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Eines Tages, es war so Ende Juni - jedenfalls noch Schulzeit in Brucklin, der Schule, die Meggie besuchte - kam Mrs. Rebecca Twen, Meggies Mutter in das Zimmer ihrer Tochter gestürzt. In der Hand hielt sie einen Telefonhörer, fuchtelte damit in der Luft herum und schrie: „Meggie, Telefon! Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer es sein könnte. Hier, nimm!“
Meggie Twen hob ihren Kopf und sah ihre Mam verblüfft an. Sie war gerade dabei gewesen, eine Heiden-Landschaft, von wilden Rosen und Lavendel überwuchert zu zeichnen.
Schließlich nahm sie den Hörer, denn sie wusste schon, wer es war: Paps Mam, Omi.
Seit dem Rebecca und Jared Twen getrennt waren, tat Meggies Mam immer so, als kenne sie seine Familie nicht. Natürlich kannte sie sie und hatte auch gewusst wer am Apparat war.
Meggie schüttelte den Kopf. Sie hoffte, bei ihr würde es nie so weit kommen.
„Hallo Meggie! Hier spricht deine Omi aus Westcliff. Scarlett sagte, ihr beide habt Lust, den Sommer bei mir und Opa zu verbringen“, sagte am anderen Ende eine ältere, weibliche Stimme. „Ja, hallo Omi! Da hast du völlig recht. Ich halte es hier zu Hause schon nicht mehr aus und Scarlett geht es genauso. Meine Mam teilt mich vor lauter Langeweile in einfach unmöglich Arbeiten ein wie zum Beispiel Zahnbürsten auskochen und Pullover mit einer Babybürste weich reiben“
„Also wirklich, ich bezweifle das sie dir eine gute Mutter ist. Ich habe schon immer an den Muttertalenten meiner Ex-Schwiegertochter gezweifelt. Natürlich könnt ihr gerne kommen, wann immer ihr wollt. Ich verstehe, dass ihr das nicht mehr aushaltet. Das verstehe ich vollkommen. Kommt ruhig die ganzen Sommerferien. Deine Mam wird es schon überleben“

So kam es, dass Meggie bereits die ganzen Sommerferien verplant hatte. Und ihre Kusine Scarlett genauso. Kaum hatte Alice Twen aufgelegt, ließ Meggie sich wieder in ihren Schreibtisch-Sessel, der aus schwarzem Leder bestand – ein Geschenk von Jared – fallen.
Sie nahm den Bleistift zur Hand und zeichnete vorsichtig weiter. Meggie glitt mit dem Bleistift über das Papier und hinterließ einen Strich, der nach und nach zu einem See wurde. Noch bestand die gesamte Landschaft nur aus Bleistiftstrichen, doch in ihrer Fantasie war der See schon schillernd blau, die Rosen dunkelrot und der Himmel eisgrau.
Im Zeichenunterricht in der Brucklin-School hatte Mr. Benneky, der Professor für Bildnerische Erziehung in Meggies Klasse, ihr einmal über die Schulter geschaut und sie gebeten, nach der Schule doch noch mal ins Lehrer Zimmer zu kommen.
Meggie hatte sofort begonnen, fieberhaft nach zu denken, was sie angestellt hatte. Ihr war nichts großartiges eingefallen. Naja, einmal hatte Mrs. Emytel, der Klassenvorstand von Meggies Klasse, ein Furzkissen auf den Lehrersessel bekommen, aber so schlimm war das nun auch nicht.
Meggie hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Nach der Schule ging sie in Begleitung von ihren Freundinnen Laura Nilyn und Maureen Wenty zum Lehrerzimmer.
„Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, ruft ihr die Polizei“, hatte sie gesagt und es ernst gemeint. Die beiden hatten bloß gekichert und hatten sich es gemeinsam mit Leslie Brown in der Schulcafeteria, bei Tee und Kuchen gemütlich gemacht.
Schließlich war sie allein ins Lehrerzimmer gegangen und hatte Mr. Bennekys Tisch sofort gefunden. Es war kein großes Wunder, denn schließlich waren heute außer seinem nur fünf weitere Tische besetzt. „Das Schicksal meint es nicht gut mit dir“, hatte sie sich gedacht und Platz genommen. Ihr war so übel, dass sie den Kuchen, den er ihr anbot, ablehnte. Der Lehrer hatte verwundert den Kopf geschüttelt und ihr dann erklärt, dass er ihr Talent in Bildnerische Erziehung sehr gerne fördern würde. Nun war es Meggie, die ihn verwundert anschaute.
Am Ende hatte sie einen Zettel mit einer Adresse einer Zeichen-Begabten-Förderungsschule in der Hosentasche.
Wenige Tage später hatte sie ihrer Mam von dem seltsamen Besuch bei Mr. Benneky erzählt und diese hatte sie dazu überredet, sich einmal diese Schule anzuschauen.
Meggie hatte ihr den Gefallen getan. „Aber nur, weil du es bist, Mam“, hatte sie ihrer Mutter gesagt und war in den Zug eingestiegen.
Dort hatte es ihr kein bisschen gefallen. Die Leute waren unfreundlich und in ihrer Gruppe waren bloß unbegabte Zicken gewesen. Mrs. Kennedy, die Lehrerin ihrer Gruppe war am unfreundlichsten gewesen und hatte gemeint, man müsse sich doch anmelden, was Meggie nicht getan hatte. Meggie war nie wieder dort hingegangen.
Nun dachte Meggie nach, ob sie wirklich Talent für das Zeichnen hatte. Sie konnte es sich nicht vorstellen.
Wenig später nahm sie die Buntstifte zur Hand. Vorsichtig fuhr sie damit über das Papier und füllte den See, die Erde, den Himmel, die verwelkten Blumen, die Steine und die Rosen.
Es viel ihr ziemlich leicht. Nach einer Stunde war das Werk fertig. Kritisch betrachtete sie es und schob es dann kopfschüttelnd in eine Schublade des Schreibtisches.
Talent? – Sie doch nicht!
Sie musste noch unbedingt mit Scarlett reden. Besser gesagt telefonieren. Scarlett wohnte ja eine halbe Stunde von ihr entfernt. Meggie verließ ihr Zimmer und schaute, wo sich ihre Mutter befand. Sie fand sie vor dem Computer. Immer wenn ihre Mam verzweifelt war, suchte sie Zuflucht im Internet. Dann chattete sie stundenlang mit ihrer virtuellen Freundin Hannah. Meggie musste den Kopf schütteln. „Mam, wo hast du das Telefon hingelegt, ich kann es nicht finden“, gähnte sie. Ihre Mutter rührte sich nicht. „Hallo, Erde an Mama!“, rief sie nun. Rebecca richtete sich erschrocken auf. „Musst du mich denn so erschrecken?“
„Du bist so versunken, dass du einen gar nicht hörst, wenn man etwas zu dir sagt. Wo ist das Telefon? Du hattest es als letzte“
Ihre Mutter seufzte. „Es liegt entweder in Bad oder Küche. Ich weiß es nicht mehr so genau“, erklärte sie ihr. Meggie gab sich damit zufrieden. Manchmal konnte Rebecca nicht einmal sagen, ob das Telefon sich überhaupt im Haus befand. Sie fand es schließlich in einer ziemlich ungewöhnlichen Szene. Es lag im Waschbecken, dass voller Wasser war.
Sie schüttelte den Kopf und stellte fest, dass das Telefon noch ging. Erleichtert seufzte sie auf. Ihre Mutter war wirklich of t nicht bei der Sache. Leider.
Die Nummer von Scarlett kannte sie auswendig. Während das Telefon läutete, ging sie in ihr Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Scarlett hob nach wenigen Augenblicken ab.
„Oh, hi Meggie! Hat Omi schon mit dir geredet? Stell dir vor wir können die ganzen Ferien dort verbringen!“
„Ja, ich weiß, dass ist wirklich super. He, hast du zufällige ne Ahnung, wie ich die letzten eineinhalb Wochen Schule überleben kann? Meine Mutter versinkt immer mehr in ihren Gedanken und versenkt das Telefon schon im vollgefüllten Waschbecken“
„Meine ist auch nicht gerade besser. Sie hatte sich bei Paul Hershey, keine Ahnung wer das ist, als Sekretärin beworben und er hat sie nicht genommen. Jedenfalls trampelte sie aus Wut die Rosen kaputt und gab zwei Stunden später mir die Schuld daran und ich bekam Hausarrest. Toll, was? So eine Mutter habe ich mir schon immer gewünscht“
„Du Arme. Wie sollen wir nach Brucklin kommen? Ich kann wetten, meine Mam streikt, wenn sie uns hinbringen soll. Wir könnten doch mit dem Zug fahren, oder?“
„Ja, Zug ist gut. Am besten wir fahren in der Früh des ersten Ferientages“
„Okay, bis dann, wir treffen uns am Bahnhof in Liverwell am 2. Bahnsteg. Tschüss!“
„Ja, tschüss. Und noch was: Ich habe irgendwie das Gefühl, dass deine Haare durcheinander sind. Das fühle ich“
„Ich schau mich dann gleich in den Spiegel. Tschüss!“
„Tschüssi“
Beide mussten kichern. Dann legten sie schließlich doch auf.
Meggie ging sofort zum Spiegel. Ihre dunkelblonden Haare waren tatsächlich durcheinander. Woher wusste Scarlett das? Sie beäugte sich im Spiegel. Meggie hatte dunkle Augen. Sehr dunkle. Ihre Nase war leider ziemlich groß und unförmig. Aber die Ohren waren klein und lagen schön am Kopf an. Keine Elefantenohren. Sie frisierte sich und stellte fest, dass ihr Haar äußerst fettig war. Ärgerlich wusch sie sich die Haare.
Als sie fertig war, klingelte es an der Türe. Genau rechtzeitig. Sie schlang ein Handtuch um den Kopf und öffnete die Türe. Davor standen Laura Nilyn und Maureen Wenty. Seit sie vor einem Monat gestritten hatten, würdigten sie sich keines Blickes mehr. Damals hatte ihre Mam ihr gesagt, dass Freundschaft zu dritt ziemlich schwer war. Für einen der drei, für die anderen nicht. Meggie war diese eine gewesen. Als die drei einmal etwas angestellt hatten, hatten sie die ganze Schuld auf Meggie geschoben, obwohl Meggie am wenigsten dazu beigetragen hatte. Am nächsten Tag hatte der Streit angefangen. Und danach folgte eisiges schweigen.
„Was wollt ihr?“, zischte sie eisig und kam sich vor, wie eine grünäugige gefährliche Schlange. Laura und Maureen wichen zurück. „Können wir reinkommen?“
Sie öffnete ihnen die Türe. Der lange Perserteppich im Flur war doch ein bisschen gar unbequem, dass wollte sie nicht einmal den beiden antun. Und sich selber auch nicht.
Also führte sie die beiden ins Wohnzimmer und stellte fest, dass der Fernseher lief und gerade einen russischen Krimi spielte. Kopfschüttelnd machte sie ihn aus und war sich sicher, dass ihre Mam nicht russisch lernen wollte, sondern schon wieder mal nicht bei der Sache war.
Sie ließen sich auf der Couch nieder. Meggie sah die beiden herausfordernd an. „Also...“, sagte schließlich Laura. „Wir wollten wissen, wieso du in letzter Zeit so zurückweisend bist“
Und wieder sah sie die beiden herausfordernd an. „Das wisst ihr ganz genau“, bemerkte sie spöttisch. Laura und Maureen zuckten mit den Schultern. „Es ist wegen unseres Streites, oder Meg?“, fragte Maureen vorsichtig, fast so, als hätte sie Angst, gebissen zu werden.
Meggie hasste ihren früheren Spitznamen. Wieso, wusste sie auch nicht genau. Vielleicht, weil er mit Laura und Maureen zu tun hatte. Sie nickte jedoch und gab keinen Kommentar dazu ab. Die Mädchen sahen zu Boden. „Es tut uns leid“, sagte Laura zaghaft.
Meggie zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich. Aber ihr werdet es wieder machen, und wieder und wieder. Ich kenne euch besser, als ihr selbst“
Nun waren es die Gäste, die mit den Schultern zuckten.
Plötzlich kam Rebecca ins Zimmer. „Oh wie reizend! Meggie, hast du Besuch?“, fragte ihre Mam hingerissen. Meggie beschloss, sie einfach zu ignorieren. „Tag, Mrs. Twen“, sagten Laura und Maureen im Chor. „Meggie, wieso zum Teufel hast du den Fernseher ausgemacht? Ich habe mir gerade eine Dokumentation über die Wüste angesehen!“, brauste diese plötzlich auf. Beinahe hätte Meggie zurückgegeben, dass dies überhaupt nicht war war und im Fernsehen ein Krimi auf russisch gespielt hatte. Doch sie tat es nicht, es hätte ihre Mutter nur noch mehr aus der Fassung gebracht.
Schließlich rauschte Rebecca ab.
„Du hast es gehört: Es tut uns leid. Mehr können wir auch nicht machen“, wiederholte Maureen und zog Laura am Ärmel aus dem Zimmer. Wenige Sekunden später viel die Haustüre ins Schloss. Meggie schüttelte den Kopf und ging in ihr Zimmer.
Wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Das nasse Handtuch klebte noch an ihrer Kopfhaut und hinterließ feuchte Flecken auf dem Leintuch.


2. Kapitel

Meggie wachte am nächsten Tag durch ein seltsames Geräusch auf. Sofort bemerkte sie, dass sie noch das Handtuch am Kopf hatte, dass inzwischen getrocknet war. Ärgerlich nahm sie das es ab und hängte es über einen Sessel. Dann sah sie aus dem Fenster. Von hier aus war das Geräusch noch lauter – Bummkrrhbomm machte es. Meggie sah nichts. Draußen war es so wie immer. Da stand die Hollywoodschaukel, der kleine Bonbonfarbene Bungalow, eine dunkelgrün lackierte, rostige Gartenbank und die Garage, deren Tür offen war und einen Blick auf den dunkelblauen Ford von Rebecca freigab. Meggie schüttelte den Kopf. Was zum Teufel war das?
Sie holte ihren hellblauen Morgenmantel aus dem begehbaren Wandschrank und ging in den Garten. Das Geräusch wurde noch lauter. Vorsichtig sah sie sich um. Schließlich sah sie es. Der verrückte Nachbar, William Beverly stand im Garten und hackte mit einer Axt auf seine Gartenhütte ein. Meggie starrte ihn entsetzt an. Gleich darauf öffnete sich die Türe im Nachbarhaus und die dickliche Frau von Mr. Beverly, Hilary Beverly kam in einem Bonbonfarbenen Morgenmantel aus dem Haus. Ihre Haare waren durcheinandergeraten, anscheinend war sie erst gerade aufgestanden. Mrs. Beverly eilte schnellen Schrittes zu ihrem Gatten und riss ihm die Axt aus der Hand. „Pfui, William! Du kannst doch nicht unsere Gartenhütte kaputt machen. Pfui, schäm dich!“, rief sie und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Meggie fand, dass William doch ein bisschen zu verrückt war, um einfach so mit seiner Frau in einem Haus zu wohnen. Sie stellte sich vor, wie er mit der Axt vor ihrem Bett stand, in dem sie schlafend lag.
Sie schüttelte den Kopf und ging wieder ins Haus. Im Flur fiel ihr Blick auf die Uhr. Es war erst halb sechs! Kein Wunder, dass sie so früh aufgewacht war, schließlich hatte sie seit ungefähr fünf Uhr abends alles verschlafen. Fröstelnd ging sie in die Küche und machte sich einen Früchtetee. Wenige Minuten später saß sie am Schreibtisch und betrachtete ihre Zeichnung, auf deren Rückseite sie mit Bleistift den Titel „Einsame Heide-Landschaft“ geschrieben hatte. Sie sollte sich besser ein anderes Hobby zulegen. Wie wäre es mit Gedichte schreiben? Sie holte aus der untersten Schublade einen Bogen Briefpapier und einen Kugelschreiber heraus und legte beides auf die Tischplatte. Dann leerte sie die Teetasse in einem Zug und überlegte, wie sie das Gedicht nennen konnte. Vielleicht Mondschein?
Nein! Sie war sich sicher, dass schon irgend ein anderes Gedicht diesen Titel trug. Sie seufzte tief und dachte an Laura und Maureen. Die beiden waren Mitglieder bei der Mädchenschulmannschaft für Tennis. Beide waren schlank und sportlich. Und was tat sie?
Sie saß den ganzen lieben Tag lang an ihrem Schreibtisch – zeichnete und schrieb.
War das etwa normal? Sie war sich da nicht so sicher. Vielleicht sollte sie sich einmal einen Termin mit dem Psychiater ausmachen. Seufzend legte sie den Bogen Briefpapier wieder in die Lade zurück und beschloss, anstatt ein Gedicht zu schreiben, eine Runde joggen zu gehen. Ihr innere Schweinehund stemmte sich dagegen, aber sie stampfte mit dem Fuß auf und überwand ihn. Im Wandschrank fand sie ihren grünen Jogginganzug und nahm noch zusätzlich ein weißes T-Shirt heraus. Wenige Minuten später stand sie fertig angezogen da.
Entschlossen lief sie los.
Meggie joggte den Weg, der von der Haustüre zum Gartentor führte, entlang. Auf der rechten Seite waren Blumenbeete, ein silberner Springbrunnen mit eingravierten Fischen und einem eingravierten Wasserfall und der Gartenteich mit Brücke. Meggie lief vorbei und öffnete das Tor. Jetzt musste sie sich entscheiden – links oder rechts? Sie rannte rechts. Nach wenigen Minuten war sie außer Atem und hatte Seitenstechen. Doch sie joggte weiter. Es war schön, die Natur zu betrachten und die frische Luft einzuatmen. Sie sah etliche Wälder, Birkenhaine, Apfel und Birnbäume, die reife Früchte trugen, einen Bach, viele verschiedene Häuser – Herrenhäuser, Villen, Reihenhäuser, Einfamilienhäuser, Wohnblöcke;
Und sie kam an Häusern von Freundinnen ihrer Mutter vorbei. Sie alle hatten ziemlich kitschige Häuser, fand Meggie. Lillith Gray, eine Freundin von Rebecca, zum Beispiel wohnte in einem ziemlich großen, mintgrünen Haus mit schneeweißem Dach und Zaun, englischem Rasen, zurechtgeschnittenen Buchsbäumen, schneeweißen Porzellan Katzen und einem bonbonfarbenen Schild, dass neben der Türe hing und auf dem „Willkommen!“ Eingraviert war.
Meggie musste unwillkürlich den Kopf schütteln. Drei Häuser nach Ms. Grays Haus führte ein kleiner Weg in die nächste Straße. Sie lief dorthinein und sah als erstes ein weißes Haus, mit weißem Zaun, mit silbergrauem Dach und Postkasten. Die Fenster waren ziemlich groß und frisch geputzt. Ein weißes Kreuz teilte jedes in vier gleich große Hälften. Der weiße, bauschige Vorhang war beiseite gezogen, und so konnte man einen Blick in das innere erhaschen. Drinnen war auch alles total ordentlich. Der Boden war weiß, mit kleinen eingelassen goldenen Platten. Am Rand des Ganges standen hübsche weiße Sessel mit gläsernen Beistelltischen mit goldenem Sockel. Zwischen den Sesseln waren mehrere weiße Türen mit goldenem Knauf.
Im Vorgarten des Hauses waren weiße Bänke, ein englischer Rasen (der allerdings viel besser passte und viel schöner aussah als im Vorgarten des mintgrünen, schneeweißen, bonbonfarbenen Hauses von Lillith Gray) und drei silberne Springbrunnen. Davor war ein weißer, frisch lackierter Postkasten und rundherum um das Haus war weißer Kiesel verstreut und darin wuchsen weiße Rosen und Lavendel. Auch die Fensterbretter schienen frisch geputzt.
Zwischen zwei der Fenster war eine goldene Tafel eingelassen:

Peter Moore
ausgebildeter Psychiater
für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Tel.: 04518/30174
Öffnungszeiten: MO – FR 15:00 – 20:00
SA – SO 9:00 - 21:00

Meggie fand, dass das Haus richtig Psychiater-mässig aussah. Dann fiel ihr wieder ein, was sie sich gedacht hatte, als sie versuchte, ein Gedicht zu schreiben. „Das ich nicht normal bin und das ich mir vielleicht mal einen Termin mit einem Psychiater ausmachen sollte“, murmelte sie und notierte sich dann die Telefonnummer und die Öffnungszeiten. Sie versuchte, sich Peter Moore vorzustellen. In ihrer Fantasie war er ein groß gewachsener, schwarz-grauhaariger Mann mit Schnauzbart, großen, goldenen Brillengläsern und ein Paar Fettröllchen. Er war vielleicht Mitte fünfzig und trug einen langen weißen Kittel. Und er saß an einem weißen Schreibtisch mit goldenen Füßen. Auf dem Tisch standen zwei goldene Köcher mit goldenen Stiften. Und vor ihm lag eine schwarze Mappe, in der sich seine Unterlagen befanden.
Meggie schüttelte den Kopf. Ihre Fantasie war mal wieder mit ihr durchgegangen. Sie beschloss, nicht mehr weiter zu joggen, sondern umzukehren.

Am Nachmittag erwischte Meggie sich dabei, wie sie wieder einmal ein neues Bild anfing. „Morgengrauen“ hatte sie auf die Rückseite geschrieben. Sofort griff sie zum Telefon.
Die Nummer war schnell eingegeben. Mutig drückte Meggie auf die Anruftaste. „Hier bei Peter Moore, Psychiater für Kinder, Jugendliche und Erwachsene“, sagte eine weibliche Stimme. Das war sicher die Sekretärin. Um ein Haar hätte Meggie aufgelegt. Doch sie nahm sich zusammen und sagte. „Guten Tag. Hier spricht Rebecca Twen. Ich hätte bitte gern einen Termin für meine Tochter Meggie ausgemacht“
„Ja. Wie alt ist denn ihre Tochter?“
„Zwölf. Sie wird im August dreizehn“
„Wann können sie denn?“
„Morgen um 16:00“
„Ja, das würde auch für mich passen. Der Termin dauert zwischen einer und zweieinhalb Stunden“
„Okay. Meine Tochter kommt allerdings alleine“
„Das passt schon. Auf Wiederhören!“
„Auf Wiederhören“
Meggie legte auf. Dann atmete sie zweimal tief ein und zweimal tief aus und trug den Termin in ihren Kalender ein. „Morgen, Sonntag, 16:00 – 17:00-19:30“, dachte sie.
Dann wählte sie Scarletts Nummer. „Oh hi Meggie!“, begrüßte diese sie.
„Hallo Scarlett. Rate mal, was ich gerade getan habe“
„Du hast deine Mam umgebracht? Du hast eine Schatztruhe gefunden? Du bist von einem Auto angefahren worden und dir ist nichts passiert? Du hast euer Haus auf den Mond gezaubert?“
„Scarlett, was soll der Blödsinn? Die Wahrheit ist, ich habe mir für morgen einen Termin beim Psychiater ausgemacht. Um 16:00“
„Echt? Wieso das?“
„Weil ich mich nicht normal finde. Vielleicht bin ich ja übergeschnappt. So wie unser Nachbar, William Beverly, der versucht um halb sechs seine Gartenhütte mit einer Axt zu zerkleinert“
„Hör doch auf, Meggie. Sonst bin ich dazu gezwungen, dich Meg zu nennen. Das willst du doch nicht, oder?“
Meggie lachte.
„Ich habe dich angerufen, weil ich dich fragen wollte, was du davon hältst. Findest du das ich verrückt bin?“
„Ein wenig schon. Aber keine Sorge, egal wie verrückt du bist, ich bin verrückter“
„Hahaha! Ich freue mich schon so auf Westcliff. Ich weiß nicht, ob ich diese eineinhalb Wochen Schule noch aushalte. Aber es wird schon irgendwie klappen. Apropos klappen: Wenn ich wirklich verrückt bin, lasse ich mich einweisen. Und zwar in die Klappsmühle. Kommst du mich dann besuchen?“
„Aber klar doch. Schließlich bist du meine kleine Kusine“
„Herzlichen Dank. Du, ich muss Schluß machen. Bis dann in Liverwell“
„Okay, tschüss Meg!“
„Wehe du nennst mich noch mal Meg!“
„Was ist dann?“
„Dann erwürge ich dich und zwar durchs Telefon“
„Das glaubst du ja selber nicht!“
„Na und? Also, tschüss, Scarly!“
„Und ich erschieße dich durchs Telefon wenn du das nochmal sagst“
Beide mussten kichern.
„Also tschüss dann, Meggie“
„Tschüss, Scarlett“
Dann legten sie auf.
Meggie ging seufzend in die Küche. Dort lag ein kleiner, hellgrüner, zerschmuddelder Zettel auf den ihre Mam geschrieben hatte:

Liebe Meggie
Ich halte es nicht mehr aus hier.
Bitte sei nicht sauer,
aber das ist mein Ernst.
Ich bin nach Istanbul ausgewandert.
Meinen geheimen Geldvorrat bewahre ich unter den Fussbodenbrettern im Flur auf.
Nimm, so viel du brauchst.
Deine dich liebende Mutter


Meggie starrte den Zettel an. Dann wurde sie sauer. Was dachte ihre Mutter eigentlich?
Das sie sie hier alleine lassen konnte? Das würde der Staat doch nicht erlauben. Bald würde die dicke Mrs. Beverly das Waisenhaus anrufen und sie würde da nicht so einfach wieder rauskommen. Ihr Dad, Jared Twen, war nicht bereit, sie bei sich aufzunehmen. Das hatte er schon bei der Trennung bekannt gegeben. Er war Kettenraucher und starker Alkoholiker. Die Frau, mit der er vor Meggies Mam verheiratet gewesen war, hatte ihn deshalb verlassen.
Meggie wusste beim besten Willen nicht, was sie tun sollte. Schließlich überlegte sie.
Um in die Türkei zu kommen musste man bekanntlicher Weise ein Flugzeug nehmen oder ein Schiff. Wie sie ihre Mam kannte, hatte sie sicher ersteres gemacht.
Schnell griff sie nach dem Telefonbuch und schaute unter F.
„Fleyer, Flezery, Flog, Flughafen“, murmelte sie. Dann gab sie die Telefonnummer ins Telefon ein und hoffte es würde jemand abheben.
„Willkommen am Flughafen London. Was kann ich für sie tun?“, sagte eine motone Stimme.
„Die Frau hat das sicher schon tausende Male gesagt“, dachte sie mitleidig.
„Guten Tag. Ich würde gerne wissen, ob heute ein Flugzeug nach Istanbul fliegt. Könnten sie mir die Zeiten nennen?“
„Ja, heute fliegen exakt 10 Flugzeuge nach Istanbul. Die Abflugszeiten sind 7:00, 9:45, 11:00, 12:20, 1:00, 3:00, 4:00, 5:45, 7:00, 9:00“
Meggie warf einen flüchtigen Blick auf die Küchenuhr. Es war fünf Minuten vor dreiviertel sechs! In fünf Minuten würde das Flugzeug von Rebecca abheben!
„Schauen sie bitte nach, ob sich an Bord des 5:45 - Flugzeuges nach Istanbul auch eine Rebecca Twen befindet. Machen sie schnell!“
„Ich werde schauen, was ich tun kann“
Meggie trat nervös von einem Bein auf das andere.
„Ja, an Bord ist exakt eine Rebecca Twen“
„Herzlichen Dank. Bitte stoppen sie das Flugzeug!“
„Tut mir leid, aber das liegt nicht in meiner Macht und außerdem ist es bereits vor fünf Minuten abgeflogen!“
„Verdammt“, fluchte Meggie und legte auf. Die Küchenuhr ging zehn Minuten nach. Wütend starrte Meggie sie an. Wäre sie jünger gewesen, nicht schon fast dreizehn, hätte sie die Uhr mit einem Ball von der Wand geworfen. Mit Sicherheit wäre sie zersprungen. Aber Meggie nahm sich zusammen. Sie war ja keine fünf mehr.
Meggie versuchte, sich auf ihre innere Ruhe zu konzentrieren. Doch es funktionierte nicht. Dafür fiel ihr etwas ein. Sie nahm erneut das Telefon und gab Scarletts Nummer ein.
„Oh hi Meggie! Du schon wieder!“, lachte Scarlett.
Meggie war sauer. Was bildete sich ihre Kusine eigentlich ein? Woher sollte sie wissen warum Meggie anrief? Es musste ja kein schöner Grund sein.
„Hör zu Scarlett, mir ist wirklich nicht nach spaßen zu mute. Meine Mam sitzt seit fünf Minuten in einem Flieger nach Istanbul. Sie hat mir einen Zettel hinterlassen. Hast du jetzt zufällig ne Ahnung, was ich tun soll?“
„Oh. Ich weiß beim Besten Willen nicht weiter. Tut mir leid, Meggie“
Plötzlich hatte Meggie eine Idee.
„Ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn ich die Zeit bis zu den Ferien, wenn wir nach Westcliff fahren, bei euch verbringe? Wie wäre das?“
„Hm, toll wäre es natürlich schon. Das sind immerhin eineinhalb Wochen, ich weiß nicht ob meine Eltern das erlauben. Aber es ist eine auswegslose Sitation, also werden sie ja wohl Verständnis haben. Denke mal nach, was alles dagegen spricht. Deine Schule ist schließlich zwei Stunden von mir entfernt. Wie sollst du da hin kommen?“
„Dafür habe ich auch schon eine Idee. Bitte rede mit deinen Eltern und rufe mich dann um sieben noch mal an“
„Okay, tschüss!“
„Tschüss“
Meggie war nicht nach lachen zu mute. Sie holte sich ein Buch aus der Bibliothek und begann es zu lesen. Nach zehn Minuten bemerkte sie, dass sie noch immer auf Seite zwei war und nicht einmal wusste, welchen Titel das Buch hatte. Sie sah nach. „Hilfe, ich bin schwul/lesbisch!“ stand darauf geschrieben. Voller Abscheu warf sie das Buch auf ihr Bett.
Jetzt half nur noch eins: Zeichnen. Mit zeichnen verging die Zeit immer so schnell. Wenig später saß sie mit ihrer neuen Zeichnung „Morgengrauen“ am Schreibtisch und malte drauf los. Der Zorn auf ihre Mutter gab ihr Kraft. So flog die Zeit dahin und Meggie schreckte erst wieder hoch, als das Telefon klingelte.
„Hallo Meggie, hier ist Scarlett. Meine Eltern haben nichts dagegen. Du kannst allerdings erst morgen Abend kommen. Ist das okay für dich, eine Nacht und einen Tag alleine zu verbringen?“
„Klar doch. Es ist eh besser so, weil morgen habe ich ja um 16:00 den Termin beim Psychiater. Und wie soll ich zu euch kommen?“
„Daddy holt dich um Punkt 20:00 ab. Ist das okay?“
„Ja, ja. Dann muss ich jetzt aber mal tüchtig packen! Am besten, ich packe nur für eineinhalb Wochen und fahre vor Westcliff noch mal hierher und packe den Rest. Sonst reiße ich mir ja beide Arme aus. Also, bis morgen, 20:30, oder kommst du mit, wenn dein Daddy mich abholt?“
„Mal sehen. Wie klärst du das jetzt eigentlich mit deiner Schule?“
„Das bleibt mein Geheimnis“
„He! Ich hätte immer gedacht, du hast keine Geheimnisse vor mir!“
„Eben doch. Aber das ist doch kein richtiges Geheimnis, morgen erfährst du es ohnehin. Außerdem hast du doch auch Geheimnisse vor mir, stimmt’s oder hab ich Recht?“
„Du hast Recht. Aber jetzt erst mal tschüssi“
„Tschüss, bis morgen“
Kaum hatten die beiden aufgelegt, griff Meggie schon wieder nach dem Telefon. Sie wählte die Nummer ihrer Schule.
„Guten Tag. Sie sind hier in der Brucklin-School. Was kann ich für sie tun?“
„Ja, guten Tag. Mein Name ist Meggie Twen. Ich bin Schülerin auf ihrer Schule“
„In welche Klasse gehst du?“
„Ich gehe in die siebte und komme in die achte. 7c“
„Okay und was willst du?“
„Meine Mam ist heute überstürzt nach Istanbul geflogen. Nun soll ich die Zeit bis zu den Sommerferien bei meiner Kusine in Nottinghill verbringen, und dann fahren wir gemeinsam auf Urlaub. Nottinghill ist allerdings sehr weit von der Brucklin-School entfernt und ich kann doch nicht eineinhalb Wochen jeden Tag 3 Stunden mit der Bahn fahren, oder?“
„Nein, da hast du völlig Recht. Ich kann dich für die eineinhalb Wochen freisprechen, wenn du zu Schulbeginn eine Entschuldigung mitbringst, okay? Jetzt gibt es ohnehin keinen Stoff mehr. Wie heißt du noch mal?“
„Meggie Twen. Herzlichen Dank und einen schönen Tag noch“
„Ebenfalls, Magret“
Meggie ärgerte sich schon ein bisschen. Sie hieß doch nicht Magret! Meggie war ihr Taufname. Aber sie freute sich darüber, freigesprochen zu sein.


3. Kapitel

Bevor Meggie zum Psychiater ging, sah sie sich in den Spiegel. Ihre dunkelblonden Haare waren fettig und durcheinandergeraten und außerdem trug sie Shorts und ein Micky Mouse T-Shirt, unmögliches Gewand für einen Psychiater! Sie beschloss, die Haare schnell zu waschen.
Danach ging sie in ihr Zimmer und wühlte im Kasten. Meggie musste den Kopf schütteln und beschloss, bald wieder shoppen zu gehen. Das Jeanskleid war ihr schon zu klein, sie hatte nur unmögliche T-Shirts und Blusen und viel zu wenige Jeans. Seufzend ging sie ins Schlafzimmer ihrer Mam. Seit Jared Twen ausgezogen war, schlief sie in einem Einzelbett. Und da Rebecca an Feng Shui glaubte, war es farblich hell. Sie hatte rotorange Bettwäsche, goldgelbe Vorhänge, einen roten Schrank und einen pinken Teppich.
Meggie öffnete den Kasten und fand nach wenigen Sekunden wühlen, dass was sie suchte: Mams weißen Mohairpullover. Dazu nahm sie noch eine helle Jeans und Mams Seidenschal.
Bald stand sie fertig angezogen da. Aber plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Mensch, Megan, willst du denn im Sommer in Pullover, Schal und langer Jeans nach draußen gehen? Brauchst du vielleicht auch noch einen Wintermantel, oder wie? Willst du dich unbedingt lächerlich machen?“, schimpfte sie mit sich selbst. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte sie sich selbst geohrfeigt. Meggie nannte sich immer Megan, wenn sie sich unmöglich benahm, auch wenn sie gar nicht so hieß.
Schließlich kramte sie erneut und zog schließlich Rebeccas weiße Bluse mit rosa Blümchen an. Dazu kamen die beigen Shorts und ihre eigenen weißen Ballerinas.
Eilig verließ sie das Haus.

Im Wartezimmer ging sie zum Sprechstundenhilfe und stellte sich vor. „Hallo, mein Name ist Meggie Twen. Meine Mutter hat mit ihnen telefoniert“
Die Dame nickte ihr zu und wies auf einen Platz. „Setz dich doch, du wirst ohnehin bald dran genommen“, sagte sie freundlich.
Die restlichen Leute im Wartezimmer sahen sie alle seltsam an. Neben ihr saß eine Frau mit rot angemalten Lippen und weißen Locken. Sie trug einen Seidenmantel und hatte an der Hand einen kleinen Jungen. „Du solltest dich schämen, James. So laut zu sein. Ja wohl, du solltest dich schämen“, sagte sie streng. Der kleine Junge sah sie mit großen Augen an und antwortete: „Ja, Granny“ Er trug ein blaukariertes Hemd und Jeans und schien nicht älter als fünf Jahre zu sein.
Auf der anderen Seite von Meggie, saß ein älterer Mann mit grau-weißem Haar. Er wippte immerzu mit seinem Kopf auf und ab und zählte an seinen Fingern Sachen ab.
Nach zehn Minuten warten wurde Meggie endlich aufgerufen.
Peter Moore war ein kleiner stämmiger Mann, der ungefähr Mitte dreißig war. Er hatte dunkelblondes Haar, einen Stoppelbart und lächelte ständig. Während er sprach, zupfte er an seinem weißen Kittel herum und sah Meggie eindringlich an.
„Was ist dein Problem, mein Mädchen?“
„Ich finde mich nicht normal. Wenn andere sporteln oder Freundinnen treffen, sitze ich an meinem Schreibtisch und zeichne. Oder ich schreibe einen Roman“
Er nickte und machte sich Notizen.
„Wie alt bist du denn?“
„12, aber in 2 Monaten werde ich 13“
„Hm. Vielleicht hast du ja Talent?“
„Ein Zeichenlehrer von mir hat mich mal in eine Schule für Zeichenbegabte geschickt. Dort waren alle so seltsam, dass ich bald nicht mehr hinwollte“
„Hm. Vielleicht ist mit deinem Hirn etwas nicht okay. Es kann sein, dass die roten Blutkörperchen zu viele sind. Oder zu wenige“
Sie nickte. Bald darauf bekam sie einen Bleimantel umgehängt und wurde in einen Raum geschickt, in dem sie geröntget wurde.
„Also, mit deinem Hirn ist alles okay. Vielleicht kommt deine Seltsamkeit davon, dass du als Kleinkind ein Trauma erlebt hast. Kann das sein?“
Meggie dachte scharf nach und ihr viel nichts ein.
„Mir fällt eigentlich nichts ein. Ich wüsste nicht was“
Wieder nickte Peter Moore.
„Hast du Geschwister? Kann es sein, dass du dich mit einem von ihnen nicht sonderlich gut verträgst?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe keine Geschwister, und hätte aber gerne welche. Aber meine Eltern sind schon ziemlich lange getrennt und wollten sich auch nie ein zweites Kind leisten“
„Dann kann es auch davon abhängen, dass du nie Geschwister hattest. Vielleicht hast du dich deswegen immer mehr zurückgezogen und konntest keine Freunde finden?“
Diesmal schüttelte Meggie den Kopf.
„Ich habe Freunde. Aber ich beschäftige mich nur in der Schule mit ihnen“
„Hast du auch eine beste Freundin?“
„Ja, meine Kusine Scarlett. Sie ist älter als ich, aber trotzdem meine beste Freundin. Wir telefonieren täglich“
„Wie alt ist sie, wenn ich fragen darf?“
„14. Sie ist eineinhalb Jahre älter als ich“
„Trefft ihr euch oft oder telefoniert ihr nur?“
„Wir treffen uns am Wochende. Meistens mit übernachten. Aber ich glaube kaum, dass sie das was angeht“
Peter Moore lächelte wieder, und nun fiel es Meggie auf, dass es ein falsches Lächeln war. Es war richtig spöttisch.
Meggie ließ ihre Faust auf den Tisch sausen und rief: „Wissen sie was? Haben sie mich gern“
Dann verließ sie den Raum, knallte der Sprechstundenhilfe 40 Dollar auf den Tisch und lief davon.

Zu Hause machte sie sich ans Koffer packen. Sie nahm hauptsächlich Gewand ihrer Mam. Mit ins Gepäck kamen auch ein alter Pullover ihres Daddys, den er da gelassen hatte, als er wegzog und Mams Parfüm, dass so an sie erinnerte.
Meggie beförderte ihre Stifte, den großen Zeichenblock, das Briefpapier, den großen Füller, ihre Lieblingsbücher, ihr gesamtes Ersparnis, 100 Dollar von Mams Fußbodenvorrat, eine Packung ihrer Lieblingskekse, eine Tafel Noisette-Schokolade, ihre Jeansjacke, den alten weinroten Regenschirm, ein Foto von Mam, Daddy und ihr im Urlaub, ihr Handy, eine Taschenlampe, das Waschzeug und ihren Kopfpolster in die Reisetasche und schloss sie ab. Mit Müh und Not brachte sie sie zu.
Dann stellte sie den Koffer gemeinsam mit ihrer Handtasche in den Gang und setzte sich auf das Fensterbrett in ihrem Zimmer. Sie sah den Vögel zu, und den Fröschen und Fischen im Gartenteich. Ihr Blick glitt durch den Garten und blieb an ihrer eigenen Hecke hängen. Um genau zu sein, waren es drei verschiedene Hecken: Eine Brombeerhecke, eine Blaubeerhecke und eine Himbeerhecke. Von jeder gab es mehrere. Meggie musste sich unwillkürlich über die Lippen lecken.
Da hatte sie eine Idee: Wenn Scarlett sie auf nahm, wieso sollte sie sich dann nicht bedanken? Und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Brombeeren, Blaubeeren und Himbeeren!
Sie lief mit einem großen Korb in den Garten und fing an, zu pflücken. Nach wenigen Minuten (es kam ihr zu mindestens so schnell vor) hatte sie bereits einen ganzen Korb voller Brombeeren. Sie trug ihn ins Haus und leerte ihn dort in drei Schüsseln.
Dann ging sie erneut in den Garten und machte sich nun an die Blaubeeren. Auch hier war bald der Korb voll und wieder lief sie ins Haus und entleerte ihn.
Als letztes plückte sie noch einen Korb voller Himbeeren.
Im Haus wusch sie alle neun Schüsseln voller Beeren sauber und leerte dann die Beeren in Steigen. Gott sei Dank waren von den Zuckinis, die Mam von ihrer Schwester bekommen hatte noch viele davon da. Sie bekam ganze sechs Steigen voll und stellte sie ebenfalls neben ihr Gepäck. Ob die wohl ins Auto ihres Onkels passten? Hoffentlich. Wenn nicht, dann würde sie sie hier lassen müssen und dann würden sie mit Sicherheit verfaulen. Naja, vielleicht hielten sie im Keller eineinhalb Wochen aus und dann würden sie ja sowieso wieder hier her fahren und das restliche Gepäck für Westcliff abholen und da könnten sie die restlichen Steigen mitnehmen.
Meggie ging erneut in den Garten und aß die restlichen Beeren von den Hecken ab. Da viel ihr ein, dass sie heute noch nichts außer dem Honigbrot zum Frühstück gegessen hatte.
„Megan, nur weil deine Mam nicht da ist, heißt das noch lange nicht, dass du verwahrlosen musst“, schimpfte sie. Und da die Beeren den Hunger nicht besonders gut löschten, schob sie sich kurzer Hand eine riesen Pizza ins Rohr.
Ein Viertel davon aß sie, den Rest packte sie in Alufolie ein und legte ihn zu den Steigen. Blödsinn, man kann doch nicht eine dreiviertel Pizza als Mitbringsel mitbringen, dachte sie plötzlich und packte die Pizza in die Reisetasche. Wenn Scarlett und sie Hunger bekommen würden, würden sie die Pizza essen.
Auf einmal hatte sie eine Idee. Wieso buk sie nicht einfach einen Kuchen? Schnell rührte sie alle Zutaten zusammen und schob die Mischung ins Backrohr. Hoffentlich hatte sie alles richtig gemacht. Meggie setzte sich mit einem Buch neben den Backofen und begann zu lesen. Die Eieruhr, die klingelte, holte Meggie wieder zurück in die reale Welt. Sie holte den Kuchen aus dem Ofen und stürzte ihn auf den nächstbesten Teller. Dabei allerdings ging leider der Teller kaputt. Ärgerlich kehrte Meggie die Scherben zusammen. Gott sei Dank war es ein uralter Teller und die Scherben steckten auch nicht im Kuchen.
Sie stellte den Kuchen in eine Kuchenglocke und trug ihn zu den Steigen. Er sah direkt zum anbeißen aus. Richtig gut schokoladig.
Meggie warf einen Blick auf die Uhr. 19:55 war es. Gleich würde ihr Onkel da sein. Vielleicht kam Scarlett ja mit.
Wenig später klingelte es auch schon. Sie lief aus dem Haus und begrüßte ihren Onkel freudig.
Sie nannte ihren Onkel nie Onkel. Meggie nannte ihn immer beim Vornamen. „Hi Andrew!“, schrie sie ihm schon entgegen. Er begrüßte sie ebenfalls und fragte sie nach dem Gepäck.
„Ich hoffe, es ist nicht zu viel. Für euch sind ein Kuchen und sechs Steigen Beeren dabei. Passt das eh ins Auto?“ Andrew musste lachen. „Du musst uns doch nicht beschenken!“
„Doch, muss ich, schließlich darf ich eineinhalb Wochen bei euch wohnen!“
„Wenn es sein muss... Ins Auto passt das auf jeden Fall. Im Notfall können wir die Rückbank herausnehmen. Scarlett ist nicht mit, sie muss für die Nachprüfung lernen. Sie hat mir erzählt, du warst beim Psychiater?“, grinste er.
Meggie erschrak sichtlich. Wieso erzählte Scarlett das ihrem Vater? Musste das alle Welt wissen? Und außerdem, Scarlett hatte eine Nachprüfung?
„Keine Sorge, Scarlett schafft die Prüfung schon. Wenn sie ordentlich lernt, geht alles. Sie hat nicht genug gelernt, für die Wunschprüfung. Und dann ist sie eben durchgefallen und wird jetzt einen Fleck bekommen. Jetzt muss sie eben die Ferien lernen“
„In welchem Fach?“
„Mathe. Da war sie nie eine große Leuchte. Katie aber auch nicht“
Meggie musste schmunzeln. Sie konnte sich ihre Tante schlecht in einer Schulbank vorstellen.
„Was ist? Holen wir jetzt das Gepäck oder nicht?“
Die beiden gingen ins Haus. „Du nimmst die Reisetasche, ich die Steigen“, rief ihr der Onkel zu. Sie nickte und packte zu. Gerade noch konnte sie sie heben. Würde sie ein Gramm mehr wiegen, würde sie sie nicht in die Luft bekommen. Andrew nahm drei Steigen. „Ich gehe nachher nochmal“, sagte er. Meggie folgte ihm auf die Straße. Dort stand schon sein schwarzer Rover. Er glänzte in der Sonne und Meggie pfiff durch die Zähne. Andrew grinste. „Den habe ich heute auf der Fahrt zu dir gewaschen“
Er öffnete den Kofferraum und stellte die Steigen hinein. Meggie reichte ihm die Reisetasche. „Hast du da Ziegelsteine eingepackt?“,fragte er sie. „So ähnlich“
„Setz dich schon mal vorne rein. Ich hole schnell die restlichen Steigen“
„Hier ist der Schlüssel. Bitte sperre doppelt ab, so hat Mam es mir beigebracht. Das ist sicherer. Wegen Einbrecher und so“
Andrew lachte und nahm den Schlüssel.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie.

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