MIA
Ganz in Gedanken versunken laufe ich durch die Stadt, vorbei an Restaurants, Eisverkäufer, Modegeschäften und was es sonst noch so in einer Stadt gibt. Das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite und strahlt mit den eisessenden Kindern um die Wette. Dieser Tag hat ganz normal angefangen und wird wohl auch so enden. Seit Wochen ist nichts spannendes mehr passiert. Ist ja auch kein Wunder. Ich bin noch nie gross ausgegangen und habe somit auch keine neuen Gesichter kennen gelernt. Aber im Moment ist das ganz gut so. Wenn es sein soll, wird schon wieder was passieren.
Gerade als ich beschliesse eines meiner Lieblingsgeschäfte zu betreten, stosse ich an der Tür mit jemandem zusammen.
,,Hoppla!'', rufe ich erschrocken und zucke zusammen.
,,Entschuldige, ich..'', der rest bleibt mir im Hals stecken.
,,Das gibt es ja nicht! Tina!'', rufe ich und dieser Jemand, ein Mädchen oder besser gesagt eine junge Frau, sieht mich genauso überrascht an.
,,Mia! Hey!'' Wir umarmen uns und vergessen ganz, dass wir noch mitten in der Tür stehen. Naja, so lange bis sich jemand an uns vorbeizwängt und wir uns auf die Seite stellen.
,,Wie geht's dir so?'', frag ich sie.
,,Ganz gut und dir?''
,,Kann nicht klagen. Mensch, das ist ja eine Ewigkeit her.''
,,Ja schon. Wollen wir uns dort hinsetzen?'', fragt sie mich und zeigt auf ein freie Bank- leider an der prallen Sonne. Nicht meine erste Wahl, aber sonst würde nur noch der Boden zur Verfügung stehen und das Risikio zertrampelt zu werden, will ich dann doch nicht eingehen. Wir setzen uns also hin und zuerst erzähle ich ihr über mein Leben einige Dinge und dann ist sie an der Reihe. Sie arbeitet als Kosmetikerin in der Nähe und hat heute ihren freien Tag.
,,Was macht dein Bruder?'', frage ich dann. Früher war ich ziemlich in ihren Bruder verknallt gewesen. Meine erste Liebe, bei der es leider nur für eine Freundschaft gereicht hatte. Aber ja, das war Vergangenheit.
,,Nico? Tja...das ist der grosse Schatten in meinem Leben.''
Wie jetzt? Die beiden haben sich doch immer gut verstanden?
,,Habt ihr euch verkracht?'', frage ich vorsichtig.
,,Nein, das nicht. Das wäre ja nur halb so tragisch. Es ist so: Vor ein paar Wochen, sechs um genau zu sein, hatte er einen Unfall mit dem Auto und liegt seither im Koma. Zur Zeit ist er stabil und wir können noch hoffen. Aber es gibt genauso wenig Anzeichen für ein Erwachen, wie für ein ewiges Einschlafen.''
Die letzten zwei Worte hat sie leise geflüstert. Ich bin schockiert. Nico? Im Koma? Tina merkt offensichtlich, wie geschockt ich bin.
,,Ja, es hat uns alle sehr erschüttert. Das einzig Positive daran ist, dass dieser Unfall unsere Eltern, die ja geschieden sind, wieder etwas zusammengeschweisst hat. Nicht so, dass sie wieder ganz zueinander finden könnten, aber immerhin als Eltern gut funktionieren.''
,,Hm...das war vorher nicht so?''
,,Nicht immer, nein.''
,,Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Das ist so schrecklich.''
,,Wenn du willst, kannst du ihn besuchen.''
,,Dürfen da nicht nur Verwandte rein?''
,,Wenn ich mitkomme und sage, dass es in Ordnung ist, geht das schon.''
Hm...dieser Gedanke verursacht ein leises Kribbeln in meiner Bauchgegend. Wieso auch immer. Ich habe ihn, wie auch seine Schwester, seit ungefähr acht Jahren nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich macht mich dieser Gedanke deshalb so nervös.
,,Ja...wieso nicht?'', antworte ich schliesslich zögernd.
,,Dann komm.''
,,Wie, jetzt?'', frage ich etwas überrascht und hoffe, dass sie meine Nervosität nicht merkt.
,,Klar, ist ganz in der Nähe von hier.'' Also machen wir uns auf den Weg zum Krankenhaus.
Hatte ich nicht gerade noch vor kurzem gemeint, dass mein Tag normal angefangen und wohl genauso normal wieder enden würde? Und das seit Wochen nichts spannendes mehr in meinem Leben passiert sei?
Tja, die Spannung und somit auch die Nervosität sind wieder zurück!
MIA
20 Minuten später warten wir am Empfang darauf, dass die Empfangsdame fertig telefoniert hat und uns ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
,,Hallo ihr zwei. Wie kann ich euch helfen?''
,,Wir wollen meinen Bruder Nico besuchen. Er liegt auf der Intensivstation.''
,,Dann müsst ihr mit dem Aufzug in den zweiten Stock, links den Flur entlang und euch an einen anwesenden Arzt wenden, der euch dann zu ihm lässt.'' Wir bedanken uns und machen uns auf den Weg.
,,Als ich letztes Mal herkam und selbständig raufging, wurde ich angeschnautzt. Die Schwester war wohl schlecht drauf. Jedenfalls musste ich nochmals an den Empfang und sagen, dass ich zu meinem Bruder wolle. Deswegen bin ich jetzt direkt an den Empfang gegangen, damit mir sowas nicht nochmals passiert. Dabei kenn ich den Weg mittlerweile auswendig.'', meint Tina unterwegs zu mir.
Als wir dann endlich vor dieser Tür stehen und einen Arzt um Erlaubnis gefragt haben, dürfen wir rein.
Tina sagt noch:
,,Die Ärzte haben uns gesagt, wir sollen normal mit Nico sprechen. So tun, als ob er alles mitkriegt. Einfach normal über unseren Alltag erzählen. Man wisse ja nie, ob Patienten, die im Koma liegen, etwas mitkriegen oder nicht.''
Dann gehen wir endgültig rein. Das Herz klopft mir bis zum Hals und ich hab das Gefühl demnächst den Boden unter den Füssen zu verlieren. Meine Güte! Reiss dich zusammen, Mia! Und dann seh ich ihn. Verkabelt, friedlich schlafend im Bett, als wäre es das Normalste der Welt.
,,Geh ruhig näher, Mia.''
Falls er tatsächlich alles mitkriegt, müsste er jetzt wissen, dass ich da bin oder zumindest rumhirnen, welche Mia da ist. Vielleicht hat er mich ja bereits vergessen... Ich trete langsam näher an ihn ran. An der Stirn ist eine leichte Schürfwunde erkennbar. Das war wohl mal etwas grösseres als nur ein Kratzer. Seine Haare würden ihm in die Augen fallen, wenn er aufrecht sitzen würde. Jetzt aber sind sie etwas zur Seite gekämmt worden. Ein feiner Bart zeichnet sich in seinem Gesicht ab. Er sieht noch mindestens so gut aus wie ich ihn in Erinnerung hatte. Oder sogar noch besser. Männlicher, kräftiger, erwachsener. Die Ärzte haben ihm eine Sauerstoffbrille an der Nase fixiert. So kann er besser atmen.
,,Du kannst dich auch zu ihm setzen, auf den Stuhl.''
Tina hat bereits auf der anderen Seite Platz genommen und streicht ihm nun sanft über seine Hand. Ich setze mich ebenfalls hin, traue mich jedoch nicht seine Hand anzufassen. Beinahe muss ich ein wenig grinsen. Auch wenn es eine traurige Angelegenheit ist und Tina ja seine Schwester ist, kommt es mir beinahe vor wie früher, als er auch schon immer der Hahn im Korb war. Und jetzt sitzen auch zwei Mädels an seinem Bett, die sich um ihn sorgen. Tina erzählt ihm, was sie die letzten Stunden so erlebt hat (wahrscheinlich ist sie täglich bei ihm, so dass sie ihm nur Stundenweise zu erzählen braucht).
,,Ich geh mal raus, so kannst du etwas allein sein, wenn du willst. Kannst jederzeit rauskommen, wenn es dir zu viel wird oder du dich unwohl fühlst. Ist schliesslich komisch, mit einer schlafenden Person zu sprechen, die man zudem seit Jahren nicht mehr gesehen hat.''
,,Eigentlich bin ich es ja gewohnt Selbstgespräche zu führen, aber das hier ist tatsächlich etwas seltsam. Aber danke, dann bleib ich noch kurz bei ihm.''
Tina geht raus und sogleich traue ich mich kaum noch zu atmen. Was, wenn er wirklich jedes Wort, jedes Geräusch und jede Regung mitkriegt? Was soll ich denn sagen? Ich kratze meinen ganzen Mut zusammen und versuche einigermassen normal zu sprechen.
,,Tja, Nico. Ich weiss nicht recht was ich sagen soll, ich spreche nicht jeden Tag mit einer schlafenden Person. Weisst du überhaupt, welche Mia hier sitzt? Keine Ahnung, ob du noch andere Mias ausser mir kennst, aber vielleicht hast du mich ja bereits vergessen. Ist schliesslich eine Weile her. Acht Jahre, um genau zu sein. Wir waren in derselben Klasse. Drei Jahre lang. Dann sind wir uns eigentlich nicht mehr über den Weg gelaufen. Nur noch bei den letzten zwei, drei Klassenfesten. Weisst du noch? Naja, jezt weisst du bestimmt wieder, welche Mia hier sitzt. Falls du es vorhin noch nicht wusstest.'', murmle ich noch halblaut dazu.
,,Würde mich echt interessieren, ob du wirklich alles mitkriegst von meinem Geplapper oder nicht... Tja...ich denke, ich geh jetzt mal. Vielleicht wachst du ja bald wieder auf. Wäre echt schön. Du verpasst noch den ganzen Sommer. Dein Geburtstag ist ja auch schon bald. Also dann...'' Zögernd steh ich auf und laufe zur Tür. Ich drehe mich nochmals kurz um:
,,Tschüss Nico. Und...bis bald.''
Dann gehe ich endgültig raus aus dem Zimmer.
MIA
Tina und ich haben die Nummern getauscht und sie meinte, ich dürfe jederzeit wieder Nico besuchen, wenn ich wolle. Und wie ich das wollte! Ich hoffte so sehr, dass er wieder aufwachen würde.
In der Nacht habe ich ganz wirre Sachen geträumt, wie Nico mir im Schlaf sagt, dass er mich nicht hören, aber sehen könne, was ich sehr unheimlich fand, da er die Augen geschlossen hatte.
Am nächsten Tag treffe ich mich gegen halb sieben wieder mit Tina vor dem Krankenhaus. Halb sieben am Abend natürlich. Sie musste wieder arbeiten und weil ich wohl nicht ohne Verwandtenbegleitung zu Nico darf, musste ich halt auf sie warten. Aber das stört mich nicht. Hauptsache ich kann wieder zu ihm.
Zuerst geht Tina zu ihm rein und ich warte draussen. Erstens kann ich nicht gut im Beisein von anderen mit jemandem schlafendem sprechen, zweitens will Tina sicher auch etwas Zeit mit ihrem Bruder alleine verbringen und drittens wollen wir ihn ja nicht zusehr überfordern mit unserem Geschwafel, falls er alles mitbekommen sollte.
Nach 20 Minuten kommt sie raus und ich gehe rein. Ich setze mich wieder auf dieselbe Seite zu Nico und fühle mich diesmal etwas lockerer und mutiger.
,,Hey Nico. Hat Tina dich schon vorgewarnt, dass ich auch wieder antanze? Wenn ich wenigstens wüsste, ob du mich überhaupt hören kannst. Komme mir sonst echt komisch vor, wie ich da mit dir quatsche. Vielleicht nerv ich dich ja auch. Vielleicht willst du ja gar nicht anderen Besuch ausser deiner Familie.'', sage ich nachdenklich und fast automatisch greife ich nach seiner Hand. Ich streichle vorsichtig über seine Finger und lasse meine Hand bei seiner liegen. Gerade so, dass sie sich noch berühren. Plötzlich zucken seine Finger. Oder war es die ganze Hand? Es ist zu schnell gegangen und ich hab überhaupt nicht damit gerechnet.
,,Nico? Hast du gerade gezuckt? Hörst du mich etwa? Oder ist sowas normal, wenn man im Koma liegt? Schliesslich hab ich manchmal auch so meine Zuckungen.'', sage ich und muss etwas grinsen.
,,Man man man... sag doch was, Nico. Selbstgespräche führe ich eigentlich nur bei mir zu Hause wo mich keiner hören kann und nicht hier, wo ein armer hilfloser Patient meinem Gequassel ausgeliefert ist. Aber der Arzt meinte ja, wir sollen normal mit dir quatschen. Aber was soll ich erzählen? Ich denke nicht, dass es dich interessiert, was ich erzähle... Ich geh jetzt besser wieder. Vielleicht wachst du ja bald auf, damit du mir nicht mehr unfrewillig zuhören musst. Bis irgendwann.'', verabschiede ich mich und laufe mit einem leicht traurigen Gefühl zur Tür und trete auf den Flur hinaus.
,,Na? Alles klar?'', fragt mich Tina.
,,Seine Hand oder Finger haben gezuckt. Ist das normal?''
,,Ja, sowas kann vorkommen. Zuckungen haben schliesslich auch welche, die nicht im Koma liegen.''
,,Hm.'', mache ich und denke bei mir, dass es also vielleicht doch kein Zeichen war, dass er mich hören konnte. Ach, was solls. Keine Ahnung ob ich überhaupt nochmals zu ihm gehen werde.
Das sage ich auch Tina, als wir ein paar Minuten später vor dem Krankenhaus stehen und sich unsere Wege bereits wieder trennen.
,,Wieso denn nicht, Mia?''
,,Ich weiss nicht...vielleicht hat er gar keine Lust auf meine Anwesenheit. Vielleicht will er nur Besuch von der Familie oder seinen Freunden.''
,,Du gehörst genau so zu seinen Freunden, auch, wenn der Kontakt mit den Jahren etwas eingeschlafen ist. Aber er hat dich immer gern gehabt, das weiss ich.'' Diese Aussage verursacht ein warmes Gefühl in meinem Bauch und ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
,,Du bist immer noch in ihn verliebt, hab ich recht?'', fragt mich Tina lächelnd, die mich beobachtet hat.
,,Naja...kann sein...'', druckse ich herum.
,,Mia, morgen besuchen wir ihn wieder. Ich weiss genau, dass er das will. Deine Anwesenheit wirkt beruhigend und aufmunternd auf ihn. Du starrst nicht Löcher in die Luft, heulst nicht rum und redest auch nicht davon, wie furchtbar das alles ist. Nicht so, wie unsere Mutter es macht. So etwas tut einem Patienten nicht gut. Deine Art ist viel hilfreicher. Bitte, Mia. Morgen wieder um dieselbe Zeit hier, okay?''
Sie sieht mich bittend an. Tja, wie könnte ich da nein sagen, bei so lieben Worten? Und vielleicht hat sie ja auch recht.
,,Na gut.'', nicke ich schliesslich und dann verabschieden wir uns wieder für die nächsten 24 Stunden bis zum nächsten Besuch.
MIA
Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Selbe Zeit, selber Ort, nur dass Tinas und Nicos Mutter noch dabei ist.
,,Das ist lieb von dir, Mia, dass du Nico auch besuchen kommst. Er freut sich bestimmt.''
,,Das hab ich ihr auch gesagt. Und Mama, bitte versuch mal ein wenig lockerer zu sein. Deine trübe Stimmung wirkt sich sonst noch auf Nico aus. Hat auch der Arzt gesagt.''
,,Ich weiss, Tina. Aber so einfach ist das nicht. Ich meine, was wenn Nico nie wieder aufwachen wird?''
,,Soweit dürfen wir gar nicht denken. Im Moment ist er stabil und wir können hoffen und beten und ihm gut zureden.''
Tinas Mutter seufzt. Seit wir hier sind, hab ich sie nur mit Sorgenfalte zwischen der Stirn gesehen. Ein bekümmerter Ausdruck liegt in ihren Augen und das Tränenwasser steht ihr zuvorderst. Ich kann sie verstehen, aber auch Tina. Und ich muss mehrheitlich Tina zustimmen. Was bringt es Nico, wenn man bei ihm nur heult und jammert? Nichts.
Tina lässt zuerst ihre Mutter zu Nico rein.
,,Zulange will ich sie nicht alleine lassen. Sonst heult sie ihm doch noch die Ohren voll.'', meint sie zu mir.
,,Kann ich verstehen. Also, was du zu ihr gesagt. Aber genauso kann ich verstehen, wie schwer das für deine Mutter sein muss.''
,,Ich weiss. Aber sie müsste sich wirklich mal zusammenreissen. Eigentlich müsste sie das, was ich ihr gesagt habe, zu mir sagen, wenn ich jetzt weinen würde. Aber das kann sie nicht. Sie lässt sich zu sehr fallen.''
Als Tina dann rein geht, nehme ich meine Kopfhöhrer aus der Tasche und versuche mich zu entspannen. Es läuft grade mein Lieblingslied von Unheilig Geboren um zu Leben. Da kommt mir plötzlich eine Idee...
Fünf Lieder später darf ich als nächstes zu Nico rein. Tinas Mutter kommt tatsächlich wieder verheult nach draussen und Tina sieht mich Augenverdrehend an. Ich werfe ihr einen mitleidigen Blick zu und schliesse die Tür hinter mir. Nico liegt noch genau so da, wie gestern und vorgestern. Ich setze mich zu ihm hin.
,,Da bin ich wieder, Nico. Deine Schwester hat mich überredet wieder zu kommen, weil ich zuerst nicht sicher war, ob ich wirklich soll. Ich frage mich, wie es dir geht, nachdem jetzt deine Mutter hier war. Sie hat ja wieder nur geweint. Ich kann Tina verstehen, dass sie das nicht gut findet, wenn eure Mutter bei dir ist. Aber ich kann genauso eure Mutter verstehen. Aber ja. Mir ist vorhin eine Idee gekommen, als ich draussen gewartet habe. Ich hab zwar keine Ahnung was du mittlerweile für Musik hörst, aber dieses hier gefällt dir bestimmt. Vielleicht macht es dir ein bisschen Mut, dass du bald wieder unter uns Lebenden zurückkehrst. Das wäre wirklich schön, Nico.''
Ich nehme meine Kopfhöhrer und setze sie ihm vorsichtig auf. Ich beuge mich nah an ihn ran, damit ich die Lautstärke nochmals etwas regulieren kann. Wenn er schon so hilflos ist, will ich ihm nicht gleich das Trommelfell zum Platzen bringen. Dann setz ich mich hin und warte, bis das Lied, Geboren um zu Leben, vorbei ist. In dieser Zeit halte ich wieder seine Hand und beobachte sein Gesicht auf mögliche Regungen. Vielleicht passiert ja sowas wie ein Wunder. Soll es ja geben.
Nichts geschieht. Kein Zucken. Nicht mal bei den Fingern. Als das Lied vorbei ist, nehme ich ihm die Kopfhöhrer vorsichtig wieder ab.
,,Ach Nico. Keine Regung nichts? Ich hoffe, dass du wenigstens den Inhalt des Liedes mitgekriegt hast. Du bist geboren um zu Leben. Vergiss das nicht. Eines meiner Lieblingslieder. Das hör ich mir immer an, wenn ich mal den Lebensmut verliere. Hilft immer. Mir zumindest.''
Ich schweige kurz und streiche ihm vorsichtig über sein Handgelenk. Ich versuche mir vorzustellen, wie er plötzlich meine Hand nimmt und leicht drückt. Ich versuche es mir so fest vorzustellen, in der Hoffnung, dass es durch Telepathie klappen könnte. Natürlich tut es das nicht. Also verabschiede ich mich wieder. Ich spüre wie mich eine Welle der Traurigkeit erfasst und will nicht, dass er etwas davon mitkriegt. Schliesslich soll es ihm trotz den Umständen gut gehen.
,,Bis bald, Nico.''
Kaum verliess sie den Raum, fühlte es sich an, als würde etwas fehlen.
MIA
,,Ist es verrückt, dass ich nach so langer Zeit tatsächlich noch ein Kribbeln verspüre, wenn ich ihn wieder sehe und traurig bin, dass er mich vielleicht gar nicht hören kann?'', frage ich am Abend meine beste Freundin Juliana, die am anderen Ende der Leitung sitzt.
,,Verrückt? Du stellst fragen, Mia. Du bist verliebt! Du warst es immer! Liebe ist verrückt. Verrückt schön und du hast offensichtlich deine wahre Liebe gefunden. Jetzt ist nur noch zu hoffen, dass er wieder aufwacht und dasselbe für dich empfindet.''
,,Und was wenn nicht? Was, wenn er aufwacht, mich als normale Freundin sieht und wieder andere Mädchen kennen lernt?''
,,Dann musst du um ihn kämpfen.''
,,Ich blamiere mich bestimmt nicht schon wieder bei ihm. Das hab ich zur genüge getan und will das nie wieder machen.''
,,Dann musst du daran glauben, dass er der Richtige ist und sich eure Wege irgendwann für immer ineinander verschlingen werden. Ob das nach seinem Aufwachen ist, nach weiteren acht Jahren oder erst dann, wenn du alt und grau wirst.''
Na, so lange wollte ich dann doch nicht warten. Schliesslich habe ich schon immer davon geträumt, dass wir zwei irgendwann zusammen sein werden. Ob das nur Träumerei oder wahre Liebe ist, weiss ich nicht.
,,Sowas kann man nicht wissen.'', meint Juliana, als ich ihr das sage.
,,Einerseits spürt man, wenn man der grossen Liebe begegnet. Man weiss es, wenn sie vor einem steht. Andererseits gibt es einfach keine Garantien im Leben. Auch nicht in der Liebe. Da gibt es so viele Meinungen dazu und nicht jeder glaubt an die eine grosse Liebe, weil man Gefühle nicht steuern kann und es immer jemanden gibt, der etwas hat, was der andere nicht hat. Aber du träumst seit Jahren von ihm. Und jetzt siehst du ihn wieder und fühlst dasselbe. Wenn das nicht wahre Liebe ist, weiss ich auch nicht.''
,,Vielleicht täusch ich mich ja. Vielleicht, wenn ich ihn wieder besser kennen lerne, merke ich, dass es doch nicht passt zwischen uns. Dann waren die Träumereien umsonst.''
,,Nichts ist umsonst. Du hast von ihm geträumt. Jeder träumt von jemandem. Entweder von einer Fantasie-Figur, einem Promi oder vom Nachbarsjungen. Man kann doch gar nicht nichts träumen. Ich male mir gerne meine Traumjungen selbst aus. Plötzlich ähneln diese dann doch wieder jemandem. Wir finden immer eine Ähnlichkeit zu jemandem und so entstehen unsere Fantasien und Träume. Mit allem was wir sehen, erleben und hören.''
Hm, das hat was. Wie oft hab ich von meiner Lieblingsfigur aus einem meiner Lieblingsbücher geträumt, weil diese Figur meinen Träumen entsprach? Und auch von Orten, die ich mal besuchen möchte.
,,Du hast recht, Juli. Ich hoffe weiter und besuche ihn morgen wieder. Er muss einfach wieder aufwachen. Und er wird es auch. Das weiss ich genau.''
,,Na also! Da ist ja wieder meine beste Freundin Mia! Ich glaube fest an dich.''
MIA
Wenn ich beim ersten Treffen vor wenigen Tagen noch aufgeregt war, so bin ich mittlerweile die Ruhe selbst. Ich habe mich langsam daran gewöhnt, dass ich mit einem schlafenden Jungen spreche, der vielleicht alles mitkriegt und vielleicht auch nicht. Woran ich mich auch gewöhnt habe ist, dass in seiner Anwesenheit, wenn ich bei ihm bin, in meinem Bauch eine Horde verrückter Schmetterlinge herumflattern. Ich habe jahrelang immer wieder, wenn ich mich verliebte aber diese Gefühle nicht erwiedert worden sind, meine Gefühle einfach Gefühle sein lassen und weiter gelebt, wie sonst. So auch jetzt.
Ich sitze wieder mal an seinem Bett und betrachte jedes Detail seines Gesichts. Seine feine Nase, die weichaussehenden Lippen, seine dunklen Augenbrauen, die langen Wimpern, seine Gesichtszüge, die nun etwas männlicher geworden sind. Seine Bartstoppeln sind weg. Wahrscheinlich wurde er gestern oder heute rasiert. Steht ihm auch gut so. Aber nun sieht er wieder jünger aus. Verletzlicher. Am liebsten würde ich mit meinen Fingern über sein Gesicht streichen. Mit einem Seufzer stehe ich auf und trete gegenüber ans Fenster. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Wie im Kitschroman. Aber das hier ist dann eher ein Kitschdrama.
,,Mensch Nico! Wenn ich doch nur wüsste, ob du mich hören kannst. Irgendein Zeichen. Das wäre so toll. Aber du liegst nur da und rührst dich nicht. Jetzt kann ich deine Mutter noch mehr verstehen, wenn sie dauernd am weinen ist. Ich fang ja auch gleich an.'', sage ich noch im Flüsterton und wische mir eine Träne weg.
NICO
Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie zeigen, dass ich dich höre. Jedes Wort. Ich fühle, wenn du meine Hand berührst. Es fühlt sich gut an. Wenn ich deine Stimme höre, deine Anwesenheit fühle, habe ich das Gefühl, dass alles wieder gut wird.
Ich drehe mich um und sehe ihn an. Er liegt immer noch genau so da wie vor ein paar Minuten. Klar, wie den sonst? Hatte ich wirklich gedacht, er würde sich plötzlich aufsetzen, mich ansehen und sagen: ,Hey, jetzt bin ich wach. Was geht?' Schön wär's. Und jetzt? Bevor ich nochmals losheule, verabschiede ich mich lieber von ihm.
,,Ich geh jetzt Nico. Heute bin ich nicht gerade ein Aufsteller. Tut mir leid. Morgen vielleicht wieder.''
Ich gehe zu ihm hin und berühre kurz seine Hand. Sie ist ganz warm.
,,Bis bald, Nico.''
Dann bin ich draussen vor der Tür, wo Tina bereits auf mich wartet und mich in den Arm nimmt. Ich weine und weine und weine. Meine Tränen laufen ununterbrochen und mein ganzer Körper vibriert. Es tut wahnsinnig weh und man fühlt sich so hilflos. Man kann tatsächlich nichts anders tun als warten, hoffen und beten, dass er wieder aufwacht und weiterleben darf.
NICO
Es ist ganz ruhig. Kein Geräusch ausser das Piepsen der Apparate mit denen ich verkabelt bin. Wahrscheinlich ist es Nacht. Niemand ist mehr bei mir. Weder Besucher noch Ärzte, die nach mir sehen, mich waschen, umlagern oder bewegen, damit ich nicht ganz einroste.
Ich vermisse Mia. Ihre Stimme, ihre Erzählungen, ihre Berührungen und ihre Traurigkeit, die ich manchmal verspüre, bevor sie rausgeht, weil sie mich nicht auch traurig machen will. Ich wünschte, ich könnte dann ihre Tränen wegwischen und sie trösten. Aber das geht nicht. Leider.
Natürlich ist es genauso schön, wenn meine Schwester, meine Mutter oder mein Vater mich besuchen kommen. Obwohl es immer enorm deprimierend ist, wie meine Mutter dauernd heult und jammert, es hilft mir nicht wirklich.
Damals beim Unfall...es ging alles so wahnsinnig schnell...Ich kann nicht mal genau sagen, wer der Fehler gemacht hat. Hab ich eine Ampel übersehen? Oder der andere Fahrer? Zuerst war es ganz hell. Scheinwerfer, die mich wohl geblendet haben. Dann für den Bruchteil einer Sekunde...mein Kopf war leer. Ich habe nichts gedacht, sondern einfach gesehen, wie diese Scheinwerfer auf mich zukamen und dann...ich glaube, ich hab nicht einmal etwas gespürt. Schmerz oder Angst oder beides...keine Ahnung. Als nächstes erinnere ich mich an ein riesen Stimmengewirr, ein lauter Ton der wohl die Sirene eines Krankenwagens sein musste.
,,Sein Puls ist schwach.'', sagte jemand.
Jemand stülpte etwas über meinen Kopf, der irgendwie doch nicht mein Kopf war. Aber bald darauf fühlte ich -ja, ich FÜHLTE- wie ich wieder besser atmen konnte. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Mein Körper wollte mir nicht gehorchen. ,,Nico! Nico! Das ist mein Bruder, lasst mich zu ihm!'', hörte ich meine Schwester schreien.
Verzweifelt und aus voller Kehle schrie sie. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl zu schweben. Dann gab es einen kleinen Ruck und fertig. Wahrscheinlich hatte man mich gerade in den Krankenwagen geschoben. Ein Sanitäter gesellte sich zu mir und machte irgendwas. Ich weiss aber nicht was. Bevor wir abfuhren, durfte meine Schwester auch noch einsteigen und mich begleiten. Wieso wohl meine Mutter damals nicht da war? Oder mein Vater? Oder alle beide? Ob sie bereits wussten, dass etwas passiert war? Wenigstens war meine Schwester bei mir. So fühlte ich mich nicht ganz so alleine.
Irgendwann kamen wir beim Krankenhaus an und ich wurde sofort auf die Intensivstation transportiert, wo ich jetzt immer noch liege. Meine Schwester weinte die ganze Zeit an meinem Bett, bis sie irgendwann plötzlich weg war. Ich musste wohl eingeschlafen sein. Schon komisch. Man schläft, kriegt alles mit was so passiert und dann eine Weile gar nichts mehr, weil man richtig schläft. Am Anfang hat mich das ziemlich verwirrt. Aber jetzt weiss ich, wann ich schlafe und wann ich einfach nur im Koma liege.
Das Schlimme am wach sein im Koma ist vor allem dann, wenn niemand da ist und ich kein Geräusch hören kann, ich weiss nicht einmal wie früh oder spät es ist. Wie lange ich noch so da liegen muss ohne das Leben von aussen zu hören und zu sehen. Ich muss einfach warten und würde dabei manchmal am liebsten schreien, um mich schlagen und einfach Lärm machen. Aber das geht nur innerlich. Ich kann nur hoffen, dass es bald wieder Besuchszeit ist und Mia wieder kommt. Das ist immer die wertvollste Zeit, wenn Mia da ist. Natürlich auch, wenn Tina oder meine Eltern kommen (wobei mein Vater erst einmal hier war und meine Mutter eh ständig am rumjammern ist).
Mia. Was für ein schöner Name. Dabei kenne ich sie ja schon so lange. Und jetzt empfinde ich es anders, wenn sie da ist. Ich nehme ihre Stimme noch intensiver war, wie auch alle anderen Stimmen. Ich glaube, ich könnte mittlerweile Blind durch die Strassen laufen und mich einfach auf die Geräusche verlassen. Hab allerdings auch nichts dagegen, wenn ich mal wieder die Welt mit den Augen wahrnehmen kann. Vor allem interessiert es mich, wie Mia jetzt aussieht. Es sind schon einige Jahre vergangen seit damals. Wenn sie so aussieht, wie ihre Stimme jetzt klingt, dann sieht sie wie eine wunderschöne, junge Frau aus, die sich nach einer grossen Liebe sehnt.
So wie ich.
MIA
Als ich heute zu Nico will, muss ich zuerst noch draussen vor der Türe warten. Die Schwestern lagern ihn gerade um und bewegen seine Arme und Beine, damit er, wenn er aufwacht, nicht ohne Kraft ist. Wenn...
Dann kommt eine von den Schwestern zu mir nach draussen:
,,Sind Sie Mia?''
,,Ja, wieso?''
,,Wir haben den jungen Mann nun in ein neues Bett verlegt. Allerdings kommt jetzt noch die Waschprozedur. Das kann noch eine Weile dauern. Kommen Sie doch morgen wieder.''
,,In Ordnung. Auf Wiedersehen.''
Etwas enttäuscht laufe ich Richtung Ausgang. Ich frage mich, wie meine nächsten Tage weitergehen sollen. Ich bin jetzt fast täglich hier. Auch seine Schwester Tina. Heute hat sie allerdings Training und meinte, Hauptsache ich würde vorbeischauen. Tja, daraus würde jetzt wohl nichts mehr werden. Naja, ich hab ihn jetzt jeden Tag gesehen, mich erneut Hals über Kopf in ihn verliebt und wieder nur noch an ihn gedacht. Was würde ich tun, wenn er aufwachen würde? Wenn ich jetzt bei ihm wäre und er wacht auf? Ich bin mir sicher, dass man mir direkt ansieht, was ich fühle. Andererseits wird er wohl zuerst verwirrt sein wo er ist und warum ausgerechnet ICH an seinem Bett sitze und nicht seine Schwester oder Familie. Ne, am Besten wird es sein, dass nicht ICH diejenige bin, die an seinem Bett sitzen wird, wenn er aufwacht. Das Dumme ist nur, dass ich weder weiss, wann, noch ob er überhaupt je wieder aufwachen wird...
Ach Quatsch! Positiv denken, Mia! Ist aber nicht so einfach. Das Gute daran, dass er noch schläft (ja, im Koma liegt, ich weiss), ist, dass ich ihn anschauen kann so lange ich will. Jeden Zentimeter seines Gesichts und mit ihm sprechen kann. Reden könnte ich zwar auch, wenn er wach ist, aber jetzt spreche ich zum Teil auch mal etwas...persönlicher mit ihm. Ob ich das später auch noch könnte? Einerseits hoffe ich manchmal, dass er mich hört, andererseits hoffe ich es dann wieder nicht weil ich im Nachhinein so denke: ,Mensch Mia, was hast du ihm bloss wieder alles erzählt?!' Wenn er dann wieder aufwachen würde, kann ich ihn dann nicht mehr Stundenlang anschauen. Ob er jetzt manchmal meine intensiven Blicke spürt? Zu viele Fragen und ich habe das Gefühl mich bereits wieder vor ihm blamiert zu haben obwohl er gar nicht wach ist. Mensch, Mia!
MIA
Ich sitze gedankenverloren am Küchentisch als es an der Tür klingelt. Überraschenderweise steht Tina vor der Tür.
,,Hey, komm rein! Was führt dich zu mir?''
Wir setzen uns zusammen auf's Sofa im Wohnzimmer. Tina sieht aus, als würde ihr etwas auf der Seele brennen.
,,Ich habe gestern einen Anruf aus den USA erhalten. Es war ein Manager eines Bauunternehmens am Telefon. Er meinte, ein Herr Neuer hätte sich für einen Job beworben. Es hätte bereits ein Vorstellungsgespräch gegeben und ein weiteres wäre geplant, jedoch erreiche er Herr Neuer nicht mehr. Durch Recherchen sei er auf mich gestossen. Seine Schwester.''
Nur langsam dämmert mir, was Tina mir sagen will.
,,Hatte Nico vor auszuwandern?''
,,Auswandern nicht direkt, aber er wollte ein Leben in den USA ausprobieren und hat sich auch für Jobs beworben. Dass er soweit gekommen ist, wusste ich nicht.''
,,Hm...und nun? Was hast du diesem Herrn gesagt?''
,,Dass mein Bruder im Koma liegt und wir nicht wissen, wie es weitergeht. Aber das ist noch nicht alles. Er hat sich ebenfalls für eine Wohnung beworben - die er auch bekommen hat. Der Vertrag ist bereits unterzeichnet.''
,,Ach du....meine Güte. Er war also eigentlich mit einem Fuss schon in den USA.''
,,Genau. Durch diesen speziellen Fall wäre es möglich den Mietvertrag aufzulösen. Jobmässig wollen sie noch etwas warten. Sie waren offensichtlich sehr begeistert von meinem Bruder, weswegen die Stelle als besetzt für ihn gilt. Aber es ist klar, dass das nicht ewig so bleiben wird. Und die Wohnung auflösen will ich nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich so seinen Traum zerstören würde, bevor er diesen überhaupt mit beiden Füssen in Angriff nehmen konnte. Ausserdem glaube ich ja daran, dass er wieder aufwachen wird.''
,,Klar, daran glauben wir alle. Und ich verstehe auch, dass du seine Wohnung behalten willst. Dass das Unternehmen seine Stelle sogar noch freihalten will für ihn, finde ich echt der Wahnsinn. Wie oft erlebt man schon sowas? Aber was hast du denn jetzt vor?''
,,Deswegen bin ich hier. Ich habe einen Flug gebucht, der in einer Woche losgeht. Ich werde zwei Wochen dorthin fliegen, wo er seine neue Zukunft aufbauen möchte und dafür sorgen, dass er das auch tun kann, sobald er aus dem Koma erwacht. Ich werde mich dort mit seinem zukünftigen Chef treffen und mich um die Wohnung kümmern. In dieser Zeit hoffe ich, dass du dich um Nico kümmerst. Ich erzähle ihm was ich vorhabe und werde dich auf dem Laufenden halten, damit du ihm erzählen kannst, was los ist. Damit er weiss, dass sein Traum nicht zerplatzt ist und er mehr Gründe zum Aufwachen hat, als weiter zu pennen.''
,,Tina!'', grinse ich.
,,Was? Ist mein Ernst. Ich will meinen Bruder zurück. Und du vermisst ihn doch auch.''
,,Bei mir ist es aber was anderes und ich mache mir auch keine Hoffnungen oder Illusionen deswegen. Aber ich helfe gerne wo ich kann. Das ist keine Frage.''
,,Danke Mia, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.''
Wir umarmen uns zum Abschied, danach bleibe ich nachdenklich im Wohnzimmer zurück und frage mich, was es wohl für ein Ende geben wird.
MIA
1 WOCHE SPÄTER
,,Guten Flug, Tina. Und melde dich bald, ja?''
,,Klar Mia. sobald ich gelandet bin. Ich hoffe, dass diese Mission ihn zurück aus dem Koma holen wird.''
,,Das hoffe ich auch.''
Als ihr Flieger abhebt, stelle ich mir vor, dass ich dort drin sitze und in ein neues Leben fliege. Aber eigentlich hatte ich durch das zufällige Zusammentreffem mit Tina bereits ein neues Leben bekommen. Alt und neu mussten manchmal gar nicht so weit auseinander liegen. Man musste dazu nicht erst den Ozean überqueren und komplett von vorne anfangen, wie ich es zuerst gedacht hatte. Aber ob das hier so besser war, das konnte ich mir selbst nicht beantworten. Obwohl es mir die letzten Wochen sehr gut ging und ich mich auf Nico und Tina konzentrierte, war da immer noch dieser Schatten, der mich verfolgte und mich nicht loszulassen schien. Vielleicht half zuletzt doch nur das Wechseln des Kontinents.
Tina hat sich bereits gestern von Nico verabschiedet, da es sonst zu stressig geworden wäre. Obwohl ich eigentlich vor hatte, nach dem Flughafen noch zu Nico zu fahren, bringe ich es nicht über mich. Ich spüre, dass ich etwas Zeit für mich brauche. Jetzt wo Tina weg ist, kehrt wieder diese Leere zurück und ich habe das Gefühl, als wäre ich wieder in meinem alten Leben gelandet. Ob ich die letzten Wochen nur davor weggelaufen bin? Habe ich es verdrängt? Schon möglich. Aber ich sehnte mich nunmal nach Sicherheit und die hat mir Nico gegeben. Jedesmal wenn ich bei ihm war. Verrückt oder?
Als ich in meiner Wohnung ankomme, schaue ich die Briefe an, die ich die letzten Tagen vermehrt erhalten habe. Alles dieselbe Handschrift. Deswegen habe ich sie nicht geöffnet. Ich weiss, was drin steht. Ich weiss von wem sie sind. Und ich will nicht wissen, was noch kommen wird. Aber mir ist klar, dass ich mich früher oder später dem stellen muss, was ich am liebsten für immer vergessen würde. Doch so einfach ist das nicht. Leider.
Bling! Erschrocken setze ich mich auf. Ich muss eingeschlafen sein. Auf meinem Handy sehe ich eine neue Nachricht. Tina ist gut gelandet und nun auf dem Weg in Nicos Wohnung. Wie lange habe ich geschlafen? Lange genug, dass sie landen konnte, so wie es aussieht. Neben mir auf dem Bett liegen die Briefe, die noch immer ungeöffnet sind. Soll ich? Einerseits habe ich Angst davor, andererseits werde ich vorher eh keine Ruhe finden. Schliesslich entscheide ich mich dazu einen zu öffnen.
Liebste Mia
Ich wünschte, du wärst bei mir. Ich weiss, dass ich viele Fehler gemacht habe. Aber ich weiss auch, dass ich dich liebe und nicht ohne dich sein will. Du liebst mich doch auch noch, oder? Sonst wärst du nicht so lange bei mir geblieben. Das mit uns kann noch nicht zu Ende sein. Dazu fühlt es sich noch viel zu echt an. Bitte komm zurück und gib unserer Liebe eine neue Chance. Das haben wir beide doch verdient.
In Liebe, dein Dominik
Mein Herz klopft wie verrückt. Unsere Liebe? Eine neue Chance? Wieviele Chancen sollte ich denn noch geben? Nein, es musste aufhören. Es war vorbei. Ohne ihn war ich besser dran. Bloss, wie sollte ich ihm das beibringen? Wenn es um das Ende ging, wollte er mir noch nie zuhören. Für ihn gibt es kein Ende, nur neue Chancen. Eigentlich eine gute Einstellung, wären da nicht diese Grausamkeiten, die seinen sonst so liebevollen Charakter begleiteten.
MIA
,,Hey Nico. Tut mir leid, dass ich gestern nicht da war. Tina ist gut gelandet und nun in deiner Wohnung. Sie hat mir Fotos geschickt. Die sieht echt super aus, da würde ich auch gleich einziehen, wenn ich könnte. Es wäre also an der Zeit für dich aufzuwachen, dein Zeug zu packen und dein neues Leben in Angriff zu nehmen. Das würde ich nämlich auch tun, wenn ich könnte.''
Gedankenverloren schaue ich ein Foto nach dem anderen zum wiederholten Mal an. Die Wohnung liegt zwar Mitten in der Stadt, aber durch die Schalldichtung dringt kaum Lärm nach drinnen und lässt so die Wohnung noch gemütlicher wirken, als sie es sowieso schon ist. Sie verfügt über einen Kamin, ein grosses Wohnzimmer mit Esstisch, einer etwas kleineren Küche und das Schlafzimmer lässt automatisch von schönen Nächten träumen. Das Badezimmer sieht am modernsten aus. Alles in allem ist es ein Altbau, der jedoch aufs nötigste renoviert wurde und somit neben dem modernen Touch sehr gemütlich scheint. Ich seufze. Genau so würde ich mir mein neues Zuhause vorstellen.
,,Ich glaube, heute bin ich keine sonderlich gute Unterhaltung. Aber ich denke deine Mutter kommt noch vorbei. Ich gehe jetzt mal, aber morgen komme ich wieder. Dann unterhalte ich dich etwas besser, versprochen.''
Was bedrückt dich? Rede mit mir. Irgendetwas stimmt doch nicht.
Als ich meine Wohnung betrete klingelt mein Handy.
,,Ja, hier ist Mia?''
Schweigen am anderen Ende. Was zur Hölle...?
,,Hallo? Wer ist da?''
,,Mia?''
,,Ja, immernoch.''
,,Hier ist Dominik.''
Mir stockt der Atem. Ich halte mich am Tisch fest und setze mich. Tonlos frage ich:
,,Was willst du?''
,,Dich.''
Ich atme hörbar aus. Offensichtlich habe ich die ganze Zeit die Luft angehalten.
,,Lass mich einfach in Ruhe, Dominik. Du weisst warum.''
,,Aber Mia, ich...''
Doch ich lege auf. Knappe zwei Minuten am Telefon seine Stimme gehört und schon fühle ich mich wieder durcheinander und aufgelöst wie vor wenigen Wochen. Aber es war klar, dass er sich früher oder später auch telefonisch melden würde. Ob ich die anderen Briefe auch lesen soll? Oder einfach wegwerfen? Ich komme zum Schluss, dass ich im Moment keine solche Entscheidung treffen kann. Ich schreibe Tina noch kurz, dass es Nico unverändert gut geht und ich mich auf weitere Neuigkeiten ihrerseits freue. Dann schalte ich das Handy aus und suche mir einen Film aus, der mich definitiv auf andere Gedanken bringen wird. Das habe ich jetzt dringend nötig!
TINA
,,Hi, I'm Tina Neuer. Sister from Nico.''
,,Hallo Tina, du kannst ruhig deutsch mit mir sprechen. Ich bin in Deutschland aufgewachsen.''
,,Umso besser, mein Englisch ist nämlich nicht so toll wie das meines Bruders.''
,,Es freut mich, dass du zu uns gefunden hast. Ich bin Mike. Das mit deinem Bruder tut mir so leid. Als ich davon erfahren habe, war ich geschockt. Ich habe ihn erst einmal gesehen, bei unserem ersten Bewerbungsgespräch, aber er ist mir in Erinnerung geblieben. Er hat etwas ganz besonderes an sich.''
Ich habe mich mittlerweile gegenüber von Mike auf einen sehr bequemen Stuhl gesetzt und bewundere das riesige Büro und die wahnsinns Aussicht. Seit meiner Ankunft in den USA habe ich gemerkt, dass alles irgendwie riesig und wahnsinn ist. Auf irgendeiner Weise. Mike lächelt mich mitfühlend an und erzählt weiter.
,,Ich muss ehrlich sagen, dass ich noch nie eine Stelle solange freigelassen habe. Jobs sind immer gefragt und es gibt genügend Bewerber, die sich qualifizieren würden. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich noch etwas Geduld haben soll. Deswegen tue ich das auch. Aber all zu lange wird das nicht möglich sein. Schliesslich fehlt uns ein Mitarbeiter und somit bleibt diese Arbeit an den anderen hängen. Aber ich will auch niemanden als Lückenbüsser einstellen, das finde ich ungerecht.''
Mein Respekt vor diesem Mann wächst mit jeder Minute. Gibt es solche Chefs wirklich? Kann sowas wirklich wahr sein? Gibt es nicht irgendeinen Haken?
,,Aber wieso gerade mein Bruder? Ich meine, Sie gehen ein grosses Risiko ein.''
,,Wir waren doch beim Du'', zwinkert mir Mike zu. Achja, stimmt.
,,Ich weiss, was du meinst. Aber so gross ist das Risiko unserereits nicht. Sollte dein Bruder schlussendlich doch nicht den Job wahrnehmen können, so haben wir genügend andere Bewerber, wie gesagt.''
,,Hm. Wir wissen halt auch nicht, wie sein Zustand sein wird, wenn er wieder aufwacht. Was er noch weiss, wie schnell er dann hier anfangen kann. Das ist alles offen. Und selbst wenn er fähig sein wird zu Arbeiten, ich möchte, dass er es dennoch langsam angehen wird. Schliesslich hatte er diesen Autounfall und dieses Trauma wird vorhanden sein, sobald er aufwacht.'' ,,Das ist mir durchaus bewusst. Deswegen habe ich einen Vorschlag. Sagen wir, drei Monate lasse ich die Stelle offen für deinen Bruder. Sollte er bis dahin weder aufgewacht noch fähig sein, seinen Job zu beginnen, besetze ich ihn neu. Aber keine Sorgen, ich habe viele Kontakte zu anderen Firmen und ich bin mir sicher, er würde sofort ein neues Angebot finden. Aber ich hoffe, dass wir hier die Ehre haben werden, mit deinem Bruder zusammenarbeiten zu dürfen.''
,,Das klingt gut. So bleibt sein Traum hier in gewisser Weise gesichert ohne zu viel Druck. Druck ist das Letzte was er, was wir alle jetzt brauchen können.''
Als ich das Büro von Mike verlasse, bin ich zuversichtlich und freue mich meiner Mutter, Mia und Nico diese Neuigkeiten mitzuteilen. Ich an Nicos Stelle würde so keine Minute länger im Koma bleiben wollen. Wieviele Menschen, die gerade im Koma liegen, haben solch eine grosse Chance, die auf sie wartet?
MIA
Neuer Tag, neuer Versuch. Ich bin zum Ergebnis gekommen, dass ich die Briefe für die nächsten Tage bis Tina wieder da ist, noch zur Seite schiebe und mich voll und ganz auf Nico konzentriere. Ich habe Tina versprochen auf Nico zu schauen und mich um ihn zu kümmern. Und dieses Versprechen will ich halten.
,,Hey Nico. Wie versprochen bin ich heute eine bessere Unterhalterin. Ich habe gute Neuigkeiten von Tina. Dein Job ist für die nächsten drei Monaten gesichert. Selbst wenn du bis dahin nicht arbeitsfähig sein solltest, hat dein neuer Chef viele Kontakte. Du hast bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Also, wach auf und los gehts.'', motiviere ich Nico.
Oder mich? Wohl uns beide. Doch Nico bewegt sich nicht. Kein Mucks, nichts. Bloss seine regelmässigen Atemzüge und das Piepsen der Geräte beweisen, dass er noch lebt und vielleicht doch das eine oder andere mitbekommt. Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine. Seine Hand ist ganz warm. Meine Finger hingegen wieder einmal kalt.
,,Wieso hast du warme Hände, obwohl du dich seit Wochen nicht bewegst und meine Finger sind eiskalt? Das ist echt ungerecht. Aber vielleicht weckt dich ja das..'', grinse ich und berüre langsam seinen Nacken. Normalerweise zuckt man dann zusammen, wenn man kalte Finger im Nacken spürt. Nur Nico nicht.
,,Du bist echt stur, weisst du das? Aber ich bin sturer. Genauso wie deine Schwester Tina und natürlich deine Mutter. Du siehst also, drei gegen eins. Gib auf Nico. Dreifacher Frauenpower, dagegen kommt kein Mann an.''
Für einen Moment bilde ich mir ein, dass seine Mundwinkel zucken, als ob er sich ein Grinsen verkneifen würde. Oder war das gar keine Einbildung?
Ich hoffe, du hast gefühlt, dass ich dich innerlich angelächelt habe. Dankbar, dass du wieder hier bist und dass es dir heute besser geht.
Am Abend telefoniere ich kurz mit Tina.
,,Ich habe heute etwas weniges für Nicos Wohnung eingekauft. Es soll schliesslich heimelig wirken, wenn er hier einzieht. Also Bettwäsche und Badezimmerzubehör. Dinge, bei denen ich nicht viel falsch machen kann. Den Rest überlasse ich dann ihm.''
,,Das ist toll Tina. Ich habe ihn heute versucht mit meinen Eiszapfenfingern zu wecken. Hat leider auch nicht funktioniert.'' ,,Mit was?'', lacht Tina und ich erzähle es ihr.
Danach lachen wir beide und es fühlt sich richtig gut und befreiend an. Endlich wieder lachen. Tina fehlt mir, merke ich. Telefonieren und schreiben ist halt nicht dasselbe wie persönlich quatschen und lachen. Das Telefonat und die Briefe von Dominik vergesse ich endlich für eine Weile.
TINA
Je länger ich mich in Amerika aufhalte, desto mehr verstehe ich, warum Nico hier ein neues Leben beginnen will. Es ist einfach toll hier. Zumindest tagsüber und am richtigen Ort. Denn es gibt auch die Orte, die ich bereits meide und nachts will ich nicht zu lange weg sein. Ich kenne schliesslich niemanden - ausser Mike. Am Anfang fand ich es komisch ihn bereits zu duzen. Doch seine warmen Augen und sein Mitgefühl haben mich berührt. Und für heute hat er mich zum Mittagessen eingeladen um ''einige geschäftliche Dinge zu klären'', meinte er. Aber ich habe das leise Gefühl, dass es nicht unbedingt darum geht.
Auf dem Weg in das besagte Lokal überlege ich, wie alt er wohl sein mag und ob er eigentlich einen Ehering trägt. Ich will mich schliesslich auf keinen Fall auf einen verheirateten Mann einlassen, der der zukünftige Chef meines Bruder sein wird. Aber ich kann mich nicht erinnern. Schliesslich war ich ja nicht deswegen bei ihm im Büro. Diesmal darauf zu achten wird wohl nicht viel bringen. Denn, wenn er verheiratet sein sollte und gleichzeitig etwas von mir wollte, würde er hoffentlich so schlau sein und vorher den Ring ausziehen. Aber dann wäre ja ein Ringabdruck sichtbar. Herrje! Was ich mir für Gedanken mache, unglaublich!
Als ich das Lokal betrete, steht sofort ein gutaussehender Mann auf und kommt auf mich zu. Mike.
,,Tina, welch Freude dich zu sehen. Ich habe den Tisch hier reserviert, ich hoffe das ist in Ordnung?''
,,Aber sicher. Danke Mike.''
Ganz gentlemanlike zieht er den Stuhl zurück, damit ich mich setzen kann. Danach nimmt er gegenüber von mir Platz. Was wohl jetzt kommt? Der Kellner.
,,Darf ich den Herrschaften etwas zu Trinken bringen?''
,,Sehr gerne. Für mich einen Scotch bitte. Und für dich Tina?''
,,Ich nehme eine Cola.''
Für einen Moment komme ich mir wie ein kleines Mädchen vor. Er einen Scotch und ich eine Cola? Aber ich will nüchtern bleiben, zumal es erst Mittag ist.
,,Sehr gerne.''
Der Kellner wendet sich wieder zum gehen und Mike sieht mich an.
,,Ich freue mich richtig, dass du zugesagt hast.'', lächelt er und entblösst schneeweisse Zähne. Sicher gebleicht.
,,Ist doch klar, wenn es um geschäftliches geht.'', sage ich und warte seine Reaktion ab.
,,Achso ja das Geschäftliche. Dabei handelt es sich um den Vertrag den ich dir für deinen Bruder mitgeben will und ein paar Prospekte wo alles über die Firma drinsteht.''
,,Ah super, danke.''
Er reicht mir einen etwas dickeren Umschlag mit all den Unterlagen drin und ich packe ihn direkt ein, damit ich ihn nicht noch vergesse.
,,Also, das war ein kurzes Mittagessen.'', sage ich.
Mike sieht mich verwundert an.
,,Naja, du sagtest ja, es ginge um Geschäftliches und das hätten wir ja nun.''
,,Genau und nun können wir uns der Freizeit widmen. Hast du denn keinen Hunger?''
,,Äh, doch schon.''
,,Siehst du? Dann fängt unser Mittagessen erst an.'', lächelt mich Mike an.
Mit einem kurzen Blick auf seine Finger stelle ich fest, dass es weder einen Ring noch einen Abdruck eines Ringes gibt und entspanne mich etwas. Dann werde ich das Mittagessen mit Mike geniessen und schauen, was er genau vorhat.
Als wir zweieinhalb Stunden später das Lokal verlassen, fühle ich mich leicht und unbeschwert und würde am liebsten den Rest meiner Urlaubstage mit Mike verbringen. Immerhin weiss ich jetzt, dass er anfang 30 ist, die Firma von seinem Vater übernommen hat und - das Beste - wirklich single ist. Gutaussehend, erfolgreich, charmant und single. Gibt es tatsächlich solche Männer? Offensichtlich schon und ich bin eine der Glücklichen, die einer davon kennenlernen durfte.
,,Tina, es war unglaublich toll mit dir zu plaudern und ich würde zu gerne weiter mit dir quatschen über Gott und die Welt, aber die Firma fürt sich nicht von alleine. Wollen wir heute Abend zusammen ausgehen?''
,,Das wäre grossartig!''
,,Dann hole ich dich um 19 Uhr ab. Tanzt du gerne?''
,,Kommt daraufan, was für einen Tanz du meinst.''
,,Dann kenne ich den perfekten Ort. Lass dich überraschen.''
Mit einem angedeuteten Handkuss verabschiedet er sich von mir und geht seiner Wege und ich die meinen. Du meine Güte! Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben einen Handkuss bekommen. Und erst recht keinen angehauchten Handkuss! Das ist noch nobler als einen richtigen Kuss. Ich muss kichern. Bei einem Promi würde ich mir die Hand wohl nie wieder waschen, weil es bei einem einzigen Mal bleiben würde. Aber bei Mike wird es sicherlich eine Wiederholung geben. Vielleicht sogar auf eine andere Art?
Beschwingt laufe ich durch die Strassen und halte Ausschau nach einem tollen Geschäft. Schliesslich brauche ich etwas schönes anzuziehen. Und so wie es aussieht, gibt es sogar Geschäfte, die tolle und kostengünstige Kleider verkaufen. Perfekt!
MIA
,,Nicht dein Ernst! Echt jetzt?''
,,Ja, echt jetzt!'', lacht Tina am anderen Ende der Leitung.
,,Ich bin so aufgeregt. Ich glaube, ich verliebe mich gerade in den zukünftigen Boss meines Bruders. Und das, bevor mein Bruder dort überhaupt angefangen hat zu arbeiten. Das ist doch verrückt!''
,,Tina, das ist doch wundervoll!''
Ich bin begeistert.
,,Aber in einer Woche werde ich sowieso wieder zurückfliegen. Also mehr als eine kurze Urlaubsliebe wird es sowieso nicht.''
,,Woher willst du das wissen? Er mag dich offensichtlich, durch Nico wirst du weiterhin in Kontakt mit ihm bleiben und früher oder später wieder in die USA reisen.''
,,Vermutlich später als früh.''
Tina klingt bereits wieder etwas geknickt.
,,Hör zu, ich weiss, dass es jetzt aussichtslos aussieht. Vielleicht ist es das auch. Deswegen ist es umso wichtiger, dass du die Zeit jetzt mehr dennjeh geniesst. Du bist noch eine ganze Woche dort und wenn du schon die Gelegenheit dazu hast jemanden kennen zu lernen und dich zu amüsieren, dann tu es auch. Sonst wirst du es hinterher noch bereuen. Nach einem Höhenflug folgt oft ein Tiefschlag, aber nach Regen folgt auch Sonnenschein. Es geht also immer weiter. So oder so.''
Tina atmet tief durch.
,,Weisst du was? Du hast recht. Ich werde jede Sekunde mit ihm geniessen und erst am Tag der Abreise an die Abreise selbst denken. Jetzt bin ich hier und basta.''
,,So ists richtig. Soll ich Nico davon erzählen? Oder willst du das selbst machen?''
,,Ich glaube, das mache ich selbst. Das würde ich auch sonst tun, wenn er wach wäre. Aber du kannst ihm ja sagen, dass ich mich amüsiere und verstehe, dass er in Amerika neu anfangen will. Das würde ich auch sofort tun, wenn ich könnte.'' ,,Alles klar.''
,,Achja, eigentlich wollte ich noch sagen, dass Mike mir den Vertrag und Prospekte von der Firma mitgegeben hat. Ich habe sie kurz durchgesehen. Echt eine tolle Sache diese Firma und der Vertrag klingt auch nicht übel.''
,,Das ist toll. Hoffen wir mal, dass die Unterschrift nicht zu lange auf sich warten lässt.''
,,Ja, du sagst es. Du ich muss jetzt, ich melde mich später wieder.''
,,Klar, viel Vergnügen und pass auf dich auf.''
,,Mach ich, bye!''
Als ich auflege habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich einen weiteren Brief von Dominik lesen sollte. Ich wollte mich zwar nur noch auf Nico und Tina konzentrieren, aber alle Briefe bis am Ende aufbewahren? Lieber ab und zu einer. So verdaue ich es leichter und bis jetzt hat er sich sowieso nicht mehr gemeldet. Es ist auch kein weiterer Brief mehr von ihm gekommen.
Ich gehe zur Nachttischschublade und nehme also einen weiteren Brief heraus. Durch die bestätigte Frankierung der Post sehe ich, welcher Brief wann gekommen ist und kann sie auch der Reihe nach öffnen. Was mich wohl in diesem hier erwartet?
Mia,
wir gehören zusammen, sieh es endlich ein! Du wirst mich nicht los, ich kämpfe um die Frau, die ich liebe und lasse nicht locker ehe ich bekommen habe was ich will. Wir lieben uns, du liebst mich. Steh zu deinen Gefühlen und lass uns wieder zusammen durch dick und dünn gehen. Etwas anderes bleibt dir nicht übrig, weil du nur mich hast.
Ich gebe nicht auf,
dein Dominik
Seufzend falte ich den Brief wieder zusammen und lege ihn zurück in die Nachttischschublade. Was sagt er mir in diesem Brief? Einerseits, dass er mich liebt und gleichzeitig, dass ich sowieso ihm gehöre und keine andere Wahl habe. Das klingt weniger nach Liebe, mehr nach Besitz. Man hat immer eine Wahl. Ich hatte immer eine Wahl und immer die falsche getroffen, bis zu diesem Moment. Jetzt habe ich das Gefühl die richtige Wahl getroffen zu haben und dennoch finde ich keine Ruhe. Ich hoffe, diese letzte Woche geht schnell vorbei und sobald Tina wieder da ist, werde ich mich um dieses Problem kümmern.
TINA
,,Weine nicht, meine Süsse.''
Mike legt mir tröstend seinen Arm um mich und gibt mir einen Kuss aufs Haar.
,,Wir werden uns bald wiedersehen und dann haben wir mehr Zeit für uns.''
,,Ich weiss,'', schniefe ich, ,,aber Abschiede sind einfach immer scheisse. Und ich habe verdammt nochmal nicht damit gerechnet mich in diesen zwei Wochen zu verlieben. Ausgerechnet in Amerika!''
Mike schmunzelt.
,,Damit habe ich auch nicht gerechnet. Nach meiner letzten Beziehung wollte ich mich eine Weile nur der Firma widmen. Aber dann bist du in mein Leben gestürzt und hast meine Pläne über den Haufen geworfen.''
,,Tut mir ausgesprochen leid.''
,,Das darf dir nicht leid tun. Ich bin dankbar dafür.''
Ich lächle ihn an und küsse ihn. Die letzte Woche mit Mike war einfach traumhaft schön. Wie ein Traum. Aber ein wahrgewordener, der jedoch für eine Weile unterbrochen wird, weil ich wieder zurück nach Hause fliegen muss. Ich fühle mich hin und hergerissen. Ich möchte bei Mike bleiben, aber ich vermisse Nico und will bei ihm am Bett sitzen und seine Hand halten, mit ihm reden und von all dem erzählen. Grosse Augen wird er zwar noch nicht machen können (ha ha, Witz komm raus), aber dann weiss er, dass seine Zukunft auf ihn wartet und meine nun auch.
,,Tina, der letzte Aufruf für deinen Flug. Du musst jetzt, sonst fliegt er ohne dich.''
,,Du hast recht. Dann werde ich jetzt wieder den Ozean überqueren und darauf hoffen, dass du das auch bald tun wirst.'' ,,Versprochen.''
Zum Abschied küssen wir uns noch einmal, dann muss ich wirklich. Ich drehe mich noch einmal ganz kurz um und verschwinde danach hinter der Absperrung.
Während wir uns über dem Ozean befinden, schlafe ich mal kurz ein um dann abwechslungsweise von Mike und von Nico zu träumen. Einmal schrecke ich auf, weil Nico im Traum für immer eingeschlafen ist. Ich weiss nicht was besser ist. Wach sein und Mike zu vermissen oder schlafen und schlecht von Nico zu träumen. Ich hoffe, dass wir bald landen und ich etwas zu tun habe um weniger zu grübeln. Und vor allem, damit ich Nico endlich wieder sehe und Mia. Und natürlich meine Mutter. Ich sollte es positiv sehen. Jetzt habe ich auf zwei Kontinenten jemanden oder mehrere Menschen, die auf mich warten. Gibts was besseres?
Das nächste Mal werde ich von der Durchsage des Piloten geweckt, der uns darauf aufmerksam macht, dass wir demnächst landen werden und unsere Gurte anlegen sollen. Ich bin also tatsächlich wieder eingeschlafen - diesmal ein traumloser Schlaf. Mein Sitznachbar trommelt nervös mit den Fingern auf die Sitzlehne. Am liebsten würde ich ihm eins auf die Finger hauen. Der macht mich ganz nervös! ,Ganz ruhig, Tina', versuche ich mich selbst zu beruhigen. Ich habe es fast geschafft. Noch eine halbe Autostunde von Zuhause entfernt. Meine Mutter wartet am Flughafen auf mich, damit ich nicht alleine heimfahren muss. Da es schon spät ist, ist Mia nicht dabei, was ich verstehe. Sie ist eine tolle Freundin, aber ich hätte nie verlangt, dass sie mich so spät am Flughafen abholt. Wenn Nico jetzt auch dabei wäre...
TINA
,,Mein Mädchen! Willkommen zurück zu Hause! Ich hab dich so vermisst.''
Meine Mutter umarmt mich, drückt mich und herzt mich. Erst jetzt merke ich, wie sehr ich auch sie vermisst habe und bin froh wieder da zu sein.
,,Danke, dass du mich abholst, Mama. Ich hab dich auch vermisst.''
,,Komm, das Auto ist schon abfahrbereit. Fahren wir nach Hause und dann erzählst du mir alles. Auch von deinem Mike.'', zwinkert mir Mama zu. Natürlich konnte ich ihr am Telefon nichts verschweigen. Aber trotzdem gibt es noch genügend Dinge, die ich erzählen muss. Das wird eine unterhaltsame Fahrt und eine lange Nacht, denn obwohl ich eigentlich recht müde bin, bin ich gleichzeitig total aufgedreht. So viele Emotionen! Da fällt mir ein, dass ich Mike noch schreiben muss, dass ich heil gelandet bin. Bestimmt wartet er schon auf eine Nachricht von mir.
Bin sicher gelandet und jetzt auf dem Weg nach Hause.
Kuss, Tina
Keine Minute später die Antwort:
Du fehlst mir, meine Süsse. Komm gut nach Hause und Träum was schönes.
Kuss, M.
Ich schaue mir die letzten Fotos an, die wir zusammen gemacht haben und kann es immer noch nicht fassen, dass ich einen so tollen Mann gefunden habe, der mich auch liebt. Aber bleiben wir mal realistisch. Ich weiss nicht ob und wann wir uns wiedersehen werden und wenn, ob es dann immer noch so ist wie vor meiner Abreise. In dieser Zeit kann sich vieles ändern. Besser ich konzentriere mich wieder voll und ganz auf Nico und meine Mutter. Das ist jetzt das Wichtigste.
Zuhause angekommen zeige ich Mama die Prospekte, den Vertrag und ein Foto von Nicos zukünftigem Boss.
,,Der sieht wirklich nett aus. Und offensichtlich findet das meine liebe Tochter auch.'', zwinkert Mama mir zu. Ich werde etwas rot.
,,Naja, hauptsächlich ist er der Boss von Nico. Also, ich hoffe zumindest, dass er das wird.''
,,Das hoffen wir alle, Tina. Leider hat sich bis jetzt keine Änderung gezeigt.''
,,Mama, der Arzt hat doch selbst gesagt, lieber keine Veränderung als eine schlechte Veränderung.''
,,Klar, aber das können wir nicht ewig so sagen. Irgendwann muss etwas passieren. Von Nicos Seite oder von unserer Seite...''
,,Mama.''
Ich schaue sie ernst an.
,,Du würdest doch nicht...die Geräte...Mama er ist dein Sohn und mein Bruder. Mia mag ihn auch. Das würdest du doch nie tun.''
,,Hör zu Tina, ich weiss, dass das schwer ist. Aber wir müssen da vor allem daran denken, was das beste für deinen Bruder ist. Jahrelang an der Maschine? Je länger er an der Maschine ist und im Koma liegt, desto schlechter steht es um seine Gesundheit nach dem Aufwachen. Irgendwann wäre es dann besser, wenn er einschläft und nicht mehr aufwacht. Für ihn und für uns.''
Ich bin schockiert. Denkt Mama wirklich so?
,,Nein Mama, das glaub ich nicht! Das würde Nico nie wollen! Er ist ein Kämpfer und ich kämpfe mit ihm. Mit oder ohne dich!''
Ich renne in mein Zimmer, schliesse die Tür hinter mir und werfe mich auf mein Bett. Nein, es durfte einfach nicht so weit kommen, dass man Nicos Geräte abschalten würde. NIEMALS! Nico, du musst aufwachen, bitte! Denn, selbst wenn ich für ihn kämpfe, am Ende ist es die Entscheidung von Mama. Oder?
Es klopft leise an der Tür. Ich drehe den Schlüssel, damit Mama reinkommen kann. Dann setze ich mich erwartungsvoll aufs Bett.
,,Tina.'' Mama kommt langsam zu mir und setzt sich sanft zu mir.
,,Ich wollte dich nicht wütend machen oder schockieren. Es ist auch nicht so, dass ich das tun will. Es ist eher so, dass ich das irgendwann tun muss. Nico hat während seiner Planung für ein neues Leben auch geplant was mit ihm passieren soll, wenn er einen Unfall hätte.''
,,Du wusstest von Amerika?''
,,Nein, gar nicht. Ich wusste nur, dass er ein neues Leben plant. Aber sonst gar nichts, wirklich. Jedenfalls hat er ein Dokument unterschrieben das erlaubt, oder in dem er wünscht, dass nach einer bestimmten Zeit die Geräte abgestellt werden sollten. Er ist erwachsen, er kann das selbst entscheiden und hat das so entschieden. Nur bestimmt nicht mit dem Gedanken, dass es so bald schon eintreffen würde. Zuerst dachte ich es sei toll, dass er sich solche Gedanken macht und voraus denkt, aber nach dem Unfall wünschte ich, dass er das nicht getan hätte.''
,,Warum?''
,,Weil dann wir entscheiden könnten und wir würden die Geräte niemals abstellen.''
Dieser Satz rührt mich zutiefst und ich kann nicht anders als Mama in die Arme zu nehmen.
,,Tut mir leid, Mama, dass ich so reagiert habe.''
,,Das braucht dir doch nicht leid zu tun. Ich kann dich ja verstehen. Ich hätte genauso reagiert.''
Wir wiegen uns gegenseitig in den Armen und versinken in Gedanken. Ich bin mehr denn je dazu entschlossen meinen Bruder zu retten. Und ich würde es niemals zulassen, dass man die Geräte abstellen würde. Auf ihn wartete eine Zukunft, ein Job und eine tolle Wohnung. Ein neues Leben, das verlangte, gelebt zu werden! Dafür würde ich schon sorgen. Die Frage war nur; wie?
MIA
Als ich am nächsten Tag ins Krankenhaus fahre, treffe ich Tina und ihre Mutter beim Eingang.
,,Hey Tina, schön, dass du wieder da bist.''
,,Hey, ich freu mich auch wieder hier zu sein.''
Wir umarmen uns fest. Diese Umarmung hat mir gefehlt.
,,Hör zu Mia, wir müssen Nico um jeden Preis wieder wach kriegen.''
Verwirrt schaue ich von Tina zu ihrer Mutter und wieder zurück.
,,Ähm ja, das müssen wir und das wollen wir. Bloss reicht es leider nicht ihn zu kitzeln oder mit kaltem Wasser zu übergiessen. Dein Bruder schläft einfach zu tief.''
Ich zucke mit den Schultern und seufze. Tinas Mutter unterdrückt ein Lachen.
,,Ich weiss Mia, Nico ist sehr stur. Aber wir zwei sind sturer.''
Räuspern von der Mutter.
,,Entschuldige, wir DREI sind sturer.''
,,Ja sind wir. Aber warum sagst du das? Ist doch klar, dass wir ihn zurückholen wollen.''
Tina und ihre Mutter schauen sich an und ich weiss genau, dass dieser Blickwechsel nichts gutes heisst.
,,Was ist? Nun sag schon.'', drängle ich.
,,Es ist so, dass Nico beim Planen seines neuen Lebens auch geplant hat, was mit ihm passieren soll, wenn er einen Unfall haben sollte und im Koma landet.''
,,Ach echt? Und das wäre?''
,,Dass nach einer bestimmten Zeit die Geräte ausgeschaltet werden. Und da er bereits eine Weile hier liegt und sich nicht viel geändert hat, rückt dieser Moment immer wie näher. Und das will ich verhindern.''
Schockiert schaue ich die beiden an. Die Geräte abschalten? NEIN! Soweit durfte es einfach nicht kommen und soweit würde es auch nicht kommen.
,,Niemals! Das dürfen wir nicht zulassen.''
,,Meine Meinung.'', stimmt mir Tina zu.
,,Hört zu ihr beiden, ich verstehe euch vollkommen und ich bin auch eurer Meinung. Aber bleibt bitte realistisch. Wir haben nur sehr wenig Einfluss darauf, was geschieht. Aufwachen muss Nico selber. Wir können nicht mehr als für ihn da sein, mit ihm reden, ihn aufheitern und für ihn beten. Mehr geht wirklich nicht. Er hat eine Entscheidung getroffen ohne dabei zu ahnen, dass diese Entscheidung schon bald zur Wirklichkeit werden könnte.''
Wir nicken beide. Tinas Mutter hat recht. Wir können nicht zaubern und es ist kein Film in dem wir Nico entführen und mit irgendwelchen Tricks zurückholen können. Sein Geist schwebt auch nicht bei uns und sagt uns, was wir tun müssen. Es ist die Realität und wir wissen nicht, wie sich das Blatt wenden wird.
Zuerst geht Tina zu Nico. Schliesslich hat sie viel zu erzählen. Viel gutes für Nico und auch was Tina betrifft.
,,Es ist schön, wie sehr du Tina unterstützt und so oft bei Nico bist.'', sagt Tinas Mutter zu mir.
,,Das mache ich doch gerne. Es war ja auch für mich ein Schock, als ich erfahren habe, dass er im Koma liegt.''
,,Ihr wart zusammen in derselben Klasse, oder?''
,,Ja genau. Ich kann mich noch genau erinnern.''
,,Er war schon immer ein eigensinniger Mensch. Hat für das gekämpft, was er wollte und war dann auch 100% bei der Sache. Aber er hat sich auch für andere eingesetzt.''
,,Ja, das weiss ich. Obwohl er auch gerne andere geneckt hat, hat er niemanden böswillig verletzt. Er hat sich eigentlich immer fair gegenüber jedem benommen. Selbst dann, wenn andere nicht fair zu ihm waren.''
,,Es hat jeder seine Schattenseiten, auch Nico. Aber anders als bei anderen war bei ihm gleichzeitig immer ein Lichtblick erkennbar. Du magst ihn sehr, oder?''
,,Hm ja...also ich mochte ihn ja schon früher freundschaftlich...'', druckse ich herum. Mit seiner Mutter darüber zu reden ist dann doch etwas seltsam.
,,Was auch immer geschehen mag und wie auch immer sich das alles entwickelt, es ist schön zu wissen, dass er von jemandem so viel Unterstützung erhält, den er so lange nicht mehr gesehen hat. Das ist nicht selbstverständlich. Und mich ermutigt das auch. Einen Grund mehr, dass er aufwachen sollte. Auch wenn er dich von früher kennt, die heutige Mia kennt er noch nicht und die ist etwas ganz besonderes. Schliesslich habe ich noch keine Freunde von ihm hier angetroffen. Aus Angst? Kann sein, aber wahre Freunde sind selbst dann da. Und wenn nicht, sind es nicht wahre Freunde.''
,,Ich weiss was du meinst. Und Nico weiss was ihm gut tut und was er will. Wer auch immer seine Freunde sind oder waren, er weiss bestimmt was er von ihnen erwarten kann und was nicht. Er hat sich nie mit den falschen abgegeben und das wird sich bestimmt nicht geändert haben.''
,,Das nicht nein. Es wäre nur schön zu sehen, dass diese Freunde auch da sind.''
,,Das sind sie auch. Aber halt auf ihre Art und Weise. Und wir sind dafür richtig hier. Das ist doch alles was zählt, oder?'' Tinas Mutter lächelt mich dankbar an.
Als Tina rauskommt, geht ihre Mutter rein.
MIA
Die Tage vergehen, wie auch die Wochen. Abgesehen von ein paar Zuckungen in den Fingern und unruhiges Flattern der geschlossenen Augen gibt Nico keinen Wank von sich. Meine Besuche werden immmer seltener. Anfangs waren es tägliche Besuche. Jetzt sind es vielleicht noch drei Besuche in der Woche. Ich ziehe mich zurück, gebe Tina vor, dass ich gerade ziemlich vieles um die Ohren hätte. Sie reagiert verständnisvoll und verspricht sich zu melden, wenn es etwas neues gibt. Inzwischen habe ich einen weiteren Brief geöffnet.
Du und ich, niemand anderes. Ich werde dich früher oder später zurückbekommen, egal wie. Denn ich weiss, dass wir zusammengehören und du weisst das auch. Je eher du das einsiehst, desto besser für dich.
D.
Da war der erste Brief direkt liebevoll. Er wird fordernder und es ist nur eine Frage der Zeit bis er bei mir aufkreuzt. Er findet mich immer wieder. Überall. Er hat recht, früher oder später kriegt er mich, wenn auch anders als gedacht.
Mitten in diese Gedanken klingelt mein Handy. Dominik, ist mein erster Gedanke und mein Herzschlag setzt für einen Augenblick lang aus. Doch mit einem Blick auf das Display sehe ich Tinas Name. Ohje, ob etwas mit Nico ist? Ich gehe vom schlimmsten aus und gehe ran.
,,Tina?''
,,Mia, du musst unbedingt ins Krankenhaus kommen!''
,,Ist was passiert?''
,,Ja! Stell dir vor, Nico ist aufgewacht!'', kreischt Tina und ich höre wie sie glückliche Schluchzer von sich gibt.
,,Oh Gott Tina, das ist....das ist....einfach unglaublich!'' Ich kann es kaum fassen.
,,Ja, ich wusste er würde zurückkommen. Du musst herkommen, ja? Unbedingt!''
Gerade als ich zusagen will, klingelt es an der Türe. Ich habe das leise Gefühl zu wissen, wer davor steht.
,,Tina, ich komme sobald ich kann. Ich muss nur noch etwas erledigen.''
,,Ok, aber mach schnell. Mein Gott Mia, ich bin so glücklich!''
,,Ich auch Tina, ich auch. Ich beeile mich.''
Diesmal verspreche ich es nicht, weil ich das Gefühl habe, dieses Versprechen nicht einhalten zu können. Und leider soll ich auch Recht behalten.
NICO
,,Mama? Tina?''
,,Nico mein Schatz, wir sind beide bei dir. Es kommt gleich ein Arzt. Oh Gott Nico, wir sind so froh, dass du wieder bei uns bist.''
Meine Mutter weint. Auch Tina hat Tränen in den Augen, aber sie lächelt.
,,Was ist denn passiert? Warum bin ich hier?''
,,Langsam Nico. Wir erzählen dir gleich alles. Aber zuerst sieht ein Arzt nach dir.''
Da kommt auch schon ein Kittel-Mensch der mich untersucht, Fragen stelllt und dann kurz mit meiner Mutter vor der Tür spricht. Ich schaue Tina an.
,,Tina, was ist passiert?''
,,Du hattest einen Autounfall und bist ins Koma gefallen.''
,,Wie lange ist das her?''
,,Ein halbes Jahr.''
,,Was? Solange habe ich geschlafen?''
,,Ja, da siehst du mal, was für eine Schlafmütze du bist.'', grinst mich Tina an.
Ich grinse zurück. Da habe ich solange gepennt und fühle mich trotzdem wie vom Panzer überfahren.
,,Ihr wart jeden Tag bei mir, stimmts?''
,,Aber sicher. Du bist doch mein Bruder. Wir sind jeden Tag zu dir gekommen.''
,,Und...Mia?''
,,Ja, sie auch. Kannst du dich an sie erinnern?''
,,Klar. Am Anfang war ich kurz verwirrt, aber dann habe ich mich sofort wieder an sie erinnert. Sie war auch täglich bei mir.''
,,Ja, sie hat mich unglaublich unterstützt, also mich und unsere Mutter.''
,,Und mich. Sie hat mich unterhalten und wenn ich nicht geschlafen hätte, hätte sie mich auch richtig zum Lachen gebracht. Es war schön ihr zuzuhören. Wo ist sie?''
,,Ich habe sie vorhin angerufen und ihr Bescheid gegeben. Sie meinte, sie müsse noch was erledigen und würde so schnell sie kann kommen.''
,,Hm. Hoffentlich bald.''
Ich erinnere mich daran, wie sie bei einem Besuch seltsam war, anders als sonst. Ihre Besuche wurden in letzter Zeit seltener und jetzt wo ich wach bin, muss sie zuerst was erledigen. Nachdem, wie ich sie zu Beginn erlebt habe, passt das gar nicht zu ihr.
,,Tina, ich mache mir Sorgen um Mia.''
,,Wieso denn das?'', fragt mich Tina überrascht.
Ich teile ihr mit, woran ich mich erinnere und was mir durch den Kopf geht.
,,Irgendwas stimmt doch nicht. Das passt doch nicht ins Bild, oder?''
,,Naja, sie meinte sie hätte in letzter Zeit ziemlich viel zu tun gehabt.''
,,Ich will ja nicht eingebildet klingen, aber niemand erledigt doch noch etwas kurz wenn jemand gerade aus dem Koma erwacht ist, den man Wochenlang besucht hat. Oder siehst du das anders?''
,,Nein...du hast schon irgendwie recht.''
,,So wie immer.'', Ich tue eingebildet und grinse Tina an.
Meine Schwester, ach wie hab ich sie vermisst.
,,Spassvogel. Ich rufe sie nochmals an.''
,,Tu das.'' Tina geht vor die Tür und ich hoffe darauf, dass sie Mia erreicht.
TINA
Es klingelt und klingelt. Dann die Combox.
,,Mia ich bins, Tina. Wo steckst du denn? Nico hat nach dir gefragt. Er kann sich an alles erinnern, an unsere Besuche und was wir alles erzählt haben. Er möchte dich sehen. Melde dich doch bitte, ja? Tschüss!''
Ich lege auf stecke das Handy nachdenklich wieder in die Tasche. Nico hat recht. Irgendwas stimmt hier nicht. Einmal sei sie komisch gewesen? Naja, jeder hat mal einen schlechten Tag. Aber ihre Besuche haben sich verringert. Gut, sie hat ein eigenes Leben, einen Beruf und auch ihre Sachen zu erledigen. Aber gerade jetzt? Jetzt wo er aufgewacht ist? Nein, das kann wirklich nicht sein. Ich gehe zurück zu Nico, wo nun auch Mama und der Arzt wieder sind.
,,Wir werden Sie über Nacht noch hier behalten. Es gibt noch einige Untersuchungen zu machen bis wir sicher sind, dass wir Sie guten Gewissens entlassen können.''
,,Das sind doch mal gute Nachrichten.'', freut sich Mama.
Der Arzt verabschiedet sich und Nico sieht mich erwartungsvoll an.
,,Und?''
,,Ich habe ihr auf die Combox gesprochen. Aber ich sehe es auch so wie du. Etwas stimmt nicht. Ich fahre nachher gleich zur ihr und sehe nach, ob alles in Ordnung ist.''
,,Tu das und wenn du sie sehen solltest dann sag ihr, dass ich sie wirklich gerne sehen möchte. Ich möchte mich bedanken, dass sie für mich da war.''
,,Das mach ich Nico. Aber zuerst muss ich sie finden...''
Ich verabschiede mich und auch Mama kommt gleich mit.
,,Wir kommen morgen wieder. Ruh dich aus, mein Schatz.''
,,Als ob Nico nicht gerade ein halbes Jahr gepennt hätte.'', lache ich.
Mama und Nico lachen auch, dann gehen wir wieder raus. Der Arzt meinte, Nico brauche jetzt seine Ruhe. Die ganze Aufregung war doch etwas viel für ihn. Nico sah auch relativ erschöpft aus. Wir haben jetzt eine andere Mission: Ab gehts zu Mia.
Bei ihrer Wohnung angekommen klingle ich zuerst einmal. Dann noch einmal. Dann klingle ich Sturm.
,,Tina, das bringt doch nichts. Mia scheint nicht da zu sein.''
,,Aber wo ist sie dann? Sie geht weder an ihr Handy noch antwortet sie auf meine Nachrichten. Mama, das passt doch nicht. Nicht jetzt wo Nico aufgewacht ist.''
,,Ja ich weiss, aber was sollen wir schon machen? Wir wissen ja nicht, was Mia sonst so in der Freizeit gemacht hat und ob sie sonst Probleme hatte.''
Gerade als wir wieder gehen wollen, kommt eine Frau die Treppe hoch. Sie sieht uns bei der Tür von Mia stehen und meint:
,,Wenn ihr zu der jungen Frau wollt seid ihr zu spät. Sie wurde vorhin abgeholt.''
,,Abgeholt? Von wem?'', frage ich verblüfft.
,,Von einem jungen Mann. Den habe ich hier noch nie gesehen und ich fand, sie war nicht sehr erfreut über sein erscheinen. Er war ziemlich grob zu ihr und hat sie mehr mitgezerrt, als dass sie freiwillig mit ihm gegangen wäre.''
,,Wissen Sie den Namen dieses Mannes? Hat er was gesagt?''
,,Er meinte nur, er habe sie gewarnt, er würde sie wieder zurückholen. Die junge Frau meinte bloss ,Lass mich los Dominik'. Dann sind sie in sein Auto gestiegen und weggefahren.''
,,Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen.''
,,Keine Ursache.''
Die Frau verabschiedet sich freundlich und verschwindet in ihrer Wohnung.
,,Siehst du Mama, ich wusste dass etwas faul ist.''
,,Ja, das schon. Aber wenn du keinen Dominik kennst und sie nie was davon erzählt hat, dann können wir wieder nichts tun. Es gibt viele Dominiks.''
,,Ja, ich weiss.''
Frustriert seufze ich auf. Etwas musste man doch tu können. Mia wollte nicht mit ihm weggehen. Er wollte sie zurückholen. Also schien es ein Ex-Freund zu sein. Und vermutlich nicht gerade der tollste Ex. Sie schien fertig mit ihm zu sein, aber er nicht mit ihr.
Mama und ich gehen zurück zum Auto und fahren nach Hause. Doch die ganze Zeit überlege ich, wie ich herausfinen kann, wo Mia steckt. Ihr Handy ist immer noch ausgeschaltet und somit bekommt sie keine Nachrichten. Zur Polizei kann ich nicht gehen, weil die erst nach 24 Stunden nach ihr suchen würden. Es musste also einen anderen Weg geben. Aber welchen?
Dies ist der zweite Teil der Geschichte. Nico ist wieder aufgewacht und kann seine Zukunft und sein neues Leben endlich beginnen. Wäre da nur nicht die Frage, was mit Mia ist. Sie scheint verschwunden zu sein. Sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Doch da auf ihn ein Job in den USA wartet, kann er sich nicht lange den Kopf darüber zerbrechen. Zum Glück ist da noch seine Schwester Tina. Auch sie beschäftigt der Gedanke, was mit Mia ist. Doch sie findet einen Weg herauszufinden, wo sie sein könnte und was passiert ist.
Wer ist Dominik? Was will er von Mia? Was hat er mit Mia gemacht? Was ist die Geschichte von Dominik und Mia?
Das alles will Tina herausfinden.
Und ob Nico und Mia sich doch noch finden, das verrät alles der zweite Teil dieses Buches.
MIA
,,Dominik, was genau willst du eigentlich erreichen?''
,,Ich will, dass wir wieder zusammen sind.''
,,Du weisst warum ich gegangen bin.''
,,Ja, aber jeder hat eine neue Chance verdient.''
Ich glaube ich spinne!
,,Eine? Du hast zu viele Chancen vermasselt und ich hab es zu lange ertragen! Ich will nicht mehr!'', schreie ich und hoffe, dass wenigstens ein Teil davon bei ihm angekommen ist.
Seine bittenden Augen wechseln den Ausdruck zu besitzergreifend und gefährlich. Er packt mich am Arm.
,,Du hast schon mal gar nicht zu sagen, wann es vorbei ist. Das sage Ich. Niemand sonst! Und ich sage, es ist nicht vorbei.''
Sein Ton verbietet jeglichen Widerspruch, wenn ich heil davon kommen will. Ich füge mich also wieder einmal meinem Schicksal und kann nur hoffen, dass mir bald ein neuer Plan einfällt. Einer, der mich ein für allemal von ihm befreit. Die Polizei war da ja bisher überhaupt nicht hilfreich. Wenn es um die geht, müsste er mich erst windelweich prügeln, bevor sie überhaupt etwas unternehmen können. Polizei - dein Freund und Helfer--> aber erst nach eingesetzter Gewalt. Vorher können wir leider nichts für Sie tun.
Immerhin ist Dominik noch soweit menschlich, dass er mich nicht unsittlich anfässt oder sonst was tut. Noch nicht. Soweit waren wir ja schon und soweit darf es nicht mehr kommen. Andererseits wäre es dann leichter der Polizei Beweise zu liefern. Irgendwie traurig, dass zuerst ein Gewaltverbrechen passieren muss, bevor die Polizei helfen kann.
TINA
Meine Mission kann beginnen. Ich bin mit dem Auto unterwegs zu Mia. Mal sehen, was ich herausfinden kann.
Bei Mias Wohnung angekommen gehe ich nochmals zu ihrer Tür und drücke die Klinke runter. Geschlossen. War ja klar. Ob es irgendwo einen Ersatzschlüssel gibt? Unter der Fussmatte? Leider nein. Viel mehr gibt es im Flur nicht, das sich als Versteck eignet. Schon gar nicht in einem Wohnblock. Ich gehe nochmals nach draussen und suche nach ihrem Briefkasten. Gesucht, gefunden und aufgemacht. Es liegt Post drin. Ich fühle mich schon etwas unbehaglich, aber wenn Mia in den Ferien wäre, würde ja auch jemand, vielleicht auch ich, den Briefkasten leeren. Mit dem Unterschied, dass ich die Post durchsehe. Vielleicht ist ja ein Hinweis versteckt? Dazu allerdings setze ich mich zurück ins Auto.
Tatsächlich ist ein Brief unter den Zeitungen und Werbeprospekten, der an Mia adressiert ist. Und eine Rechnung wird es kaum sein, denn die Adresse wurde von Hand geschrieben. Es gibt zwar dieses Briefgeheimnis, aber darauf kann ich nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Ich öffne den Brief und beim Lesen wird mir einiges klar.
Mia,
je länger du dich versuchst von mir fernzuhalten, desto mehr werde ich versuchen dich zurückzubekommen. Je länger das dauert, desto weniger kümmert es mich wie ich das schaffe. Ich habe es mit netten Worten versucht, doch du hast nicht reagiert. Am Telefon warst du äusserst unhöflich und hast einfach aufgelegt. Du solltest mich inzwischen gut genug kennen um zu wissen, dass ich mich damit nicht zufrieden geben werde. Entweder du kommst freiwillig oder ich hole dich. Deine Entscheidung.
D.
D wie Dominik. Wieso dieser Depp seinen Absender auf den Umschlag schreibt, weiss ich auch nicht, aber ich bin ihm äusserst dankar. Am liebsten würde ich sofort zu dieser Adresse fahren. Aber was, wenn er gewalttätig ist oder wird und Mia was antut? Oder schon angetan hat? Dann wird er mich nicht verschonen. So haben wir dann nichts davon. Ich muss mir was überlegen. Und wer könnte mir besser dabei helfen als Nico? Zum Glück konnte er nach ein paar Tagen wieder nach Hause. Keine bleibenden Schäden, nur noch etwas erschöpft. Mehr Glück als Verstand, würde ich sagen. Leider fliegt er in einer Woche nach Amerika, wo er endlich seinen neuen Job beginnen kann. Er freut sich zwar, aber man merkt, dass er durch die Ungewissheit, was mit Mia ist, bedrückt ist und sich nicht so freuen kann, wie er sich gerne freuen würde. Selbst Mama kann ihn nicht richtig aufheitern und ablenken. Dann mal los nach Hause, dann kann er wenigstens was sinnvolles tun und mir helfen. Und vor allem Mia.
NICO
Als Tina mir den Brief zeigt würde ich dem Kerl am liebsten eine reinhauen. So ein Mistkerl!
,,Nico, beruhig dich jetzt.''
,,Beruhigen? Mia will nicht bei dem Typen sein. Er hat sie quasi entführt.''
Wie kann Tina so ruhig sein?
,,Hör zu, Nico, wir können Mia nur helfen, wenn wir Ruhe bewahren und überlegen was wir als nächstes tun. Wir wollen sie ja nicht noch in zusätzliche Gefahr bringen.''
Das leuchtet mir ein. So verbringen Tina und ich den Rest des Tages damit uns zu überlegen wie wir Mia helfen können.
Wir entschliessen uns dazu, dass es am einfachsten ist, einen normalen Besuch zu machen. Wenn er sie nicht gleich als Geisel mitgenommen hat, sollte sie ja Besuch empfangen dürfen. Und da ich in einer Woche nach Amerika fliege, habe ich einen guten Grund mich von ihr zu verabschieden. Das sollte selbst diesem Dummkopf klar sein.
Am Abend liege ich noch lange wach in meinem Bett. Es ist zum verrückt werden. Ich denke die ganze Zeit an Mia, an ihre Unterhaltungen und wie sie immer mal wieder meine Hand gehalten hat. Oder als sie versucht hat mich mit ihren Eisfingern zum Zucken zu bringen. Ein Grinsen huscht über mein Gesicht bei diesem Gedanken. Das Schräge an dem ganzen ist, dass ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe und auch jetzt nicht weiss, wie sie aussieht. So extrem wird sie sich ja nicht verändert haben, wenn Tina sie beim Zusammenstoss direkt wiedererkannt hat. Ich kann es kaum erwarten sie zu sehen und ihr zu danken. Ich kann nur hoffen, dass unser Besuch morgen nicht in die Hose geht.
MIA
Es klingelt an der Tür. Wer das wohl sein mag? Ich will mich aufrichten um an die Tür zu gehen, da merke ich, dass irgendwas nicht stimmt. Ich fühle mich extrem träge und schwach. Mein Kopf brummt leicht. Was ist nur los mit mir? Ich liege im Bett, in unserem ehemaligen Bett. Von Dominik ist keine Spur zu sehen. Wieviel Uhr ist eigentlich? Mit einem Blick auf den Wecker stelle ich fest, dass es bereits Mittag ist. Ich sollte doch zur Arbeit. Es klingelt erneut an der Tür, doch ich kann mich kaum bewegen. Ich versuche mich daran zu erinnern, was zuletzt passiert ist. Nur langsam finden sich einzelne Erinnerungsfetzen in meinem Hirn und fügen sich zu einem einigermassen verständlichen Puzzle zusammen. Dominik hat für uns gekocht, es gab Wein. Aber ich trinke nicht gerne Wein. Ihm zuliebe habe ich einen Schluck genommen, weil er schon wieder diesen Ausdruck in den Augen hatte. Danach wollte er es sich mit mir vor dem Fernseher gemütlich machen. Hier bricht die Erinnerung ab. Ob er mir was ins Getränkt gemischt hat? Aber ich hatte das Glas ja die ganze Zeit bei mir. Seltsam. Und wo ist eigentlich mein Handy? Ich wollte doch Tina Bescheid geben, dass ich Nico noch nicht besuchen kann. Nicht, dass sie sich noch Sorgen um mich macht. Auch, wenn sie Grund dazu hätte. Mein Verhalten in den letzten Tagen war ja auch mehr als auffällig.
Plötzlich höre ich Dominiks Stimme vor der Tür. Mit wem spricht er da? Tina? Nico? Wie kann das sein? Woher wissen sie, wo ich bin?
,,Mia geht es nicht so gut. Sie hat sich eine schwere Grippe eingefangen und braucht Ruhe. Sie wird sich melden sobald es ihr wieder besser geht.''
,,Ich hoffe bald. Ich bin nicht mehr lange hier, ich fliege bald in die USA.''
,,Ich kann nichts versprechen. Ich will dass sie sich richtig erholt. Sie scheint die letzten Wochen zu wenig Zeit für sich gehabt zu haben. Das holt sie jetzt nach.''
Nico brummt etwas unverständliches und Tina meint:
,,In Ordnung. Dann warten wir auf ihren Anruf. Liebe Grüsse an Mia.''
,,Werde ich ihr ausrichten.''
Er öffnet die Wohnungstür und schliesst sie hinter sich. Grippe? Ich? Abgesehen von dieser Trägheit geht es mir blendend! Was will er bloss damit bezwecken?
Dominik kommt ins Zimmer und sieht, dass ich wach bin.
,,Na, meine Schöne? Gut geschlafen?''
,,Zulange. Ich sollte zur Arbeit gehen.''
,,Ich habe dich krank gemeldet. Wie fühlst du dich?''
,,So, als ob mir jemand Drogen verabreicht hätte.''
Dominik lächelt mich an.
,,Mia, wer sollte dir denn Drogen gegeben haben? Wir zwei sind die einzigen in dieser Wohnung.''
,,Eben.''
,,Du denkst doch nicht, dass ich....Mia! Sowas würde ich niemals tun! Du bist ja auch so zu mir zurückgekommen.''
,,Nicht ganz.''
,,Ich mache uns was zu Essen.''
Abrupt wendet sich Dominik zum gehen.
,,Wo ist mein Handy?'', frage ich ihn.
,,Ich habe es weggeworfen. Das Ding hat nicht mehr richtig funktioniert. Du brauchst ja jetzt keines mehr, wenn du wieder bei mir bist.''
Mir bleibt die Spucke weg. Was hat er gemacht?
,,Du...du hast mein Handy...warum? Es hat noch prima funktioniert! Wie soll ich denn jetzt Tina erreichen? Oder das Geschäft?''
,,Gar nicht. Wie gesagt, im Geschäft habe ich dich krankgemeldet und Tina weiss, dass du nicht so fit bist.''
Nicht so fit. Vorhin war es noch eine schwere Grippe.
,,Und wenn ich sonst mal telefonieren muss?''
Dominik und ich hatten von Anfang an, als wir zusammenzogen, kein Haustelefon. Wozu ein Haustelefon, wenn wir eh nur via Handy telefonieren? Jetzt wünschte ich, wir hätten eins.
,,Wen musst du denn anrufen? Das kann ich ja für dich erledigen oder du kannst meines kurz ausleihen.''
Will mich dieser Mensch komplett von der Aussenwelt trennen? Mir kommt es beinahe so vor.
,,Dominik, '', versuche ich es nochmals mit ganz ruhiger Stimme, ,,ich weiss nicht, was gerade los ist. Ich fühle mich zwar sehr müde, aber ich habe weder eine Grippe noch sonst was. Morgen gehe ich wieder zur Arbeit und komme dann wieder hierhin zurück. Du kannst mich nicht ewig zu Hause behalten. Die im Geschäft werden sich auch fragen was los ist. Ich brauche ein Arztzeugnis und dazu muss ich zum Arzt. Der Arzt wird feststellen, dass mir nichts fehlt und mich nicht krankschreiben lassen.''
Oder er wird Drogen in meinem Blut entdecken und handeln.
,,Mia, mach dir keine Sorgen. Ich habe an alles gedacht und alles geregelt. Ruh dich aus und geniesse deine Zeit mit mir. Das ist alles was jetzt zählt.''
Für mich zählen in diesem Moment ganz andere Dinge. Und ER gehört absolut nicht dazu. Aber was soll ich tun? Kein Handy, kein Kontakt zu niemandem und diese Müdigkeit. Verdammt! Was hat er bloss mit mir gemacht?
Bevor ich weiter nachdenken kann, überrollt mich erneut der Schlaf und ich falle in ein tiefes dunkles Nichts.
TINA
,,Grüsse Mike von mir, ja?''
Schon wieder ein Abschied. Ach, wie ich das hasse! Aber gleichzeitig freue ich mich, dass Nico endlich sein neues Leben in den USA beginnen kann. Auch, wenn diese Freude von einem Schatten betrübt wird. Mia. Kein Zeichen, dass es ihr gut geht. Trotz mehrmaligen Besuchen bei ihr und bei der Polizei konnten wir nichts erreichen. Wir haben ja auch nichts was belegt, dass sie in Gefahr ist. Die Aussage der Nachbarin hilft herzlich wenig. Mia ist ein erwachsener Mensch, der auf sich selbst aufpassen kann. Solange Dominik in dieser Wohnung wohnt, scheint Mia immerhin auch wohlauf zu sein. Schliesslich war aus dem Brief zu entnehmen, dass er mit ihr zusammen sein will. Wieder. Mit oder ohne ihr Einverständnis. Für die Polizei sieht es so aus, als ob sie sich wieder für ihn entschieden hat. Völliger Schwachsinn, aber ja.
,,Und du bleibst an der Sache mit Mia dran, versprochen? Ich kann es einfach nicht fassen, dass ich jetzt fliege ohne vorher mit Mia gesprochen zu haben. Ohne, dass ich sie kurz sehen konnte.''
,,Ich weiss, das macht dich fertig. Aber du musst dich jetzt auf deine Zukunft konzentrieren und ja, ich bleibe an der Sache dran, versprochen.''
Ein letztes Mal umarmen wir uns fest, dann nimmt Nico seine Reisetasche und macht sich auf den Weg zu seinem Gate.
Ich fahre zurück nach Hause und frage mich, wie es nun weitergeht. Nico ist weg, Mia ist unauffindbar und ich habe Wochenende. Nach kurzer Überlegung entschliesse ich mich, mehr über diesen Dominik herauszufinden. Das geht am besten, wenn ich seinen Namen google und ihn observiere. Das wird ein spannendes Unterfangen!
Zuhause angekommen setze ich mich sofort an den Laptop und suche seinen Namen. Dominik Hintermann. Sofort taucht ein Artikel über ihn auf.
26-jähriger schlägt wiederholt auf seine Freundin (25) ein
Das Bild, das ich sehe schockiert mich. Mia. Kein Zweifel, es ist Mia. Offensichtlich wurde er bereits mehrmals gewalttätig und hat sie geschlagen. Sie hat Anzeige gegen ihn erstattet, diese jedoch bald wieder fallengelassen und sich geweigert weiterhin mit der Polizei zu kooperieren. Warum? Was hat dieser Typ gemacht, dass sie sich ihm zuwendet und von der Polizei abwendet? Auf diesem Bild ist eindeutig zu sehen, dass sie geschlagen wurde. Sie kann doch nicht ernsthaft denken, er würde sich ändern? Aber der Grund, weshalb sie die Aussage zurückgenommen hat, der würde mich interessieren. Wird Zeit dem Mistkerl auf die Schliche zu kommen. DRINGEND!
Wie von der Tarantel gestochen hetze ich zurück zum Auto und fahre zur Wohnung von Dominik. Als ich ankomme, sehe ich zumindest Licht in seiner Wohnung brennen. Wenn er da ist, muss sie auch da sein. Wie weiter? Am besten warte ich ab, ob der gnädige Herr einmal die Wohnung noch verlässt. Sonst warte ich halt die ganze Nacht hier, wenn es sein muss. Solange kann ich weiter über ihn recherchieren und mir Gedanken darüber machen was ich tue, wenn es dann soweit ist..
MIA
Ich kann nur hoffen, dass Dominik bald die Fliege macht. Heute hatte ich weder Hunger, noch habe ich etwas getrunken was er mir gegeben hat. Und tada! Ich fühle mich endlich wieder kräftiger. Dennoch habe ich mich bemüht möglichst schwach zu wirken. So wie immer halt, damit er keinen Verdacht schöpft.
,,Mia Schatz?''
Er kommt ins Zimmer, die Schuhe angezogen und den Autoschlüssel in der Hand. Das sieht so aus, als könnte ich meinen Plan heute in die Tat umsetzen.
,,Ja?''
,,Ich fahre noch zu einem Kumpel. Bin ungefähr in einer Stunde wieder da, dann habe ich nur noch Zeit für dich.''
Er streicht mir über den Kopf und geht.
,,In Ordnung, viel Spass.'', wünsche ich ihm bevor er die Haustür hinter sich schliesst.
Ich warte noch ein wenig ab bis ich das Auto wegfahren höre. Jetzt ist der ideale Moment gekommen! Nichts wie weg hier! In aller Windeseile ziehe ich mir Schuhe und eine Jacke an. Da ich weder Handy noch sonst was habe, brauche ich nichts weiter mitzunehmen. Ich wüsste nicht einmal wo mein Geldbeutel hingekommen ist. Aber dafür ist jetzt keine Zeit, das muss warten.
Die Haustür ist natürlich verschlossen. Aber wir sind direkt auf der ersten Etage, also gar nicht so hoch oben. Ich klettere einfach durch das Fenster und hoffe, dass ich mir nicht all zu viele Knochen breche, wenn ich springe.
Während ich mich bereit mache fällt mir ein, dass ich heute nichts richtiges gegessen und zu wenig getrunken habe. Hinzu kommen die Drogen, wie ich vermute, die sich noch immer in meinem Blut befinden und dazu beitragen, dass ich noch nicht 100% fit bin. Aber für eine Flucht wird es reichen. Ich öffne das Fenster und steige vorsichtig auf den Festersims. Obwohl es nicht so hoch ist, wird mir leicht schwummrig vor den Augen. Wenn das mal gut geht. Langsam, ganz langsam drehe ich mich um, damit ich wenigstens nicht direkt runterschauen muss und mich besser festhalten kann. Am Fensterrahmen, dann am Fensterbrett. Langsam in die Hocke gehen und schauen, wo ich meinen Fuss als nächstes platzieren kann. Jetzt bloss nicht die Nerven verlieren und ausrutschen. Der Boden ist maximal zwei Meter unter mir. Das schaffe ich. Da ich meinen Fuss nur an der Wand einigermassen abstützen kann, fehlt mir der richtige Halt und ich komme leicht ins Rutschen. Mittlerweile hänge ich quasi in der Luft und meine Kräfte lassen langsam nach. Ich lasse los.
,,Au, mist! Mein Fuss.''
Etwas unsanft gelandet und eingeknickt, aber alles noch dran und alle Knochen noch ganz. Ich rapple mich einigermassen auf, als ich eine dunkle Gestalt aus einem Auto steigen sehe. Mein Herz bleibt stehen, der Atem stockt. Dominik? Habe ich sein Auto nicht gehört? Nein, bitte nicht! Ich schreie, wenn er es ist. In Panik versuche ich schneller zu laufen, als ich meinen Namen höre.
,,Mia! Mia warte!''
Das klingt nicht nach Dominik. Zu weiblich. WEIBLICH??
,,Tina?''
Erschrocken starre ich in ihr Gesicht, als sie mich an den Armen festhält.
,,Mia, du meine Güte, ja ich bins, Tina!''
Völlig erleichtert lasse ich mich in ihre Arme sinken und fange an zu Schluchzen.
,,Tina, oh Gott, Tina.''
,,Alles ist gut Mia, ich bin da. Ich bringe dich in Sicherheit.''
Sie stützt mich mit beiden Armen und führt mich zu ihrem Auto. Völlig fertig lasse ich mich auf den Beifahrersitz plumpsen. Tina verliert keine Zeit, startet den Wagen und gibt Gas. Bloss weg von hier!
Erst als Tina das Auto bei sich zu Hause parkiert und mich ins Wohnzimmer gebracht hat spüre ich einen stechenden Schmerz im Fuss.
,,Ah, mein Fuss. Mist! Ich hab ihn tatsächlich verknackst.''
Erschöpft lasse ich mich auf das Sofa fallen.
,,Ich hole dir ein Eis. Du bist ja auch ziemlich unglücklich gefallen.''
,,Hast du das etwa gesehen?''
,,Klar. Deswegen bin ich ja ausgestiegen.''
Tina verschwindet in der Küche um kurz darauf mit einem Eisbeutel zurückzukommen. Sie bettet meinen Fuss auf ein Kissen und platziert den Eisbeutel drauf.
,,Scheisse ist das kalt.''
,,Dafür geht hoffentlich die Schwellung etwas zurück oder zumindest nicht noch weiter auf.''
Sie setzt sich neben mich aufs Sofa.
,,Wie hast du mich gefunden, Tina? Du und Nico, ihr wart schon mal da, stimmts?''
,,Ja, das stimmt. Aber Dominik hat uns abgewimmelt. Wir hatten nichts in der Hand um dich da rauszuholen. Aber durch den letzten Brief, den ich aus dem Briefkasten geholt habe war mir klar, dass du nicht freiwillig bei ihm warst.''
,,Brief?''
,,Ja.'' Schuldbewusst senkt Tina die Augen.
,,Ich war bei deiner Wohnung und suchte nach irgendeiner Spur, einem Hinweis. In deinem Briefkasten lag unter anderem ein Brief von Dominik. Aus irgendeinem Grund hat der Trottel seinen Absender draufgeschrieben. So konnten wir zu ihm fahren. Aber der Brief reichte natürlich nicht aus um bei der Polizei was zu bewirken. Für sie sah das aus, als wärst du zu deinem Ex zurückgegangen. Fertig.''
,,Verständlich. Aber du hast nicht aufgegeben.''
,,Natürlich nicht. Ich hab es auch Nico versprochen. Der ist ja erst gerade nach Amerika geflogen. Einerseits freute er sich aber es bedrückte ihn auch sehr, dass wir dich noch nicht da rausholen konnten. Am besten ich schreibe ihm dann gleich, wenn er sich meldet.''
,,Wann ist er geflogen?''
,,Heute Nachmittag.''
,,Okay. Dann wird es noch eine Weile dauern, bis er landet.''
Einen kurzen Moment sind wir beide still. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Tina mich gefunden und gerettet hat. Ob ich auch so entkommen wäre? Trotz meines Fusses?
,,Wir müssen zur Polizei gehen, Mia.''
,,Ja, das müssen wir. Einerseits um nachweisen zu können, dass er mir was ins Essen oder in die Getränke gemischt hat und vor allem, damit ich ihn endlich anzeigen kann. Diesmal endgültig.''
,,Danach geht es ab zum Arzt wegen deinem Fuss.''
,,Richtig. Heute noch?''
,,Erstmal die Polizei. Dann sehen wir weiter.''
Gesagt, getan.
Noch am selben Abend fahren wir zur Polizei, lassen eine Blutprobe von mir nehmen und ich gebe eine Anzeige auf. Da er bereits polizeilich bekannt ist, dürfte es nicht all zu schwierig sein erneut gegen ihn zu ermitteln.
Beim Arzt erfahre ich, dass mein Fuss leicht verstaucht ist. Hätte schlimmer sein können.
,,Du musst dich jetzt schonen, Mia. Und zwar bei mir zu Hause. Meine Mutter ist ja auch da und wird genauso auf dich aufpassen.''
,,Danke Tina. Aber das kann nicht ewig so gehen.''
,,Es hat ja noch nicht mal angefangen.'', grinst mich Tina an.
Ich grinse zurück und bin froh endlich wieder ruhig schlafen zu können. Alles weitere würden wir die nächsten Tage besprechen und planen.
TINA
Kaum meldet sich Nico, dass er gelandet ist, schreibe ich ihm die Neuigkeit. Keine Minute später klingelt mein Handy.
,,Wie geht es ihr?'', fragt er anstelle einer Begrüssung.
,,Es geht ihr gut soweit. Sie hat sich bei der Flucht den Fuss verstaucht. Aber ansonsten ist sie ok. Wir haben den Typen angezeigt und nun erholt sie sich bei uns Zuhause.''
,,Dir ist aber klar, dass Dominik noch gefährlich werden kann, bis er wirklich verhaftet wird.''
,,Natürlich ist mir das klar. Zumal von ihm jede Spur fehlt...''
,,Der ist abgehauen?'', ruft Nico fassungslos.
,,Ja dachtest du, der stellt sich freiwillig?''
,,Nein, das nicht. Ich weiss auch nicht. Und nun?''
,,Das ist die grosse Quizfrage. Früher oder später, wenn Mia auch wieder besser laufen und vor allem wieder arbeiten kann, wird er sie abfangen. Die Polizei ist da ja eher....nun ja, es gibt schlimmere Fälle für die Police.''
,,Das stimmt.''
,,Stell dir vor, Dominik hat sie bei der Arbeit nicht nur krankgemeldet, der war dabei die Stelle zu kündigen. Irgendeine fadenscheinige Ausrede. Aber die waren zum Glück nicht so blöd und meinten, sie würden noch abwarten, bis sich Mia selbst meldet.''
,,Na hoffentlich. Seit wann kann schon jemand anderes die Stelle für einen künden.''
,,Bei Psychos wie Dominik weiss man nie.''
,,Da hast du auch wieder recht.''
Nachdem wir aufgelegt haben, schliesslich kostet so ein Telefonat auch ziemlich was, sehe ich nach Mia. Sie schläft in meinem Bett und sieht friedlich aus. Ich bin so froh für sie. Aber was tun, wie soll es weiter gehen? Der Arzt meinte, der Fuss sollte in ungefähr zwei Wochen wieder fit sein. Bis dahin ist Mia diesmal in echt krankgeschrieben und ruht sich aus. Aber was danach kommt...Grübelnd setze ich mich an den Küchentisch.
,,Tina, bist du da?'', höre ich plötzlich Mama rufen.
Ich habe völlig die Zeit vergessen und sehe auf der Uhr, dass bereits wieder Abendbrotzeit ist.
,,Ich bin in der Küche, Mama.''
,,Hallo meine Kleine. Ist Mia auch da?''
,,Sie schläft in meinem Bett.''
,,Das ist gut. So erholt sie sich am schnellsten.''
,,Du Mama?''
,,Ja?''
,,Wenn Mia wieder fit ist, dann wird sie wieder zur Arbeit gehen. Ob Dominik bis dahin von der Polizei gefasst wurde, wissen wir ja nicht. Wir können sie ja nicht rund um die Uhr beschützen.''
,,Hm, da hast du recht.''
,,Mir ist da eine Idee gekommen. Allerdings muss ich bei ihrem Geschäft nachfragen, wieviel Urlaub sie noch übrig hat und was sie von der Idee halten. Ich habe nämlich das Gefühl, dass ihr Team sehr familiär und bestimmt auch daran interessiert ist, dass Mia in erster Linie sicher ist. Die Arbeit kann bis dahin warten.''
,,Und was schwebt dir so vor?''
Ich lächle Mama an und winke sie verschwörerisch näher. Solange es eine Idee ist, sollte nur sie davon wissen. Und Nico natürlich. Aber der ist ja nicht da. Erst dann, wenn es wirklich klappen sollte, würden wir Mia einweihen. Aber da ich auch nochmals Urlaub nehmen könnte, von mir aus auch unbezahlten, wäre sie sicher mit dabei...
2 WOCHEN SPÄTER
MIA
Himmel bin ich aufgeregt. Nervös trete ich von einem Bein aufs andere. Zum Glück ist mein Fuss wieder fit, so brauche ich wenigstens nicht nur auf einem Bein zu hüpfen. Haha, ich weiss, sehr lustig. Der Grund für meine Hibbeligkeit ist der, dass ich am Flughafen bin. Mit Tina und ihrer Mutter. Tina und ich fliegen nämlich gemeinsam -na, wohin wohl? Richtig!- zu Nico! Die Idee stammt von Tina, einfach genial! Da Dominik immer noch nicht gefasst wurde und ich vorläufig an diesem Ort nicht sicher sein werde, hat Tina vorgeschlagen für eine Weile zu Nico in die USA zu fliegen. So kann sie ihren Mike wiedersehen und ich finde Unterschlupf bei Nico. Er war ganz begeistert von der Idee. So könne er sich endlich richtig bei mir bedanken und würde mich so auch wieder sehen nach all den Jahren. Der Gedanke daran, dass ich für sicher zwei Wochen bei Nico wohnen würde, hat mich vom ersten Moment an kribbelig gemacht. Da ich aber nicht nur bei ihm wohnen, sondern auch nützlich sein will, hat sein Boss, der zufällig die neue Liebe von Tina ist, mir einen Teilzeitjob in seiner Firma besorgt. Am Empfang, was ich noch hinkriegen werde. Das Bauunternehmen arbeitet mit deutschen Firmen zusammen, weswegen die Sprache nicht so ein Problem sein wird. Ausserdem wäre ich ja nicht alleine sondern arbeite mit jemandem zusammen. Besser kann es nicht werden.
Was mein eigentlicher Job betrifft, der habe ich vorläufig auf Eis gelegt. Tina, ich und ihre Mutter haben mit meiner Chefin gesprochen und ihr alles nötige erzählt. Sie meinte, es sei klar, dass ich mich erstmal in Sicherheit bringen müsse und meine Arbeit solange warten müsse. Damit die aber nicht das Team zusätzlich übernehmen muss, stellt sie eine Studentin ein, die teilweise aushelfen kann. So ist sie niemandem neues verpflichtet und dennoch wird meine Arbeit erledigt. Sollte ich nach zwei-drei Wochen wieder zurückkehren, kann ich zurück an meinen Arbeitsplatz. Arbeit gibt es immer genug bei uns, daher muss die Studentin auch nicht gleich den Platz räumen. Das finde ich am besten, weil ich sonst ein echt schlechtes Gewissen gehabt hätte.
Mein Handy hat der Idiot glücklicherweise nicht weggeworfen. Beim zusammenpacken in meiner Wohnung habe ich es auf dem Küchentisch gesehen. Klar, ich hatte ja kurz vorher mit Tina gesprochen und es dann dort hingelegt, als Dominik mich mitgenommen hat. Ein Glück! Die Nummer habe ich dennoch gewechselt. Sicher ist sicher. Seine anderen Briefe haben wir der Polizei übergeben. Je mehr Beweismittel sie haben, desto besser. In meinem Blut wurden übrigens tatsächlich Spuren von Betäubungsmittel gefunden. Sobald sie einen Durchsuchungsbefehl haben, werden sie noch die Wohnung von Dominik unter die Lupe nehmen. Hoffen wir mal, dass er nicht alle Beweismittel vernichtet hat. Ansonsten hätten wir immer noch die frühere Anzeige, seine Briefe und eine Vorstrafe von ihm, die ihn so oder so zu einer Strafe verurteilen liesse. Was das für eine wäre, ist offen. Aber darüber mache ich mir im Moment keine Gedanken. Das soll die Polizei übernehmen. Ich fliege nun mit Tina nach Amerika und treffe Nico - endlich!
,,Seid ihr bereit, meine Lieben?'', fragt uns Tinas Mutter.
Wir sehen uns an. Und ob wir bereit sind!
,,Tschüss Mama, pass auf dich auf.''
,,Das muss ich eher euch beiden sagen. Ihr fliegt gleich über den Ozean, nicht ich. Meldet euch, wenn ihr gelandet seid und auch später, damit ich weiss, dass es euch gut geht.''
,,Machen wir, Mama.''
Sie umarmt erst Tina, dann mich.
,,Mia, schau gut zu dir und denk nicht zu fest dran, was mit Dominik passiert oder nicht passiert. Egal was kommt, du bist nicht alleine. Du hast uns und wir sind da für dich. Jederzeit.''
,,Vielen Dank, das weiss ich sehr zu schätzen. Aber sei bitte auch vorsichtig.''
,,Keine Sorge, ich weiss mich zu wehren.'', zwinkert mir Tinas Mutter zu.
Dann ist es Zeit zum Gate zu gehen. Der Flug wartet schliesslich nicht. Und ich habe auch keine Lust mehr zu warten. Amerika! Nico! Wir kommen!
,,Na, alles gut, Mia?'', fragt mich Tina, als wir festgeschnallt sind.
,,Ja, alles ist gut.''
Ich seufze glücklich und schaue aus dem Mini-Fenster. Obwohl es so klein ist, sehe ich relativ viel. Das Wetter spielt mit, Tina hat mir den Fensterplatz überlassen, da es mein erster Flug ist und ich geniesse jede Sekunde davon. Das Rattern des Motors bestätigt, dass wir demnächst losfahren um dann endlich über den Wolken zu fliegen. Ich fühle mich federleicht und schliesse die Augen als das Flugzeug langsam abhebt. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl ist das. In ein paar Stunden werde ich endlich Nico sehen. Diesmal nicht schlafend. *grins*
NICO
Als die Maschine von Tina und Mia landet, warte ich bereits seit Stunden nervös vor der Absperrung, wo die beiden jeden Moment erscheinen werden. Ich bin super aufgeregt. Wieso eigentlich? Weil Mia dabei ist? Weil ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe und die letzten Wochen nur ihre Stimme hören durfte? Dass meine Nervosität nicht von Tina kommt, da bin ich mir sicher. Denn, sobald ich mir vorstelle, dass nur Tina kommt, freue ich mich zwar, doch die Nervosität schrumpft um einiges zusammen. Ich hoffe, man sieht es mir nicht an. Ungeduldig schaue ich wieder auf die Uhr. Fünf Minuten sind bereits vergangen. Für mich fühlt es sich wie eine Ewigkeit an.
,,Nico!'', höre ich plötzlich eine mir bekannte Stimme.
Ich suche mit den Augen nach ihr und entdecke sie. Tina kommt winkend mit Mia im Schlepptau auf mich zugestürmt und fällt mir um den Hals.
,,Tina! Endlich seid ihr da!''
Ich drücke sie fest, als hätten wir uns monatelang nicht gesehen. Dann schaue ich zu Mia. Sie steht ruhig neben Tina und lächelt mich an. Wie toll sie aussieht! Ihr Haar ist länger geworden und hat leichte Locken drin. Ihre hellen Augen funkeln mich glücklich an. Und wie sie lächelt...da schmilzt doch jeder gleich dahin!
,,Mia. Wie schön dich endlich zu sehen.''
Mit klopfendem Herzen umarme ich auch sie, erst etwas zurückhaltend, doch dann drücken wir uns genauso wie zuvor Tina und ich. Es ist ein schönes Gefühl Mia in den Armen zu halten.
,,So schön, dass ihr beide da seid.'', sage ich als wir uns voneinander gelöst haben.
,,Danke, dass ich eine Weile bei dir wohnen darf.'', entgegnet Mia.
,,Ist doch klar. Platz ist genug und so bin ich auch nicht alleine.''
,,Und ich sehe Mike endlich wieder.''
,,Das wird auch Zeit. Er schwärmt die ganze Zeit von dir. Hab mich schon gefragt, ob er wirklich von dir spricht oder mit jemandem verwechselt.''
,,He!''
Tina boxt mich spielerisch in die Seite, wobei Mia lachen muss. Dann endlich geht es zum Ausgang wo ein Taxi auf uns wartet.
,,Tja, die Stadt oder das Land der Taxis. So sind wir am einfachsten unterwegs. Taxi, Bus oder U-Bahn. Aber keine Sorge, ich schaue schon, dass ihr zwei euch nicht verirrt.''
,,Das ist gut. Mein Orientierungssinn ist nämlich gleich null.'', antwortet Mia und setzt sich an das eine Fenster.
Mit Tina in der Mitte fahren wir zu meiner Wohnung. Während der Fahrt schaut Mia völlig begeistert aus dem Fenster. Sie scheint es immer noch nicht glauben zu können, dass sie hier ist. Ich kann es auch kaum glauben. So viele Jahre sind vergangen. Ihre Augen leuchten und ihr Gesicht strahlt. Es macht mich unglaublich glücklich sie so zu sehen. Vor allem nach dem, was ihr alles passiert ist. Also, alles heisst das, was die letzten paar Wochen war. Tina hat mir zwar den Zeitungsartikel gemailt, aber dass das wohl nur ein kleiner Teil ihrer traumatischen Beziehung war, kann ich mir gut vorstellen. Umso wichtiger, dass ich sie nun auf andere Gedanken bringe und sie sich hier wohl fühlt bei mir. Meiner und Tinas Blicke kreuzen sich. Wir lächeln uns an und denken bestimmt gerade dasselbe. Wir beschützen Mia, egal was kommt.
Kurze Zeit später sind wir endlich da. Auf gehts in die Wohnung, das neue Zuhause von Mia.
MIA
Während der ganzen Fahrt bin ich aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen. Diese Stadt, so viele Menschen, dieser Verkehr - und ich mitten drin. Kaum zu glauben. Aber tatsächlich sind gleich zwei Wünsche wahr geworden. Oder drei, wenn man es genau nehmen will. Mein erster Flug, ich in den USA und - Nico. Mein Puls rast schon die ganze Zeit wie verrückt und ich kann nur hoffen, dass man es mir nicht anmerkt. Ich kann nicht sagen, wie viel normale Aufregung dabei ist und wie viel wegen Nico ist. Ein schönes und auch anstrengendes Gefühl.
Doch jetzt heisst es erstmal auspacken und einrichten.
,,Du kannst während der Zeit, die du hier bist, mein Schlafzimmer haben, Mia.'', sagt Nico zu mir und will mir bereits das Zimmer zeigen.
Doch ich wehre ab.
,,Auf keinen Fall. Das ist dein Schlafzimmer. Ich nehme das Sofa. Das sieht sehr bequem aus. Oder hast du noch ein Gästebett?''
,,Ja, ein Gästebett hat es auch noch aber wieso nicht das Schlafzimmer?''
,,Das gehört dir. Ich kann nicht in einem Zimmer schlafen, das nicht mir gehört. Vor allem, wenn es noch solch eine tolle Couch im Wohnzimmer hat.''
Vergnügt lasse ich mich draufplumpsen und lächle Nico an. Er lächelt zurück und zuckt mit den Schultern.
,,Okay, wenn du das so willst, dann soll es so sein. Tina, dann nimmst du das Gästebett?''
,,Vorübergehend ja.''
,,Was heisst das? Willst etwa DU mein Schlafzimmer?''
,,Keine Sorge, Bruderherz, da bin ich ganz Mias Meinung. Das Schlafzimmer gehört dir. Aber wer weiss, vielleicht werde ich ja auch bei Mike übernachten...'', sagt Tina verträumt.
Nico und ich grinsen uns an.
,,Wie konnte ich das nur vergessen? Aber überstürze nichts, Schwesterchen.''
,,Nico, Mike und mich trennen nicht nur ein paar Autostunden, sondern ein ganzer Ozean. Ich überstürze nichts, wenn ich die wenige Zeit die ich mit ihm habe, voll und ganz auskoste.''
Nico hebt die Hände.
,,Alles gut, du weisst ja was du tust. Und bitte keine Details.''
,,Richtig, Bruderherz. Und keine Sorge; ich behalte alle Details für mich.''
Tina schaut zufrieden zu Nico und widmet sich dann ihrem Koffer und dem Gästebett. Ein Klappbett, das nicht danach aussieht, als würde man mehrere Nächte darauf verbringen wollen. Aber das würde bei ihr ja sowieso nicht der Fall sein. *Augenzwinker*
Nico hilft mir in der Zeit die Couch auszuziehen. Da jede irgendwie anders funktioniert und er sie noch nie dafür benutzt hat, dauert es eine kurze Weile bis wir den Dreh raushaben.
,,Für dich ist es wirklich in Ordnung hier zu schlafen?'', fragt mich Nico noch einmal.
Wie fürsorglich er zu mir ist. Aber so war er schon immer. Ich lächle ihn an und nicke.
,,Ja, ist es wirklich.''
,,Aber deine Kleider kannst du in den Schrank räumen, den ich freigemacht habe. Ich schätze mal, du hast sowieso mehr dabei, als ich überhaupt besitze. Bist schliesslich eine Frau.'', grinst er mich an und ich gebe ihm einen kleinen Schubs.
,,He, werd ja nicht frech, sonst überleg ich es mir nochmals anders mit dem Schlafzimmer.''
Wir grinsen uns an.
Nach einem kurzen Abendessen sind Tina und ich so müde, dass wir nur noch ins Bett - bzw. auf die Couch wollen. Der Flug hat uns doch recht geschlaucht. Überhaupt die ganze Anreise, die Aufregung und das alles. Da ich in ein paar Stunden bereits in der Firma antanzen werde, will ich auch noch eine Mütze voll Schlaf kriegen, damit ich wenigstens einigermassen wach wirke. Mike wollte mir zwar zuerst eine Ankunftspause geben, aber ich habe abgelehnt. Ich möchte so schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen. Zum einen komme ich so gar nicht erst ins Grübeln und andererseits hasse ich die Zeit sowieso bis ich mich richtig eingearbeitet habe. Die Unsicherheit was zu machen ist und bis ich selbständig arbeiten kann. Diese Übergangszeit ist immer die Schlimmste für mich. Daher will ich so schnell wie möglich eingearbeitet sein. So lange habe ich schliesslich auch nicht vor zu bleiben.
Oder?
MIA
Endlich ist es soweit. Tina, Nico und ich sind auf dem Weg in die Firma. Obwohl ich nicht so viel geschlafen habe bin ich recht wach und aufgeregt. Wir fahren mit dem Taxi, was in Amerika irgendwie üblich zu sein scheint. Wenn ich mir den Vollzeitverkehr so anschaue, verstehe ich auch wieso. Ich hätte nicht die Nerven mich durch diese Stadt zu kämpfen.
Am Ziel angekommen werden wir gleich von Mike begrüsst. Tina und er begrüssen sich natürlich etwas länger. Nico und ich grinsen einander an.
,,So, darf ich euch eine kleine Führung geben? Nico, du kennst ja bereits alles.''
,,Klar, ich mache mich gleich an die Arbeit.''
Er verabschiedet sich mit einem kurzen Winken und geht Richtung Aufzug.
,,Also die Damen. Fangen wir hier unten an und arbeiten uns vor, bis wir bei Mias Arbeitsplatz ankommen. Dieser wäre dann ein paar Etagen weiter oben.''
Auch gut, wenn es zuerst eine Führung gibt. So werde ich etwas wach und sehe nun auch, wo Nico arbeitet. Die Firma ist wirklich gross, viele Mitarbeiter und offensichtlich auch sehr erfolgreich. Überall an den Wänden hängen verschiedene Auszeichnungen, Diplome und Abschlusszeugnisse von Mike und anderen Mitarbeitenden. So ist zumindest schnell ersichtlich, was für Talente bei dieser Firma arbeiten und auf was man sich gefasst machen darf. Beinahe fühle ich mich etwas....klein. Ich kann mit nicht mal halb so vielen Diplomen mithalten und mein Lebenslauf ist auch eher einfach.
Als wir bei meinem neuen Arbeitsplatz ankommen, verfliegt das Gefühl von vorher sofort wieder. Eine junge Frau in etwa meinem Alter steht auf und begrüsst uns herzlich.
,,Ich bin die Sabine. Ich arbeite seit drei Jahren hier und werde für die nächste Zeit deine Begleiterin sein.''
,,Das ist super, das freut mich.''
,,Wenn du willst Mia, darfst du dich gleich zu Sabine gesellen. Sie wird dir alles Wichtige beibringen und zeigen.''
,,Sehr gerne.''
,,Machs gut, Mia. Wir sehen uns später.'', verabschiedet sich Tina von mir und geht mit Mike weiter.
,,Dann legen wir mal los.'', beginnt Sabine.
,,Unbedingt. Ich bin ganz Ohr.'', strahle ich sie an.
Ich freue mich wirklich auf die Arbeit und die Ablenkung von der ganzen Aufregung der letzten Zeit.
,,Also, das Wichtigste zuerst: die Toiletten befinden sich am Ende des Flurs.''
Ich pruste los.
,,Das Wichtigste?''
Sabine lacht mit.
,,Klar, also ich finde, das ist wirklich etwas vom Wichtigsten.''
Wo sie recht hat, hat sie recht.
,,Anziehen kannst du eigentlich was du willst, solange es nicht nach Party und Faulenzen aussieht. Also bequem und elegant. Farblich gesehen passen wir uns der Jahreszeit an. Im Sommer gerne etwas bunter und frischer und im Winter etwas sanfter und einfacher. Hier ist dein Namensschild und das ist der Schlüssel, mit dem du durch alle Personaltüren kommst. Bloss der Firmenschlüssel besitzt nur der Chef und ein paar Stellvertreter. Die kommen als erste und gehen als letzte. Daher brauchen wir keinen Hauptschlüssel.''
Auch gut, je weniger Schlüssel ich bekomme, desto weniger kann ich verlieren. Der Empfang ist richtig schön eingerichtet. Ein paar wenige Postkarten sind nur für uns sichtbar neben den Pcs auf dem langen Pult aufgestellt oder an der Innenwand angeklebt. Zwei Computer, zwei Telefone und zwei Stühle. Immerhin kein Stehjob.
,,Unsere Aufgabe besteht in erster Linie darin Telefone entgegenzunehmen, Termine zu vereinbaren, Geschäftsreisen zu organisieren und Besucher die zum Boss wollen, zu empfangen und zu ihm zu begleiten. Wir müssen auch Emails beantworten und im Namen vom Chef welche an andere Grossunternehmen oder Auftraggeber schreiben und uns um diese auch kümmern. Kontakte pflegen und dafür sorgen, dass alles reibungslos abläuft.''
Ich mache grosse Augen. Puh! Eigentlich ist es nicht so wahnsinnig viel, bis auf den Teil mit ''alles reibungslos abläuft''. Was wenn es mal nicht so ist? Genau das frage ich Sabine.
,,Keine Sorge, Probleme gibt es immer mal wieder, das ist normal. Ein Kunde stellt sich blöd an, ist frech oder verlangt Preisermässigungen, die er sowieso vergessen kann. Oder ein Treffen wird in letzter Minute abgesagt oder angekündigt. Geschäftspartner haben plötzlich kein Interesse mehr an einer Zusammenarbeit, weil sie gerade ein besseres Angebot erhalten haben. Ein Flug hat Verspätung, weswegen der Boss zu spät zu einem wichtigen Termin kommt. Alles Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Aber wir können versuchen, eine gute Lösung zu finden oder einen anderen Weg einzuschlagen.''
,,Das klingt beruhigend. Ich dachte schon, alles muss immer perfekt funktionieren und würde es auch.''
,,Das ist realistisch gesehen schon gar nicht möglich, daher versuchen wir das gar nicht erst. Wir geben unser bestes, das reicht.''
Diese Firma und ihr Motto gefallen mir immer wie besser.
Im Verlauf des Tages arbeite ich mich überraschend schnell ein in das ganze. Ich kann Sabine ungeniert über die Schulter schauen, ihr beim Telefonieren zuhören und mir Notizen machen, damit mir die Arbeit leichter fällt. Am Ende des Tages kann ich sogar ein Telefon entgegennehmen, leite es jedoch an Sabine weiter, weil ich dann doch noch zu wenig Ahnung habe.
,,Super Mia! Erster Tag geschafft. Und? Hab ich dich nicht zu sehr abgeschreckt?''
,,Nein, überhaupt nicht. Die Arbeit ist echt toll, finde ich. Aber ist ja erst der Anfang. Hatte noch nicht viel Gelegenheit etwas zu verbocken.''
Sabine lacht.
,,Das wirst du auch nicht, glaub mir. Und wenn, ich habe auch schon Mist gebaut. Aber jeden Mist kann man verbessern.''
,,Da hast du wohl recht.''
Da Tina bereits nach der Führung und nach dem Besuch in Mikes Büro wieder gegangen ist, mache ich mich alleine auf den Weg zum Ausgang. Nico hat mir am Mittag geschrieben, er würde nach Feierabend an der Rezeption beim Ausgang warten. Da alle dieselbe Arbeitszeit haben, brauche ich mir zumindest keine Sorgen zu machen, dass ich den Heimweg nicht mehr finde.
Als ich aus dem Lift steige, sehe ich Nico bereits am Empfang warten. Kaum entdeckt er mich, kommt er lächelnd auf mich zu.
,,Na Mia? Wie war dein erster Arbeitstag?''
,,Die Bude steht noch, kein Kunde ist abgesprungen und ich bin noch nicht gefeuert. Also ich würde sagen, der Tag ist gut gelaufen.'', grinse ich.
,,Das klingt tatsächlich nach lauter Erfolgserlebnissen.'', grinst Nico zurück.
Während der Fahrt im Taxi spüre ich mein Herz klopfen wie verrückt. Himmel nochmal! Hoffentlich hört das Nico nicht.
,,Mia?''
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf.
,,Ja?''
,,Du warst ja gerade ganz weit weg.''
Verlegen nicke ich.
,,Entschuldige. Jetzt bin ich wieder da.''
,,Das freut mich. Tina hat mir geschrieben, dass sie mit Mike den Abend verbringt.''
,,Warum überrascht mich das nicht?'', frage ich schmunzelnd.
,,Ja, war eigentlich klar, dass sie die meiste Zeit bei Mike verbringen würde.''
,,Wie findest du das? Deine Schwester und der Boss?''
,,Naja, sie wurden ein Paar bevor ich offiziell angestellt wurde. Also es ist wie es ist. Ich kann nur hoffen, dass es gut geht.''
,,Leider gibt es keine Garantien. Weder in der Liebe noch im Leben.'', sage ich beinahe mehr zu mir selbst und denke wieder an mein wild klopfendes Herz. Ich spüre wie Nico mich von der Seite mustert. Solange er keine Gedanken lesen kann, kann er mich ruhig weiter mustern.
NICO
Die restliche Fahrt verläuft ruhig. Mia hat recht damit. Es gibt keine Garantien. Nie. Aber ohne ein Risiko einzugehen hat man auch keine Chancen zu gewinnen.
,,Hast du Hunger?''
,,Kommt daraufan ob du kochen kannst.'', necke Mia mich.
,,Ich bin der Meister im Kochen! Vor allem wenn du Pizza magst.''
,,Wer bitteschön mag keine Pizza? Die Person muss erst noch erfunden werden.''
,,Dann bist du also dabei?''
,,Klar! Wie kann ich helfen.''
,,Du darfst dich gerne hinsetzen und geniessen.''
,,Wie bitte? Und riskieren, dass du alleine Pizza für zwei kreierst? Nein nein, ich helfe besser, schliesslich will ich morgen noch lebendig zur Arbeit erscheinen.''
,,Du kritisierst meine Kochkünste bevor du überhaupt in den Genuss davon gekommen bist? Das ist echt hart.''
Gespielt getroffen fasse ich mir ans Herz. Mia lacht. Ich liebe ihr Lachen. Es klingt so frei. Ich muss mich zusammenreissen, dass ich sie nicht die ganze Zeit anstarre.
,,Also gut, Pizzateig aufs Blech.''
,,Fertigteig?''
,,Klar, wir wollen ja möglichst wenig Risiko eingehen, oder?''
,,Das find ich gut.''
Während ich den Teig aus der Kühltruhe hole, bereitet Mia das Blech und den Backofen vor.
,,Was schmeissen wir alles auf die Pizza?'', fragt sie.
,,Also schmeissen....wenn du triffst dann als erstes die Tomatensauce.''
,,Ha ha, natürlich abgesehen davon und ja klar treffe ich. Aus der Nähe.'', fügt sie hinzu.
,,So ist das. Was magst du denn alles?''
,,Och...ganz einfach. Schinken, Pilze und Käse.''
,,Alles vorhanden. Ich ''werfe'' noch ein paar Kleinigkeiten auf der anderen Seite drauf.''
,,Werfen, schmeissen, hauen....hauptsache die Pizza ist am Ende noch geniessbar.'', erwidert Mia und streicht bereits die Tomatensauce drauf.
Eine knappe Stunde später sitzen wir am Tisch und geniessen die Pizza. Die ist wirklich gelungen!
,,Echt lecker!'', lobt Mia die Pizza und somit auch mich.
,,Danke für das Lob.''
,,Gerne. Darfst gerne wieder mal Essen machen.''
,,Morgen bist du dran.''
,,Ich?''
,,Du bringst sicher mehr hin als nur Pizza.''
,,Ja schon....''
,,Na also, ich freu mich drauf.''
Plötzlich werde ich unsicher. Vielleicht hat sie gar keine Lust den nächsten Abend auch wieder mit mir zu verbringen. Ich räuspere mich.
,,Ausser du möchtest was anders machen. Vielleicht jemanden treffen oder so. Ist natürlich dir überlassen.''
Mia sieht mich überrascht an.
,,Nein nein, alles gut. Und wen sollte ich treffen? Ich kenne ja eigentlich noch niemanden von da. Ausser Sabine von der Arbeit.''
,,Das kann sich ja schnell ändern.''
,,Ne, ich glaube nicht. Ich koche morgen gerne für uns beide.'', lächelt sie mich an und ich merke, wie erleichtert und zugleich aufgeregt ich bin. ,Wie ein Date', geht es mir durch den Kopf. Quatsch! Sie wohnt hier für eine Weile und fertig.
Nach dem Essen räumen wir gemeinsam die Küche auf, wobei aufräumen erst später folgt. Zuerst überrascht mich Mia mit einer Ladung Spülwasser. Platsch!
,,Oh Mia, das hast du jetzt nicht wirklich gemacht!'', rufe ich tropfend.
,,Nein, der heilige Geist. So ein Frecher!'' Sie schüttelt tadelnd den Kopf, bevor sie in lautes Lachen ausbricht.
,,Na warte!''
Und bevor ich mich versehe, ist eine kleine Wasserschlacht in Gange. Immerhin mit Spülmittel, so sind wir hinterher wenigstens direkt gewaschen.
,,Was ist denn hier los?'', hören wir plötzlich eine Stimme hinter uns.
Wir drehen uns um und sehen Tina im Türrahmen zur Küche stehen. Sie sieht belustigt drein.
,,Eine Wasserschlacht natürlich.'', entgegnet Mia.
,,In der Wohnung?''
,,Naja, draussen geht ja schwer mitten in der Stadt.''
,,Ihr zwei seid echt verrückt.''
Verrückt nach Mia, denke ich mir und erschrecke sogleich ab diesem Gedanken.
,,Verrückt ist gut, das ist Leben. Solltest du mal probieren.'', lacht Mia.
,,Gerne ein andermal. Viel Spass noch ihr zwei. Ich hau mich auf's Ohr.''
Tina zwinkert uns zu und geht.
NICO
Als ich später im Bett liege gehen mir allerlei Gedanken durch den Kopf. Jeder Gedanke hat mit Mia zu tun. Mia war die letzten Wochen für meine Schwester und mich da, obwohl wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Sie erhellt mit ihrem Lachen jeden Moment, den ich mit ihr verbringe. Ohne sie wäre meine Wohnung leer und öde. Ich wünschte, sie würde bleiben. Habe ich ihr überhaupt schon Danke gesagt? Das wollte ich doch unbedingt, aber irgendwie war der passende Moment noch nicht da. Ich will es nicht so beiläufig erwähnen. Am besten beim morgigen Abendessen. Und ich weiss jetzt auch wie.
Lächelnd schlafe ich endlich ein.
,,Dann also bis heute Abend. Ich muss noch was erledigen nach der Arbeit, aber ich sollte nach einer Stunde spätestens Zuhause sein.'', sage ich zu Mia, bevor jeder seinen Weg durch die Firma geht.
,,Kein Problem. Ich koche ja heute. Tschüss!''
Sie winkt mir zu und geht zum Aufzug. Ich habe jetzt eine andere Mission - nebst der Arbeit. Eine sehr wichtige sogar. Mein Arbeitskollege, der zugleich ein guter Kumpel von mir geworden ist, muss mir dabei helfen.
,,Du musst mir einen gefallen machen.''
,,Muss ich?''
,,Es wäre sehr nett.''
,,Klar doch, immer.'', grinst er.
,,Geht es um die junge Frau?''
Verblüfft sehe ich ihn an.
,,Nico, komm schon. Das sieht ein Blinder, dass du sie magst.''
,,Okay okay, schon gut. Ja, es geht um Mia. Sie war da für mich und meine Schwester, als ich im Koma lag und ich konnte ihr noch nicht richtig danken. Ausserdem hat ihr Ex grosse Probleme gemacht und sie quasi gezwungen wieder bei ihm zu wohnen. Ich möchte ihr also mehr als nur danke sagen. Ich will ihr was gutes tun und auch zeigen, wie sehr ich sie mag.'' ,,Also, ihr deine Liebe gestehen?''
,,Wenn du es so ausdrücken willst; ja.''
,,Ich bin dabei. Was muss ich tun?''
MIA
Ich habe in der Mittagspause mit Tina telefoniert und ihr vom heutigen Abendessen erzählt. Natürlich war sie gleich total aus dem Häuschen.
,,WOW! Ihr habt ein Date!!''
,,Das ist kein Date. Gestern haben wir ja auch schon zusammen gegessen.''
,,Und eine Wasserschlacht in der Küche veranstaltet, was ja völlig normal ist.'', erwidert Tina.
,,Eben.''
,,Das war ironisch gemeint. Ich seh doch, wie er dich ansieht und von dir weiss ich es ja eh schon.''
Dass ich aber auch immer so leicht durchschaubar sein musste. Das ärgert mich immer wieder. Aber egal. Laut Tina habe ich also ein ''Date'' mit Nico, laut mir ist es ein normales Abendessen.
Die Frage ist nur noch, was koche ich? Ich habe noch nie gerne gekocht, schon gar nicht komplizierte Dinge oder etwas das stundenlang dauert. Aber gleichzeitig probiere ich gerne mal aus - nur für mich. Ich will ja niemanden vergiften.
Endlich Feierabend! Den ganzen Nachmittag bin ich schon nervös und kann mich kaum stillhalten. Mein Herz klopft wie wild, meine Knie wackeln wie Pudding und meine Hände sind ganz zittrig.
,,Viel Glück heute Abend.'', zwinkert mir Sabine zu.
Natürlich ist ihr im Verlauf des Tages aufgefallen, dass ich nervös wirke und typische Symptome von ernsthaftem Verliebtsein zeige. So hat sie es ausgedrückt. Obwohl ich das eigentlich schon lange weiss und es mir bewusst ist, ist es mir durch diese Äusserung noch einmal mehr bewusst geworden. Ich kann nur hoffen und beten, dass es irgendwann Nico auch so geht oder dass ich ihn bald ganz vergessen kann. Eines von beidem, aber nichts dazwischen. Mein Herz hat schon genug mitgemacht.
Zuhause angekommen, (tatsächlich habe ich es alleine mit dem Taxi geschafft), lege ich in der Küche sofort los. Ich habe beschlossen so zu kochen, wie ich es für mich mache, bloss jetzt in einer grösseren Menge und möglichst genussvoll. Wichtig beim Kochen: Musik! Sonst führe ich viel zu viel Selbstgespräche und das wäre peinlich, wenn Nico mich mit mir unterhaltend erwischen würde.
Während dem Kochen und dem Musik hören bin ich völlig in meine Gedanken versunken und denke an die vergangene Zeit. Dieser Moment, als ich beinahe mit Tina zusammengestossen bin und als ich das erste Mal seit Jahren Nico wieder gesehen habe. Wie ich meine Gefühle für ihn wieder neu entdeckt habe, (falls diese überhaupt jemals weg waren), und die kurze Zeit in der ich Dominik ganz aus meinem Leben streichen und mich auf das Wesentliche kontzentrieren konnte. Mich, Tina, Nico. Und jetzt? Jetzt wohne ich für eine kurze Zeit bei Nico in Amerika, arbeite in einer Firma und warte darauf, dass man mir mitteilt, Dominik sei nun ausser Gefecht gesetzt. Denn, sobald diese zwei Wochen um sind, weiss ich nicht, wie es weitergeht. Irgendwann muss ich zurück, schon deswegen weil ich gar keine längere Aufenthaltsbewilligung habe. Und wenn...könnte ich mir überhaupt ein Leben hier vorstellen? Solange Nico da ist, in meiner Nähe, eigentlich schon...
MIA
Als Nico endlich eintrifft, bin ich zum zerreissen nervös. Wieso eigentlich? Okay, ich habe gekocht und weiss nicht wie es ihm schmecken wird und da ich verliebt bin, ist mir das natürlich doppelt so wichtig.
,,Hey Mia, bin jetzt auch endlich da. Das riecht ja unglaublich gut!'', begrüsst mich Nico kurze Zeit später in der Küche. ,,Danke. Es ist so gut wie fertig.''
,,Super! Was gibt es denn?''
,,Gemüse und Kartoffen überbacken mit Käse.''
,,Oha, gesund und lecker. Nach welchem Rezept?''
Etwas überrumpelt über die Rezeptfrage antworte ich:
,,Ähm...kein Rezept? Einfach so irgendwie, wie ich es für mich auch zubereiten würde.''
Er sieht mich bewundernd an.
,,Echt jetzt? Einfach so?''
Unter seinem Blick kriege ich ganz weiche Knie und habe das Gefühl einer Tomate ähnlich zu sehen.
,,Ja...''
,,Da bin ich ja echt gespannt.''
Gemeinsam tragen wir alles zum bereits gedeckten Tisch und dann wird endlich geschlemmert.
,,Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass es dir schmeckt?'', frage ich amüsiert.
Nico, der genieserisch die Augen geschlossen hat, nickt.
,,Wirklich, wirklich lecker! Du darfst gerne öfters kochen.''
,,Haha, gewöhn dich nicht dran. Ist nicht gerade ein Hobby von mir.''
Nachdem wir gegessen haben und das Geschirr zumindest einmal den Weg in die Küche gefunden hat merke ich, wie sich die Stimmung plötzlich ändert. Ich gehe wieder zurück zu Nico und setze mich hin. Mein Gefühl sagt mir, dass etwas anders ist.
,,Mia.'', sagt Nico da und sieht mich mit seinen warmen Augen an.
Da legt er plötzlich einen gigantischen Blumenstrauss vor mich hin.
,,Ich wollte mich endlich bei dir bedanken, dafür, dass du so für Tina, meine Mutter und mich da warst. Du warst jeden Tag an meinem Bett, hast mit mir gesprochen und dazu beigetragen, dass wir alle diese Zeit besser überstanden haben. Auch deiner Stimme verdanke ich es, dass ich letztendlich die Kraft fand, meine Augen wieder zu öffnen und mein Leben wieder leben zu können.''
Ich weiss gerade nicht wie mir geschieht. Seine Worte berühren mich sehr, gleichzeitig macht mir die Situation Angst, weil ich ihm nun endültig verfalle. Ich bin sicher, mir sind meine inneren Gefühlsregungen ins Gesicht geschrieben.
,,Was ich mich frage, Mia...warum bist du plötzlich nicht mehr gekommen? Ich hab deine Stimme vermisst. Überhaupt deine Anwesenheit zu spüren, fehlte mir.''
Mein Herz ist kurz vor dem zerspringen und schlägt so heftig gegen meine Brust, dass ich mir sicher bin, dass er es hört. Er hat meine Stimme vermisst? Ich weiss nicht, wie lange ich ihn fassungslos angestarrt habe - angestarrt, wie peinlich! - als ich merke, dass ich die Luft angehalten habe. Was soll ich sagen? Warum bin ich nicht mehr zu ihm gegangen? Ich bin ein ehrlicher Mensch, aber jetzt wäre es toll, wenn mir irgend eine Antwort einfallen würde, die nichts mit meinen Gefühlen für ihn zu tun haben.
MIA
Von einer plötzlichen Idee gepackt, springe ich auf, dass beinahe mein Stuhl umkippt.
,,Ich stelle die Blumen schnell ins Wasser, sonst werden sie noch ganz welk. Wäre ja schade.''
Mit zittrigen Fingern nehme ich den Blumenstrauss, meide seinen Blick, (meine Knie sind so schon Pudding genug), und hetze in die Küche. Nebenbei bete ich, dass er mir nicht folgt. Tja, mein Gebet wurde natürich nicht erhört.
,,Mia, bitte rede mit mir. Hat es mit deinem...mit diesem Dominik zu tun gehabt?''
Nach kurzem Zögern sage ich:
,,Ja...auch.''
Mist. Warum auch?
,,Womit denn noch?''
Klar, dass er das jetzt fragt. Aber Herrgott nochmal, kann er sich das nicht denken? Sieht man es mir nicht an? Muss ich es ihm wirklich nochmals ins Gesicht sagen? Das wollte ich nie wieder tun. Aber ich merke, dass ich kurz davor bin.
,,Nico ich weiss nicht...es ist...ich weiss nicht...'', versuche ich einen halbwegs normalen Satz rauszubringen. Aber wie auch, wenn gerade tausend Gedanken und Gefühle in mir umherschwirren und gleichzeitig gähnende Leere in meinem Oberstübchen herrscht? Nico tritt so nah zu mir, dass ich seine Körperwärme spüren kann. Als ob mir so nicht schon genug heiss wäre. JETZT wäre ich für eine Wasserschlacht, damit ich wieder klar denken könnte. Einfach nicht in seine Augen schauen, Mia, bloss nicht in seine Augen schauen. Du würdest schmelzen und er würde dir - wenn nicht schon vorhin - spätestens jetzt ansehen, was in dir vorgeht. Ein Blinder mit Krückstock würde es sogar sehen.
,,Was denkst du gerade?'', fragt er mich plötzlich.
Ich platze gleich.
,,Alles mögliche und nichts.''
,,Was heisst das genau?'' Ich schreie gleich.
,,Mensch Nico, was fragst du so blöd? Du weisst, was ich früher mal für dich empfunden habe und ich empfinde immer noch dasselbe. Ich kann es nicht ändern und ich hasse es, dass es so ist. Es zerreisst mich innerlich, dass ich etwas für einen Menschen empfinde, der nicht dasselbe in mir sieht wie ich in ihm. Ich wünschte es wäre anders. Ich habe versucht dich zu vergessen, wirklich. Aber es funktioniert einfach nicht. Meine Gedanken kreisen immer wieder um dich, ich träume von dir und ich habe immer wieder Herzklopfen wenn ich an dich denke. Ich wünschte, du würdest mehr in mir sehen. Aber ich kann nichts erzwingen und werde nie versuchen was zu erzwingen. Ich versuche einfach damit klarzukommen, was in deiner Nähe zu sein, verdammt schwer ist. Deswegen werde ich jetzt eine Runde um den Block drehen und wenn ich wieder komme bist du weg.''
Damit nehme ich meine Beine in die Hände und gehe blind aus der Wohnung. Grosser Gott, hat das gut getan! Und gleichzeitig frage ich mich, was mich da gerade geritten hat. Habe ich Nico gerade wirklich alles gesagt, was seit Jahren, wirklich SEIT JAHREN meine Gedanken beherrscht und mein Herz schneller schlagen lässt? Wie soll ich ihm je wieder unter die Augen treten? Andererseits ist mir das gerade völlig egal. Ich habe genug gelitten. Entweder ich habe Glück und es ändert was zwischen uns oder eben nicht. Dann bin ich nur froh, wenn ich wieder zurück nach Hause kann und ihn hoffentlich nie wieder sehen muss.
NICO
Ziemlich perplex stehe ich in der Küche. Immernoch. Ich weiss nicht wie viel Zeit vergangen ist, seit Mia so stürmisch rausgerannt ist. Was hat sie gesagt? Dass sie Gefühle für mich hat. Immer noch? Wie lange ist das jetzt her...8 Jahre? Mindestens. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Mädchen so lange was für mich empfunden hat. Ich will mich jetzt nicht als wer weiss was hinstellen, aber jeder der mich kennt weiss, dass ich öfter mal die Partnerin gewechselt habe. Wie es Mia wohl dabei ergangen ist? Das frage ich mich heute das erste Mal. Ich weiss nicht wie ich damit umgehen würde, jahrelang in eine Person verliebt zu sein und zu wissen, dass diejenige immer wieder einen anderen hat. Das ist irgendwie ein schrecklicher Gedanke.
Mir fällt wieder ein, dass sie ja wollte, dass ich gehe. Ist vermutlich auch besser so nach dieser Aufregung und ihrem Gefühlsausbruch. Sie braucht Zeit und ich auch. Ich weiss noch nicht wie ich damit umgehen soll, beziehungsweise was das in mir vielleicht verändert haben könnte. Ich dachte eigentlich die letzten Wochen, dass ich Gefühle für sie entwickelt hätte, aber jetzt bin ich doch unsicher geworden. Oder habe einfach nur Angsst. Am besten ich rufe meine Schwester an, bevor ich bei ihr ankomme. Mike hin oder her.
,,Nico? Ist was passiert?'', meldet sich meine Schwester ziemlich erschrocken.
,,Was soll denn passiert sein? Naja, ausser, dass Mia mir ihre Gefühle gestanden hat und danach weggerannt ist. Jetzt bin ich auf dem Weg zu dir, weil sie mich nicht mehr sehen möchte und weiss nicht, was ich tun soll.''
Eine Weile ist es still am anderen Ende der Leitung. So lange, bis ich nicht mehr sicher bin, ob Tina noch dran ist.
,,Tina?''
Da räuspert sie sich plötzlich.
,,Ähm ja, sorry Nico. Sie hat dir also gesagt, dass sie was für dich empfindet.''
,,Ja, genau. Dass sie es nicht ändern kann, auch wenn sie es noch so sehr möchte.''
,,Und jetzt?''
,,Das wäre meine Frage an dich gewesen. Was soll ich tun?''
,,Was fühlst du denn bei ihr?''
,,Wenn ich das bloss wüsste.''
,,Also hast du die letzten Tage und Wochen nichts weiter für sie empfunden als Freundschaft?''
,,Naja..nein...doch, irgendwie...ach, ich weiss auch nicht.'', sage ich niedergeschlagen.
Was ist los mit mir?
,,Kann es sein, dass es dich verunsichert, weil kein Mädchen zuvor so lange für dich etwas gefühlt hat?''
,,Ja, könnte gut möglich sein.''
,,Nico, am besten schläfst du eine Nacht darüber und morgen redest du mal mit ihr. Sag ihr, was dir durch den Kopf geht, wie es dir die letzten Wochen ergangen ist und was ihr Geständnis bei dir ausgelöst hat - falls du das bis morgen weisst. ''
,,Ich gebe mein bestes.''
,,Dann ist ja gut. Weisst du, manchmal kann man nichts weiter tun, als die Zeit für einen laufen zu lassen. Kommt Zeit, kommt Rat.''
,,Tina, seit wann wirfst du denn mit solchen Weisheiten um dich?''
Ein Grinsen kann ich mir nicht verkneifen. Meine Schwester ist nun wirklich der letzte Mensch, der Weisheiten von sich gibt.
,,Blödmann! Mike hat mich inspiriert.''
,,Das nenn ich doch mal einen guten Einfluss haben. Viel Spass noch beim Weisheiten austauschen - oder was ihr sonst noch so macht.'', grinse ich.
,,Klappe Bruderherz. Du kennst ja Mikes Adresse. Bis gleich.''
,,Ja bis gleich.''
Was würde ich ohne meine Schwester bloss machen? Ernsthaft. Ja, ich hätte meine Mutter anrufen können, aber zu meiner Schwester habe ich dann doch eine etwas engere Bindung. Und jetzt gerade ist es günstiger mit meiner Schwester zu Telefonieren als mit meiner Mutter. Dann werde ich jetzt also schlafen gehen und hoffen, dass die Zeit bis morgen eine Lösung für mich bereit hält. Oder mein Kopf zumindest etwas klarer denken kann.
NICO
Als ich am nächsten Tag aufwache ist es bereits mittag. Heilige Scheisse! Ich schlafe ja gerne aus, aber doch nicht heute! Ich muss dringend mit Mia sprechen. Hoffentlich ist sie zu Hause. Sie schläft schliesslich auch gerne mal etwas länger.
Nach einer Dusche à la Speedy Gonzales und einem letzten Blick in den Spiegel mache ich mich auf den Weg zu Mia. Eigentlich zu meiner Wohnung. Mein Herz klopft ziemlich schnell. Liegt das nun an der schnellen Dusche oder daran, dass ich gleich Mia gegenüber treten werde? Ich will mir die erste Variante einreden, habe aber das Gefühl, dass es an Mia liegt. Vor dem Einschlafen bin ich noch zig Mal ihre Worte im Kopf durchgegangen. Sie klang irgendwie verzweifelt. So, als würde sie mir das alles sagen, um sich von einer grossen Last zu befreien. War vermutlich auch der Fall. Fragt sich nur, ob es ihr jetzt besser geht. Und ob sie mit mir sprechen wird. Was ich zu ihr sage? Ich denke, das fällt mir dann erst ein, wenn es draufankommt. Hoffe ich zumindest.
Endlich da. Oder auch schon. Einerseits will ich sie endlich sehen, andererseits habe ich etwas Bammel davor. Mutig steige ich die Treppen hinauf bis zu mir und öffne die Tür.
,,Mia? Bist du wach? Ich bins, Nico.'', rufe ich in die Wohnung, damit ich Mia nicht erschrecke. Doch in der Wohnung ist es still. Und nach einem Blick ins Wohnzimmer irgendwie auch leer.
,,Mia? Mia!'', rufe ich und werde leicht panisch.
Sie wird doch wohl nicht abgehauen sein. Nein, das würde sie nicht tun. Nicht an einem solch fremden Ort. Überhaupt eigentlich nicht. Oder? Unruhig laufe ich in der Wohnung hin und her, unschlüssig was ich jetzt tun soll. Da fällt mein Blick auf die Küchenablage, wo ein Zettel liegt. Er ist von Mia.
Die Polizei hat mich gestern Abend informiert, dass sie Dominik in Gewahrsam genommen haben.
Sie brauchen schnellstens meine Aussage. Fliege mit dem ersten Flieger um fünf Uhr nach Hause.
Danke für die Zeit bei dir.
Mia
Mia ist also nicht mehr hier. Sie ist bereits auf dem Weg nach Hause. Jetzt gerade sitzt sie im Flieger. Wie es ihr wohl gehen wird? Ich für meinen Teil fühle mich ziemlich...traurig? Könnte sein. Ich wünschte sie wäre hier. Jetzt weiss ich nämlich genau, was ich ihr alles sagen möchte. Aber dazu scheint es nun zu spät zu sein.
Ein Klingeln reisst mich aus meinem Trübsal. Mein erster Gedanke: Mia. Mein erster Blick aufs Handy verrät: Tina.
,,Hallo?'', melde ich mich niedergeschlagen.
,,Nico! Mia ist nicht mehr in den USA!''
,,Was du nicht sagst.''
,,Sorry, ich habe gerade ihre Nachricht gelesen. Sie fliegt zurück um eine Aussage gegen Dominik zu machen.''
,,Ich weiss.''
,,Habt ihr gesprochen?''
,,Wie denn, wenn sie im Flieger sitzt?'', gebe ich etwas barsch zurück.
,,Deswegen musst du mich nicht gleich so anschnautzen.''
,,Sorry.''
,,Schon gut. Und?''
,,Was und?''
,,Na, bist du bereits am packen?''
,,Packen wofür?''
Tina verwirrt mich.
,,Mensch, sitzt du auf der Leitung?''
,,Kann schon sein.''
,,Na, ob du auf dem Weg zum Flughafen bist, um zu Mia zu fliegen!''
,,Du meinst, ich soll...''
,,Ja, du Schlaumeier! Nachdem was gestern Abend geschehen ist, was du noch erzählt hast und wie du die letzten Wochen beschrieben hast ist da eindeutig etwas zwischen euch. Du darfst sie jetz nicht so einfach gehen lassen. Sei bei ihr, sei für sie da und pass auf sie auf.''
,,Was ist mit dir?''
,,Ich hab Mike, das weisst du doch.''
Ich seufze. Tina hat recht. Was mach ich eigentlich noch hier?
,,Tina, ich muss auflegen. Die Tasche packt sich nicht von selbst.''
,,Das wollte ich von dir hören. Melde dich, wenn du losfährst, bevor du fliegst und wenn du gelandet bist.''
,,Mach ich. Und Tina: Danke.''
,,Da nicht für. Viel Glück!''
In Windeseile packe ich die nötigsten Dinge, Reisepass, Ladegerät, mein Portemonnaie und Mias Zettel, ein und zische los. Kleidung habe ich glücklicherweise noch bei meiner Mutter zu Hause. Das macht das Packen einfacher und es geht schneller.
Mit dem nächsten Taxi fahre ich an den Flughafen. Die Fahrt erscheint mir endlos und als ich endlich da bin, kriege ich vor lauter Nervosität kaum die Tür auf, geschweige denn schaffe ich es ein Flugticket zu lösen. Dann habe ich es endlich geschafft und im letzten Moment erinnere ich mich daran, dass ich ja Tina noch schreiben muss.
War im Taxi, bin am Flughafen, steige in zwei Stunden ein.
Melde mich bei der Landung wieder.
Nico X
Zwei Stunden später sitze ich endlich im Flieger und verwünsche meine irrsinnige Idee zum x-ten mal, dass ich gleich den Kontinent wechseln musste und nicht einfach in das Nachbardorf ziehen konnte. Statt 20 Minuten habe ich nun knapp 12 Stunden, bis ich bei Mia bin. Meine Nerven!
EINE WOCHE, EIN JETLAG UND EINIGE AUSSAGEN SPÄTER
MIA
Ich kann es kaum glauben, aber es ist wahr. Dominik wird verurteilt. Zu seinen Straftaten mir gegenüber habe ich erfahren, dass er vor mir bereits andere Frauen belästigt und bedroht hat. Gott sei Dank hat das nun ein Ende! Ich kann wieder ruhig schlafen, ohne Angst in meinen Briefkasten schauen, ohne Herzrasen an mein Telefon rangehen und unbekümmert mein Haus verlassen. Was will ich noch mehr?
Nico. Stimmt, da war ja was. Nicht, dass ich es vergessen hätte. Wie auch. Eher verdrängt. Das konnte ich die letzten Jahre so gut, warum sollte ich es jetzt nicht mehr können? Zum einen habe ich ihm endlich meine Gefühle gestanden, oder eher ins Gesicht geschleudert, zum anderen hatte ich eine schöne Zeit mit ihm und teilweise das Gefühl, dass auch bei ihm etwas sein könnte. Aber das war sicher nur Täuschung. Jedenfalls habe ich seit meinem Abgang nichts mehr von ihm gehört oder gelesen. Ob er meine Nachricht in der Küche gesehen hat? Hätte ich noch was anderes schreiben sollen? Etwas persönlicheres? Ich mache mir einfach viel zu viele Gedanken. Kaum ist das Strafverfahren gegen Dominik für mich erledigt, geistert die Sache mit Nico wieder in meinem Kopf hin und her. Blödes Herz. Such dir jemanden anderes aus, es gibt noch viele andere Kerle da draussen. Es gibt nur ein Problem: Keiner von ihnen ist Nico.
Während des Fluges ist mir auch plötzlich eingefallen, dass ich Nico aus seiner eigenen Wohnung geworfen habe. Himmel, wie peinlich! Aber ich habe mich da so wohl gefühlt, dass ich ganz vergessen habe, dass es nicht meine sondern seine Wohnung ist. Ob er mir das übel nimmt? Hat er dann bei Tina geschlafen? Herrje, was habe ich bloss wieder angerichtet? Und das nur, weil ich meinen Gefühlsausbruch nach all den Jahren nicht mehr verhindern konnte. Was hat Nico aber auch so blöd gefragt!
NICO
Je näher ich Mias zu Hause komme, desto schneller schlägt mein Herz. Warum eigentlich? Habe ich wirklich Gefühle für sie? Oder liegt es daran, dass unser letztes Treffen ganz anders ausging als gedacht? Was hatte ich eigentlich erwartet? So viele Fragen und keine Antworten. Noch. Das wird sich gleich ändern.
Ich klingle an Mias Tür. Als sie dann die Tür öffnet, scheint sie für einen kurzen Moment unter Schock zu stehen und nicht zu wissen, wie sie reagieren soll. Kann ich ihr nicht verdenken. Wenn dieser Weg für mich schon nicht einfach war, wie war es dann für sie?
MIA
Mir bleibt das Herz beinahe stehen, als ich Nico vor meiner Tür stehen sehe. Was macht er hier? Warum ist er hier? Zuerst bringe ich gar keinen Ton heraus, bis Nico endlich den ersten Schritt macht.
,,Hey Mia.''
,,Hey Nico.''
Ich weiss nicht wohin ich schauen soll. In seine Augen? Zu gefährlich. Meine Knie schlottern so schon genug. Zwischen seine Augen? Das ist bestimmt besser. So täusche ich Blickkontakt vor und falle zumindest nicht gleich in Ohnmacht.
,,Was machst du hier?'' frage ich als nächstes.
,,Ich wollte mit dir reden.''
Reden. Mist. Das musste ja noch kommen.
,,Na gut....komm rein.''
Zögerlich trete ich zurück, damit Nico reinkommen kann. Als er an mir vorbei geht, wird mir wärmer als mir lieb ist und ich kann nur hoffen, dass mein Gesicht diese Wärme nicht wiederspiegelt. Ich schliesse die Tür und gehe voran in die Küche.
,,Willst du was trinken?''
,,Nein danke.''
,,Ok...setz dich ruhig.''
Ich bin so nervös. Ich weiss wirklich nicht was ich tun soll. Mein Hirn ist sowieso leer gefegt.
,,Worüber wolltest du reden?'', frage ich ihn, als ich die Stille nicht mehr aushalte.
Nico sieht mich an, sein Blick ist durchdringend.
,,Mia...was du vor einer Woche zu mir gesagt hast, als wir bei mir waren...stimmt das?''
Jetzt hätte ich die Gelegenheit zu sagen, dass es nicht so ist und ich irgendeinen Knall gehabt hätte. Aber erstens kann ich nicht gut lügen, zweitens will ich ehrlich sein und drittens regt mich diese Frage auf. Beinahe wütend antworte ich:
,,Wie viel Bestätigung benötigst du eigentlich noch, Nico? Wie oft muss ich dir mein Herz hinwerfen, bis du schnallst, dass ich es wirklich ernst meine? Denkst du, das ist einfach für mich?''
,,Nein...es ist nur so...ich meine, das ist so lange her...warum? Ich meine, was findest du an mir? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Schliesslich hatten wir lange keinen Kontakt mehr.''
Nico ist aufgestanden und wandert in der Küche umher. Er scheint etwas verzweifelt und leicht überfordert. Er, der Frauenschwarm.
,,Warum? Woher soll ich das wissen? Es ist einfach so. Ich konnte dich nie wirklich vergessen. Egal wen ich kennen gelernt habe, derjenige war einfach nicht....er war nicht du. Bei dir fand ich alles, du bist perfekt.''
,,Ich bin nicht perfekt.''
,,Ich meine...in meinen Augen bist du perfekt. Ich mag alles an dir. Aussehen, Charakter und was sonst noch so zählt. Das konnte ich nie wieder bei einem anderen sagen. Und ich hatte nie vor dir das alles zu sagen. Ich weiss schliesslich, dass ich nicht in dein Beuteschema passe. Du kannst jede haben. Ich passe nicht dazu.''
,,Sag mal, spinnst du Mia?''
Nico stützt sich vor mir ab. Erschrocken weiche ich etwas zurück. Daraufhin nimmt Nico den Stuhl und setzt sich direkt zu mir hin.
,,Ich weiss, ich hatte mit einigen Mädchen was. Aber das zählt doch gar nicht. Und woher willst du wissen, dass du nicht in mein Beuteschema passt?''
,,Ist es denn nicht so?''
,,Nicht mehr. ''
Fragend sehe ich ihn an. Was will er mir damit sagen?
NICO
Ich sehe Mia einfach nur an. Ihre Augen sehen mich fragend an. In ihren Augen wütet ein Sturm von Gefühlen. Traurigkeit, Verzweiflung, Hoffnung, Liebe. Ich nehme ihre Hand, drücke sie leicht und schaue wieder zu Mia. Auch sie hebt den Blick wieder.
,,Du bist ein echt aussergewöhnliches Mädchen, weisst du das?''
,,Warum aussergewöhnlich?''
,,Du hast mir mehr als einmal gesagt, was du für mich empfindest. Du warst immer ehrlich. Du hast dich aber nie an mich rangemacht, weil das auch nicht zu dir passen würde. Du lebst seit Jahren mit diesen Gefühlen für mich und jetzt...jetzt sehe ich dich an und frage mich, ob ich dich je richtig gekannt habe. Du bist echt was besonderes.''
Ein kleines Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. Ich stehe auf und ziehe sie ebenfalls mit mir hoch.
,,Mia...als wir in den USA waren, als du bei mir gewohnt hast...ich habe dich neu kennenglernt. Ich glaube sogar, dass ich dich erst jetzt so richtig kennen gelernt habe. Und...an diesem Abend...ich fühlte da, dass zwische uns was ist. Also, nicht erst dann, aber an diesem Abend ganz deutlich. Auch jetzt fühle ich das noch.''
Mia lächelt mich an und in ihren Augen sehe ich ein Leuchten. Fühlt sich so wahre Liebe an? Zumindest habe ich nie zuvor so etwas gefühlt. Bei keinem anderen Mädchen.
,,Mia.''
Ich lege meine andere Hand unter ihr Kinn, dann küsse ich sie.
MIA
Genau jetzt explodiert gerade ein gigantisches Feuerwerk in mir. Ich habe noch nie ein solch schönes Gefühl gehabt. Grenzenloses Glück, mein Herz ist voller Liebe und ich spüre, wie die Wärme durch meinen Körper schiesst. Wie Lava fliesst sie durch meine Adern. So schön dieser Kuss auch ist, so sehr habe ich auch Angst. Es ist ein Unterschied von seiner grossen Liebe zu Träumen und Hoffnungen zu haben oder von seiner grossen Liebe in Echt geküsst zu werden. Langsam lege ich meine Arme um ihn und er seine um mich. So fühlt sich wahre Liebe an. Ich könnte heulen vor Glück. Wie lange habe ich darauf gewartet? Wie oft habe ich mir das gewünscht? Wie gross war meine Sehnsucht geworden? Und ich habe es ausgehalten, gewartet und geschafft.
Als Nico seine Lippen von meinen löst und mich ansieht, sehe ich etwas in seinen Augen, das ich zuvor noch nie gesehen habe. Weder bei ihm, noch bei einem anderen Mann. Etwas unergründliches. Etwas, das ihn sowohl stark als auch verletzlich macht. Und mein Wunsch, für immer bei ihm zu bleiben, ist stärker denn jeh. Das hier ist der Beginn von etwas Grossem. Von meinem Leben. Von unserem Leben. Und jetzt wo er bei mir ist, ist mir egal was noch alles zukommen mag. Mit ihm schaffe ich alles.
Forever Yours, Nico.
NICO
Dieser Kuss hat Emotionen in mir ausgelöst, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Pures Glück, Wärme, Liebe, Stärke. Vor allem fühle ich mich, als würde ich schweben. Oder gleich platzen. Ich würde von nun an nie wieder von ihrer Seite weichen, das weiss ich. Sie und ich, wir sind eins. Und wir bleiben eins. Es klingt zwar total kitschig, aber genau so fühlt es sich an und genau so ist es. Ich liebe sie.
,,Mia...ich...ich...''
Mia legt mir ihren Finger auf die Lippen.
,,Nicht Nico. Erst wenn die Zeit da ist. Das hier ist erst der Anfang. Ein zweiter Kuss würde allerdings schon genügen.'', grinst Mia. Ich muss ebenfalls grinsen und küsse sie ein weiteres Mal. Das ist ein Moment, wo Worte überflüssig sind. Und diese drei Worte, die ich sagen wollte aber nicht konnte, die haben Zeit. Wie Mia sagte, wir sind am Anfang. Wir haben endlich zueinander gefunden, das ist das Einzige was zählt.
ENDE
Wie ist diese Geschichte entstanden?
Zum einen ist da meine Fantasie, die sich seit geraumer Zeit Geschichten ausdenkt. Fantasie benötigt jeder. Ob ein Musiker, Maler, Tänzer etc. Fantasie ist eine Welt, in die wir Menschen uns flüchten um Abstand von der Realität zu bekommen, wenn diese uns zu erdrücken versucht.
Dazu kommt mein Herz, das seit ewiger Zeit für jemanden schlägt. Dieser Jemand inspiriert mich immer wieder zu neuen Ideen, unbewusst natürlich. Manche Inspirationen entwickeln sich zu einer Geschichte wie dieser. Und manche bleiben Teil meiner Fantasie.
Die Menschen in meinem Leben. Menschen, die im Laufe der Zeit eine Rolle in meinem Leben gespielt haben. Das sind meine Figuren für meine Geschichten. Ohne die würden meine Geschichten nicht funktionieren. Fantasie-Autoren benötigen Feen, Elfen, Zwerge, Wichtel, Gnome usw. Sonst funktioniert deren Geschichte nicht. Bei mir sind es die Menschen.
Hinzu kommen noch meine Erfahrungen mit dem Leben, Höhen und Tiefen, Freude und Trauer, Liebe, Glück, Frust und Schmerz. Das alles erlebt jeder von uns. Wunderbare Gefühle für eine Geschichte wie diese.
Ich hoffe, die Geschichte ist gelungen und findet Anklang. Ich bin überglücklich diese endlich veröffentlichen zu können.
Und ja, was Mia am Ende zu Nico sagt, genau das sage ich auch.
Danke für's Lesen und bis zum nächsten Buch,
eure Nathalie
Damit dieses Buch vollendet werden konnte, waren mir zwei Personen sehr hilfreich. Und eine Serie.
Die erste Person, eine Schulfreundin von mir, hat das Cover gestaltet. Das Buch sollte zuerst Herz, Koma, Liebe heissen. Doch ich fand weder im Internet ein passendes Bild dazu, noch fiel mir etwas ein, das ich dazu zeichnen könnte. Abgesehen davon sind meine Zeichenkünste nicht sehr hilfreich. Doch beim Hören des Songs von Sunrise Avenue ''Forever Yours'' wusste ich endlich den Buchtitel: Forever Yours. Für immer deins. Das sollte der Titel bedeuten und die Gestaltung übergab ich an meine Schulfreundin. Ich wusste, sie kann schön schreiben und zeichnen. Und das Cover ist perfekt geworden. An dieser Stelle; Danke für deine künstlerische Hilfe!
Der zweite Dank geht an die Person, die mir in meiner ersten Schreibsackgasse die Kurve gelegt hat, unbewusst. Dank dir ging mir ein ganzer Kronleuchter auf. Falls du das jemals lesen solltest und auch bei dir ein Lichtlein aufgeht; Danke für deine unbewusste Hilfe! Sonst wäre ich wohl heute noch nicht fertig damit.
Eine Serie hat mich dazu gebracht, nach langer Schreibpause wieder weiterzuschreiben. In dieser Serie schreibt die Hauptrolle ebenfalls ein Buch. Durch ihren Willen und ihre Art hat es mich wieder in den Fingerspitzen gekitzelt. So ein toller Schreibfluss hatte ich lange nicht mehr.
Danke an die Serie, bze. an die Serienmacher von Jane the Virging (Netflix).
Manchmal braucht es nur einen kleinen Wink, einen kleinen Richtungswechsel und schon geht es wieder weiter. Das habe ich des öfteren gemerkt und sehe nun jede Sackgasse als eine Chance zum neu wenden an. Denn selbst in einer Sackgasse geht es weiter. Nur vielleicht nicht so, wie man zuerst dachte.
Vieles beginnt mit Mut.
Cover: 2020 by Alessandra von Allmend
Satz: Internetquelle Bookrix.de
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all jene, deren Herz auch für jemanden schlägt, der in unerreichbarer Ferne zu sein scheint.