Ich gehe weiter auf Nadja zu, trete hinter sie und halte sie mit meiner freien Hand an ihrem Nacken fest. Mit der anderen Hand halte ich ihr die Waffe an die Schläfe. ,, Tut mir leid, Nadja, aber du hast es nicht anders verdient. Ich habe lange genug wegen dir leiden müssen. Jetzt ist es an der Zeit, es dir heim zu zahlen.'' Nadja zittert, als wären es minus 10 Grad im Raum. Dabei läuft die Heizung auf Hochtouren. ,, Haha, jetzt hast du wohl schiss, ne? Geschieht dir ganz recht. Es bringt auch nichts, wenn du jetzt nach Hilfe schreist. Hast du noch ein letzten Wunsch, liebe Nadja?'' ,, I...Ich...es...es...tu...tut m...mir...leid, w...was...ich ge...getan ha...habe.'' ,, Tja, dazu ist es nun zu spät. Sag auf wiedersehen zu deinem schönen Leben. Hahaha!''
Ja, so kann es ausgehen, wenn man gemobbt wird, bis zum geht nicht mehr. Natürlich geht es nicht gleich immer so aus. Aber bestimmt auch. Man hört schliesslich genug von diesen Amokläufen und Selbstmordversuchen. Doch alle verschliessen die Augen davor und sehen weg. Niemand spricht darüber. Und wenn, dann heisst es wennschon: ,Ich hätte das dem nie zugetraut.' ,Man hat dem gar nichts angesehen.' Und solchen Mist. Leute! Ehrlich mal, niemandem steht auf die Stirn geschrieben: ,Ich will sterben' oder so. Wenn mann jemanden gut genug kennt, sollte das reichen. Aber viele wollen es schon gar nicht wahrhaben. Schämt euch!
Ich erzähle euch jetzt mal meine Geschichte. Wie ich damit fertig wurde, mit den anderen und was alles passiert ist. Vielleicht kapiert ihr dann einmal, dass man die Augen vor solchen Sachen nicht verschliessen sollte, denn so macht man sich nur mitschuldig und man beweist, dass man feige ist. Natürlich braucht es Mut, einzugreifen. Ich verlange ja auch von niemandem, dass man gleich jeden beschützt und dazwischen geht, wo man sieht, dass diese Person fertig gemacht wird. Ich verlange gar nichts. Es liegt an euch, was ihr tut. Man kann auch anders handeln. Hilfe holen. Mit Vertrauenspersonen sprechen und so. Und natürlich ist es auch nicht einfach zu wissen, wie man eingreift und wann es wirklich Zeit wird einzugreifen. Aber lieber mal etwas früher eingreifen und fragen, was los sei, als zu warten, bis es dann zu spät ist. Denn das Opfer wartet vielleicht nicht all zu lange und handelt selbst. Und wie das Opfer handelt, kann man sich auch denken. Also: Schau nicht weg und mach dich so nicht mitschuldig!
Drrrrr! Dieser scheiss Wecker! Genervt drücke ich auf den Knopf, damit er endlich aufhört zu drrrr-en und drehe mich auf die andere Seite. Doch leider hab ich nicht mit meiner Mutter gerechnet.
,, Mirina! Aufsteh'n! Du verpasst noch den Bus.''
,, Meinetwegen.''
,, Komm schon. Oder soll ich mit ein bisschen kaltem Wasser nachhelfen?''
,, Gerne, dann erkält ich mich und kann gleich im Bett bleiben.''
,, Ach, mach jetzt. Ich muss gleich zur Arbeit.''
,, Dann geh doch.'', brumme ich ins Kopfkissen.
,, Na schön. Ich bin dann mal weg. Aber ich bitte dich, dass du in spätestens fünf Minuten aufstehst.''
,, Jaja.'' Meine Mutter atmet nochmals tief ein und aus und geht dann hinunter, wo sie sich fertig macht und dann höre ich endlich die Haustür ins Schloss fallen.
Jahre alte Lehrerin das ignoriert, kann mir keiner erzählen: ,Die hat's wohl nicht mitbekommen.' Eine verdammt schlechte Ausrede. Das wissen die Lehrer genauso gut wie ich, doch was soll man da schon machen? Mit drei schnellen Schritten schaffe ich noch den letzten Hüpfer in den Bus und lasse mich auf den nächstbesten Sitz plumsen. Tanja, die im Moment einzige Freundin von mir, sitzt direkt hinter mir. Das merke ich daran, als mir plötzlich jemand mit etwas zu lauter Stimme ,Na, warst wohl wieder knapp dran' ins Ohr brüllt.
,, Aua, mein Trommelfell! Gehts nicht noch etwas lauter?''
,, Öhm, ich kann's ja mal versuchen, aber dann wird dein Trommelfell auf jeden Fall platzen.''
,, Das glaub ich auch, deshalb war's ja auch ironisch gemeint.''
,, Weiss ich doch. Hast du Deutsch gemacht?''
,, Wie immer.''
,, Und Mathe hast du nicht gemacht?''
,, Wie immer.''
Richtig gelesen. Wie immer. Mathe mach ich nie, da ich da ein riesiges Loch in der Leitung habe, das verhindert, dass diese Mathetheorien bis in mein Hirn gelangen können. Deshalb schreibe ich immer von Tanja ab, die in diesem hochkopmlizierten Fach aus irgendeinem Grund ein Genie ist. Soll mir recht sein, dann muss ich mir wenigstens nicht den Kopf zerbrechen über diese Formeln und den ganzen Kram. Tanja, die nicht nur eine laute Stimme hat, sondern deren lieblings Hobby quatschen ist, plappert mir die Ohren voll von ihrem Hund Gelato. Wieso er Gelato heisst? Schliesslich bedeutet das auf Italienisch Eis. Also, er heisst Gelato, weil er sozusagen nur Eis isst. Alle Arten von Eis, aber das am liebsten. Hundefutter mit Eis vermischt, Wasser mit Eis drin, Eis am Stiel, (wobei Tanja den Stiel halten muss, weil das der Hund nicht kann), oder was man sonst noch mit Eis alles anstellen kann.
,, Hörst du mir überhaupt zu?''
,, Jaja, sicher. Voll interessant, was du da sagst.''
Tanja sieht mich an und sagt: ,, Du hast nicht zugehört, sonst hättest du das nicht gesagt. Ich hab nämlich gerade von der letzten Mathearbeit gesprochen.''
,, Nicht von deinem Gelato?''
,, Wie? Ach, Mirina, es gibt auch noch andere interessante Sachen.''
,, Sicher, und da gehört ausgerechnet die Mathearbeit dazu.''
,, Für mich schon. Aber du bist ja gleich erlöst, weil wir nämlich an der Schule ankommen.''
Achje, ich hätte lieber noch Stundenlang mit Tanja über die total 'spannende' und 'interessante' Mathearbeit gesprochen, als in diese bescheuerte Schule zu gehen. In diese beschissene Klasse, wo man nur fertig gemacht wird.
,, Na gut. Dann ab in die Höhle des Löwen.'', seufze ich.
Tanja sieht mich mitleidig an. Auch wenn Tanja etwas zu viel plappert und das noch über Mathe, ist sie einfach die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann. Denn schliesslich ist sie die Einzige, die zu mir hält und wird deswegen auch etwas ausgegrenzt und verspottet. Nicht so sehr wie ich, aber auch ein bisschen. Doch das macht ihr wohl nichts aus, oder sie lässt es sich nicht anmerken. Ich brauche nur einen Schritt ins Klassenzimmer zu machen und wie auf Knopfdruck gehen die Beschimpfungen wieder los.
,, Da kommt ja unsere Miri-Stinki. Na, wie geht's denn so? Wochenende gut verstinkt?''
Eigentlich sollte ich über so viel Primitivität lachen. Ich meine; Wochenende gut verstinkt, hallo? Da sind ja Kindergartenkinder noch erwachsener. Aber leider kann ich nicht mehr lachen. Ich konnte es eigentlich noch nie, nur zu Hause oder wenn ich mit Tanja unterwegs bin. Dann sprech ich über das und tu so, als würde es mir überhaupt nichts ausmachen. Denkste. Natürlich nervt es mich. Es verletzt mich. Es stört mich. Und ich will, dass das Ganze ein Ende nimmt. Nur, wie? Ich habe mich immer gefragt, weshalb die Lehrer nichts gesagt haben. Konnten die überhaupt noch ruhig schlafen? Schliesslich haben die es zugelassen, dass man mich fertig machte. In anderen Klassen gab es bestimmt auch solche primitive Kids. Und dort wurde bestimmt auch nicht eingegriffen.
Ich frage euch Lehrer jetzt mal: Wieso greift ihr nicht ein?
Der Morgen verläuft wie jeder andere Morgen auch. Und der Spruch ,Ab in die Höhle des Löwen' trifft ausgesprochen gut zu. Für mich jedenfalls. Für die, die mich fertig machen, wird's wohl das reinste Paradies sein. Herr Jacker, unser Mathelehrer, hat in Mathe einfach nichts besseres zu tun, als mich -ausgerechnet mich!- nach vorne an die Tafel zu holen.
,, Dann wollen wir mal seh'n, liebe Mirina, ob du die letzten Matheaufgaben verstanden und gemacht hast.'' Ich habe zwar weder noch, doch das kann ich natürlich nicht sagen. Obwohl es mich davor bewahren würde, an die Tafel zu gehen. Doch sonst würde ich gleich eine eins Kassieren. Lieber nicht. Ich stehe da vorne, alles ist unheimlich ruhig und Herr Jacker wartet, dass ich die Rechnungen aufschreibe. Also nehme ich die Kreide in die Hand und schreibe die erste Zahl. Ich putze sie wieder aus. Herr Jacker trommelt mit seinen Finger auf das Pult, was mich total nervös macht.
,, Mirina, kann es sein, dass du keine Ahnung hast, was du aufschreiben sollst?''
,, Ja, das kann gut möglich sein.'', sage ich.
,, Dann darfst du dich wieder hinsetzen und ich muss dir leider eine Ungenügend geben.'' Toll.
,, Die ist eben zu blöd für Mathe.''
,, Quatsch, die ist für alles zu blöd.'', höre ich es flüstern. Jacker sagt natürlich nichts und auch ich ignoriere es. Oder versuche es zumindest.
Nach der Pause haben wir Musik bei Frau Schröder. Ich hasse Musik über alles. Ich liebte Musik mal über alles, aber seit dem ganzen Mobbingkram hass ich es einfach nur. Der Grund werdet ihr gleich erfahren. Wir müssen das Zimmer wechseln. Drei Zimmer weiter hinten ist unser Musikzimmer. Frau Schröder ist noch nicht da. Tanja und ich setzen uns hin und Marc singt gleich mal drauflos. Er hat nicht gerade die schönste Stimme. Aber es kommt ja sowieso mehr auf den Text an, als auf die Melodie (sagt Frau Schröder immer).
,, Mirina, Mirina, Stinkina! Was läuft denn so, wie gehts denn so?''
Laut und deutlich, bis bestimmt ans andere Ende des Flurs kann man diesen abscheulichen 'Gesang' von Marc hören. Ich sage nichts und konzentriere mich auf Tanja, die mir etwas erzählt. Ich weiss nicht was. Ich höre sie nicht. Ich höre nur laute Stimmen, die was von einer Mirina singen. Mir wird plötzlich total übel. Meine Beine reagieren von selbst. Ich stehe auf und stürze auf die Mädchentoilette, wo ich mich eine Runde übergebe und weine. Ich weiss, so wie ich das ganze bisher geschildert habe klang es, als wäre ich eine starke Persönlichkeit, der das nichts ausmacht und so. Doch es ist einfach so, dass jeder verletzbar ist, egal wie stark dieser Jemand rüber kommt. Und so ist es bei mir. Ich versuche vor den anderen so zu tun, als ob es mir nichts ausmachen würde. Doch mein Unterbewusstsein weiss es besser. Ich leide. Ich leide sehr. Aber was soll ich da schon machen? Nach einer Weile habe ich mich wieder beruhigt und mein Magen sich auch. Ich gehe zurück ins Musikzimmer, wo die anderen bereits freudig am Singen sind. Ich frage mich, ob Frau Schröder überhaupt bemerkt hat, dass ich kurz nicht anwesend war. Ich weiss zwar gar nicht, wie lange ich auf der Toilette war. Tanja sitzt immer noch an ihrem Platz und als ich mich zu ihr geselle, meint sie leise:
,, Ich habe Frau Schröder gesagt, dir wär etwas übel gewesen.'' Ich nicke. Stimmt ja auch. Aber Frau Schröder wird wohl annehmen, es sei eine Magenverstimmung gewesen. Eine Lehrerin hat uns in einer Lektion mal erklärt, als jemand noch nicht in der Klasse war (wir wussten nicht, ob derjenige krank war):
,, Wenn jemand fehlt und wir nicht wissen, was mit dem ist, ist es die Pflicht der Lehrer im Sekretariat nachzufragen, wo er oder sie ist, falls etwas passiert ist.''
Das sagte sie mit grösster Wichtigkeit und bei jedem anderen mal, wenn jemand noch nicht da war, dachte ich an das, was sie uns erzählt hat. Doch so wichtig wie sie damals geklungen hat, war es dann wohl doch nicht gewesen.
Am Mittag geht Tanja nach Hause, ich allerdings hab keinen Hunger und streife ein wenig durch die Gegend. Meine Mutter ist eh nicht zu Hause und mein Vater auch nicht. Geschwister hab ich ja keine. Mein Handy piepst plötzlich. Unbekannte Nummer. Ich öffne und lese: Stinkilein ging allein in das kleine Dorf hinein, steht allein, ist allein, Niemand braucht dich! WinkileinxD Eins muss man denen lassen: Sie sind sehr kreativ und können gut dichten. Aber was nützt mir das? Auch diese SMS ignoriere ich und laufe weiter. Mein Magen knurrt, doch ich hab kein Hunger. Mir ist nur hundselend zu Mute und übel ist mir auch. Da vorne ist eine Bank, da werd ich mich hinsetzen und etwas ausruhen. Doch ich schaffe es nicht mehr diese paar Meter und plötzlich ist alles schwarz.
,, Mädchen? Hallo, aufwachen!'' Jemand rüttelt mich nicht sonderlich sanft wach. Als ich die Augen öffne, schaue ich in dunkelbraune Augen, die mich besorgt anschauen.
,, Alles in Ordnung?''
,, Seh ich etwa so aus?''
,, Sorry, hab ja nur gefragt. Komm, ich helf dir.''
Mister Unbekannt hilft mir, mich wieder auf die Beine zu bekommen. Ich schwanke noch ein bisschen. ,, Vorsicht. Komm, gehen wir bis zur Bank.''
,, Das hat ich auch vor, bevor ich zusammengeklappt bin.''
,, Du hast wohl länger nichts mehr gegessen, was?''
,, Hatte keinen Hunger.''
,, Das seh ich.''
,, Wie meinst du das?''
,, Du bist schneeweiss im Gesicht.'' Endlich haben wir die Bank erreicht.
,, Ich heisse übrigens Johannes, aber alle nennen mich Hannes.''
,, Ich bin Mirina, genannt Mira.''
,, Du kommst mir irgendwie bekannt vor.''
,, So, meinst du?''
,, Ja....ich weiss nur grade nicht, woher ich dich kenne.''
,, Du kennst mich nicht. Sonst würd ich dich nämlich auch kennen.''
,, Klingt einleuchtend. Ich geh jetzt schnell zum nächsten Supermarkt um die Ecke und kaufe dir ein Sandwich und was zu Trinken.''
,, Das musst du nun wirklich nicht machen.''
,, Ich muss nicht, aber ich will. Sonst klappst du gleich nochmals zusammen.''
,, Wie du meinst.'' Und schon düst er ab. Das ist mir ja echt noch nie passiert, dass sich jemand, der ungefähr so alt ist wie ich, sich so um mich kümmert. Abgesehen von Tanja, kenne ich es nur anders. Aber anscheinend soll es noch Ausnahmen geben.
Als er wieder zurück kommt, frage ich: ,, Wieso hast du mir geholfen?''
,, Wie meinst du das jetzt?''
,, Na, du hättest auch einfach nur vorbeigehen können. Warst du auf dem Weg nach Hause?''
,, Nach Hause? Ne, ich war auf dem Weg zur Schule.''
,, Ach du.....wieviel Uhr ist eigentlich?''
,, Bald halb zwei.'' ,, Mist.''
,, Jap, kannst du laut sagen. Jetzt verpass ich wohl die ersten paar Minuten der Deutschstunde, aber das stört mich nicht weiter. Nur der Lehrer wird wohl ein Problem damit haben.''
,, Dann geh doch in die Schule. Ich kann alleine Essen und Trinken.''
,, Vergiss es. Ich bringe dich zuerst nach Hause, dann kannst du mir noch sagen in welcher Klasse du bist und dann erst geh ich in die Schule.''
,, Dann los. Vielleicht schaffst du es ja noch. Ist nicht weit, bis zu mir. Nur vier Haltestellen.'' Wir haben Glück und schaffen es noch auf den nächsten Bus, der mich nach Hause bringt. Als Hannes sicher ist, dass ich nun alleine zurecht komme, sage ich ihm noch, in welcher Klasse ich bin, damit er mich dort entschuldigen kann.
,, Jetzt weiss ich, woher ich dich kenne! Ich hab dich schon oft auf dem Flur gesehen und....du hast es wohl nicht sehr einfach in dieser Klasse, hm?'', fragt er mich etwas leiser.
,, Wie kommst du drauf? Alles paletti. Ich geh jetzt ins Bett, bin noch total müde. Danke für deine Fürsorge, das Geld bekommst du morgen zurück.''
,, Ne, lass mal. Hab ich wirklich gerne gemacht. Gute Besserung und...Miri, ein Tipp.''
,, Ja?''
,, Hol dir Hilfe, sonst endet das alles nicht gut.'' Eine Weile schaue ich ihn schweigend an, dann drehe ich mich um und verschwinde ins Haus. Es ist ja gut und Recht, wenn jemand merkt, dass es einem schlecht geht und sagt ,hol dir Hilfe', doch leider bringt das nicht immer was. Manche denken vielleicht drüber nach und holen sich dann tatsächlich Hilfe, andere haben schon gar nicht mehr die Kraft dazu und suchen eine andere Lösung. Ich glaube nicht, dass niemand merken würde, wenn jemand was ausheckt. Es ist doch fast logisch, dass jemand, der in der Schule fertig gemacht wird, zu Hause nichts oder nicht viel davon erzählt und vor den Freunden so tut, als wäre das nicht so schlimm, leidet und sich zuletzt vielleicht was antut. Das hat dann wieder mit dem Wahrnemen und Augen davor verschliessen zu tun. Leute, das kann doch alles nicht sein?! Was ist das für ein Leben?
Als ich mich eine Weile ausgeruht habe, gehe ich an den PC und kontrolliere mein E-Mail-Postfach. Drei neue Mails. Die eine ist von unserem Klassenlehrer, der mir die Aufgaben im PDF-Format schickt. Die zwei anderen von zwei Unbekannten. Naja, als ich die Mails gelesen habe, sind sie doch nicht mehr so unbekannt.
Von: Nini94@org.ch
An: Mirina94@org.ch
Die Welt ist bedroht von Seuchen und Viren. Grippen und Krankheiten. Eine neue Seuche wurde gerade entdeckt. Sie heisst die ,Miri-Stinki,-Seuche'. Warnung an alle!!! Haltet euch fern von dieser Seuche, denn sie ist Lebensbedrohlich!!!! Sendet diese Mail an alle Freunde und Bekannte, damit sie nicht auch noch verseucht werden.
Von: VMTN4@org.ch
An: Mirina94@org.ch
ACHTUNG, ACHTUNG!! SOLLTEST DU DER SEUCHE ,Miri-Stinki' BEGEGNEN; MACH EINEN GROSSEN BOGEN UM SIE, DENN SIE IST SAU GEFÄHRLICH!
Hab ich schon erwähnt, dass diese Kids total primitiv sind? Okay, das sind sie absolut. Das verhindert leider nicht, dass ich verletzt bin und immer wieder werde und mich bald selbst nicht mehr ausstehen kann. Wieso machen die das? Ich hab denen nichts getan. Wir waren mal FREUNDE! Kaum vorstellbar. Aber ist so. Mittlweile sollte ich froh sein, dass ich die los bin, denn auf solche Freunde kann ich nun wirklich verzichten, aber es tut trotzdem verdammt weh.
WIESO MACHT IHR DAS? WAS HAB ICH EUCH GETAN?
Mir wird wieder total übel. Ich geh ins Badezimmer, schaue mich kurz im Spiegel an und übergebe mich dann wieder. Danach werde ich von Heulkrämpfen geschüttelt. Ich weiss nicht, wie lange ich da sitze und weine. Ich fühle mich scheisse. Elendig. Alleine. Niemand mag mich. Ich bin ein Fehler auf dieser Welt. Ich sollte sterben. NATÜRLICH! Wieso bin ich nicht schon eher draufgekommen? Die wollen mir auf diese Weise klarmachen, dass ich überflüssig bin auf dieser Welt und es besser wäre, wenn ich mich aus der Welt schaffen würde. Jetzt hab ich's kapiert. Okay, wie sie wollen. Dann werd ich das tun. Muss nur noch überlegen, wie ich das tue. Damals hatte ich ein Gefühl wie jemand, der nach langen Erklärungen endlich eine schwierige Matheaufgabe verstanden hätte. Kaum zu glauben, oder? Ich hatte ,kapiert', dass ich nicht in diese Welt passe und mich niemand braucht. Ich hatte ,kapiert', dass ich nichts tauge und Abschaum für diese Welt war. Eine Seuche. Ein Virus. Eine gefährliche und ansteckende Krankheit. Und niemand war da um mir zu sagen, dass es nicht so sei. Und wenn; Ich hätte es sowieso nicht geglaubt.
Leider muss ich am nächsten Morgen wieder in die Schule, weil es mir schon wieder besser geht. Nein, also nicht mir, meinem Magen. Bei mir drin hat sich irgendwas verändert. Ich kann irgendwie nicht mehr lachen. Mir ist ununterbrochen übel und mein ganzer Körper fühlt sich so schwer an wie Blei.
,, Mira, was ist los?''
,, Wie? Was hast du gesagt?'', schrecke ich aus meinen Gedanken auf, als Tanja mich anspricht. Wir sind bereits im Bus und bei der dritten Haltestelle vorbei.
,, Ich hab dich gefragt, was los sei.''
,, Was soll schon los sein?''
,, Du siehst blass aus und total....traurig aus oder so.''
,, Mir geht's gut, glaub mir. Wir müssen gleich aussteigen.'' Tanja merkt, dass es keinen Sinn hat, mir noch weitere Fragen zu stellen. Den Morgen bis zur Pause muss ich euch nicht mehr erklären, da es immer gleich abläuft. Ausser, dass nun ALLE einen Bogen um mich machen. Die haben wohl alle die E-Mail bekommen. Und als ich kurz bevor die Pause fertig ist, ins Klassenzimmer gehe, erwartet mich eine unfreuliche Überraschung.
,, Na sieh mal einer an. Unser Mirileinchen. Wie geht's uns denn heute so?'', fragt mich Nadja. Neben ihr stehen links Tim und Mike und rechts Vanessa. Alle grinsen mich an, als würden sie mir sagen wollen: ,Jetzt haben wir dich.'
,, Was willst du, Nadja?'', frage ich sie mit müder Stimme. Ich fühle mich schrecklich und in mir macht sich die Angst breit.
,, ICH will gar nichts, WIR wollen etwas. Mike, geh du an die Tür. Schauen, dass wir nicht gestört werden. Wir waren doch lange Zeit befreundet, weisst du noch, Mirina?'', fährt Nadja fort und die drei bilden langsam einen Kreis um mich. Ich nicke. Ja, das weiss ich noch zu gut.
,, Doch wir haben uns auseinandergelebt und du hast dich zu einer Streberin entwickelt. Du hast nicht mehr zu uns gepasst und dich immer besser mit dieser Tanja verstanden. Du hast bald mehr mit der gesprochen als mit uns. Das hat uns verletzt.'', sagt Nadja mit reissender Stimme und hält ihre Hand an die Stelle, wo ihr Herz schlägt. Ihr kaltes und fieses Herz. Vanessa und Tim können sich ein Grinsen nicht verkneifen.
,, Wir mochten dich einmal sehr, Mirina, aber jetzt....jetzt können wir dich nicht mehr ausstehen.''
,, Ich euch auch nicht.'', rutscht es aus mir heraus. Einerseits find ich gut, dass ich das gesagt habe, andererseits habe ich Angst, was darauf folgen wird.
,, Aha, hört euch das an. Sie kann uns auch nicht mehr ausstehen. Jetzt wären wir beinahe quitt. Aber damit du wirklich kapierst, wie sauer wir auf dich sind, dass du uns so hintergehst und in den Rücken fällst, müssen wir dir leider noch eine kleine Lektion erteilen.''
Achtung, jetzt kommts, denke ich bei mir. Nadja gibt mir einen Stoss und ich falle nach hinten um. Tim stösst mich mit dem Fuss ein paar mal in die Seite und zieht mich dann mit einem Ruck auf die Füsse. Ich halte mir noch die schmerzende Seite und dann werden mir die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Von Vanessa ein Klebeband auf meinen Mund. Was sollte das denn? Das würde ich gleich erfahren. Während ich bete, dass jemand ins Klassenzimmer kommt (was natürlich nicht geschieht), ziehen sie mich hinter sich her. Raus aus dem Klassenzimmer. Sie schliessen mich in einer Kabine auf dem Mädchenklo ein. Natürlich schliesst man eine Tür von innen ab, aber die haben ein Stuhl genommen und unter die Klinke gestellt. Das habe ich herausgefunden, als Tanja mich schliesslich vor dem Mittag gefunden hat. Mein Handy liegt in Notfällen leider immer dort, wo ich gerade nicht bin. Meine Hände hinter dem Rücken gefesselt, den Mund verklebt, können wenigstens ein paar Tränen über mein Gesicht laufen. Ich habe nun richtig Angst vor denen und hoffe, dass sie mich nicht noch mal irgendwo einsperren. Tanja macht sich natürlich die grössten Sorgen, doch ich hab sie gebeten, niemandem was zu sagen, weil ich nichts riskieren will. So ist das doch oft in beim Mobbing. Man wird fertig gemacht und geht innerlich kaputt, doch man traut sich nicht, jemandem was zu sagen, weil man Angst hat, es würde noch schlimmer kommen. Dabei kommt's doch so oder so schlimmer. Nicht, dass ich jetzt total schwarz sehe oder so, aber ich meine damit, so wie ich es eben erfahren durfte: Man hat mich dann nicht verschohnt, weil ich niemandem was gesagt habe. Nein, es ging weiter, bis zum absoluten geht nicht mehr.
Tanja muss nach der Schule noch zum Zahnarzt und deshalb warte ich alleine auf den Bus. Ich bin froh, dass Nadja und die anderen nicht auch beim Bus sind. Ich setze mich auf die Bank und warte, als sich jemand neben mich setzt.
,, Hallo Miri.''
,, Hey, Hannes.'', begrüsse ich ihn lächelnd. Ja, ich lächele. Ich freue mich wirklich ihn zu sehen.
,, Wie geht's dir heute so?''
,, Gut und dir?''
,, Mir gehts gut, aber du siehst nicht gerade danach aus.''
,, Wieso fragst du dann?''
,, Weil ich gehofft habe, dass du mir die Wahrheit sagst.''
Ich seufze.
,, Tut mir leid, Miri, ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber ich wünschte, ich könnte dir helfen.''
,, Schon gut, Hannes. Der Bus kommt.''
,, Okay, ich muss noch einkaufen gehen. Dann bis morgen.''
,, Ja, bis morgen.''
Mails. Ich tue das ja nur, weil ich vielleicht was wichtiges bekommen könnte. Keine Ahnung was. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur süchtig danach nachzuschauen, ob wieder was über mich gekommen ist. Leider ja. Ich öffne die Mail. Sie ist wieder von VMTN4@org.ch. Diesmal ein Link zu einer Webseite. Ich klicke drauf. In knallroten Buchstabend oben als Titel mit einem Totenkopf verziert, steht: Seuche'. Ein Bild, das etwas verarbeitet ist, aber wo ich dennoch gut erkennbar bin. Darunter ein kleiner Text:
Achtung an alle,! Wir warnen vor der neuen ,Miri-Stinki-Seuche'. Haltet euch von ihr fern, sonst endet dies tragisch.
Kleine Umfrage: Wie findest du miri-Stinki?
-Kotz-----------> 40%
-Würrrg-------> 25%
-Iiiigitt---------> 35%
-ich mag sie----> 0%
Tja, Miri-Stinki, jetzt weisst du's. Aber das wusstest du wahrscheinlich schon lange. Jetzt hast du noch die Bestätigung dazu. Toll, oder? Schreibt uns eure Meinung zu ,Miri-Stinki'. Wir freuen uns über jeden Kommentar!!
Was soll man von sowas halten? Da wird extra eine Webseite eingerichtet, um jemanden fertig zu machen. Hoffentlich hat Hannes die Seite noch nicht entdeckt. Keine Ahnung, weshalb ich das jetzt denke, aber ich hoffe es wirklich. Und Tanja? Ob die auch diese Emails kommt, dass man sich von mir fernhalten sollte? Wenn nein, wäre dies eine Erklärung, weshalb sie immer noch mit mir spricht und zu mir hält. Und wenn sie die Mails doch schon bekommen und gelesen hat, dann ist sie eine wahre Freundin. Wenn ich jemandem, Eltern oder sonst jemandem, von diesen Mails und allem erzählen würde, käme bestimmt dieser Satz: ,Ignorier das und lach drüber. Die sind einfach nur primitiv.' Klar, die sind wirklich primitiv. Schlimmer gehts nicht. Aber für mich ist es nicht nur Primitivität, schliesslich leide ich unter diesen verdammten Leuten, niemand sonst. Nicht meine Eltern, Verwandte oder sonst jemand. Ausser vielleicht noch Tanja. Aber sonst absolut niemand. Ich weiss echt nicht, was ich gegen die tun kann. Wenn ich mit meinen Eltern spreche, gehen die vielleicht zur Lehrerin und das bringt mir nichts, weil die ja auch sonst nie eingreifen. Ich muss mir was andere überlegen. Dazu mache ich mal einen Spaziergang. Ein wenig frische Luft wird mir gut tun. Draussen ist es ziemlich kühl geworden, doch ich spüre davon nichts. Ich will einfach nur ein bisschen weg. In den Park am besten. Ja, das ist wirklich unglaublich. Das ist KRANK! Man nimmt sich Zeit um eine Website einzurichten, damit man jemandem besser mobben kann. Hallo?! In was für einer Welt leben wir eigentlich? Wie blöd ist die Menschheit bloss geworden? Das Beste an dieser Art von Mobbing ist, dass man dafür IMMER bestraft wird. Und das blöde daran ist, dass man im Internet am wenigsten schnell rauskriegen kann, wer der Täter ist. Da hat man 'nen Decknamen. In der Schule sieht man die Person von selbst. Was einmal im Internet war, wird immer dort sein und im Internet gedisst zu werden, ist wirklich der allerletzte Dreck! Man kann zwar Anzeige erstatten und die Seite dennoch löschen, aber trotzdem. Vielleicht wird nie der wahre Täter ausfindig gemacht. Also lassen wir das Dissen per Internet am besten ganz weg und nutzen unsere Zeit für andere Dinge, die wirklich nützlich sind und keinem schaden.
Zum Glück regnet es nicht, so kann ich mich wenigstens auf eine Bank setzen und in Ruhe nachdenken. Doch die Ruhe wärt nicht lange.
,, Miri! Hey, das ist ja ein Zufall.'', ruft jemand und lässt sich gleich darauf neben mich plumsen. Es ist niemand anderes als Hannes.
,, Hey Hannes.''
,, Na, gehts dir immer noch gleich wie heute Mittag?''
Eigentlich noch schlechter, trotzdem sage ich: ,, Ach, alles okay.''
Hannes mustert mich und sagt dann: ,, Weisst du, du kannst mir nichts vormachen. Und wenn du mit grösster Überzeugen sagst, dass es dir gut geht, glaub ich's dir nicht, weil ich einfach sehe, dass es dir beschissen geht.''
,, Wie du meinst. Dann gehts mir eben beschissen. Wen interessierts? Ist doch scheiss egal, wie es mir geht. Lasst mich doch alle in Ruhe!'', brülle ich und mache mich auf den Rückweg.
Obwohl ich nicht lange in Ruhe nachdenken konnte, weiss ich nun eins: Es muss was passieren. Und es WIRD etwas passieren. Als ich zu Hause bin, bin ich immer noch total wütend. Wieso, weiss ich gar nicht genau. Schliesslich hat Hannes nichts böses gesagt. Nur die Wahrheit. Aber wer hört schon gern die Wahrheit, wenn es um sowas geht? Jedenfalls ist mir jetzt klar, dass ich was unternehmen muss. Irgendwas. Ich habe so eine riesige Wut im Bauch, kann man gar nicht beschreiben. Ich lade den PC nochmals hoch und klicke nochmals auf den Link. Ob schon jemand einen Kommentar zur Umfrage geschrieben hat? Natürlich hat es bereits ein paar Kommentare. Ich lese sie durch, kann gar nicht aufhören, dabei zersplittert bei jedem Satz noch mehr in mir, als eh schon kaputt ist.
Kommentare:
Nini: Ehrlich ey, wie kann sich so jemand bloss im Spiegel angucken? Mir wirds schon schlecht, wenn ich an die denke -würrg-
Theobold1980: Nicht nur dir, Nini. Die ist sooo scheisse, dass man die noch nicht eingesperrt hat, ist mir ein Rätsel!
V-princess: Ausserdem sieht sie einfach nur zum kotzen aus. Ich glaube, es sind alle derseleben Meinung: Die soll verschwinden und nie wieder auftauchen. Soll sie sich doch erschiessen.
M-Boy-2000: Da bin ich absolut deiner Meinung, Prinzesschen. So ein Stinki-Winki brauchen wir nicht! Ich geh mich mal übergeben. Ciaooo leute!!
Natürlich. Die vier mussten sich natürlich über mich austauschen und über mich lästern. Aber was ich mich frage: Haben alle den Link bekommen aus der Klasse? Wenn ja; wieso schreiben die hier nichts? Nicht, dass ich scharf drauf bin, noch mehr über mich zu lesen und das von den anderen, aber es wundert mich trotzdem ein wenig. Aber wahrscheinlich hatten die anderen gerade besseres zu tun, als sich so primitiv über mich zu äussern. Ich nehme ein Block und ein Stift zur Hand und schreibe folgendes auf: Wie ich mich rächen könnte:
-Nadja und co einsperren
-Nadja und co erpressen
-Nadja und co wegschaffen
1.Ich könnte Nadja und die anderen irgendwie irgendwo einsperren.
2.Ich könnte Nadja und die anderen epressen und ihnen so alles zurückgeben.
3.Ich könnte Nadja und die anderen irgendwie wegschaffen.
Fragt sich nur: Wie? Der dritte Punkt gefällt mir von allen am besten. Einsperren klingt zwar auch nicht schlecht, aber das müsste ich erst mal hinbekommen. Und der Typ zum Erpressen bin ich auch nicht gerade. Und wegschaffen? Zuerst muss ich da überlegen, was ich da gemeint habe. Wie ich mir das vorstelle. Den ganzen Abend überlege ich, was ich damit meinen könnte und so und gehe schliesslich ohne eine Idee zu Bett. In dieser Nacht träume ich von Hannes, wie er mich in der Klasse verteidigt. Es ist für einen kurzen Moment ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Ach, wenn es doch bloss kein Traum wäre... Tja, so kommt es dann auch oft. Früher oder später bekommt man Rachegedanken. Dies kann ziemlich krank enden. Doch, wenn ein Opfer mal solche Gedanken hat, kann man dies nur noch schwer verhindern. Ist zu vergleichen mit, sagen wir Mister X und Y. Mister X wurde von Mister Y ziemlich verarscht und hat nun den Plan es ihm heimzuzahlen. Er ist ziemlich sauer auf ihn. Dem kann man dann auch nicht ausreden: ,Hör auf, mach das nicht', schliesslich wurde er auch verarscht. Es heisst zwar ,Wie du mir, so ich dir' aber das trifft auch nicht auf alles zu. Also sieh zu, dass du VOHER eingreifst und nicht die Augen davor verschliesst, die Rache könnte DICH nämlich genauso treffen.
Am nächsten Morgen, als ich erwache, hab ich DIE Idee. Die haben ja geschrieben, dass ich mich wegschaffen, mich umbringen soll. Erschiessen. Dann werd ich denen mal den Wunsch erfüllen. Den ganzen Morgen über habe ich ein schelmisches Grinsen im Gesicht. Ein ganzer Morgen kann ich alles über mich ergehen lassen und bekomme nicht mal die Hälfte davon mit, was sie wieder über mich erzählen. Ein ganzer Morgen sieht mich Tanja fragend und unsicher an. Was hat sie nur? Was heckt sie aus?, scheint sie zu denken. Sorry Tanja, aber diesmal muss ich meine Gedanken vorerst für mich behalten. Dass ich heute gut drauf war und mich gut fühlte, war wohl eine Ausnahme. Denn am nächsten Morgen ist wieder alles anders. Ich bin meiner Rache plötzlich nicht mehr so sicher und weiss nicht, ob alles noch einen Sinn hat. So gehts dann plötzlich die ganze Zeit. Einmal bin ich voll motiviert und will alles ignorieren, dann will ich mich rächen, dann will ich mich verkriechen und und und. Natürlich merken auch Tanja und meine Eltern, dass etwas nicht stimmt. Also Tanja weiss ja, dass ich in der Schule gedisst werde. Meine Eltern wissen nur, dass ich etwas Mühe habe in der Klasse. 'Etwas Mühe' ist ja noch schön ausgedrückt. In den nächsten Tagen finde ich 'liebevolle' Zettel in meinem Pult.
Verpiss dich, wir brauchen dich nicht!
Stinker wie dich, können wir nicht gebrauchen!
Ich kotz gleich...!
Was ist das: Mittelgross, schlank und riecht etwas streng? Miri-Stinki!
Und noch mehr solche Unannehmlichkeiten. Solche Nachrichten führen dazu, dass ich mich stundenlang unter die Dusche stelle und mich danach nicht viel besser fühle. Ich kaufe dauernd neue Deos, soviel mein Taschengeld auch zulässt, sprühe mich mit Mamas teurem Parfum, ein ziehe mir jeden Tag neue Kleider an.
,, Sag mal, wieso wechselst du dauernd deine Kleider? Dieses T-Shirt hier ist doch noch schön. Ich versteh das absolut nicht, Mirina.'', schüttelt meine Mutter den Kopf, sagt aber nichts weiter.
Ich fühle mich einfach die ganze Zeit schrecklich. Doch das Schicksal meint es auch etwas gut mit mir. Denn ich treffe mich nun ab und zu mit Hannes, der mich wohl wirklich mag (als Kumpel) oder die Webseite einfach noch nicht entdeckt hat. Es ist, als würden meine Feinde nach einem Plan vorgehen. So oft und so oft bekomme ich fiese Nachrichten, dann wieder sagen sie mir alles persönlich ins Gesicht und dann hab ich plötzlich wieder einen Tag Ruhe vor denen. Anfangs hatte ich noch Hoffnung, dass alles ein Ende nimmt und sie mich endlich in Ruhe lassen. Doch mittlweile glaube ich nicht mehr daran, dass ich überhaupt wieder ein normales Leben führen kann. Es ist wieder mal ein Freitag, Schluschluss und ich gehe zum Kiosk, der nicht weit neben der Schule steht. Ich kaufe die Zeitschrift BravoGirl wegen einem Artikel, der mich brennend interessiert.
,, Hey Miri! Lust heute Abend was zu unternehmen?'', spricht mich Hannes von hinten an.
,, Man, hast du mich jetzt erschreckt.''
,, Sorry, wollt ich nicht. Hast du trotzdem Lust?'', fragt mich Hannes und sieht mich mit seinen braunen Augen lieb an.
Ich muss lachen. Denn obwohl ich eigentlich gar keine Lust habe, sag ich zu.
,, Kino?''
,, Können wir.''
,, Ich hol dich um 19.00 Uhr ab, ok?''
,, Ist gebongt.''
,, Super, bis dann!'', freut sich Hannes und geht wieder.
Ich gehe zur Kasse, bezahle und mache mich auf den Weg zum Bus. Da wir heute ein paar Minuten eher gehen konnten, habe ich den Bus nicht verpasst. Zuhause geh ich in mein Zimmer und mache es mir auf dem Bett mit Gummibärchen und Cola gemütlich. Dann lese ich endlich den Artikel.
SVV -Ein bei den Jugendlichen- sehr bewegtes Thema
SVV ist die Bezeichnung für Selbstverletzendes Verhalten, das in der heutigen Jugend leider sehr aktuell geworden ist. Es ist ein Thema, über das man nicht gerne spricht. Dennoch ist es sehr ernstzunehmen, da es der grösste Hilfeschrei ist, der jemand senden kann. Wieso man überhaupt SVV macht? Es ist eine blöde und schmerzhafte Angewohnheit, die auch Süchtig machen kann. Dies machen solche Menschen, die nicht mehr weiter wissen, nicht mehr klar kommen und dies ist meist auch noch mit Suizidgedanken verbunden. Auch wenn es den inneren Schmerz für eine kleine Weile ausblendet, danach fühlt man sich nicht besser, wenn man die selbstzugefügten Schmerzwunden sieht. Trotzdem verspürt man, wie beim Rauchen, den Drang sich wieder zu verletzen. Es ist auch schwer für Aussenstehende, wie sie reagieren sollen, wenn es jemanden aus dem näheren Umfeld betrifft. Natürlich ist es erstmal schockierend, aber vorallem ist es Alarmstufe ROT! Psychologen und Therapien können da am besten Helfen.
Hm, wirklich interessant sowas zu lesen. Und um ehrlich zu sein, hab ich noch gar nie richtig realisiert, dass es sowas auch gibt. Es ist aber etwas, das man so ziemlich niemandem zutrauen würde. Ist zwar oft so, dass z.B. Die Eltern sagen, wenn das Kind 'anscheinend' was angestellt hat: ,Mein Kind würde sowas nie tun!' und dann kommt raus, dass das Kind trotzdem Schuld ist. Und dann heisst es: ,Ich hätte nie gedacht, dass es das machen würde.' Tja, das sind diese Alltäglichen, oder jedenfalls nicht seltenen Enttäuschungen, die jeder erlebt. Ich geh an den PC, lade ihn hoch und gebe bei GOOGLE den Suchbegriff SVV ein. Die ersten paar Einträge haben nichts mit dem Thema zu tun, doch die nächsten paar Einträge kommen dem Thema schon viel näher:
Selbsverletzendes Verhalten – Wikipedia Was ist SVV? - SVV/Selbsverletzendes Verhalten – Geschichten
Ob es wohl einen Gegenstand extra für's Selbstverletzen gibt? Ich tippe es bei GOOGLE ein und erhalte meine Antwort:
Selbstverletzung
Wenn sich Jugendliche ritzen Jugendliche benutzen oft Rasierklingen, Messer oder sonst irgendwelche spitze und/oder scharfe Gegenstände, um sich selbst zu verletzen. Oder sie treten gegen Wände, schlagen sich selbst. Hm...sehr interessant. Aber hört sich sehr schrecklich an. Ich tippe auf Bilder und gebe Ritzen ein. Grässliche Bilder erscheinen. Sicher auch solche, die bearbeitet wurden. Schwarzweiss und farbig. Sieht beides schlimm aus. Sowas würd ich niemals tun. Oder? Ritzen ist leider wirklich etwas sehr weit verbreitetes. Ich hab mich gefragt, wie das alles angefangen hat, seit wann es das gibt. Ich habe dazu ein kleiner Abschnitt im Internet gefunden: Ritzen ist absolut keine Erscheinung unserer Zeit. Das Krankheitsbild wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals beschrieben und erhielt dann ab Ende der 1990er Jahre in der Öffentlichkeit verstärkte Aufmerksamkeit, weil damals die ersten Therapiemöglichkeiten zur Verfügung standen. Ritzen ist selbstverletzendes Verhalten. Es gabs schon immer und wird es auch immer geben. Und das berühmte Sprichtwort ,Sag niemals nie' trifft auch hier zu. Jeder ist in der Lage, sich zu ritzen. Leider.
Das ganze Wochenende über schwebe ich auf Wolke 7 und fühle mich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Das merken auch meine Eltern. Mein Vater sieht mich wieder mit diesem ,Ollalla'- Blick an, der ich mega hasse! Das nervt einach. Sobald man was mit Jungs anfängt, hat man das Gegrinse und diese bedeutende Blicke der Eltern -vorallem der Väter- im Nacken. Grr!
Doch mein Glück wärt nicht lange. Am Montag gehe ich voller Tatendrang zur Schule und Hannes begrüsst mich auch ganz normal. Das heisst, diesmal ist ein Kuss dabei. Wir laufen gemeinsam durch die Schüler und ich geniesse die neidischen Blicke mancher Mädchen, die sich richtig in meinen Rücken brennen. Doch ich nehme das nur sehr vage wahr. In der Pause, als ich noch kurz was zu Essen kaufen gehe, sehe ich, wie Vanessa auf Hannes zu geht und ihm was sagt. Oder fragt. Als wir dann zusammen etwas abseits der anderen stehen, frage ich ihn:
,, Was wollte denn Vanessa von dir?''
,, Vanessa? Ach...äh...nichts Besonderes.''
,, Aha.'', sag ich nur.
Ich weiss zwar nicht genau was, aber irgendwas sagt mir, dass da mehr war, als 'nichts Besonderes'. Der restliche Unterricht zieht sich grauenvoll in die Länge und auch der Tag scheint kein Ende nehmen zu wollen, bis ich nach Schluschluss Hannes endlich wieder sehen kann.
,, Na, hast du den heutigen Tag gut überstanden?'', fragt er mich nachmittags nach Schulschluss.
,, So gut wie schon lange nicht mehr.'' Und das ist auch wahr. Ich könnte jetzt nicht sagen, ob man mich heute wieder beleidigt hat. Ich habe nichts wahrgenommen und nur an Hannes und mein Glück gedacht. So vergeht der Montag, der normalerweise ein schlimmer Tag ist, gut und langsam vorüber. Genauso fröhlich wie ich am Morgen beim Aufstehen war, bin ich es noch, als ich abends wieder zu Bett gehe. Doch es gibt ja noch einen Dienstag und drei weitere Wochentage. Der Dienstag soll für mich schon wieder zur Hölle werden. Wieso? Ganz einfach.
Am Dienstagmorgen, als ich in die Schule komme, kommt mir Hannes schon vor 10 Meter Entfernung komisch vor. Als wäre es ihm plötzlich unangenehm, sich mit mir blicken zu lassen. Den Begrüssungskuss gibt's auch nur auf die Wange.
,, Was ist denn mit dir los? Hab ich was verpasst?''
,, Wäs? Äh...nein, ist nichts.''
,, Das kannst du deiner Oma erzählen. Also, was ist?'', frage ich und schaue ihn herausvordernd an.
,, Miri....es ist nichts. Ich...muss jetzt noch was erledigen. Ähm...Sachen wegen dem Unterricht vorbereiten.''
,, Aha.'', sage ich nur und glaube ihm kein Wort.''
,, Bis später.'', sagt er und gibt mir einen schnellen Kuss -auf die Wange. Na toll. Und was sollte das jetzt? Ich hab ein ungutes Gefühl. Ob er mich wohl nicht wirklich liebt? Oder hat er mich gar nie richtig gemocht? Nein, das hätt ich gemerkt. Grübelnd und mit einem seltsamen Gefühl geh ich ins Klassenzimmer.
,, Na, gab's heute kein Knutschi, knutschi?'', begrüsst mich Nadja mit einem fiesen Grinsen. Wieso hab ich plötzlich das Gefühl, dass sie etwas damit zu tun hat?
,, Kann dir ja egal sein, oder?''
,, Ja, natürlich kann mir das egal sein. Ist's mir aber nicht. Ist nämlich mega interessant, dass jemand mehr gecheckt hat, dass du nichts wert bist.''
Ich versuche auf Durchzug zu stellen und an was anderen zu denken. Natürlich klappt das nicht so gut, aber wenigstens kommt in dem Moment die Lehrerin zur Tür rein und der Unterricht geht los. In der Pause kann ich Hannes nirgends finden. Ob er mir aus dem Weg geht? Wenn ja, wieso? Was hab ich getan? Ich bin mir zu 99.9% sicher, dass Nadja dahinter steckt. Gestern hab ich zwar Vanessa bei Hannes gesehen...aber schliesslich sind Nadja und Vanessa befreundet. Also haben beide was damit zu tun. Aber womit eigentlich? WAS IST LOS? Auch nach Schulschluss kann ich ihn nirgends entdecken. Komisch...Dann werd ich ihn morgen eben fragen, was los ist. Nein! Noch besser ist, ich rufe ihn an. Und zwar gleich jetzt. Die Handynummer hab ich schliesslich. Ich wähle also seine Nummer und....tuut-tuut-tuut...und dann werd ich weggedrückt. Hallo? Geht's noch? Na warte, das lass ich mir nicht gefallen. Ich schreibe ihm 'ne SMS: WAS IST LOS? Natürlich bekomme ich den ganzen Abend keine Antwort, obwohl ich alle 10 Sekunden auf den Display starre und dies, obwohl ich das Handy auf laut habe. Könnte ja sein, dass dieses moderne Ding plötzlich die Spinnerritis hat und nicht läutet. Die nächste Nacht schlafe ich ganz unruhig und träume auch noch ganz wirr. Hannes sieht mich mit leeren Augen an, als ob er mich noch nie gesehen hätte und fragt: ,Was willst du von mir?' Ich sage: ,Ich liebe dich doch!' ,Aber ich hasse dich!' Dann seh ich Nadja's und Vanessas fieses Grinsen und bin mit einem Schlag hellwach. Und merke wie mir die Tränen über's Gesicht laufen. Nein, das darf nicht passieren! Was auch immer bis jetzt passiert ist, Hannes darf mich nicht alleine lassen. Das geht nicht. Ich liebe ihn doch! Es ist einfach typisch, dass man sich einerseits von jemanden so beeinflussen lässt, dass man sich von der Freundin, dem Freund, Kumpel oder was auch immer fernhält, und andererseits nicht mal den Mut besitzt zum Kumpel etc, ehrlich zu sein. Natürlich ist es nicht toll, wenn man jemandem sagen muss: ,Du, ich möchte im Moment lieber nichts mit dir zu tun haben.' Das ist für beide Seiten nicht toll. Aber es ist verdammt mies, wenn man sich plötzlich einfach so zurückzieht und nicht mal erklärt, was der Grund ist. Das ist fies und feige!
Am nächsten Tag gehe ich mit einem mulmigen Gefühl zur Schule. Leider sehe ich Hannes vor Schulbeginn nicht, doch in der Pause entdecke ich in beim Getränkeatomaten und gehe sofort zu ihm.
,, Hannes, können wir uns mal sprechen? Komm mit.'', sage ich, bevor er noch irgendwas sagen kann. In einer etwas ruhigeren Ecke frage ich ihn dann: ,, Was ist los? Wieso antwortest du auf meine SMS nicht, wieso verhälst du dich so komisch? Was hab ich falsch gemacht? Was...''
,, Es liegt nicht an dir.'', unterbricht Hannes mich.
,, Was ist es dann?''
,, Hör zu, ich hab mich einfach in dir getäuscht. Tut mir leid.''
,, Was? A...aber...''
,, Es tut mir leid Miri, aber das mit uns...es geht einfach nicht.''
Somit dreht er sich um und lässt mich einfach so stehen. Ich fühl mich wie vor den Kopf gestossen und weiss immer noch nicht, was gerade genau passiert ist. Wieder bin ich im Unterricht mit meinen Gedanken ganz woanders. Nur bei Hannes und frage mich, was los sein könnte. Aber heute nehme ich leider wieder mehr wahr, wie die anderen mich fertig machen.
,, Na, hat dein Süsser Schluss gemacht?'', ruft Nadja quer durch den Raum und die anderen Lachen.
,, Wer will schon mit so einer zusammen sein?''
,, Da ist doch jeder Junge zu schade für die!''
Ich halte es bald nicht mehr aus, aber natürlich hat die Englisch-Lehrerin ausgerechnet heute mindestens zehn Minuten Verspätung. Mir kommt es allerdings wie eine halbe Ewigkeit vor und ich fühle mich so schrecklich wie noch fast nie. Dabei ist es ja nicht das erste Mal, wo ich so fertig gemacht werde. Doch trotzdem fühlt es sich heute noch viel schlimmer an. Vielleicht, weil ich bald am Ende meiner Kräfte bin? An diesem Tag ist mir eines klar geworden (oder sogar zwei Sachen):
1. An dem Verhalten von Hannes sind Nadja und Vanessa schuld (was auch immer los ist)
2. Es muss was passieren! Und zwar schnell!! Ich weiss zwar noch nicht, was und wie, aber irgendwas wird mir schon in den Sinn kommen.
Voller Wut und Motivation etwas gegen diese Mobber zu unternehmen, fahre ich mit dem Bus nach Hause und setze mich in meinem Zimmer gleich an den Schreibtisch. Nicht etwa um überflüssige Hausaufgaben zu machen, nein, ich will aufschreiben, wie ich mich...moment mal, das hab ich ja bereits, wie ich sehe. Doch keine von diesen Racheidee überzeugt mich. Ausser die Nummer drei: 3.Ich könnte Nadja und die anderen irgendwie wegschaffen. Fragt sich nur: Wie? Genau, das ist hier die Frage. Wie könnte ich die anderen aus dem Weg schaffen? Nadja, Vanessa, Mike und Tim. Der Hass, den ich fühle, wenn ich nur an diese vier Menschen denke. Unglaublich. Ob die abends überhaupt noch ruhig schlafen können? Ich könnte es nicht. In der Nacht träume ich wieder ganz wirr und ein kurzer Traum bringt mich auf eine Idee, wie ich mich rächen könnte. Mir ist egal, was mit mir passiert. Was die konsequenzen und so weiter für mich sind. Es ist mir scheiss egal. Ich fühle nur Hass und Wut und Verzweiflung. Was mit mir passiert ist mir egal. Aber was meine Eltern von mir denken werden, wie es ihnen gehen wird, das ist mir nicht egal. Trotzdem. Ich kann nicht anders und ich mag einfach nicht mehr. Sie haben es nicht anders verdient. In meiner Verzweiflung und Wut, nehme ich die Schere und drücke sie in den Arm. Es tut verdammt weh, ich weine, mache aber weiter. Das Blut läuft, ist mir aber egal. Es kümmert ja eh niemanden, was los ist und was ich tue. Wer sagt, dass, wenn ein Opfer sich rächt, kein schlechtes Gewissen hat, oder sich gut fühlt dabei? Oder danach? Das Rachegefühl mag da sein und die Motivation dazu. Aber natürlich denkt man dabei: ,Wenn ich das machen werde, werden meine Eltern geschockt sein. Meine Verwandten erst...Mein armer Opa, meine Arme Oma. Meine armen Grosseltern. Was werden die nur von mir denken?' Wenn sich ein Opfer rächt, muss es nicht sein, dass es sich danach besser fühlt. Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der Fall. Man hat sich zwar an den Feinen gerächt, aber schliesslich gibt es noch eine Familie, die geschockt sein wird. Es wird sich herumsprechen, was ihre Tochter, ihr Sohn getan hat. Die Familie wird leiden. Dennoch ist das Opfer zu kaputt um darauf Rücksicht zu nehmen.
Soviel ich weiss, hat mein Vater irgendwo eine Waffe versteckt. Weshalb genau, weiss ich nicht. Vielleicht, falls mal jemand bei uns einbrechen sollte oder so. Ob man überhaupt eine Waffe besitzen darf, weiss ich auch nicht. Aber das ist mir im Moment ega. Hauptsache mein Vater hat eine Waffe. Ich muss sie nur noch finden. Hannes schreibe ich auch noch einen Brief, den ich ihm, bevor ich meinen Plan ausführen werde, geben werde. Ein Foto brauch ich noch von mir und ein Abschiedsbrief werd ich vorsorglich auch noch schreiben. Den Rest plane ich genauer. Da ich nun weiss, wie ich mich rächen werde, gehe ich wieder ziemlich ruhig zur Schule. Ich lache nicht, ich höre den Kids rundherum nicht zu (nur den Lehrern), ich mache, was ich machen muss, ich höre, was ich hören muss, mehr nicht. Ich funktioniere wie ein Roboter. Alles automatisch. Ohne gross nachdenken zu müssen. Und bevor ich in die Schule gehe, muss ich mir natürlich noch den Arm einbinden. Das Bett muss auch frisch bezogen werden. Sogar auf dem Fussboden muss ich ein bisschen putzen. Zum Glück nicht viel. Jetzt bemerkt niemand mehr was. Vor der Schule, in den Pausen und nach Schulschluss begegne ich oft Hannes. Ich schaue ihn mit versteinerter Miene an, (so, wie ich den ganzen Tag rumlaufe), doch er schafft es nicht, mir in die Augen zu sehen. Ich spüre, wie schlecht er sich fühlt. Irgendwo in mir drin hab ich Erbarmen mit ihm. Ein bisschen wenigstens. Aber sonst gar nichts. Sonst fühle ich nichts. Ich weiss nicht, ob ich einfach schon zu sehr kaputt bin, oder ob ich ihn gar nicht mehr liebe. Aber auch das ist mir egal. Einzig und allein zählt nur mein Plan, den ich habe. Oder noch am planen bin. Meine Eltern merken, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich antworte auf alle Fragen, die sie mir stellen. Aber wenn möglich so, dass sie nicht weiter fragen können. Ich habe mir einen Ton angewöhnt, der keine weiteren Fragen zulässt. Tut mir leid, Mama und Papa, aber mir könnt ihr sowieso nicht mehr helfen. Ich bin zu kaputt und will euch damit nicht auch noch belasten. Es dauer ungefähr eine Woche, und mein Plan steht fest. Es wird in der Pause passieren. Vanessa, Nadja, Tim und Maik sind in letzter Zeit während der Pause immer drinnen. Am nächsten Freitag werde ich mich rächen. Ich würde gerne vorher, aber zuerst muss ich noch zwei oder sogar drei Briefe schreiben und schauen, dass wirklich alles aufgeht. Am Freitagmorgen lege ich ihn in Hannes' Schultasche. Während der Pause. Ich hab ja genug Zeit. Den Brief für meine Eltern liegt auf meinem Schreibtisch. Extra gross mit Filzer ,AN MEINE ELTERN' angeschrieben.
Wie es Mirinas Mutter erlebt (erzählt aus ihrer Sicht)
Heute habe ich meinen freien Tag und nutze den, um wieder mal richtig zu putzen. Beim Putzen kann man prima nachdenken. Ich denke über Mirina nach, die mir in letzter Zeit komisch vorkommt. Nicht nur, dass sie ihre Klamotten beinahe Stündlich wechselt, auch wie sie redet und ihre Dinge erledigt. Dass sie in der Schule Schwierigkeiten hat, weiss ich. Aber das hab ich auch mal durchgemacht und da ich eine starke Frau bin, hab ich es auch durchgehalten. Mirina ist wie ich. Das weiss ich. Also wird sie es auch durchhalten. Sind ja nur noch ein paar wenige Monate. Nach 10.00 Uhr, als ich eine kleine Pause eingelegt habe, gehe ich in Miris Zimmer, um dort die Fenster zu putzen, das Bett zu machen, den Boden zu fegen und zu lüften. Auf dem Schreibtisch sehe ich ein Couvert, das mit ,AN MEINE ELTERN' angeschrieben ist. Hm...wenn es so gross angeschrieben ist, darf ich wohl reinschauen, nehm ich mal an. Bereits, als ich den Brief nehme, hab ich seltsames Gefühl. Keine Ahnung weshalb. Aber ich werde es gleich erfahren.
Ich gehe ins Klassenzimmer zurück und, wie erwartet, sind meine vier allerliebsten Feinde auch da.
,, Na, Miri-Mäuschen-Stinki-Minki? Wie gehts dir? Was macht dein Freund? Äh...Ex-Freund, meine ich. Entschuldige.'', sagt Nadja und die anderen drei kichern.
Warte nur, Nadja, gleich werden dir deine blöden Fragen schon vergehen. Ich tue nichts dergleichen und laufe zu meinem Pult. Ich tue so, als würde ich was in meiner Schultasche suchen. Dabei hab ich die Waffe längst in der Hand.
,, Na, Hausaufgaben nicht gemacht? Pausenbrot vergessen? Kannst meines haben.'', bietet Nadja an.
,, Spinnst du, Nadja? Das ist dann voller Bakterien und du kannst es nicht mehr essen, von lauter Spucke, die dran kleben wird.''
,, Iiiih, stimmt! Sorry, Mirilein, aber dann wirst du wohl Hungern müssen.'', gibt Nadja Vanessa recht und sieht mich gespielt mitleidig an.
Ich nehme die Waffe fest in meine Hände und stehe langsam auf. Ich richte die Waffe gegen Nadja, die mich entsetzt ansieht. Auch von den anderen drei kommt kein Mucks mehr.
,, Tut mir leid, Nadja, aber ich habe weder Hunger, noch meine Hausaufgaben vergessen. Ich habe sogar noch etwas mehr mitgebracht. Sieht toll aus, die Waffe, ne?''
,, W...was t...tust d...du da?'', stottert Nadja und ich höre die Angst aus ihrer Stimme heraus.
,, I..ch r...räche m...mich an d...dir.'', äffe ich sie nach.
,, An m...mir? Wieso denn an m...mir?''
,, Halt die Klappe. Und ihr drei haltet euch still, sonst schiesse ich, verstanden?''
Die drei nicken nur. Sie sind ganz blass um die Nase geworden. Ich geniesse den Anblick und fühle mich super, da jetzt mal ICH diejenige bin, die sogar über drei Menschen gleichzeitig die Macht habe. Ich gehe weiter auf Nadja zu, trete hinter sie und halte sie mit meiner freien Hand an ihrem Nacken fest. Mit der anderen Hand halte ich ihr die Waffe an die Schläfe.
,, Tut mir leid, Nadja, aber du hast es nicht anders verdient. Ich habe lange genug wegen dir leiden müssen. Jetzt ist es an der Zeit, es dir heim zu zahlen.'' Nadja zittert, als wären es minus 10 Grad im Raum. Dabei läuft die Heizung auf Hochtouren.
,, Haha, jetzt hast du wohl schiss, ne? Geschieht dir ganz recht. Es bringt auch nichts, wenn du jetzt nach Hilfe schreist. Hast du noch ein letzten Wunsch, liebe Nadja?''
,, I...Ich...es...es...tu...tut m...mir...leid, w...was...ich ge...getan ha...habe.''
,, Tja, dazu ist es nun zu spät. Sag auf wiedersehen zu deinem schönen Leben. Hahaha!''
Es knallt und ein Schrei ertönt. Vanessa ist schneeweiss im Gesicht. Mike und Tim sehen ebenfalls blass aus. Aber nicht so heftig, wie Vanessa. Auf dem Flur höre ich aufgeregte Stimmen. Klar, den Schuss wird man weit gehört haben. Ich richte meine Waffe auf Vanessa.
,, Sorry Vanessa. Aber ich denke, du solltest Nadja in der Hölle etwas Gesellschaft leisten.''
,, Bitte nicht.'', flüstert Vanessa kaum hörbar. Für mich unhörbar. Ich habe keinerlei Verständnis und drücke ab. Ich wende mich Tim und Mike zu.
,, Ihr zwei seid nicht viel besser. Auch ihr sollt in der Hölle schmoren. Viel Spass dabei.'', sage ich und lächle sie ab, bevor ich zuerst auf Tim und dann auf Mike schiesse. Als mein vierter Schuss gefallen ist, kommt ein Lehrer ins Schulzimmer. Keine Ahnung, wie der heisst. Mein Name kennt er jedenfalls.
,, Mirina, lass die Waffe sinken. Bitte.''
,, Tut mir sehr leid. Aber ich habe genug. An dieser scheiss Schule wird man fertig gemacht, vor den Augen der Lehrer und niemand hilft. Und wenn man sich dann wehren will, heisst es: ,Tu das bitte nicht.' Tja, ich tu nun, was ich will und was ich für richtig halte. Hoffentlich lernt ihr scheiss Lehrer was dazu, wenn ihr nur tatenlos da steht und nichts tut. Auf nimmer Wiedersehen.''
Ich halte mir die Waffe selbst an die Schläfe und....der letzte Knall ertönt, der letzte Schuss ist gefallen. Und ich habe mich aus dem Weg geschaffen. Und mich trotzdem noch an den anderen gerächt. Das blöde ist: Da ich nun tot bin, kann ich nicht sagen, ob sich das gut anfühlt oder nicht. Und vor allem weiss ich nicht, wie es meiner Mutter, meinem Vater und Verwandten geht. Ob sich die Lehrer bessern und mehr gegem Mobbing an ihrer Schule unternehmen weiss ich auch nicht. Ich kann nur hoffen. Im stillen Tod, wo ich mich frei und glücklich fühle, kann ich hoffen.
Wie es Mirinas Mutter erlebt (erzählt aus ihrer Sicht, Fortsetzung..)
Ich öffne den Brief und lese:
Liebe Mama, lieber Papa
Ich wünschte, ich müsst nie einen solchen Brief schreiben, aber nun ist es tatsächlich soweit gekommen. Ich werde mich nun von euch verabschieden. Ihr fragt euch wieso? Das wisst ihr doch. Die Schule. Meine Feinde. Das Mobbing. Ich halte es nicht mehr aus. Ich wolltet mir ja nicht glauben, wie schlimm es tatsächlich ist. Eigentlich müsste ich jedem auf dieser Welt, der es nicht weiss, Mobbing an den Hals wünschen. Denn nur so kann man den Opfern besser helfen -ihnen überhaupt zuhören und helfen. Doch das mach ich nicht, weil es was Schreckliches ist, das niemand verdient hat. Nicht mal meine Feinde haben es verdient. Die haben nur eines verdient: Das schmoren in der Hölle. Ja, richtig gelesen. Ich will mich an denen rächen. Und mich dann auch gleich wegbefördern. Wieso mich? Ist doch ganz einfach: Es wird sich schnell herumsprechen, dass ich vier Leute umgebracht habe. Stellt euch vor, ich komme in den Knast und die Nachbarn werden über uns lästern, schimpfen und uns weiss Gott wo hin wünschen. Wenn ich aber tot bin, werden sie Mitleid mit euch haben. Das ist besser. Ich will nämlich nicht, dass die anderen euch hassen. Es reicht, wenn ich solchen Scheiss durchmachen musste. Nun will ich nicht mehr zu viel schreiben. Ihr wart eine wundervolle Familie für mich und ich werde euch immer lieb haben. Ich wünsche euch nur das Beste und hoffe, dass ihr meine Tat irgendwann vergessen und das Leben wieder geniessen könnt. Seht es als einen Neuanfang. Setzt noch ein paar Kinder mehr auf die Welt und macht dort dies besser, was ihr bei mir falsch gemacht habt.
Ich liebe euch, Mirina
Ich hebe den Blick, die Augen voller Tränen und denke: ,Oh Gott.' Ich rufe meinen Mann an, während ich in Schuhe und Mantel schlüpfe und mich auf den Weg zur Schule mache. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Hoffentlich!
Nadja ist tot. Sie hatte keinerlei Überlebenschancen. Vanessa hat den Schuss in die Magengegend gekriegt, schwebt ausser Lebensgefahr. Tim ist ziemlich schwer verletzt. Er liegt im Koma. Mike hat den Schuss in den linken Arm gekriegt. Er hatte am meisten Glück. Mirina ist tot.
Hannes ist geschockt, als er hört, dass Mirina geschossen hat. Und sich dabei umbrachte. Am Abend findet er dann den Brief und liest:
Lieber Hannes
Ich weiss nicht, was mit dir los ist. Ich werde es auch nie erfahren. Ich kann's mir nur denken und die Vermutung mit ins Grab nehmen. Ins Grab? Ja, richtig gelesen. Du warst mein grösster Halt, ich habe dich geliebt und nun hast sogar DU mich verlassen. Ich weiss nicht, ob ich dich verstehen könnte, wenn ich den Grund wüsste. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist es nun zu spät und ich hoffe, dass du in Zukunft mutiger bist und zu deiner wahren Liebe stehen wirst. Für mich ist es das Beste, wenn ich sterbe. Ich habe nichts und niemanden mehr. Sogar mich habe ich verloren. Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Mich haben sie zerstört. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben und das du glücklich wirst.
Deine Mirina
Hannes weint. Er bricht zusammen und weint stundenlang. ,Was hab ich nur getan?', denkt er für sich. ,Es tut mir so leid, Mirina. Ich liebe dich doch!' Doch dazu ist es nun zu spät. Das ist wohl immer der Fall. Sobald sich jemand aus irgendeinem Grund umbringt, denken die anderen: ,Wieso hat er/sie das getan?' ,Man hat dem/der gar nichts angesehen.' Oder: ,Ich wollte das doch nicht!' Und Ähnliches. Leute! Das müsst ihr euch vorher überlegen. Wenn das Opfer zu euch kommt und sagt ,Helft mir', DANN müsst ihr reagieren. Nicht dann, wenn das Opfer so weit kaputt ist, dass es sich und andere umbringen kann. Jemanden zu töten ist bestimmt nicht einfach. Und sich selbst umzubringen erst recht nicht.
Als ich mal an einer Strasse stand und wartete, dass die Ampel auf grün schaltete, stellte ich mir vor, dass ich vor das nächste Auto springen würde. Ich versuchte es mir vorzustellen. Und ich wusste: Ich könnte das nicht. Unmöglich. Jemand der das kann, ist so zerstört, wie man sich überhaupt nicht vorstellen kann. Wir alle sind Schuld daran, wenn sowas passiert. Ob wegen Mobbing oder sonst was. Wenn wir für die Opfer da sind, zuhören, sie ernst nehmen und helfen, dann haben wir schon ein grosses Unglück verhindert und eine super Tat vollbracht. Stellen wir uns aber auf Taub und hören nicht hin, so sind wir diejenigen, die zuletzt ebenfalls ein schlechtes Gewissen haben. Nur hilft dies dem Opfer dann nicht mehr weiter. Dann ist es bereits zu spät.
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meinen lieben Leserinnen und Lesern, denen, die wissen, wovon ich spreche und allen, die bereit sind, dagegen zu kämpfen!