stehen und sah sich panisch um. Es wäre zu auffällig, wenn sie einfach herumstehen würde. An der gegenüberliegenden Wand stand ihr riesiges Bett, aber ins Bett legen konnte sie sich wohl kaum. Ihr Blick wanderte nach links zu ihrem Schreibtisch, der vor ihrem großen Fenster stand. Darauf lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie eilte dorthin und setzte sich auf den Stuhl. Gerade als sie sich über das Buch gebeugt hatte, öffnete sich die Tür. Sie tat so, als ob das Geräusch sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt hatte. Hastig stand sie auf und strich ihr Kleid glatt. Es war ihr Lieblingskleid, das Einzige Kleid, das Amelia von ihrer Mutter hatte. Es war nicht nur deshalb etwas Besonderes. Amelia liebte es sehr, auch deshalb, weil es dieselbe Farbe wie ihre Augen und auch wie die ihrer Mutter hatte, es war dunkelblau und aus feinstem Satin. Amelia fragte sich, ob es auffiel, dass sie das Kleid nicht richtig angezogen hatte…? Im Türrahmen stand ihr Vater. „Amelia! Wo warst du?“ Gekünstelt runzelte Amelia die Stirn. „Wo soll ich schon gewesen sein, Vater? Ich war die ganze Zeit hier und habe gelernt.“ Jetzt war es ihr Vater, der die Stirn runzelte. „So?“, sagte er langsam. Dann drehte er sich zu jemandem um, der hinter ihm stand. „Vielleicht hast du dich geirrt?“ Er trat einen Schritt beiseite. Hinter ihm stand Nedan. Für einen Moment stockte Amelias Herz. Dann hatte er sie also doch erkannt. Mit einem möglichst neutralen Blick sah sie Nedan an. Eine zeit lang hatte sie für ihn geschwärmt. Für sie war er immer der starke, elegante Mann gewesen, die rechte Hand ihres Vaters. Er war zwar beinahe doppelt so alt wie sie, aber er hatte schon immer recht gut ausgesehen. Er war groß und muskulös, hatte ein kantiges Gesicht und braune Haare. Seine Augen waren nahezu schwarz. Nun blickten diese Augen sie berechnend an. Seine schmalen Lippen zuckten leicht. Einen Moment lang versuchte er, sich zu beherrschen, dann jedoch glitt ein leises Lächeln über sein Gesicht. Anscheinend erinnerte auch er sich an die vergangenen Zeiten. Er hatte sie letztendlich zurückgewiesen, obwohl er durch sie König hätte werden können. Sie hatte ihm damals gezeigt, was in ihr steckte. Er wusste, dass sie sich schon oft als Bürgerliche verkleidet hatte. In dem Moment, in dem er sie auf dem Marktplatz gesehen hatte, empfand er nur Loyalität für den König und das Land, aber nun, als er direkt vor ihr stand, siegte seine Sympathie ihr gegenüber. Obwohl er sich nicht auf Amelia einlassen wollte, schätzte er sie jedoch sehr. „Ich muss mich wohl doch getäuscht haben. Tut mir sehr Leid, Ronaín.“ Amelias Vater blickte ihn ärgerlich an. Er war allerdings klug genug um zu begreifen, dass er dieses Mal nichts erreichen konnte. „Also gut. Dann ist ja alles geklärt.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Raum. Nedan blieb noch einen Moment stehen, lächelte ihr leicht schelmisch zu und verneigte sich kurz. Dann ging auch er hinaus. Kurze Zeit nachdem Nedan den Raum verlassen hatte klopfte es zaghaft an der Tür. „Komm herein, Birgit.“, sagte Amelia, während sie gerade dabei war, den Mantel abzunehmen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Birgit betrat den Raum und knickste leicht, dann ging sie auf Amelia zu, um ihr beim Zuschnüren des Kleides behilflich zu sein. Anschließend gingen sie gemeinsam hinaus in den großen Garten. Einen Moment liefen sie schweigend nebeneinander her. Amelia musste an Nedan denken, aber auch an ihren geheimnisvollen Retter vom Marktplatz. Birgit bemerkte, in welcher Stimmung sich ihre Herrin befand. Sie überlegte sich gerade eine Möglichkeit, wie sie sie am besten ablenken konnte, als Amelia ihr die Arbeit abnahm. „Lass uns in den Wildblumengarten gehen. Ich möchte sehen, wie sie sich entwickelt haben.“ Der Wildblumengarten war der Lieblingsgarten der Prinzessin. Sie verbrachte im Frühling viel Zeit damit, den Garten vom Unkraut zu befreien und sich um die Blumen zu kümmern. Auch das war etwas, was ihrem Vater missfiel, aber es war seiner Meinung nach das geringere Übel, an dem er nicht so viel Anstoß nahm. Gemeinsam machten sich Amelia und Birgit sich auf den Weg. Die wenigen Menschen, die ihr dabei über den Weg liefen und sich vor ihr verneigten, beachtete Amelia dabei gar nicht. Sie selbst hatte sich vor einigen Jahren dafür eingesetzt, dass die Bürgerlichen Teile des Schlossparks mit benutzen durften, da es sonst nicht sehr viele Grünanlagen in der Stadt gab. Nach einigem diskutieren hatte ihr Vater schließlich zugestimmt. Er hatte es nie zugegeben, aber Amelia wusste, dass Ronaín ihre Durchsetzungsfähigkeit sehr schätzte. Amelia und Birgit betraten den Wildgarten, der wieder nur für die Bewohner des Schlosses zugänglich war. Amelia genoss den Anblick des Gartens. Die letzten Blumen des Jahres blühten, die Bäume waren nahezu vollkommen kahl und überall lagen bunte Blätter herum, Blätter, die, hätten sie in einem anderen Teil des Schlossgartens gelegen, auf der Stelle weggefegt worden wären. Amelia bückte sich, um einen verspäteten Marienkäfer auf ihren Finger zu nehmen. Sie wusste, dass es sich für eine Dame ihres Ranges nicht gehörte, aber das war ihr egal. Sie hatte es sich ja schließlich nicht ausgesucht. Birgit machte sich daran, Unkraut auszureißen während Amelia einfach nur dastand und dem Marienkäfer zuschaute, der erst einmal quer über ihre Handfläche wanderte und dann die kleinen Flügel ausbreitete und weg flog. Einen Moment verharrte sie noch regungslos, dann bückte sie sich und half Birgit bei ihrer Arbeit. Birgit und Amelia waren gerade fertig geworden, als der erste Regentropfen vom Himmel fiel. Sie beeilten sich, in das Schloss zu kommen, aber es regnete plötzlich wie aus Eimern. Nass und durch gefroren betraten sie schließlich die große, düstere Vorhalle. Wieder eine Sache, die Amelia auf das Gemüt schlug. Alles in ihrem Heim wirkte so bedrückend. Amelia befahl Birgit, heißes Wasser für ein Bad bringen zu lassen und anschließend selber ein Bad zu nehmen. Sie ging hinauf in ihr Zimmer. Bald kamen Mägde und brachten das Wasser, dann verschloss Amelia die Tür und entkleidete sich. Das schöne Kleid sah ziemlich mitgenommen aus, aber es hatte schon viel mehr überstanden als ein bisschen Gartenarbeit und etwas Regen. Langsam stieg sie in sie Wanne und genoss die wohltuende, entspannende Wärme während draußen der Himmel dunkler wurde und ein Sturm aufzog.
Amelia wachte beim Morgengrauen auf. Sie hatte schlecht geschlafen in der vergangen Nacht, die ganze Zeit über hatte es gestürmt und sogar jetzt noch, als alles bereits vorbei war, hörte sie immer noch das Heulen des Windes, der durch die Gänge zog, das Knarren der sich im Wind biegenden Bäume und das Kratzen der Äste am Fenster. Sie stand auf und zog sich ihren Morgenmantel an, dann verließ sie ihr Zimmer und machte sich auf den Weg in die Küche. Sie war sehr hungrig, da sie am vergangenen Tage nichts zu Abend gegessen hatte sondern stattdessen direkt nach dem Baden zu Bett gegangen war. In der Küche war noch nicht so viel los. Manda, die Köchin, grüßte sie angemessen und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Sie war es von Amelia schon gewöhnt, dass sie des Öfteren in die Küche kam. Amelia empfand keine große Sympathie für die Herdmeisterin, denn sie war eine herrische, unsympathische Frau die die Dienstmädchen wie Sklaven benutzte. Wieder musste Amelia an das Mädchen von Markt denken, dessen Brote so köstlich geschmeckt hatten und plötzlich war sie sogar etwas erleichtert, dass sie sie nicht ins Schloss holen konnte, denn dann wäre sie schutzlos Manda ausgeliefert gewesen. Das Mädchen war so zart gewesen, fast so wie... Birgit. Vielleicht kannte Birgit das Mädchen ja? Sie würde sie einmal fragen. Amelia nahm sich ein Stück Brot, das in einer Schale lag, und verließ den Raum. Während Amelia sich wieder auf den Rückweg in ihr Zimmer machte, dachte sie über die Verhandlungen nach, die ihr Vater im Moment führte. Er erzählte ihr nicht viel, aber das was sie wusste, beunruhigte sie. Ronaín gab vor, den Vertrag mit Irmadin nur deshalb unbedingt zu brauchen, damit Verderis mit anderen Ländern Handel betreiben konnte, doch es sprach sich herum, dass das nicht alles war. Man sagte, dass er plante, mit Irmadin und auch anderen Ländern einen Feldzug gegen andere Länder auf einem anderen Kontinent zu gehen. Niemand wusste, ob es stimmte und wenn, wieso er es tun sollte, aber Nedan soll schon dabei sein, Verderis´ Streitkräfte zu sammeln. Aber mich geht das alles natürlich nichts an, dachte Amelia ironisch. Ich bin schließlich ein Mädchen. In ihrem Zimmer angelangt setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Sie schlug das Buch auf und vertiefte sich einen Moment in die Geschichte Verderis´, dann klopfte es leise an der Tür, es war das ihr so sehr vertraute Klopfen, dass sie normalerweise morgens aus dem Schlaf riss. Die Tür öffnete sich und Birgit trat ein. Während Birgit Amelia beim Ankleiden half erzählte sie ihr den neuesten Klatsch und Tratsch. Die Bediensteten bekamen viel mit. „... und bald soll ein fremder Königssohn anreisen, um die Verhandlungen des Königs mit euch zu beenden und den Vertrag unterschreiben. Man munkelt, dass er die Prinzessin – also Euch – heiraten soll. Euer Vater veranstaltet ein Ball, um den Prinzen zu empfangen. Er wünscht natürlich Eure Anwesenheit. Er bat mich, Euch auszurichten, dass er Euch nach Eurem Unterricht in seinem Arbeitszimmer erwartet.“ Amelia sagte nichts zu alledem, was Birgit ihr erzählte. Es war nur Gerede, mit einem mittleren Maß an Wahrheit. Aber vielleicht stimmte es dieses Mal. Vielleicht musste sie diesen Prinzen wirklich heiraten. Wie er wohl war? Ob er gut aussah? Aber was konnte er für ein Mensch sein, wenn er einem sinnlosen Krieg zustimmte – falls das nicht auch nur ein dummes Gerücht war. Amelia wünschte sich, ihr Vater würde ihr mehr Vertrauen. Doch er erzählte ihr nur wenig von seiner Politik und seinen Plänen. Für ihn war sie nicht seine Tochter, die zukünftige Königin von Verderis, sondern nur die dumme Frau des Neuen Königs. Wenn Amelia den Prinz wirklich heiraten musste, so würde der König diesem Prinz bestimmt mehr von seiner Politik verraten als ihr. Eifersucht und Zorn durchströmte Amelia, und sie presste die Lippen aufeinander. Wer war dieser Prinz schon, dass er Ansprüche auf ihr Land hatte? Dass er Ansprüche auf sie hatte? „Ihr müsst Euch beeilen, Euer Unterricht beginnt bald.“, riss Birgit ihre Herrin aus den Gedanken. „Du hast Recht.“, erwiderte Amelia nur knapp. Dann verließ sie den Raum mit ihrem Buch in der Hand und ging zu dem kleinen Zimmer im unteren Stockwerk, in dem sie unterrichtet wurde.
Es war sterbenslangweilig. Die Minuten verstrichen langsam und schleppend, und Amelia war zu einem Teil erleichtert, als der Unterricht endlich vorbei war, andererseits bedeutete das Ende des Unterrichts, dass sie sich zu ihrem Vater begeben musste. Amelia war sich sicher, dass sie nicht gerade begeistert von den Neuigkeiten sein würde, die ihr Vater ihr mitteilen wollte. Sie ging noch einmal in ihre Kammer und wusch sich das Gesicht. Ihr Vater legte stets großen Wert auf gepflegtes Aussehen. Dann machte sie sich auf den Weg. Das Arbeitszimmer ihres Vaters lag zwar im gleichen Stockwerk wie ihre Kammer, allerdings musste sie eine weite Strecke laufen und sogar einige Treppen benutzen um es zu erreichen, denn es lag genau auf der anderen Seite des Schlosses. Sie beeilte sich, zu ihrem Vater zu gelangen. Am liebsten wäre sie sehr, sehr langsam gegangen, aber sie musste zu ihm, und dann konnte sie es genauso gut jetzt schon hinter sich bringen und nicht auch noch ihren Vater noch mehr reizen, indem sie zu spät kam. Schließlich war sie da. Sie stand vor der großen Tür und klopfte kurzerhand an. Wozu es noch länger hinauszögern? Sie hörte eine leise Antwort ihres Vaters und deutete das undeutliche Gemurmel als „herein“. Langsam öffnete sie die Tür und trat in das Zimmer hinein. Das Arbeitszimmer ihres Vaters war kleiner als ihre Kammer, es war mit dunklem Holz getäfelt und besaß nur ein einziges Fenster, das zum Haupteingang des Schlosses zeigte. Es war sehr schlicht eingerichtet, kein einziges Bild hing an der Wand. Amelia setzte sich auf einen der Sessel vor dem Kamin, gegenüber vor dem, auf dem ihr Vater saß. „Ich werde es kurz machen“, sagte ihr Vater, ohne sie zu begrüßen. „Über meine Bemühungen, einen Friedensvertrag mit Irmadin zu schließen, habe ich dich ja schon unterrichtet. Der Prinz aus Irmadin wird uns bald besuchen, um Verderis zu sehen wie die Prinzessin – also du – sich benimmt, und um, wenn es zu einer Einigung kommen sollte, den Vertrag zu unterzeichnen. Ich erwarte von dir also vornehmliches Benehmen.“ Er wartete einen Moment, ob Amelia etwas dazu zu sagen hatte. Sie nickte jedoch nur knapp. Darauf hin sprach er weiter. „Das ist alles. Die Vorbereitungen für das Eintreffen des Prinzen laufen bereits und ich habe noch viel zu organisieren, wenn du mich nun also bitte entschuldigen würdest...“. Amelia war etwas überrascht. Das war alles? Kein Wort über Krieg? Oder eine Hochzeit mit diesem Prinzen? Zuerst wollte sie etwas sagen, dann aber überlegte sie es sich anders. Sie stand auf, knickste kurz und verließ dann den Raum. Langsam ging sie zurück zu ihrem Zimmer. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Es war nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Mitten auf dem Flur blieb Amelia stehen. Sie hatte nicht wirklich große Lust dazu, der neugierigen Birgit zu erzählen, was ihr Vater ihr gesagt hatte. Sie würde es auch auf anderem Wege erfahren. Also beschloss Amelia, hinaus in den Park zu gehen und etwas frische Luft zu schnappen. Sie ging zu einem nahe liegenden Ausgang und verließ das Schloss. Sie befand sich in der Nähe eines Flusses, der durch den Schlossgarten floss. Langsam ging schlenderte sie auf ihn zu, dann setzte sie sich auf einen großen Stein und beobachtete das Fließen des Wassers. Dabei war sie so in ihre Gedanken vertieft dass sie erst bemerkte, wie dunkel es geworden war, als sie anfing zu frieren. Wie spät es jetzt wohl ist, fragte sich Amelia und stand auf. Birgit würde sie mit Sicherheit schon vermissen. Sie machte sich auf den Weg zu ihrer Kammer, vorbei an dem Wildblumengarten. Sie blickte beim Vorbeigehen hinein und blieb dann überrascht stehen. Er war nicht leer, so wie sie erwartet hatte. Eine dunkle Gestalt stand dort mitten auf dem Weg, mit dem Rücken zu ihr. Langsam und lautlos ging Amelia weiter. Sie war sich sicher, kein Geräusch gemacht zu haben, dennoch drehte sich die Gestalt zu ihr um und starrte sie an. „Zu so später Stunde allein im Garten, Prinzessin?“, murmelte die Gestalt. Amelia kannte die Stimme nicht, es war die eines Mannes. „Ihr solltet besser auf Euch aufpassen. Was wäre, wenn Euch nun jemand Schlagen würde, oder gar schlimmeres? Niemand würde Eure immer leiser werdenden Hilfeschreie hören.“ Er trat einen Schritt auf Amelia zu. Sie wich zurück. Ihr wurde bewusst, wie Recht dieser Mann hatte. Was hatte sie sich dabei gedacht, alleine bei Dämmerung durch den Park zu gehen? Gerade jetzt, wo den Gegnern des Bündnisses von Verderis und Irmadin jedes Mittel recht war, um die Verhandlungen zu stoppen und den Krieg zu verhindern? Der Mann tritt einen weiteren Schritt auf Amelia zu, wieder wich sie zurück. Dann stand sie plötzlich mit dem Rücken an einer Mauer. Panisch blickte sie sich um. Es gab keinen Ausweg mehr. Ein kaum noch zu erkennendes, triumphierendes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. Dann trat er einen letzten, großen Schritt vorwärts.
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2010
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