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Prolog


Die Turmuhr schlug zehn Mal, als sich das Gremium der kleinen Stadt auf dem Marktplatz traf und über Katsanas Schicksal entscheiden wollte. Ein heftiges Unwetter lag über Sencar, und allein schon die Tatsache, dass sieben Gestalten sich bei diesem Wetter und zu dieser späten Stunde trafen, allesamt in lange Gewänder gehüllt, und dass sie sich betont unauffällig und leise bewegten, hätte jeden aufmerksam werden lassen, der in diesem Moment aus einem Fenster der Häuser um den Platz gesehen hätte. Und wer dem Geschehen nur für einen Moment mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte als dem undichten Dach, den schreienden Kindern und der keifenden Frau, der hätte sicher auch eine weitere, kleine Gestalt bemerkt, die sich, ungesehen von den großen Ratsherren, leise und vorsichtig an sie heran geschlichen hatte. Aber niemand sah aus dem Fenster, und auch das Gremium nahm keine Notiz von dem Mädchen, so sehr waren sie auf ihre eigene Sache konzentriert. Eine Weile standen sie noch unschlüssig herum, ein kleines Stück entfernt von dem Stand einer Obstverkäuferin, hinter dem sich das Mädchen versteckt hatte, dann eröffnete der kleinste von ihnen die Versammlung. Mit hoher Stimme raunte er: „Wir haben uns heute hier versammelt, um eine wohl überlegte und vernünftige Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung wegen Katsana. Ihr alle wisst, was geschehen ist. Was denkt ihr, ist zu tun?“ Ein großer, breitschultriger Mann erhob das Wort. „Sie ist noch fast ein Kind. Sie weiß nicht, was sie tut.“ „Danach können wir nicht richten! Du weißt, was passiert, wenn sie noch länger bleibt.“, unterbrach ihn ein kleiner, stämmiger Mann. „Wir sollten sie verbrennen, sie ist eine Hexe!“, rief jemand dazwischen, und andere stimmten mit ein. „Ihr wisst, dass das nicht stimmt“, widersprach nun der große Mann und einige murrten. Der stämmige Mann, dessen Gesicht nun die Farbe von einer überreifen Tomate hatte, sprach wütend: „Sie mag vielleicht keine Hexe sein. Aber hier bleiben kann sie auch nicht!“. „Vielleicht doch, wenn...“ „Nein.“. Mit einem Mal wurde es ruhig. Tanya, die einzige Frau in dem Gremium, hatte ihren Blick gehoben. Ein Blitz erhellte die Versammlung für einen Moment und die Ratsmitglieder sahen mit Schrecken die leuchtenden Augen der Frau, die ihren Blick nun auf das Gesicht des großen Mannes gerichtet hatte. „Arjas, sie haben Recht. Wenn sie hier bleibt, wird großes Unglück über uns kommen, wenn sie fortgeht, wird es einer anderen Stadt wie uns ergehen. Sie dir dieses Unwetter an. Glaubst du wirklich, es läge an der Jahreszeit? Wir hatten sonst nie so früh solche Stürme, und auch nie so stark. Nein, sie ist wütend. Sie weiß nicht, was sie tut, das stimmt, aber niemand kann ihr helfen. Es gibt keinen anderen Weg. Es ist ein Wunder, dass wir sie so lange festhalten konnten. Morgen früh wird das Urteil besiegelt. Gibt es Einwände?“ Prüfend blickte Tanya in die Runde. Bei Arjas blieb sie hängen. Einen Moment schaute er sie verzweifelt und voller Trotz an, dann senkte er den Blick. Er wusste sehr gut, dass er keine Chance gegen Tanya hatte, und das in jeglicher Hinsicht. „Gut. So soll es sein.“, sagte Tanya noch. Einen Moment verweilte sie, dann ging sie zügig davon. Dabei kam sie direkt zum Versteck des Mädchens. Als sie daran vorbei lief, brach ein besonders starker Blitz zwischen den Wolken hervor. Prüfend blieb Tanya stehen und sah sich um. Für einen kleinen Moment sah Arjas Angst in ihren Augen, dann wandte sie sich jedoch wieder um und ging weiter, als wäre nichts passiert und als hätte sie nicht gerade ein Mädchen zum Tode verurteilt. Als sie verschwunden war, verließen auch die anderen Mitglieder des Gremiums schnell den Platz, während sie dem Himmel immer wieder ängstliche Blicke zuwarfen. Nur Arjas blieb zurück. „Es tut mir Leid, meine Prinzessin...“, murmelte er dann und ging in die Richtung, in die auch Tanya gegangen war. Das Mädchen war sich sicher, dass Arjas sie nicht bemerkt hatte, doch trotzdem erschrak sie beim Klang seiner tiefen Stimme und zog ihren Kopf zurück. Als er an dem Stand vorbei ging, sah sie eine Träne, die über seine Wange lief und sich dann mit dem Regen vermischte. Und während er sich immer weiter entfernte, wurde das Unwetter immer schwächer, bis es nur noch dicke, schwere Tropfen regnete. Schließlich erhob sich das Mädchen und ging geradewegs zum Osttor, um die Stadt zu verlassen. Von dort warf sie einen letzten Blick zu dem Palast, wo Tanya wohnte und wo sie gefangen genommen worden war. Ein einzelner Blitz fand seinen Weg durch die Wolkendecke und schlug im höchsten Turm ein. Dann wandte sie sich ab und ging in eine ungewisse Zukunft.

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Tag der Veröffentlichung: 02.06.2010

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