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Kapitel 1
Knorpel und Knospen

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Mabell Mädchen Jarlene. Ja, ihr zweiter Vorname war Mädchen, da ihre Mutter, die sich nur Hoopsie nannte, noch gerne eine zweite Tochter, ein zweites Mädchen gehabt hätte. Den Namen Mabell hatte sie selbst erfunden und Jarlene war eine Abwandlung von Charlene.
Doch bis auf die Vergebung dieser etwas seltsamen Namen hatte Hoopsie kaum etwas mit ihrem Kind zu tun. Wenn sie jemand fragte, warum das so war, zuckte sie nur nervös mit den Schultern und verließ dann eilig den Raum. Die Wahrheit war, das sie sich mit Mabell Mädchen Jarlene nicht zufrieden gab. Entweder eine Tochter oder gar keine, nach diesem Motto lebte sie. Während die Kleine bei Hoopsies Schwiegermutter Riley war, besoff Hoopsie sich in der Küche. Sie vermisse ihre 2. Tochter so, die, die sie nie gehabt hatte, sagte sie.
Eines Tages konnte Riley das Ganze nicht mehr mit ansehen und legte ihrer Schwiegertochter eine Visitenkarte ihres Seelenklemptners auf den Frühstücksteller und sah sie vorwurfsvoll an. „Mama“, meinte Hoopsie. „Ich bin doch keine Psycho. Das bist schon du. Glaub mir, ich werde nicht zu deiner Psychoratte gehen.“ „Entschuldige, Horatia.“ „Mama“, seufzte sie genervt. „Ich heiße Hoopsie. Ja, ich bin ein hoppelnder Hase.“ Riley hatte gelernt, mit dieser an Respekt mangelnden Umgangsweise zu leben und sie zu akzeptieren.
Fünf Wochen später ging Mabell Mädchen Jarlenes Mutter doch hin. Der Psychiater war um die 35 und hatte schütteres, weißes Haar, von den ganzen Sorgen seiner Patienten, wie er ihr gleich am Anfang mitteilte. „Ich bin der Doktor“, stellte er sich vor. Die einigen wenigen silbernen Strähnen zwischen all seinen weißen Haarbüscheln leuchteten geradezu. So begann Sitzung 1. Die Zahl 1 spielte eine wesentliche Rolle in Hoopsies Leben.
Als sie 1 Jahr alt gewesen war, hatten sie ihre Großeltern Cecily und Perry zur Adoption freigegeben. Doch das wusste sie nicht. Noch nicht. Mit 1 Jahr hatte sie endlich begonnen zu leben. Und mit 1 Jahr hatte sie angefangen, ihre Fingernägel zu essen.

Sitzung 1

Der Doktor war noch viel größer als Hoopsie, obwohl sie schon 1,86m groß war und auch noch Absätze trug, um nicht so „klein und mickrig“ zu wirken. Er gab zu, 1,99m groß zu sein, worauf die beiden sich schelmisch angrinsten. Außerdem waren sie in ungefähr gleich alt.
Hoopsie beschloss trotz allem, ihm nicht zu vertrauen, weil man ihrer Meinung nach mit Mitte dreißig noch keine weißen Haare mit silbernen Strähnchen haben durfte. Das es bloß eine kleine Erbkrankheit war, nahm sie ihm nicht ab. Was sie noch nicht an ihm leiden konnte, war, das er für ihren Geschmack schon zu oft Titanic gesehen hatte. 13 mal. Er trug T-Shirts von Bands, die sie nicht kannte, obwohl sie selbst- (und von Freunden-) ernannte Musikexpertin war. Er sprach ihren Namen nicht Hoppsi sonder Hupsi aus, fast so, als würde er Upsi sagen. Er zwang sie, während den Sitzungen die Kopfhörer abzunehmen. Er hatte eine nette Sekretärin, die sie trotz allem nicht leiden konnte, eben, weil sie so furchtbar nett war. Er sah die gleichen Shootingstarshows wie sie, und auch er sah sie nicht live an, sondern nahm sie auf und schob das Video (!) erst in den Videoapparat, wenn er zufällig darüber stolperte. Und er fand Michael Jackson göttlich, was sie überhaupt nicht fand. Nach der 1. Sitzung, in dem er ihr das unter anderem (wie auch die anderen Dinge) erzählt hatte, lag Hoopsie eine ganze Nacht lang wach und musste darüber nachdenken, ob der Doktor vielleicht schwul war. Seinen Vornamen kannte sie noch immer nicht.


Sitzung 2

Die 2. Sitzung fand an einem 1. Mai statt, wieder ein Einser in Hoopsies Leben. Und außerdem hatte sie in der 1. Schulstufe nur Einser geschrieben, fiel ihr ein. Sie trug das Datum der Sitzung 2 in ihr Tagebuch ein. Und das war der Anfang ihres „Rendezvous“ mit dem Doktor. Als er sie aufforderte, ihm einfach irgendetwas zu erzählen, erzählte ihm Hoopsie von ihrer Eigenart Nummer 1.
Hoopsie war 12 Jahre alt, als sie ihr erstes Tagebuch bekam. Damals hieß sie noch Horatia und fühlte sich noch gut. Sie saß an ihrem Schreibtisch und wollte einen Roman schreiben, doch ihr fiel partout nichts ein, vor allem kein Anfang. Das einzige, das sie wusste, war, das sie einen Thriller schreiben wollte, und das die Hauptperson Xenia heißen sollte, so wie ihre Mum. Also stand die kleine Horatia auf und lief wie von einer Tarantel gestochen im Zimmer umher und wurde dabei immer schneller. Um so wilder sie wurde, umso weniger fiel ihr leider jedoch ein. Irgendwann rannte sie so eilig herum, das sie ihre violetten Hausschuhe übersah, darüber stolperte und der Länge nach hinfiel. Auf die Schreibtischkante. Die scharfe Ecke bohrte sich in ihre Stirn und das Blut schoss geradezu aus der Platzwunde. Es war kein großes Wunder, das Horatia ohnmächtig wurde und am Boden liegen blieb.
Zwei Minuten später kam ihre Tante Timothea ins Zimmer und wedelte mit einem zitronengelb eingebunden Buch in der Luft herum. Horatia sah das nur aus dem Augenwinkel ihres linken Auges, das sie zu einem Viertel geöffnet hielt. „Was machst du denn da?“, fragte sie verwundert, als sie ihre Nichte am Boden entdeckte. Na was wohl, dachte Horatia säuerlich. Glaubst du etwa, ich liege zum Spaß hier herum? Zum Sprechen war ihr Mund zu ausgetrocknet, außerdem fühlte sie sich zu schwach. Tante Timothea war noch nie sonderlich naiv gewesen, allerdings stellte sie sich dafür fast immer so, was die Sachlage auch nicht gerade besser machte.
„Hör mir zu, Hoopsie.“, sagte sie nun. „Die Schreibtischkante kann auch nichts für deine Ungeschicktheit. Du wirst dich nicht besser fühlen, wenn du dein Leben lang auf Böden herumliegst. Wir machen einen Deal: Du stehst jetzt auf der Stelle auf und ich gebe dir dafür dieses hübsche, nagelneue Tagebuch.“ Fingernägel, dachte Horatia. Ihre Tante hatte sie schon immer Hoopsie genannt. Eigentlich hatte sie für jeden einen anderen Namen, wenn sie es sich recht überlegte. Also zog sie sich an der Stuhlkante hoch, stöhnte leidvoll und tat so, als wäre ihr besonders schwindelig. Mühsam wankte sie zu Timothea hin und griff sich dabei an die Stirn. Doch anders als sie gedacht hatte, klaffte dort keine Platzwunde. Stattdessen entdeckte sie neben ihrem Schreibtisch am Boden eine umgekippte Flasche Erdbeerlimonade. Den Saft hatte sie für ihr eigenes Blut gehalten, fiel ihr auf. Während ihre Tante lächelnd an ihrem 100%-schwarzem Arabica Röstkaffee schlurfte, gestand sie sich innerlich ihre Niederlage ein. „Gib mir bitte auch ein Schluck“, verlangte sie. Doch Timothea drückte ihr stattdessen ihr neues zitronenfarbenes Tagebuch in die Hand und grinste schadenfreudig in ihre Kaffeetasse. Missmutig nahm Horatia es entgegen und setzte sich damit auf die Bettkante. Als sie sich umsah, hatte ihre Tante den Raum verlassen. Zurück blieb ihr das relativ dicke Buch. Und eine leere Tasse 100%-schwarzer Arabica Röstkaffee.
Nun schlug sie es auf und blickte auf eine zartgelbe Seite, umrahmt von Zitronen auf der in Schreibschrift geschrieben stand:

Liebe Horatia!

Dieses Tagebuch ist ein Geschenk von uns an dich. Du bist 12 Jahre alt und Timothea hat es dir gegeben. Sei gut zu diesem Buch.

xxxxxxxxxx
Deine Eltern
(die dich über alles lieben)
Darunter hatte jemand einen Teddybären mit einem großen roten Herz im Arm gezeichnet. Das war ihre Mum gewesen, da war sie sich sicher. Gespannt blätterte sich weiter. Auf der nächsten Seite klebte ein kleiner blauer Zettel, auf den jemand in wütenden Großbuchstaben geschrieben hatte:

TIMOTHEA !!!!!!!!!ICH WEISS GENAU DAS DU HEIMLICH IN MEINEM TAGEBUCH LIEST!!!!!!LASS DAS !!!!!!!!!DAS GEHT DICH ABSOLUT ABER ÜBERHAUPT NICHTS AN !!!!!!!!WEHE; DU VERGREIFST DICH NOCH EINMAL AN MEINEM BESITZ. DANN MACH ICH DICH PSYCHISCH FERTIG.DU . . . BESITZERIN DES TAGEBUCHSX. (STEHT FÜR XENIA)


Horatia musste unwillkürlich grinsen. Tante Timothea hatte also tatsächlich in Mums Tagebuch gelesen und Xenia hatte sie noch dazu auf frischer Tat ertappt. Ob sie es danach wohl noch mal getan hatte? War sie wieder erwischt worden. Hatte Mum sie tatsächlich „psychisch“ fertiggemacht?
Plötzlich fiel es Horatia wie Schuppen von den Augen. Timothea hatte ihr wirklich das Tagebuch ihrer verstorbenen Mum gegeben. Sie hatte ihre Mutter eigentlich gar nicht kennen gelernt, sie war erst 1 Jahr alt gewesen, als sie und Horatias Dad bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Natürlich konnte sie sich nicht mehr an die beiden erinnern, kannte sie nur von einem Foto und zwei Zeitungsartikel über den schrecklichen Todesfall. Und nun hatte sie sie: Die Memoiren ihrer Mum, direkt vor ihr und freigegeben zum Lesen. Endlich durfte sie mehr über sie erfahren, ohne dabei nachts heimlich den Schreibtisch ihrer Tante zu durchwühlen. Horatia fühlte sich frei, sie merkte auf einmal, das sie zuvor nie frei gewesen war, immer gefangen in den Trümmern des Unfalls und überschattet von diesem schrecklichen Verlust.
Nun setzte sie sich wieder vor ihren angefangen Thriller und sofort fiel ihr ein Titel ein:
Der da Vinci Code, Sakrileg. Blödsinn, den gab es ja schon. Von Dan Brown. Er stand in ihrem Bücherregal, direkt neben Jane Austen. Aber sie hatte wirklich einen passenden Titel: Vergebung der Flugzeuge. Er ergab zwar nicht wirklich einen Sinn, klang allerdings ziemlich interessant.
Horatia gab „Drei2“ als Kapitelüberschrift des 1. Kapitels in ihr Notebook ein.
Und während sie da saß und tippte, beschloss sie, erst morgen wieder im Tagebuch ihrer Mutter zu lesen und sich jetzt vollkommen auf ihren Roman zu konzentrieren. Es ging um die 15 jährige Xenia und ihre fiktive Mummy Donna.
Xenia hatte schon immer gewusst, das mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte.
Doch erst als sie ins Wohnzimmer kam und Donna auf frischer Tat ertappte, als diese
Gerade dabei war, Flugübungen zu machen, fühlte sie sich ihres Verdachts bestätigt.

Sitzung 7

Hoopsie hatte einige Sitzungen ausgelassen (genau genommen Sitzungen 3, 4, 5 und 6) und war erst bei Sitzung 7 wieder bei ihrem Psychiater aufgekreuzt. Sieben war ihre Lieblingszahl, sie hatte auch am 7.Juli, dem 7.7. Geburtstag. Deshalb beschloss sie einfach, dieses „Rendezvous“ mit dem Doktor nicht als Sitzung 3, sondern als Sitzung 7 zu bezeichnen. Bevor sie hinging, zog sie ihr rosa Mohairkleid an und bürstete ihre Haare mit hundert Strichen. Sie zog ihre neuen Highheels mit Jeansstoff an und legte die Goldkette mit dem Glückskleeanhänger, ein Erbstück ihrer Mutter, um.
Dann probierte sie ihre Miss Sixty Jeansjacke, passend zu den Schuhen. Erst danach verließ sie das Haus. Hoopsie wagte es jedoch nicht, zuzugeben, das sie sich auf den Doktor freute. Dafür war sie zu alt, redete sich ein. Schließlich war sie schon 35, eine Frau mittleren Alters und nicht mehr die jüngste. Und sie konnte Psychoratte kein bisschen leiden.

In seiner Praxis roch es nach Coca Cola und Keksen. Es gab zu viele Sitzmöglichkeiten und keinen Spiegel, in dem sie ihre Frisur hätte richten können. Dafür war es ziemlich kalt, so dass Hoopsie sich fröstelnd in ihre dünne Jeansjacke einwickelte und mit den Zähnen klapperte. Wenigstens gab es eine Vogue, die sie durchblättern konnte, bis sie drankam.

„Hallo Hupsi.“, begrüßte der Doktor sie. Er roch nach Weihwasser, stellte sie fest. „Hoopsie“, besserte sie ihn genervt aus und blickte durch ihn hindurch. Seine Haare waren weißer denn je.
„Erzähl mir doch bitte noch etwas über das Tagebuch deiner Mum und deinen Thriller.“
Und so begann sie zu erzählen.
Am nächsten Tag schlug Horatia die dritte Seite des Zitronenbuches, wie sie es inzwischen nannte, auf. Darauf stand in geschwungener Schrift:
Weißt du, wer oder was ich bin? Ich für meinen Teil weiß es nicht.Die Antwort ist , ich bin ein Weiß-mein-nicht.Was ergibt das für einen Sinn?


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die schrägen Humor genauso schätzen wie ich.

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